[163] Das Fotografie-Album

»Fang nie
was mit Verwandtschaft an –!
Denn das geht schief, denn das geht schief!
Sieh dir lieber 'ne fremde Landschaft an –
Die Familie wird gleich so massiv!
Denn so von Herzen hundsgemein
kann auf der ganzen Welt kein Fremder sein . . .
Fang nie was mit Verwandtschaft an –
dann
bist du glücklich dran –!«

Theobald Tiger


Das Mädchen schlägt die Korridortür mit dem Fuß zu und öffnet eine hohe Tür: »Die gnädige Frau wird gleich kommen – bitte, warten Sie doch hier einen Momang!« Wir treten ein.

Das ist der Salon. Es sieht sehr fein und sehr unwohnlich darin aus, ringsherum stehen allerlei Nippes, mit denen man gar zu gern einmal in einer Schmeißküche ein Viertelstündchen allein wäre – und die Stühle sind alle so zerbrechlich. Auf dem großen runden Tisch liegt auf einer grünblauen Decke, mit Gold bordiert, ein dickes Album. Es ist in rotem Plüsch gebunden, über und über mit Gold angelaufen und hat dicke Pappseiten in glänzendem Goldschnitt. Wo nur die gnädige Frau bleibt –? Die gnädige Frau ist meine Tante Hanna, und ich soll ihr meine Braut vorstellen. Von dem unteren Stockwerk hört man eine bösartige Clementi-Sonatine. Die Läufe trillern . . . Ja, was machen wir inzwischen? Wir sehen uns inzwischen das Fotografie-Album an.

Das ist

GROSSVATER.

Großvater lebt nicht mehr. Ich besinne mich noch sehr genau auf ihn; er war ein untersetzter, freundlicher Mann mit einem ganz langen Bart. In dem Bart war immer Tabak. (Das konnte Großmamachen nicht leiden.) Großpapa roch auch immer nach Tabak, und es gab da eine Kuckucksuhr. Sonntags gingen wir immer zu Großpapachen, und jeden Sonntag, den Gott werden ließ, wurde uns Kindern vorher eingeschärft: »Daß mir keiner was von Tod und solchen Sachen sagt!« Ich bekam dann einmal furchtbare Haue, weil ich mit einer alten Zigarrenkiste von Großpapachen ›Sarg‹ gespielt habe; Lotte, meine älteste Schwester, hielt eine Grabrede, und ich war der Träger. Auf der Kiste war eine große Bronzefigur, die wir mit entsetzlicher Mühe vom Sockel heruntergeholt hatten, ganz vorsichtig . . . Als wir die ganze Geschichte im Ofen begraben wollten, kam Großpapa und Papa und Mama herein . . . Ich bekam: von Papa mit dem Stock, von Mama mit dem Staubbesen, von Großmama [163] mit der Hand und von Lotte privat, abends im Schlafzimmer, Knüffe. Großpapa schenkte mir einen Bonbon. Das heißt: das war eigentlich gar kein Bonbon – das war so eine malzige, schmalzige Sache, die ich immer heimlich ausspuckte und an die Gardinen geklebt habe. Aber diesmal mußte ich ihn aufessen, und das war die härteste Strafe. Ja, das war Großpapa. Was er war . . . ? Er war Kaufmann in Posen gewesen, natürlich stammte Großpapa aus Posen, und dann hat er sein Geschäft aufgegeben, und ist nach Berlin gezogen. Bei seiner Beerdigung mußten wir sehr weinen, weil es alles so schön traurig war.

Und dies hier ist

GROSSMAMA.

Großmama lebt noch. Sie trägt noch genau dieselben Häubchen, die sie schon zu meiner Kinderzeit getragen hat, und es riecht bei ihr immer nach sauren Zitronen. Großmama hatte einen, nein, zwei Lieblinge: das eine war ihr Papagei, und der andere war ein verstorbener Vetter von mir, der hieß Paul. Das muß ein Idealkind gewesen sein. Paul hatte alles, konnte alles, war immer artig gewesen . . . wenn er nicht schon tot gewesen wäre, hätte ich es gewünscht. Aber für Großmama war er nicht tot.

