2322. Ein Lied im höhern Chor

Aug. 1747.


Mel. O was für ein Gnaden-Grund.


1.

Ich gäb gerne meinem Mann tausend küßgen: aber, ach! wo fang ich an? bey den füßgen; und da kriegt ein' jede zäh meines Schätzgens, wer weiß wie viel schmätzgens.

2.

Reicht der Mann ein fingerlein seinem kindel, so bleibt nicht ein ringelein, da mein mündel sich nicht aus genaden-wahl applicirte, und drauf figurirte.

3.

Auf dem wall der lippen sein und den wangen bleiben von den küssen mein hundert hangen: zwey und dreyssig kriegst du noch, Menschen-Söhngen, vor ein jedes zähngen.

4.

Ich küß auch die warme brust, wo Johannes einmal hatte seine lust. Leib des Mannes! an dir bleibt kein nagel breit ungeküsset, unentzükt gegrüsset.

5.

Aber seh ich meinen Mann für mich leiden, wandelt meinem herzen an, zu verscheiden: über seiner passion bleibt mirs seelgen kaum mehr in dem höhlgen.

6.

Da fällt nicht ein tröpfelein seines broden neben meins leibs töpfelein auf den boden: dringt doch kaum ein zährelein aus dem auge, das ich nicht aufsauge.

7.

Angespienes Prosopon, voller wunden, haupt, mit seiner dornen-kron, wie geschunden, du vom schweiß verwirrtes haar, und du rükken, voller geissel-schrikken,

8.

Von dem creutz-blok tieff gebükt grün und blauer, hals und achseln eingedrükt, welch ein schauer überläuffet einen doch bey den narben, ja den leichen-farben!

9.

Beyder händ und füsse sein, wunden-maale, und seinem ruh-küsselein am creutz-pfahle auf dem berge Golgatha, o da wanken sinnen und gedanken!

10.

Ich bin wahrlich ausser [2224] mir halb entzükket, in die nägelmaal die vier hingerükket; Mutter! setz auf dieser fläch wonn- und glorsam mich auf den gehorsam.

11.

Aber kommet herz und sinn auf die theure, da ist sprach und othem hin, theure Pleure; du bist derOceanus aller gnade, da helf Gott der made!

12.

Da hat eben kuß und gruß gleich ein ende, da nimmt sie der Euripus aus der lende, und so mit ihr in den strom sinus Dei, miserere mei!

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