[37] Die leidende Stadt

»Eine der ersten Bedingungen zum Glücke ist ein Leben, in welchem die Beziehungen des Menschen zu der Natur aufrecht erhalten bleiben, d.i. ein Leben unter freiem Himmel, bei Sonnenlicht und frischer Luft, Gemeinschaft mit der Erde, mit Pflanzen und Tieren. – Betrachtet nun das Leben der Menschen, die nach der Lehre der Welt leben: Viele von ihnen erreichen das Greisenalter, ohne mehr als ein- oder zweimal im Leben den Sonnenaufgang und Morgen und ohne je die Wiesen und Wälder anders gesehen zu haben, als von der Kalesche oder vom Waggon aus, und nicht nur ohne je etwas gesät oder gepflanzt, oder eine Kuh, ein Pferd, ein Huhn aufgefüttert und aufgezogen, sondern auch ohne einen Begriff davon zu haben, wie die Tiere zur Welt kommen, wie sie aufwachsen und leben. Diese Menschen sehen nur Gewebe, Steine und Holz, das durch menschliche Mühe verarbeitet ist; sie hören nur Laute von Maschinen, Equipagen und Musikinstrumenten; sie riechen nur spirituöse Gerüche und Tabaksrauch; zu Händen und Füßen sind sie umringt von Gewebe, Stein und Holz ...«

Tolstoi.


Wolke – du weiße Taube im Blauen –
Willst du mich locken zu seligem Fluge
Über die jugendfröhlichen Wiesen,
Über der Wälder jubelnde Häupter,
Über den spiegelnden See? –
Ach ich kann nicht schwärmen wie eh'.
Über Wiesen, über Wälder
Seh ich finstre Schatten gleiten,
Trauerschatten ... mir wird so weh.
[38]
Wie ein Wandrer,
Der zur sterbenden Mutter eilt,
Vor Sorge nicht sieht die Gärten am Wege,
Und der Bäume, der alten Freunde,
Grüßendes Flüstern überhört:
So schwebt vom deutenden Hügel
Meine seufzende Seele
Achtlos über den Reiz der Flur
Zur fern gelagerten Stadt
Und umfängt die trübe Stadt
Mit leidender Liebe –
Wie der weinende Wandrer
Die kranke Mutter.
Leidende Liebe!
Kränze mein williges Haupt
Mit dornigen Träumen,
Laß mein durstendes Auge trinken
Meiner Geschwister Leiden! –
Mit Geliebten Leiden ist süß,
Und Vergessen ist Sünde.
Trübe Stadt, mürrische Schaar
Schwärzlicher Dächer in Dunst gehüllt,
Steinerne Nester brütender Uebel,
Feuchte Kerkermauern,
Bange Krankenkammern
Meiner bleichen Geschwister! ...
[39]
Dort am engen Giebelfenster
Trauert ein blasses Mädchengesicht
Gleich welkender Blume geneigt;
Durch die schmalen Finger
Schleicht der Faden schlangenhaft
Und heftet die matte Hand
An das peinliche Gewebe.
Finster wie ein Sklavenvogt
Schaut vom Hofe die Mauer zu.
Drunten im sonneschmachtenden Hofe
Sitzt auf kühlen Steinen ein Kind
Träumerischen Auges
Und spielt mit Hölzchen
Und pflanzt die Hölzchen in spärliche Erde
Und baut ein Gärtchen
Im sonneschmachtenden Hofe.
Heimlich aber schleicht das Siechthum
Und küßt des Kindes Wange.
Wo ist des Kindes Mutter?
Sie krümmt den schmerzenden Rücken
Am dunstigen Waschfaß,
Bis die barmherzige Nacht
Die müde Hand ergreift.
Der Vater aber steht
Auf staubiger Straße im Sonnenbrand
[40]
Und schwingt mit braunen Armen
Den eisenbereiften Stampfer
Zum Stoß auf ächzende Steine,
Um zu ersticken
Der Erde keimende Sehnsucht,
Halm und Blumen. –
Und Mutter Erde lockte so gern
Die Menschenkinder mit Halm und Blumen
Zu Kindesliebe und Kindesglück ...
O dornige Träume,
Schmiegt euch heiß und heißer
Um die Erlösung grübelnde Stirn.
Wilder lodre mein Sehnen,
Lauter rufe mein Flehen:
Erlösender Tag, erwache!
Früher hebt der erlösende Tag
Dann vom Schlaf sein muthiges Haupt;
Himmlisches Licht
Regnet auf die schmachtende Stadt
Die finstern Dächer vergoldend;
Wonnige Luft in Strömen
Bespült die dumpfigen Mauern
Und scheucht aus steinernen Nestern
Dunkle Wolken gespenstischer Vögel.
O selig,
Zu öffnen die Thore der Stadt,
[41]
Genesende Geschwister
Zu führen an den Händen
Zur mutterglücklichen Natur,
Die mit heißem Sonnenmunde
Die bleichen Kinder küßt!
Dann schwärmen wir
Hand in Hand,
Gelockt von fliegenden Wolken,
Den weißen Tauben im Blauen,
Über die jugendfröhlichen Wiesen,
Über der Wälder jauchzende Häupter,
Über den wonnespiegelnden See.

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