Großmama nannte ihren Mann nie mit dem Vornamen oder so; sie sagte immer »Ledermann« zu ihm. Einfach: Ledermann – wie beim Militär. Großmama konnte kein Gewitter ertragen, und ich weiß noch genau, einmal, als wir da waren und es gewitterte gerade furchtbar, da sagte sie ganz leise in den Papageienkäfig: »Wie Paul noch da war, hat es nie gewittert!« Ja. Der Papagei war ein gräßlich borstiges Luder, aber wir mußten furchtbar nett zu ihm sein. Ich habe ihm mal heimlich eine Spinne in den Käfig gesetzt, da hat er den ganzen Tag geschrien, kein Mensch hat gewußt, warum. Die Spinne ist aber nachher mir auf die Hand gekrochen, und da habe ich geschrien. Ich habe Haue gekriegt. Großmama hatte drei große Sorgen in ihrem Leben; abgesehen vom Gewitter: die eine war, daß sich Lottchen nicht erkältet, daher mußte Lottchen auch im Hochsommer immer im Jackett zu ihr gehen; die zweite war, ob auch die Gasrechnung richtig bezahlt sei, denn auf dem Nebenflur war einmal jemand wegen einer unbezahlten Gasrechnung gepfändet worden; und die dritte, allerschrecklichste war: Warum hat Onkel Richard »die Person« geheiratet! Ich wußte damals nicht, was es war. Es war eine Schauspielerin vom Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, die Onkel Richard wahr- und wahrhaftig geheiratet hatte, und wir Kinder fanden das furchtbar interessant. Großmama sprach immer ganz leise, wenn davon die Rede war – und beim Stehen hob sie immer ihr Kleid ein bißchen an, damit sie sich an diesem Gesprächsstoff nicht beschmutze. Bei Großmama zu sein, war immer sehr gefährlich. Sie wußte nämlich von allem, was in der Familie vor sich ging, etwa nur die Hälfte – und man mußte sehr aufpassen, daß man nicht plötzlich von den [164] Sachen sprach, die sie nicht wußte. Zum Beispiel von der Geschichte mit Onkel Oskar, der sich als Rechtsanwalt einen Prozeß allein geführt hatte und bis über die Ohren dabei hereingefallen war. Es war eine Sache von ungefähr zwanzigtausend Mark, und Großmama ahnte von dem Unglück nicht das geringste. Sie sagte immer: »Ich weiß alles, aber ich lasse es nicht gewahr werden!« Hinter ihrem Rücken machten sich die andern immer Zeichen. Einmal sah sie das im Spiegel, und da fragte sie die beiden – es waren Tante Hanne und Tante Jette –: »Was macht ihr da?« Und da mußten sie sagen, sie seien so entsetzlich nervös. Sie mußten daraufhin eine ganze große Kanne Kamillentee austrinken und bekamen Leibschmerzen. Großmama konnte es nicht leiden, wenn Großpapa rauchte. Sie schloß ihm alle Pfeifen und alle Zigarren weg, aber er hatte doch immer wieder welche. Er steckte sich nämlich hinter das Mädchen. Das bekam sie heraus, und da hat sie gerufen: »Ledermann, du bist ein Lüderjan!« Das wurde bei uns ein geflügeltes Wort.

Das hier ist

ONKEL OSKAR.

