22/6206. An Georg Heinrich Ludwig Nicolovius Es ist der ernsten und ahndungsvollen Erwartungen, welche denjenigen die ein höheres Alter erreichen, vor Augen schwebt, daß oft Jüngere die ein größeres Recht hätten länger hier zu verweilen, unaufhaltsam früher dahin gegriffen werden. Der Verlust Ihrer theuren Gattinn ist auch mir sehr empfindlich. Ich hatte seit langer Zeit viel Liebes und Gutes von ihr gehört, ja wer von ihr sprach, zeigte einen Enthusiasmus der mich in er Ferne ein eignes vorzügliches Wesen ahnden ließ. Wenn sie bey so viel liebenswürdigen und edlen Eigenschaften mit der Welt nicht einig werden konnte, so erinnert sie mich an ihre Mutter, deren tiefe und zarte Natur, deren über ihr Geschlecht erhobener Geist sie nicht vor einem gewissen Unmuth mit ihrer jedesmaligen Umgebung schützen konnte. Obgleich in der letzten Zeit fern von ihr, und nur durch einen seltnen Briefwechsel gleichsam lose mit ihr verbunden, fühlte ich doch diesen ihren, der Welt kaum angehörigen, Zustand sehr lebhaft und ich schöpfte daraus bey ihrem Scheiden zunächst einige Beruhigung. Meine liebe Nichte habe ich niemals gesehen, aber doch immer an derselben, so wie an Ihnen und an den lieben Ihrigen aufrichtigen Antheil genommen. Möge es Ihnen gelingen in der Erziehung und Bildung der Zurückgelassenen einen thätigen Trost zu finden, und sich an den Ebenbildern der Mutter noch lange zu ergötzen. Möge mir auch einmal das Vergnügen werden Sie in dieser spätern Zeit kennen zu lernen, wo man immer mehr nöthig hat sich an diejenigen anzuschließen, von deren redlichen Gesinnungen und unterbrochenem Bestreben man genugsam überzeugt ist. Leben Sie recht wohl und gedenken meiner unter den Ihrigen. Weimar den 20. October 1811. Goethe.