Paris, den 14. Juli

Ludwig Fulda, dieser – wie ihn Efraim Frisch einmal genannt hat – »Seiltänzer auf dem Parkett«, weist unter seinen gedichteten Schriften auch das Drama eines dicken Seeräubers auf, der alt geworden ist und keineswegs mehr so romantisch kann, wie die Frauen das von ihm erwarten. Ich habe das Stück nicht gelesen, aber ich bin davon überzeugt, daß dieses schöne Thema rettungslos verpfuscht und verniedlicht ist. Ein dick gewordener Cäsar . . . nein, mehr: ein bürgerlich gewordener Held, einer, der morgens beim Kaffee die Zeitung liest, hier und da einmal nachsieht, wie denn das damals in dem Seegefecht bei den Azoren war, und grundsätzlich auf keinen Dampfer mehr geht, weil es nun genug ist . . . Aber er erinnert sich doch gern.

Nun haben sie also hier in Paris – wie alljährlich – den 14. Juli gefeiert. Vor 136 Jahren stürmten die wahrhaftigsten Revolutionäre der alten Welt das dicktürmige Gebäude, das heute nicht mehr da ist. Ein paar Steine stehen noch in Paris herum, einige davon stecken in der Concorde-Brücke, graue Linien bezeichnen auf dem Platz der Bastille das Ausmaß eines der Türme – das ist alles.

Feste pflegen sich lange zu halten – ihre Motive weniger. (Die Komik deutscher Tannenberg-Feiern, die ein gewonnenes Gefecht hochbrüllen und einen verlorenen Krieg darüber vergessen, macht eine Ausnahme.) Der 14. Juli ist ein französischer Nationalfeiertag, mit allem Brimborium eines solchen: mit behördlichen Feuerwerken, offiziellen Gratisvorstellungen, amtlichen Feiern, militärischen Paraden – in Paris hatte Painlevé übrigens auf eine Parade verzichtet –, mit einem freien Tag, wo die Leute ausruhen können. Der 14. Juli wird in Frankreich traditionell gefeiert: bunt, laut, vergnügt, ohne Drohungen gegen andre Volker, genügsam. Aber warum er gefeiert wird, und was da gefeiert wird, das verdickt sich doch langsam in den Gemütern, weil es schon so oft gesagt worden ist, als sei es nie gesagt worden, die Lorbeeren sind platt gesessen, sie stechen nicht mehr.

»Diese gemeinen Menschen, die, ohne zu arbeiten, die Früchte des Schweißes der Handarbeiter verschlingen, die der Nation nie irgendeinen [178] Dienst erwiesen haben, hatten sich in den Kellern versteckt. Als sie sahen, daß die besitzlosen Klassen allein die Revolution machten, sind sie aus ihren Schlupflöchern gekrochen und haben uns wie Straßenräuber behandelt, denn als die Gefahr vorüber war, haben sie in den Distrikten intrigiert, um ihre Stellen wiederzubekommen, sie haben Uniformen und Achselstücke angelegt; heute, wo sie sich für die Stärkeren halten, möchten sie uns unter das härteste Joch beugen: sie vernichten uns ohne Mitleid und Gewissen.«

Das hat nicht etwa ein verzweifelter Kommunist in Deutschland oder sonstwo im Jahre 1925 gesprochen, sondern Marat drei Jahre nach dem Bastille-Sturm. Inzwischen ist die Revolution in ihren Gedanken siegreich gewesen und für die heute Regierenden zurechtgebogen, ihr sterbliches Teil ist voll konsumiert. Und so feiert man noch, aus alter Gewohnheit, jenen Tag.

Man stürmt heute keine Bastillen mehr. Das äußerlich greifbare Symbol ist seltener geworden, und man muß schon ein bißchen künstlich nachhelfen, wenn man einer modernen revolutionären Bewegung zu Gedenktagen verhelfen will. Die Unterdrücker sitzen nicht mehr in einem einzigen Palast der Stadt, der zu stürmen wäre, Banken stehen an jeder Ecke, selten gerinnen Reaktion, Nutznießertum und die Pest der Unterdrückung zu einem Mann, zu einem Haus, zu einer Fahne. Das Leben spielt sich heute auf dem Papier ab, in Telefondrähten, an der Börse. Schwer, das zu stürmen und den Sturm kenntlich zu machen.

