25/6991. An Friedrich von Luck Weimar, den 16. Januar 1815. Ihr liebevoller Brief, werthester Herr und Freund, der mir so manches Gute eröffnet, was Sie bey unserm kurzen Zusammenleben an mir entdeckt zu haben glauben, würde mich beschämen, wenn ich mir nicht der Gebrechen, die mir wie jedem andern ankleben, so deutlich bewußt wäre. Sind es doch (um nur von dichterischen und schriftstellerischen zu reden) gerade die eigenen und fremden Gebrechen, die wir bekennen und darstellen, eben das, was uns andern interessant, vielleicht gar liebenswürdig macht. Eisern Sie daher nicht so gegen Ihre persönlichen Mängel, sondern bedenken Sie, daß diese nur wie Wappenschilder in Stammbäumen, die Verwandtschaft der großen Menschenfamilie unter einander bezeichnen. Wir erkennen daran nach unten und nach beyden Seiten hin, wie manche hübsche Ahnen und Vettern wir gehabt haben, und können vermuthen, daß ähnliche Eigenschaften sich auch in der Zukunft oberwärts verzweigen werden. Ihr Heftlein behalte ich also bey mir, und hoffe bald Gelegenheit zu finden, es unter hohe und schöne Augen zu bringen, deren Glanz uns leider schon seit gar langer Zeit verlassen hat. Leben Sie, meiner eingedenk, recht wohl, und empfehlen Sie mich dem Herrn Oberst und Commandanten auf das allerbeste. Goethe.