Die Wissenschaft zu leben
Ein großer und vielleicht der größte Theil des Lebens,
Das mir die Parce zugedacht,
Schlich, wie ein Traum der Nacht,
Mit leisen Flügeln hin, und war vielleicht vergebens!
Vergebens flammten mir so vieler Tage Sonnen,
Wenn ich, vom Schöpfer aufgestellt,
Als Bürger einer Welt,
Durch eine gute That nicht ieden Tag gewonnen:
Wenn ich der Tugend Freund und groß durch Menschenliebe,
Frey von des Wahnes Tyranney,
Wahrhaftig groß und frey,
Erst werden soll, nicht bin, und es zu seyn verschiebe.
Wie? wer nach Golde geizt, obgleich kein Gold beglücket,
Braucht alle Stunden zum Gewinn,
Und läuft nach Wucher hin,
Wann kaum der junge Tag aus weissen Wolken blicket.
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Indeß die halbe Welt, vom sanften Schlaf umflogen,
In bleicher Dämmrung Stille träumt;
Hat jener, ungesäumt,
Schon Gelder angelegt, schon Zinsen abgezogen.
Wir leben niemals heut! wir schieben auf, zu leben,
Bis einst ein günstiges Geschick
Uns ein geträumtes Glück
Nach Vorschrift unsers Plans und Eigensinns gegeben.
So stark herrscht überall der Thorheit alter Glaube,
Als könnten wir uns nicht erfreun,
Nicht weis' und glücklich seyn
In einem ieden Stand, im Purpur und im Staube!
Auf Bluhmen seh ich hier den armen Landmann liegen,
Den ein gepachtet karges Feld
Nur kümmerlich erhält:
Um seine braune Stirn lacht ruhiges Vergnügen.
Er lebt, wann sein Tyrann, der ieden Tag bethränet,
Sich um das Leben selbst betrügt,
Und, immer unvergnügt,
Reich, aber hungrig stets, nach grösserm Reichthum gähnet.
Doch Clotho wartet nicht, bis wir genug erlangen;
Und wann sie uns zur kühlen Gruft
Und in die Stille ruft,
So haben viele nie zu leben angefangen.