1/12. An Johann Jakob Riese Lieber Riese. Ich habe euch lange nicht geschrieben. Verzeiht es mir. Fragt nicht nach der Ursache! Die Geschäfte waren es wenigstens nicht. Ihr lebt vergnügt in M. ich lebe hier eben so. Einsam, Einsam, ganz einsam. Bester Riese diese Einsamkeit hat so eine gewisse Traurigkeit in meine Seele gepräget. Es ist mein einziges Vergnügen, Wenn ich entfernt von jedermann, Am Bache, bey den Büschen liegen, An meine Lieben denken kann. So vergnügt ich aber auch da bin, so fühle ich dennoch allen Mangel des gesellschaftlichen Lebens. Ich seufze nach meinen Freunden und meinen Mädgen, und wenn ich fühle daß ich vergebens seufze Da wird mein Herz von Jammer voll, Mein Aug wird trüber, Der Bach rauscht jetzt im Sturm vorüber, Der mir vorher so sanft erscholl. Kein Vogel singt in den Gebüschen, Der grüne Baum verdorrt Der Zephir der mich zu erfrischen Sonst wehte, stürmt und wird zum Nord, Und trägt entrissne Blüten fort. Voll zittern flieh ich dann den Ort, Ich flieh und such in öden Mauern Einsames Trauern. Aber wie froh bin ich, ganz froh. Horn hat mich durch seine Ankunft einem Teil meiner Schwermuht entrissen. Er wundert sich daß ich so verändert bin. Er sucht die Ursach zu ergründen, Denkt lächlend nach, und sieht mir ins Gesicht. Doch wie kann er die Ursach finden, Ich weiß sie selbsten nicht. Euer Brief redet von Geyern. Glaubt denn der ehrliche Mann, daß hier die Auditores hundert Weiße säßen. Er war ja ehemals in Leipzig. Aber, nicht wahr, wie leer waren seine Hörsäle. Ich muß doch ein wenig von mir selbst reden. Ganz andre Wünsche steigen jetzt als sonst Geliebter Freund in meiner Brust herauf. Du weißt, wie sehr ich mich zur Dichtkunst neigte, Wie großer Haß in meinem Bußen schlug, Mit dem ich die verfolgte, die sich nur Dem Recht und seinem Heiligthume weihten Und nicht der Mußen sanften Lockungen Ein offnes Ohr und ausgestreckte Hände Voll Sehnsucht reichten. Ach du weißt mein Freund, Wie sehr ich (und gewiß mit Unrecht) glaubte, Die Muße liebte mich und gäb mir oft Ein Lied. Es klang von meiner Leyer zwar Manch stolzes Lied, das aber nicht die Musen, Und nicht Apollo reihten. Zwar mein Stolz Der glaubt es, daß so tief zu mir herab Sich Götter niederließen, glaubte, daß Aus Meisterhänden nichts Vollkommners käme, Als es aus meiner Hand gekommen war. Ich fühlte nicht, daß keine Schwingen mir Gegeben waren, um empor zu rudern. Und auch vielleicht, mir von der Götter Hand, Niemals gegeben werden würden. Doch Glaubt ich, ich hab sie schon und könnte fliegen. Allein kaum kam ich her, als schnell der Nebel Von meinen Augen sank, als ich den Ruhm Der großen Männer sah, und erst vernahm, Wie viel dazu gehörte, Ruhm verdienen. Da sah ich erst, daß mein erhabner Flug, Wie er mir schien, nichts war als das Bemühn Des Wurms im Staube, der den Adler sieht, Zur Sonn sich schwingen und wie der hinauf Sich sehnt. Er sträubt empor, und windet sich, Und ängstlich spannt er alle Nerven an Und bleibt am Staub. Doch schnell entsteht ein Wind, Der hebt den Staub in Wirbeln auf. Den Wurm Erhebt er in den Wirbeln auf. Der glaubt Sich groß, dem Adler gleich, und jauchzet schon Im Taumel. Doch auf einmal zieht der Wind Den Odem ein. Es sinkt der Staub hinab, Mit ihm der Wurm. Jetzt kriecht er wie zuvor. Werdet nicht über meine Galimathias böse. Lebt wohl. Horn will meinen Brief einschließen. Grüßt den Kehr. Schreibt. Habt mehr Collegia in Zukunft. Horn soll 5 nehmen. Ich 6. Lebt wohl. Gewöhnt euch keine academistische Sitten an. Liebt mich. Lebt wohl. Lebt wohl. Leipzig d. 28. Ap. 1766. Goethe.