Pariser Tage

Vorgestern.

In Frankreich muß mit den Finanzen etwas nicht in Ordnung sein. Seit meiner verflossenen Ausbildung in einer Bank bin ich nicht imstande, einen Kurszettel zu lesen – aber wenn hier keine Inflation ist, dann will ich Münchhausen oder Ossendowski heißen. Es gibt ein untrügliches Anzeichen.

Auf dem Boulevard des Italiens geht ein dicker Paletot mit einem Mann drin. Der Mann hat ein blaurotes Gesicht, wulstige Lippen, eine Kartoffelnase. Das Ganze bewegt sich wie eine Walze vorwärts, neben [271] einem Begleiter. Die Walze sagt mitten in Paris: »Der Mann ist ein Herzchen. Das laßt sich nicht streiten –!«

In Frankreich ist Inflation.


Gestern

war ich bei Louis Verneuil im Gymnase, wo Elvira Popescu spielt. ›La Joie d'aimer‹ heißt das Stück. Der Autor steht an der Kasse und hat einen wunderschönen japanischen Pelz an, aus Tant-Yemen. Im Theater ist alles besetzt, sogar die Nebenräumlichkeiten. Kein Wunder. Erstens hat die pariser Kritik das Stück in Stücke gerissen, wobei man sich fragt: wozu diese unendliche Mühe, die Kritiker günstig zu stimmen, sie zu umschmeicheln, anzudonnern, zu loben, wenn sie Gott behüte ihrerseits Stücke schreiben – wozu dieser Geschäftstrubel, wenn ich mich vorsichtig ausdrücken darf, rund um die Zeitungen – wozu das, wenn die Kritik nicht den geringsten Einfluß auf den Kassenrapport hat? – Das ist ein tiefstes Geheimnis. Die pariser Theaterkritik also hat Verneuil beschimpft: er wäre ein erfolgreicher Dramenautor (das ist so ziemlich die schlimmste Beleidigung, die man einem Menschen zufügen kann – es kommt gleich hinter Generalstrottel mit Bommeln) – er hätte vergeblich versucht, ein Seelengemälde zu malen, er solle gefälligst bei seinem Fabrikskitsch bleiben, Stückeproduzent, Schießbudenfigur, erfolgreicher Dramatiker. Das geht übrigens in aller Form vor sich – eine französische Kritik: »Wir sind von dem Stück nicht restlos entzückt« ist meisthin der Höhepunkt an Grobheit. Gut – großer Durchfall in den Zeitungen – großer Sieg an der Kasse. Inhalt:

Frau Popescu richtet unter Glucksen und rollenden Rrrs einen Dichter zugrunde, der seinerseits einen alten Angestellten seines toten Vaters bis zur Erschlaffung anpumpt und auszieht. Das geht nicht gut . . . Krach, Trennung, endlich allein – der Vierwaldstätter See sieht die glücklich Geeinten, die sich in die Arme fliegen. Man hat sich in diesem Fall Herrn Verneuil als den Kollegen des Schneiders vorzustellen, der Elvira Popescu anzieht. Sie sah bezaubernd aus, manchmal zu bezaubernd – aber Stück und Kostüme saßen wie angegossen: jedes Kostüm ein Gedicht, jeder Akt ein Maßkleid.

Die Popescu ist so pariserisch wie Bukarest, und so etwas gefällt in Paris sehr. Ihre Mittel sind beschränkt, aber dafür wendet sie sie auch oft an, und im übrigen ist sie Frau, Schlange, Affentheater und komische Oper in einem. Die Bretterbogen sich. Während oben die treue, aber weißhaarige und infolgedessen gekränkte Wirtschafterin des Dichters an Hand ihrer Ausgabenbücher nachwies, wie immer mehr Geld verbraucht wurde – jedesmal, wenn eine finanzielle Unregelmäßigkeit aufgedeckt wurde, ging ein Rauschen durch das kleinbürgerlich gepfropfte Haus – während dieser traurigen Ereignisse paßte ich schon [272] wieder nicht ordentlich auf, und statt für die›Vossische Zeitung‹ die Seelenschwingungen der Balkanistin aufzunotieren, sah ich den ganzen Abend auf drei Logen.

Die drei Logen lagen genau übereinander und waren folgendermaßen besetzt:

Unten, in der Proszeniumsloge, saß eine reiche junge Frau mit schönem Schmuck, sehr diskret angezogen, mit einem etwas älteren Herrn, der zu meinem großen Ärger ihr Mann zu sein schien. Die Loge war mit einer matten Goldleiste eingefaßt, und sie saß auf dem dunkeln Fond darin wie ein altes Bild. Sie lächelte kaum – meist über die harmlosen Scherze; wenns dramatisch wurde oder sich die Dame Popescu gar zu niedlich machte, verzog sie keine Miene. Der Mann sah, sauber gebadet und gut zu Abend gegessen, freundlich zu. Übrigens war man hier im Theater, Verneuil, man weiß, was das ist, man hat das Gefühl, sich einen Likör zu bestellen, die Marke ist bekannt und nicht einmal schlecht.