Onkel Oskar – nein, den Bart trägt er jetzt nicht mehr, das war damals Mode – Onkel Oskar war Rechtsanwalt. Als er sein Assessorexamen machen sollte, da kam er mal ganz aufgeregt zu uns und sagte, wenn ihm Papa nicht gleich hundert Mark pumpte, dann schmisse er sich in den Landwehrkanal. Das wollte Papa nicht, weil der Landwehrkanal ja in einer sehr bekannten Gegend liegt, und da gab er ihm die hundert Mark. Onkel Oskar spielte immer Sonntags mit Papa und Onkel Richard bei uns und bei ihm und bei Onkel Richard der Reihe nachrum: Skat. Um vier, nach dem Mittagessen, wenn sie geschlafen hatten, fingen sie an. Onkel Richard hatte dann immer noch das Muster von dem Kissen, auf dem er gelegen hatte, als Abdruck auf der Backe. Um halb fünf ungefähr hörten wir Kinder schon hinten im Zimmer, daß da vorn etwas los sei – und um fünf war der schönste Krach im Gange. Gewöhnlich schrien alle drei mit einem Male. Ich weiß noch, daß Papa dabei gesagt hat: »Bei der Ehre meiner Frau und meiner Kinder – ich habe schon das vorige Mal den Pique-Jungen ausgespielt!« Und Onkel Richard hat gerufen: »Franz – das ist hier eine ernste Sache – mach gefälligst keine Witze!« Und da ist Mama ins Zimmer gestürzt gekommen und hat gerufen, er habe sie beleidigt, und dann sind alle weggegangen. Wie sie weggegangen sind, hat Papa die Karten aufgenommen und hat alle sortiert, und Mama hat ihn gefragt: »Verteidigst du so die Ehre deiner Frau?« – Und da hat Papa gesagt: »Und ich hatte doch den Pique-Jungen ausgespielt!« – Sonntags war es bei uns überhaupt immer sehr schön. (Ob die Gnädige nun bald kommt . . . ? Es dauert ein bißchen lange, finde ich.)

[165] Dieses hier ist

TANTE JETTE,

die stadtbekannte Kokette.

Tante Jette war dumm, das war in der ganzen Familie herum. Sie glaubte alles, was man ihr erzählte. Wir haben ihr einmal eingeredet, wenn der Schah von Persien nach Berlin kommt, dann muß in jedem Stadtbezirk eine Jungfrau ausgesucht werden und ihm als Gastgeschenk dargebracht werden. Tante Jette hat sich dann vierzehn Tage in ihre Wohnung eingeschlossen und hat niemanden hereinkommen lassen. Als sie wieder rauskam, haben wir sie furchtbar ausgelacht. Und da hat sie gesagt: »Überhaupt – Ihr wißt ja gar nicht einmal, ob ich noch eine bin! Ich war in meiner Jugend eine stadtbekannte Kokette!« Seither hieß sie nur noch so.

Das ist – na, wenn du den kennenlernst, läßt du die Partie zurückgehen, mein Kind. Dies ist – und hier ist er noch mal, wie er früher aussah – also, das ist

ONKEL MAX.

Onkel Max ist, wie schon sein Name besagt, klein und frech. Du kannst dir so etwas von Mundwerk überhaupt nicht vorstellen. (Kommt sie etwa jetzt? Nein.) Onkel Max war verheiratet, seine Frau, Ottilie, lebt nicht mehr; das war eine ganz kleine, gedrückte Person, die hat er ganz platt geredet. Er redete immerzu und ohne Unterlaß. Seine Frau behauptete, er rede auch aus dem Schlaf. Wenn er bei uns war, sagte er jedesmal: »Kumpel« – so nannte er mich, warum, weiß ich nicht – »Kumpel, lies mir mal die Zeitung vor!« Ich fing auch immer brav und bieder an, zu lesen – aber ich kam nie weiter als bis zum dritten Satz. Zu jedem Wort hatte Onkel Max etwas zu sagen – er kritisierte die ganze Politik in Grund und Boden, den Reichskanzler, die Abgeordneten und, wen er aus irgend einem Grunde ganz besonders auf dem Kieker hatte: die Oberförster. Ich weiß nicht, ob er mal auf einer Treibjagd angeschossen worden ist – aber wenn er einen Oberförster sah, wurde er ganz rasend. Als ich ihm mal von dem südwestafrikanischen Herero-Aufstand vorlas, hat er gesagt: »Wahrscheinlich haben die Oberförster da den ganzen Wildbestand abgeknallt, die Bande!« Und dann hat er sich rumgedreht und gerufen: »Ottilie! Sei still – das verstehst du nicht!« Tante Ottilie war aber gar nicht da, sie war gerade hinausgegangen. Na, du wirst ihn ja kennenlernen. Das ist eine dolle Nummer. Das wollte ich dir noch sagen: von Onkel Richard, Tante Hanne und Mama darf vor Onkel Max nicht gesprochen werden – mit denen ist er böse.

Das hier ist . . . den kenne ich nicht, wahrscheinlich ein angeheirateter Schwager. – Komisch, man kennt seine eigene Familie nicht mehr richtig . . .

