Alte illustrierte Blätter

Er ist tot – er weiß es nur noch nicht!

Alter Schauspielerscherz


Als ich den Schrank abrücke, fallen eine Menge Papiere zu Boden, Staub steigt auf – ist bei Ihnen auch so schlecht Staub gewischt? Mit den Mädchen heutzutage . . . ! – und ich muß mich bücken, um in all dem Wust den davongerollten Ring zu suchen. Er ist natürlich nicht da. Aber wie ich so der Länge nach auf dem Bauche liege, fange ich an, in den heruntergefallenen Papieren zu lesen, sie einzeln zu betrachten . . . und bald habe ich Ring, Staub und Mädchen vergessen.

Es sind die einzelnen Nummern einer alten illustrierten Zeitschrift, die da liegen. Sie stammen aus dem vorigen Jahrhundert: aus der Zeit vor dem Kriege. Lose liegen die Blätter da, manche sind gar nicht komplett, alles ist durcheinandern. Und ich blättere . . .

»Eine aufsehenerregende pariser Gesellschaftsaffäre: Die französische Prinzessin Yvonne . . . « Hat sie wirklich Aufsehen erregt? Das würde sie heute auch: denn die Prinzessin hat einen Topfkübel auf, den sie in befreundeten Kreisen wahrscheinlich als Hut ausgibt, der Wagen hat eine unmögliche Karosserie, und der Verführer sieht aus wie ein Friseur. Ja, die Moden sind überhaupt ein bißchen merkwürdig. Denn nichts ist so lächerlich und so ganz und gar daneben, als die Mode von gestern. Die Mode von morgen weiß niemand, die von vorgestern hat schon einen leisen Stich ins Wehmütige (weißt du noch – Tante Jettchen!) – und die von vorvorgestern . . . na, in der kann man schon Operetten komponieren. Und noch weiter vorher hat sie gebildete Namen und gehört überhaupt der Geschichte an. Aber die von gestern . . . !

[309] Der ganze Hohn aller wahrhaft schicken Frauen ergießt sich auf die Mode von gestern; die witzigen Entstellungen, denen sich die Europäerin unterwirft, kommen nirgends so deutlich zum Ausdruck als gerade in dieser Epoche . . . Du armes Kind, was hat man dir getan! Und wie mondän, wie elegant, wie raffiniert sich diese armen Geschöpfe vorkommen! Ist denn keiner da, der sie auslacht! Keiner.

Und niemand kommt auf den Gedanken, daß es heute gerade so ist.

»Zur Präsidentenwahl in Amerika: Roosevelt . . . « Roosevelt? Der Mann heißt doch Wilson? Ach ja, richtig – Roosevelt, das war ja der . . . was hat er doch gleich getan? Mit dem Ruhm ist das so eine Sache. Die Blätter enthalten eine lange Reihe von ›weltgeschichtlichen‹ Persönlichkeiten – aber die meisten sind schon gar keine mehr. Vergessen, verweht, dahin. ›Der bekannte‹ – ›der berühmte‹ – ›der weltberühmte‹ – ja, damals. Heute – ein ferner Klang.

Und dann sind da die Leute, die inzwischen etwas geworden sind oder noch mehr geworden sind, als sie damals schon waren – Jugendbilder sozusagen. Wie glatt die Gesichter noch sind! Wie gestrafft die Züge! Wie unverbraucht noch die Augen, wie bescheiden die Haltung, weit weg von aller Pose! – Heute sind diese Figuren schon abfotografiert, die Millionen Augen, die auf ihnen geruht, scheinen sie abgenutzt zu haben – sie sind saturiert. Und also dicker. Wie dünn damals alle diese Leute waren! Da fehlen noch die Erfolgsdoppelkinne, dieser feiste Ausdruck: ›Na, passieren kann ja nun nichts mehr!‹, das ist alles noch nicht. Das waren Tage der Rosen . . .

