46/110. An Carl Friedrich Zelter Ich muß nur wieder anfangen dem Papier Neigung und Gedanken zu überliefern; zuvörderst aber aussprechen daß ich nach deiner Abreise äußerst verdrießlich geworden bin. Zu Dutzenden lagen und standen die liebenswürdigsten Bedeutenheiten umher, alles mittheilbar! Und was war nun mitgetheilt? Kaum irgend etwas das werth gewesen wäre. Die Gegenwart hat wirklich etwas Absurdes; man meint das wär' es nun, man sehe, man fühle sich, darauf ruht man; was aber aus solchen Augenblicken zu gewinnen sey, darüber kommt man nicht zur Besinnung. Wir wollen uns hierüber so ausdrücken: der Abwesende ist eine ideale Person; die Gegenwärtigen kommen sich einander ganz trivial vor. Es ist ein närrisch Ding, daß durch's Reale das Ideelle gleichsam aufgehoben wird, daher mag denn wohl kommen daß den Modernen ihr Ideelles nur als Sehsucht erscheint. Hierüber wollen wir nicht weiter nachgrübeln, sondern es bey diesem ziemlichen und unziemlichen Vorwort bewenden lassen; ob ich gleich noch eine lange Litaney zu Aufklärung der allgemeinen neuern Lebensweise hienach wohl ausspinnen könnte. Nun aber aus dem Grillenhaften in's Behagliche überzugehen muß ich vermelden: daß Herr Ternite sich wirklich grandios bewiesen hat; denn indem diejenigen Blätter und Nachbildungen die er mir zu eigen verehrt, des besten Dankes werth sind; so hat er durch den Schatz von Durchzeichnungen der nun vor mir liegt, das ehrenvollste Vertrauen bewiesen. Ich halte aber auch darüber auf das sorgfältigste. Verdient sie jemand zu sehen dem zeig ich sie selbst vor. Hier nun das Wundersamste des Alterthums, dem der sehen kann, mit Augen zu sehen; die Gesundheit nämlich des Moments und was diese werth ist. Denn diese, durch das gräulichste Ereigniß verschütteten Bilder sind, nach beynahe zweytausend Jahren, noch eben so frisch, tüchtig und wohlhäbig als im Augenblick des Glücks und Behaglichkeit, der ihrer furchtbaren Einhüllung vorherging. Würde gefragt was sie vorstellen? so wäre man vielleicht in Verlegenheit zu antworten; einsweilen möchte ich sagen: diese Gestalten geben uns das Gefühl: der Augenblick müsse prägnant und sich selbst genug seyn um ein würdiger Einschnitt in Zeit und Ewigkeit zu werden. Was hier von der bildenden Kunst gesagt ist, paßt eigentlich noch besser auf die Musik, und du kannst, alter Herr, dein Bestreben, deine Anstalt überdenkend, obige wunderlichen Worte gar wohl gelten lassen. Fürwahr die Musik füllt, in jenem Betracht, den Augenblick am entschiedensten, es sey nun daß sie in dem ruhigen Geiste Ehrfurcht und Anbetung errege, oder die beweglichen Sinne zu tanzendem Jubel hervorrufe. Das Übrige frommen und richtigen Gefühlen, so wie einsichtigen Gedanken überlassend. Unsre beiden Prinzessinnen haben mir durch ihre holde Gegenwart viel Vergnügen gemacht. Man mag solche, schon lang gekannte und geliebte Wesen gar zu gern nach einiger Zeit in behaglichen Zuständen wiedersehen, deshalb denn ihre Gemahle, die königliche Familie und Berlin überhaupt gerühmt werden sollen. Übrigens, Ihr lieben Athenienser, wenn Ihr mehr gewohnt wär't einem treuen Autor etwas Gründlich-Verbindliches über seine Werke zu sagen, so würde ich meinen zweyten Aufenthalt in Rom, welcher mit der nächsten Sendung anlangt, nachdrücklicher empfehlen; doch mag bey'm Alten bleiben und ich will damit auch zufrieden seyn. Zunächst aber bitte, meine Briefe von 1828 zu senden, damit auch diese Wechselreden zu den übrigen Codicibus können hinzugefügt werden. Wobey ich zugleich ermahne noch diese letzten Monate fleißig zu schreiben, damit auch dieses Jahr neben seinen Geschwistern in Ehre bestehen könne. Wie zunächst so fort an. Weimar den 19. October 1829. J. W. v. Goethe.