»Bitte – fädeln Sie mal ein . . . «

Neuestes Experiment für Individual-Psychologen


Mache diesen Versuch:

Bitte eine dir bekannte Frau, eine Nadel einzufädeln. Sie wird es tun – und dabei wird sie den Faden in das Nadelöhr hineinstecken.

Bitte einen dir bekannten Mann, eine Nadel einzufädeln. Er wird es, nach anfänglicher Verwunderung, tun (»Wozu? Was soll denn das? Können Sie das nicht selbst?«) – und dabei wird er die Nadel über das Faden-Ende stülpen.

Dieses erfüllt mich mit größter Verwunderung. Warum ist das so? Warum ist das immer so? Liegt hier ein tiefer Unterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Natur begründet? Was ist es? Welches Symbol liegt da verborgen? Warum stülpen die Männer, wenn es nicht grade Schneider sind, oder Leute, die berufsmäßig mit winzigen Gegenständen zu hantieren haben? Warum fädeln nur die Frauen ein? Weil man es ihnen so beigebracht hat? Aber man hat ihnen doch mancherlei beigebracht, und sie benutzen oft ihre eigene Methode und handeln nach ihrem eigenen Kopf! Was geht hier vor sich –?

Ist es vielleicht, weil der Mann einst das Schwert geführt hat, und nun das metallische Glitzern der Nadel . . . (nach Belieben auszufüllen). Und die Frau, liebt sie die Präzisionsarbeit, das treu sorgende Element, welches . . . (nach Belieben auszufüllen)? Es ist eine ganz erstaunliche Sache, ich traue mich gar nicht mehr, jemand danach zu fragen, denn das Gefädel ist schon nicht mehr zu ertragen. Wer wird mir das erklären?

Von den Experimental-Psychologen laßt uns nicht sprechen. Nadel und Faden . . . wenn das herauskommt, daß das Experiment wirklich neunhundertundneunundneunzigmal von tausend wirklich, wie oben beschrieben, verläuft –: was läßt sich da alles schlußfolgern! Jeder Arzt, der auf sich hält, wird künftighin ein Heftchen Nadeln und einige[303] Fäden auf seinem Tisch liegen haben, und er wird zu den Patienten sprechen: »Bitte, fädeln Sie mal ein!«, und Gnade Gott, wenn dann eine Frau die Nadel über den Faden stülpt oder ein Mann richtig fädelt –! Es ist gar nicht auszudenken, was dann alles geschieht . . .

Es ist ein tiefes Geheimnis. Seit Wochen bilde ich den Schrecken meiner Umgebung; ich trage, wo ich gehe, stets Nadel und Faden bei mir, und ich sage abwechselnd zu Lottchen, dem londoner Schutzmann an der Ecke, zu meiner Amme und zum Frisör: »Würden Sie bitte mal diesen Faden in diese Nadel einfädeln?« Der Forscher muß viel leiden, und es hat schon manchen Kummer gegeben; aber schließlich, wenn sie alle ihren Vers mit: »Sagen Sie mal – bei Ihnen piekt es wohl?« aufgesagt haben, dann fädeln sie ja doch. Die Frauen mit dieser blitzschnellen Bewegung des Fadens zur Zungenspitze, sie feuchten ihn an, und, schwupps, haben sie ihn eingefädelt. Die Männer lachen immer erst ein bißchen, so, wie einer lacht, wenn ihm was schief gegangen ist, sie wälzen ihre Ungeschicklichkeit auf mich ab, ich lasse mir das auch still gefallen, und dann fädeln sie ein. Es dauert. Den Rekord hat Karlchen geschlagen – er hat genau dreiunddreißig Minuten gefädelt, und dabei hat er auch noch gemogelt. Und natürlich hat er gestülpt. Wenn die Versuchsobjekte fertig sind, dann halte ich ihnen einen kleinen Zettel entgegen, auf dem steht: »Frauen fädeln, Männer stülpen.« Dann sagen die Objekte: »Sie sind ja völlig übergeschnappt!« – und dann versuchen sie es noch einmal, aber nun sind sie befangen, ihre Hände zittern; bei den Männern geht es noch viel schlechter als das erstemal – und meist tun sie dann, nun grade, das Entgegengesetzte. Aber das gilt nicht.

Es ist ein tiefes Geheimnis. Regen sich atavistische Ur-Ur-Ur-Ur-Instinkte? Aber die Neandertal-Menschen haben doch nicht gefädelt, oder doch? Mit Bronze-Nadeln? Und haben ihre Frauen gefädelt? Und haben die Männer gestülpt? Und was bedeutet das alles –?

Frauen fädeln. Männer stülpen. Machen Sie den Versuch – aber verstecken Sie vorher Ihren ›Uhu‹ –!


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