Überhaupt: Die Leute haben wohl damals andere Gesichter gehabt. Solche Gesichter hat man heute nicht mehr. Es sind nicht die Bärte und Kragen und Krawatten und all das. Es sind einfach andere Gesichter. Sie sehen alle harmloser aus – ruhiger, stetiger, klarer. Vielleicht waren sie das gar nicht – aber in den Gesichtern ist schon etwas von ›guter alter Zeit‹, wenngleich dieser freundliche Euphemismus ja nur bedeutet: ›Vor fünfzig Jahren‹. Sie waren eben anders.

Premieren – Gartenfeste – Einholungsfeierlichkeiten – ›Professor Dr. med. Gustav Jäger, der bekannte deutsche Hygieniker und Vater des Jägerhemd‹ (sah auch genau so aus) – Zwergenhochzeiten – Paraden – Mordstätten – Tänze – Eisenhochöfen – die Schönheit des Kindes – und Nachtasyle – ich blättre und blättre.

Und habe ganz stark das eine Gefühl, das wir seltsamerweise immer nur der Vorzeit gegenüber haben, die wir gerade noch selbst durchlebt haben: Mitleid. Man möchte immerzu »Ach Gottchen!« sagen.

Das war alles? So harmlos, so bescheiden, so stillgenügsam war die Welt von damals? Weiter hatte sie keine Sorgen? Ja, wenn sie auch nur geahnt hätte, was ihr nachher blühte! Diese paar Männerchen bildeten einen ›Auflauf‹? – diese mäßig angezogenen Damen mit den großen Füßen waren die Ursache zu den schrecklichsten Ehebrüchen? – [310] das war ein ›Ereignis‹? – jenes eine ›Sensation‹? Dieser würdige Umhängebart herrschte über die Geschicke eines Landes? Vor jenem Monokel hatten die Leute Respekt? Über diese armselige Kruke lachten sie? Ach Gottchen.

Ja, da liege ich auf dem Bauch und komme mir schrecklich erhaben vor. Ich weiß es ja alles besser, die Zeitung spricht zu mir, aber ich lasse mich nicht belehren, sondern weise überlegen und schrecklich naseweis alle ihre Erklärungen und Witzchen zurück. Nein, meine Liebe, das weiß ich alles viel, viel besser! So ungefähr muß der liebe Gott die Welt begucken: wohlwollend lächelnd und unendlich gütig und ein bißchen mitleidig.

Da sehe ich auf. Oben, auf dem Schreibtisch, liegt ein neues illustriertes Blatt. Ja, Bauer, das ist ganz was anderes! Natürlich – wir sind doch weiter gekommen, die Weltgeschichte, der Fortschritt – ich bitte Sie!

Das ist natürlich alles blutiger Ernst. Das ist unsere, meine, Ihre Zeit! So sehen wir aus. Das stimmt alles. Daran ist nichts Lächerliches. Da schwingt zwischen den Zeilen jene Lebenskraft mit, aus der heraus das Blatt gemacht worden ist, da schnuppre ich die Luft, die Atmosphäre meiner Zeit, das ist alles ganz richtig. Weil ich mich nicht an die armen Worte und nur an die kleinen Bilder halte, sondern an jenes unwägbare andere, das diesen Dingen erst Wahrheit gibt. Das hat noch Fleisch auf den Knochen. Das lebt.

Wer in einem blühenden Frauenkörper das Skelett zu sehen vermag, ist ein Philosoph. Brüste sind hübscher.

Und da – unter dem letzten illustrierten Blatt liegt dein Ring, der mir davongerollt ist. Ich hebe ihn auf und blase ihn sauber ab. Ich werde ihn dir morgen an den Finger stecken und du wirst fragen: »Hast du ihn wiedergefunden?«

Und dann werden wir uns beide die neue illustrierte Zeitung ansehen, die – wie bekannt – die Welt wirklich widerspiegelt.

Und wenn dein Ring von deiner Enkelin getragen wird, mag sie das Blatt lesen und uns bemitleiden, wie es uns gebührt.

Vorläufig: sind wir dran.


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