37/104. An Joseph Stanislaus Zauper Nach einer bedeutenden Abwesenheit bey'm Wiedersehen nur auf kurze Zeit beysammen zu verweilen, ist nicht wohl gethan; man will sich bedeutend unterhalten, befleißigt sich einer gedrängten Rede; Prämissen überhüpft man und eilt auf's Resultat; Enthymeme glücken nicht immer, deren geheime Vordersätze leichter zu finden sind. Zu dieser Betrachtung veranlaßt mich eine Stelle Ihres Briefes, wo Sie sagen, daß Sie sich den ganzen Inhalt unseres Gesprächs noch nicht aneignen könnten. Indessen bleibt ein solches kurzes Zusammentreffen immer höchst erfreulich; man versichert sich abermals der Gegenwart, man erlangt die schönste Gewißheit beiderseitigen Daseyns und Antheils. Für die Aphorismen danke zum schönsten; ich ließ Abschrift davon nehmen, denn der Werth der selben ist für mich höchst bedeutend; ich sehe daraus die Einwirkung meiner Arbeiten auf Sie abermals klarer und im Besondern, die frühere, spätere, Ihre Denkweise, und wie Ihr sich reiner anschließt. Ich nenne hier Urtheil: Lust und Liebe, alles an seinen Platz zu stellen, oder vielmehr an seinem Platz zu lassen. Sodann, was außerdem nicht leicht zu mir kommt, erfahr ich, wie ein Theil der Ration über meine Bemühungen dachte und denkt, woraus zu ersehen ist, wie wenig Förderliches hervorgeht aus der Menge. Die rhythmische Übersetzung der Ilias ruhen zu lassen thaten Sie wohl; wie unser Öffentliches gegenwärtig steht, ist kein Dank dafür zu erwarten; aber ich rathe, von Zeit zu Zeit daran fortzufahren, theilweise, wenn Ihnen im Augenblick irgend eine Stelle besonders auffällt und lieb wird. Sie können nach und nach die beiden wichtigsten Gedichte der Welt Ihren Schülern immer näher heranbringen und sich selbst für alle Zeiten eine fortschreitende Belehrung sichern. Die prosaische Übersetzung betrachte nicht weniger als ein sehr fruchtbares Unternehmen. Es ist mir dabey eine Einsicht gekommen, über die ich erstaunen mußte. Bey dieser Behandlung wird der außerordentliche Laconismus des Gedichtes auffallend, eine Keuschheit, Sparsamkeit, beynahe Kargheit in der Darstellung, bereichert durch Beywort und Gleichniß, belebt und aufgeschmolzen durch den Rhythmus. Ich ließ vom zweyten Gesange eine Abschrift nehmen, um ihn neben mich hinzulegen und von Zeit zu Zeit, nach einigem Gefühl und Sinn, einiges umzuändern; daraus entwickelt sich am leichtesten, was man meynt, da es als Maxime oder Lehrbegriff sich nicht wohl mittheilen läßt, weil das Urbild organisch verschlungen und lebendig ist, die Nachbildung aber auch so werden soll. Und so gehe denn das Blatt ohne weiteres zu Ihnen und begleite freundlich das Mitgetheilte. Eh ich von hier abgehe, schreib ich noch einige Worte, Dank und Wunsch zum Abschied auszudrücken. aufrichtig theilnehmend Marienbad den 6. August 1823. J. W. v. Goethe.