Fröhlich tanzen die freundlichen französischen Kleinbürger auf den öffentlichen Plätzen. Sie denken sich nichts weiter dabei, als daß eben frei ist, und diese Freiheit heißt: einmal nicht arbeiten müssen. Und weil fast niemand in Frankreich so erbarmungslos proletarisiert ist wie die gleichen Schichten in Deutschland, weil es wenig Arbeitslose und viele zufriedene Menschen gibt, so wird dieser Tanz nicht mehr als Erinnerung an die Befreiung von einem Joch empfunden, das es nicht mehr gibt, und noch nicht als Ausdruck von Bestrebungen, von einem Joch loszukommen, das kräftig wächst. Es ist wie ein religiöser Feiertag für Leute, die nie in die Kirche gehen. Es ist eben heute frei.

Die Kleinbürger tanzen. Der dritte Stand, der sich sein geschichtliches Recht erkämpft hat, tanzt. Auf wem –? In Frankreich sicherlich noch nicht auf dem vierten. Aber der Steuerpächter Ludwigs XIV. wäre schön erstaunt gewesen, wenn man ihn, den honetten, mitunter gebildeten Mann, den Plauderer im Salon und den guten Gastgeber auf dem Schloß, eine ›Pestbeule der menschlichen Gesellschaft‹ genannt hätte. Der Noble spottete damals über den Citoyen; der Citoyen macht sich heute über den Camarade lustig. Das ist der Lauf der Welt.

Der unverwelkliche Ruhm der französischen Revolution lebt. Solange Revolutionen entstehen und zur Vollendung getrieben werden, wird man sich dieser Männer erinnern, die gegen ihre Zeit für die Zukunft [179] eine schlimme Vergangenheit in den Staub gestürzt haben. Nun sieht sich der dick gewordene Romantiker seine ehemaligen Erfolge gemächlich mit an und macht ein Tänzchen.

Wo stünden heute Robespierre, Marat, Danton? Was täten sie heute?

Henri Barbusse hat einen Protest der intellektuellen Arbeiter Frankreichs herausgeschleudert, der sich gegen den Kolonialkrieg in Marokko wendet. Die Reaktion der Geistigen hat wütend geantwortet, er sei nicht der Repräsentant der französischen Geisteswelt und habe nicht das Recht, allein für sie zu sprechen. Das ist richtig, denn eine homogene intellektuelle Schicht gibt es weder in Frankreich noch anderswo. Andre Germain hat ihm geantwortet, Victor Basch . . . schonend, voll Anstrengung, zu verstehen, zu vermitteln, etwas zu überbrücken . . .

Die französischen Sozialisten und das Kartell – sie haben sich noch nicht strikt und klar gegen diesen Krieg ausgesprochen. Er ist nicht populär, dieser Krieg, man mag ihn nicht, und niemand – mit Ausnahme des interessierten Militärs und eines Kerns der Reaktion – empfindet ihn als glorios. Das aktive Heer genügt zunächst. Freiwillige gibt es immer und überall, das Land geht seinen Geschäften nach und liest von diesen Dingen wie die Preußen von den Kriegen Friedrichs des Zweiten. Là-bas . . .

Victor Basch entschuldigt und begründet das damit, daß er sagt: »Wir wissen nicht. Wir sind nicht unterrichtet.« Nun kann in der Tat niemand in dieses trübe Gemisch von Geschäften der Kolonialgesellschaften, Militärs, Abenteurer hineinsehen; sicher ist, daß bei beiden Parteien das Wasser, mit dem da gekocht wird, nicht das klarste ist, und daß wohl auch auf Seiten Abd el-Krims englische Kaufleute und deutsche Landsknechte mithelfen, das Land ja nicht zur Ruhe kommen zu lassen . . . Und niemand weiß, ob der Vorwurf, den die Radikalen dem Marschall Lyautey machen, richtig ist – der Vorwurf, er, dessen Stellung heute erschüttert ist, habe diesen Einfall der Rifleute vorhergewußt, wenn nicht gar indirekt begünstigt . . . Die Niederlage der Spanier gab das Signal. Es geht gar nicht gegen Frankreich. Es geht gegen die Kolonialmächte Europas überhaupt.

