Ein Taschenbuch

Felix Poppenberg gab einmal ein ›Taschenbuch für die Damen‹ heraus – aber so ein Taschenbuch für die Damen will ich dieses Mal nicht anzeigen. Es ist, glaube ich, gar nichts für die Damen . . .

Hätte Otto Weininger nicht das Pech gehabt, einer ganzen wiener Caféhaus-Generation in die Hände zu fallen, die ihn ausschrieb, falsch verstand, schlecht kopierte und überhaupt verdarb – wer weiß, wie er heute in unserm Gedächtnis dastünde! Nun ist ja, wie Karl Kraus an Heine gezeigt hat, jeder Schriftsteller auch an den Folgen schuld, die er hervorruft; aber wenn auch bei Weininger schwarze Stellen sind, an denen sich die Maden festsaugen konnten – alle hat er nicht verdient.

Artur Gerber hat (im Verlag von E. P. Tal & Co. zu Leipzig und Wien) unveröffentlichte Notizen Weiningers und einige Briefe von ihm mit einem menschlich schön anmutenden Vorwort herausgegeben. Das Vorwort enthält persönlich sehr interessante Daten – von einem Duell Weiningers war bisher nichts bekannt – und wie hat sich dieser Zweiundzwanzigjährige gequält! ›Geschlecht und Charakter‹ ist nicht mit Tinte geschrieben. Welch ein Mönch! Und welch ein Mensch! Mit Recht hebt Gerber aus den Notizen diese eine hervor, die aufzeigt, wohin ihn der Sturm vielleicht noch getrieben hätte, wäre er uns am Leben geblieben: »Wie kann ich es schließlich den Frauen vorwerfen, daß sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts andres als sie. Es gibt keinen Mann, der sich nicht freuen würde, wenn er auf eine Frau sexuelle Wirkung ausübt. Der Haß gegen die Frau ist nichts andres als der Haß gegen die eigne, noch nicht überwundene Sexualität.«

Einige Notizen sind schwer, andre gar nicht verständlich – aus allen geht aber hervor, wie sich dieser Kopf in die Dinge hineinbohrte, sich in sie fraß; das gärt und wallt, noch ist nichts fertig – und alles ist gehalten durch ein fast übermenschliches Wissen. (Allein der Literaturnachweis zu ›Geschlecht und Charakter‹ ist ein Wunder.)

Die Briefe geben dem Fremden nicht allzu viel. Sie sind im Persönlichen unendlich fein, debattieren viel – und zeigen schließlich, wie er da stand, wo jeder seines Formats gestanden hat: allein.

Das Schönste aber an dem Buch ist ein Bild. Sie haben Otto Weininger fotografiert, als er tot war. Der Körper sitzt in einem geblümten Stuhl, die Augen sind geschlossen. Gerber hat ihn so gesehen: »In dem Gesichte des Toten war kein Zug von Güte, kein Schimmer von Heiligkeit und Liebe zu sehen. Auch Schmerz nicht, nur ein Ausdruck, der dem Gesichte des Lebenden vollkommen gefehlt hatte: etwas Furchtbares, etwas Entsetzenerregendes, das, was ihm die Todeswaffe in die Hand gedrückt hatte: der Gedanke an das Böse.« Das Bild hat Züge [274] von dem bohrenden, grübelnden Holofernes – nicht von dem Riesen. Es ist in der Tat die Inkarnation des bösen Prinzips und etwas Erschütterndes, weil sich da etwas gegen das Böse gewehrt hat.

Ein Taschenbuch für die Damen ist der Band nicht. Aber für Männer und Menschen, die in diesem Chaos, in diesem tiefen Erkennen unter Gestein und Fluten das Gold haben blitzen sehen.

»Da kommen die großen Ströme her, wo die Tiefen weinen vor eisigem Grausen.«


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