1/47. An Adam Friedrich Oeser Franckfurt, am 9. Nov. 1768. Hochgeehrtester Herr Professor, Das Aussenbleiben Ihres Junges, hat diesen Brief, den ich so balde zu schreiben schuldig war, um einen Monat und drüber verzögert. Mit ihm hoffte ich ein Paquet Briefe, und ein Paquet Kleinigkeiten nach Leipzig zu schicken, die nun auf eine andre Gelegenheit warten mögen. Wenn Sie nicht mehr Nachricht von ihm haben als ich; so werden Sie unruhiger seyn als ich; denn ich dencke immer, er hat entweder an Sie geschrieben, oder ist durch einen andern Weeg zu Ihnen zurückgekehrt. Bald hoffe ich's zu erfahren; ein guter Freund hat es auf sich genommen, sich in Grehweiler zu erkundigen wie es mit ihm und seinen Sachen steht. Meine Gesundheit fängt an, wieder etwas zu steigen, und doch ist sie noch nicht viel übers Schlimme. Inliegender Brief, den ich mich unterstanden habe an Ihre Mademoiselle Tochter zu schreiben, sagt mehr von diesem Punckte, und mehr von meinen übrigen Leben. Die Kunst, ist, wie sonst, fast jetzt meine Hauptbe schäfftigung, ob ich gleich mehr drüber lese, und decke, als selbst zeichne, denn jetzt da ich so allein lauffen soll, fühle ich erst meine Schwäche; es will gar nicht mit mir fort Herr Professor, und ich weiss vor der Hand nichts anders, als das Lineal zu ergreifen, und zu sehen, wie weit ich mit dieser Stütze in der Baukunst und in der Perspecktiv kommen kann. Was binn ich Ihnen nicht schuldig, Theuerster Herr Professor, dass Sie mir den Weeg zum Wahren und Schönen gezeigt haben, dass Sie mein Herz gegen den Reitz fühlbaar gemacht haben. Ich binn Ihnen mehr schuldig, als dass ich Ihnen dancken könnte. Den Geschmack den ich am Schönen habe, meine Kentnisse, meine Einsichten, habe ich die nicht alle durch Sie? Wie gewiss, wie leuchtend wahr, ist mir der seltsame, fast unbegreifliche Satz geworden, dass die Werckstatt des grossen Künstlers mehr den keimenden Philosophen, den keimenden Dichter entwickelt, als der Hörsaal des Weltweisen und des Kritickers. Lehre tuht viel, aber Aufmunterung tuht alles. Wer unter allen meinen Lehrern hat mich jemals würdig geachtet mich aufzumuntern, als Sie. Entweder ganz getadelt, oder ganz gelobt, und nichts kann Fähigkeiten so sehr niederreissen. Aufmunterung nach dem Tadel, ist Sonne nach dem Reegen, fruchtbaares Gedeyen. Ja Herr Professor wenn Sie meiner Liebe zu den Musen nicht aufgeholfen hätten ich wäre verzweifelt. Sie wissen was ich war da ich zu ihnen kam, und was ich war da ich von Ihnen ging, der Unterschied ist Ihr Werck. Ich weiss wohl, es war mir wie Prinz Biribinckern nach dem Flammenbaade, ich sah ganz anders, ich sah mehr als sonst; und was über alles geht, ich sah was ich noch zu tuhn habe, wenn ich was seyn will. Sie haben mich gelehrt demütig ohne Niedergeschlagenheit, und stolz ohne Präsumtion zu seyn. Ich würde kein Ende finden, zu sagen was Sie mich gelehrt haben; verzeihen Sie meinem danckbaaren Herzen diese Apostrophe, diese Sentenzen; das habe ich mit allen tragischen Helden gemein, dass meine Leidenschafft sich sehr gerne in Tiraden ergiesst, und wehe dem der meiner Lava in den Weeg kömmt. Die Gesellschafft der Musen, und eine fortgesetzte schrifftliche Unterredung mit meinen Freunden, wird mir diesen Winter ein kränckliches einsames Leben angenehm machen, das ohne sie für einen Menschen von zwanzig Jahren eine ziemliche Folter seyn möchte. Mein Freund Seekatz ist einige Wochen vor meiner Ankunft gestorben. Meine Liebe für die Kunst, meine Danckbarkeit gegen die Künstler, werden Ihnen das Maas meines Schmerzens angeben. Sollte Hr. Creisteuereinnehmer Weisse die Gefälligkeit für mich haben wollen, einige Nachrichten von seinem Leben und seiner Kunst in die Bibtiotheck einzurücken: so wollte ich sie Ihnen zusenden. Haben Sie die Gütigkeit, ihn bey Gelegenheit darum zu ersuchen. Idris habe ich eben gelesen, meine Gedancken hiervon ein andermal. Meine Eltern grüssen Sie und Ihre Famielie, mit der Liebe und Danckbaarkeit, die sie einem Manne schuldig sind, dem ihr Sohn soviel schuldig ist. Leben Sie wohl. Ich binn Theuerster Hr. Professor Der Ihrige Goethe.