49/141. An Carl Julius Moritz Seebeck Auf Ihr sehr werthes Schreiben, mein Theuerster, habe wahrhaftest zu erwidern: daß das frühzeitige Scheiden Ihres trefflichen Vaters für mich ein großer persönlicher Verlust sey. Ich denke mir gar zu gern die wackeren Männer, welche gleichzeitig bestrebt sind, Kenntnisse zu vermelden und Einsichten zu erweitern, in voller Thätigkeit. Wenn zwischen entfernten Freunden sich erst ein Schweigen einschleicht, sodann ein Verstummen erfolgt und daraus ohne Grund und Noth sich eine Mißstimmung erzeugt, so müssen wir darin leider eine Art von Unbehülflichkeit entdecken, die in wohlwollenden guten Charakteren sich hervorthun kann und die wir, wie andere Fehler, zu überwinden und zu beseitigen mit Bewußtseyn trachten sollten. Ich habe in meinen bewegten und gedrängten Leben mich einer solchen Versäumniß öfters schuldig gemacht und will auch in dem gegenwärtigen Fall den Vorwurf nicht ganz von mir ablehnen. Soviel aber kann ich versichern, daß ich es für den zu früh Dahingegangenen weder als Freund an Neigung, noch als Forscher an Theilnahme und Bewunderung je habe fehlen lassen, ja daß ich oft irgend etwas Wichtiges zur Anfrage zu bringen gedachte, wodurch denn auf einmal alle bösen Geister des Mißtrauens wären verscheucht gewesen. Doch hat das vorüberrauschende Leben unter andern Wunderlichkeit auch diese, daß wir, in Thätigkeit so bestrebsam, auf Genuß so begierig, gar selten die angebotenen Einzelnheiten des Augenblicks zu schätzen und festzuhalten wissen. Uns so bleibt denn im höchsten Alter uns die Pflicht noch übrig, das Menschliche, das uns nie verläßt, wenigstens in seinen Eigenheiten anzuerkennen und uns durch Reflexion über die Mängel zu beruhigen, deren Zurechnung nicht ganz abzuwenden ist. Mich Ihnen und Ihren theuren Angehörigen zu geneigtem Wohlwollen bestens empfehlend. ergebenst Weimar den 3. Januar 1832. J. W. v. Goethe.