Die Franzosen spielen ein schweres Spiel. Sie haben den Sozialisten Malvy, den Schicksalsgenossen von Caillaux, nach Madrid geschickt, zu großem Mißvergnügen übrigens der spanischen Emigranten in Paris, die darin eine Anerkennung der Diktatur durch die Demokratie sehen. (Recht fraglich, ob beide Vokabeln glücklich gewählt sind.) Malvy hat dort verhandelt, und man hat sich zu einigen versucht, wie man heil aus dem Abenteuer herauskommen kann: der eine böse angestoßen, der andre nicht sehr glücklich.

Spanien, Abd el-Krim – und noch eine Front: die Kommunisten. Ich will nicht untersuchen, ob ihre Taktik in Frankreich bisher jemals geschickt gewesen ist. Immerhin ergibt sich aus ihrer durchaus diskutierbaren [180] Anschauung über Kolonialreiche der merkwürdige Widerspruch, daß Arbeiterdeputierte Farbige – gegen wen unterstützen? Gegen den Kapitalismus? Aber zunächst gegen uniformierte Arbeiter, die da unten ihr ›régiment‹ abdienen – kein sehr erfreulicher Anblick. Das Geschrei mit dem Hochverrat wollen wir ja nun beiseite lassen – aber selbst vom kommunistischen Standpunkt aus wirkt hier manches fatal. Denn darin haben noch die unmodernsten Liberalen Frankreichs recht: nur mit einer Förderung der Kabylen ist die Sache ja nicht abgetan.

Das Beispiel Englands, dieses kleinen Venedig mit der riesigen Seemacht und dem noch größern Kolonialbesitz, gibt für alle den Ausschlag. »Geben wir jetzt Afrika preis«, sagt Victor Basch ungefähr, »dann nehmen es die andern. Wir geben es also gar nicht den Eigentümern zurück, sondern schaffen eine gewissermaßen herrenlose Sache, die sofort aufgegriffen werden wird.« André Germain zögert; er weiß keinen Ausweg. Paul Painlevé hält einige maßvolle Reden, aus denen doch deutlich genug etwas klingt, was einer Militärmusik nicht unähnlich ist . . . Niemand weiß Rat. Die alten Dreyfusards nicht und die neuen Sozialisten schon gar nicht. Die Kontrolle durch das Parlament – wie überall – eine Farce.

Wo steht heute die Bastille –?


Sie tanzen.

So haben sie, beispielsweise, auch vor elf Jahren getanzt, zum Andenken und zu Ehren einer Freiheitstat, die ihnen wirklich etwas gegeben und bedeutet hat. Damals, im Jahre 1914, ahnten die Tänzer noch nichts . . . Was heute Staub und Mergel und verdickte Erde in den Kalkgruben um Verdun ist, tanzte damals, fröhlich, sorglos, vergnügt . . . Tränen sind getrocknet, Spuren verweht, Menschen zerbrochen an dem, was damals geschah. Die meisten trösteten sich, denn es geht ja immer weiter, auch Trauer verwächst, das ist schrecklich und gesund. »Dies aber kann ich nicht ertragen, daß so wie sonst die Stunden gehn . . . « Doch, sie gehn.

Wo steht heute die Bastille –?

Wo–?

Der Eiffelturm ist illuminiert. Um im Stil seiner Erbauungszeit zu bleiben: mit bleichen Sternen und Figürchen und Schlangenlinien und blitzenden Punkten, und nur, wenn die feine Figur der schlanken Nadel, durch tausend Glühlampen nachgezogen, aufleuchtet, ist er hübsch anzusehen. Heute leuchtet und jubiliert er besonders in Farbe und Licht.

An Wochentagen aber strahlt er als Reklame. Herr Citroën hat sich das Recht gekauft, die Buchstaben seines Namens von oben nach unten auf den Turm zu malen, und nun flammen sie da in die Nacht hinaus, groß und deutlich und schreiend.

[181] Heute, am 14. Juli, sieht man nur Figuren und Punkte und bleiche Sterne. Dazwischen aber, undeutlich, heute nicht voll geschaltet, Fetzen von Buchstaben, zu erratende Fragmente. Ein halbes C, vielleicht ein I, ein O . . .

Da ragt der Eiffelturm in die Nacht, in den hellen Lichtern seines republikanischen Freudenfeuers. Darunter, fast verdeckt, undeutlich und doch erkennbar, die Buchstaben eines Namens, eines Programms, einer Ursache.


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