Einen Stock höher, im ersten Rang, wurde die Sache weitaus ernster genommen. Über den hüpfenden Putten mit dem Goldpopo aus Stuck saßen da mehrere Damen der feineren Stände und hatten rote Backen und ließen sich kein Wort entgehen. Eine, mit einem besonders kräftigen, energischen Kinn, hielt den Mund halb offen, und wenn eine Kraftstelle kam, sah sie lächelnd oder erfreut-empört auf ihre Freundin. Ja, hier wurde ihre Sache verhandelt: das mit dem Mann und das mit der Liebe. Die da wollte ihren ganz haben, ganz ihr eigen nennen, ihn völlig aussaugen – das versteht sich. Manchmal schoß wie ein kleiner Blitz auf Elvira ein Blick: es war die Konkurrentin, die Nebenfrau, die andere – sah sie wirklich so gut aus wie der Dichter aufsagen ließ? Die Augen im ersten Rang wurden schmal, und sie hatten so viel zu sehen: Kostüme, Männer, Handlung, Kostüme, Hüte und den Guerillakrieg der Liebe. Bravo –!

Im zweiten Rang hingen geschwärzte Hände über die Köpfe der Engel – die Plätze waren wohl billiger – hier saßen Portiers. Nichts gegen Portiers, aber sie nahmen sich merkwürdig genug aus, da oben. Vater ließ den Kopf etwas trübsinnig über die Brüstung hängen. Was ging ihn das Ganze an –! Mochten die da doch machen, was sie lustig waren . . . Mutter war klein und dick wie ein Gummiballon und hervorragend bei der Sache. »Fünfhunderttausend Francs . . . Hat man schon so etwas gesehen! Na, das waren Leute! Hatten sie denn keine anständige Concierge, die ein bißchen aufpaßte! Das wäre ja, gelacht wäre das ja!« Und alle Kinder sahen zu und sogen die Ereignisse da unten auf, zogen die dramatischen Schnüre, an denen die Puppen tanzten, gleichsam zu sich hin . . . Wenn es auch Freibillette waren, man wollte doch was fürs Geld haben . . . ! Da, jetzt schüttelt Mutter mit dem Kopf, entrüstet, ganz ausgepumpt vor Entrüstung, denn sie[273] sah wohl, wie das enden würde . . . Und Vater zog ein langes, gleichmütiges Gesicht: »Wat se all maket, die Studenten . . . !«

Das waren die drei Logen. Und so kommt es, daß ich nur einen Satz aus dem Stück behalten habe, einen einzigen. »Tu serais peut-être plus heureux, sans bonheur.« Und das soll vorkommen.


Heute

muß ich nach Berlin schreiben. Da habe ich neulich von Clemenceau berichtet, und davon, wie gallenbitter er stets gewesen sei. Wahr ist vielmehr, daß er manchmal milde sein konnte, so milde . . . Da begegnete ihm eines Tages eine Dame, die hatte – wie das in Frankreich manchmal zu sehen ist – den kräftigen Anflug eines Schnurrbarts. Als sie gegangen war, murmelte der Alte: »Und ich hatte immer geglaubt, sie trüge Vollbart –!«


Morgen

will ich hingehen und das Trümmerfeld der Exposition ansehen. Sie hat zugemacht, und die Nekrologe waren nicht alle sehr schmeichelhaft. Ein gehauchtes »Gottseidank!« war auch dabei. Gewiß, es ist eine ingeniöse Idee, eine große Ausstellung in das Stadtinnere zu verlegen – aber der große Platz vor dem Dôme des Invalides und die Brücken – sie waren doch schöner ohne diesen Budenzauber. Es gibt eine mächtige Gruppe, die für Wiedereröffnung der Ausstellung im nächsten Jahr ist – vielleicht, weil sie nicht auf ihre Kosten gekommen ist . . . Es sieht nicht so aus, als ob man mit den Aufräumungsarbeiten bremsen wird.

Der Einfluß der Ausstellung in Frankreich ist unverkennbar. Man sieht in den Warenhäusern schon viel mehr ornamentlose Gegenstände, glatte Sessel, glatte Schreibtische, glatte Beleuchtungskronen . . . Und wer den Geschmack der breiten Massen in Frankreich kennt, der weiß, was das für ein Opfer, für ein Risiko, für ein Wagnis bedeutet. ›Il faut tout de même quelque chose!‹ bedeutet: hier noch ein Kränzchen und dl noch ein Sternchen und da ein Rändchen und hier ein Blümchen . . . Daudet setzt an die Spitze seines Blattes: die französischen Könige hätten Frankreich geschaffen. Mag sein. Sie haben aber auch den Kunstgeschmack für Gebrauchsgegenstände auf Jahrhunderte verfälscht, weil diese Generation zu schwach ist, sich selbst etwas zu ersinnen. Sie leben gern in den Salons ihrer Vorfahren. Vor dem Fenster, auf der Straße, hält der Citroën.


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