[166] Und das ist, warte mal – das ist ja

EMMA!

Na, Emma gehört eigentlich nicht zur Familie – aber sie gehört doch mit dazu. Emma war bei einem verstorbenen Onkel von mir Stütze gewesen und dann hat sie bei uns allen Wäsche genäht und solche Sachen. Nein, das ist gar keine schlechte Fotografie, so hat sie wirklich ausgesehen. Der Fotograf hat das sogar sehr geschickt gemacht, sie hat noch viel schlimmer geschielt. Na ja, man soll ja darüber nicht lachen – ich weiß –, aber wenn sie einen ansah, hatten wir immer so furchtbare Angst. Sie wußte alles, was bei jedem los war, und erzählte es immer brühwarm den andern. Wir hörten immer zu, und so erfuhren wir alles: daß Jenny, das war eine Schwägerin von Tante Hanna, so geizig war, daß sie ihrem Mann einen einzigen Knopf an die Unterhosen nähen ließ und nur im Winter zwei; daß das Jüngste von Onkel Richard den Keuchhusten hatte (Emma sagte immer: »Keichhusten«); daß bei dem Bauernschwager von Mama schon wieder Gesellschaft sei – die dritte in diesem Winter! –; wo die Leute das hernähmen, das wollte sie, Emma, auch noch mal wissen – aber es sagte ihr keiner; und das große Familiengeheimnis: Tante Wanda hat wieder ihr Testament umgestoßen! Tante Wanda ist hier . . . warte mal . . . nein, sie ist nicht drin. Tante Wanda war furchtbar reich und machte ungefähr alle Monat ein Testament. Emma wußte das; sie wußte auch, daß bei jedem Testament sie ein Legat bekam, »von wegen treuer Dienste«, sagte sie immer mit einem feierlichen Genetiv. Tante Wanda ist dann ohne Testament gestorben, und seitdem verkehren Tante Hanna und Onkel Max nicht mehr mit Lotte und wir nicht mehr mit Onkel Julius.

Das ist – nein, das ist gar kein Schauspieler. Das ist

ONKEL JULIUS

als junger Mann. Er war Buchhalter, damals, aber er wollte so schrecklich gern zum Theater gehen! Du kannst dir das nicht denken. Er hat sogar mal an die Sorma geschrieben, aber der Brief ist als unbestellbar zurückgekommen und seitdem hat er ihn sorgfältig aufbewahrt, in einer großen Mappe, da stand drauf:

Theaterkorrespondenz.

Er deklamierte immer, und weil seine Eltern das nicht hören konnten, ging er immer aufs Örtchen.

Er hatte mal was von Demosthenes gelesen, der das Rauschen des Meeres mit seiner schwachen Stimme übertönen sollte, und da ließ er den ganzen Nachmittag die Wasserspülung laufen und deklamierte dazu Hamlet.

Er ist dann aber doch nicht zum Theater gegangen.

[167] Der? Das ist ein Vetter von mir, der hieß

SIEGMUND.

Ja . . . wie soll ich dir das erzählen . . . Also, der Siegmund – der war . . . der hatte . . . der hatte ein Magenleiden. Das heißt, eigentlich war es vielleicht gar kein Magenleiden, sondern mehr eine schlechte Angewohnheit. Er mußte nämlich immer, nimm mir das nicht übel, er mußte immer so laut . . . schlucken. Es war ganz schrecklich. Er hatte es direkt zu einer Virtuosität darin gebracht. Er konnte es ganz laut – einmal . . . schluckte er auch auf der Straße, und da lief ein kleines Hündchen vor Angst weit weg. Er wurde geradezu böse, wenn man etwas dabei fand, bei seinem . . . Schlucken. Und was das Dollste war, er nannte diese Schluckser alle genau; sie hatten alle Namen. Da gab es »Kehlkopfroller« und »Zungenschnalzer« und was weiß ich alles. Und . . . nein, er wohnt nicht mehr in Berlin. Er ist weggezogen, seit seiner Affaire mit der Tochter von Wasmuth. Das war ein großer Hühneraugenmittelfabrikant, den hast du nicht mehr gekannt, Wasmuths Hühneraugenringe in der Uhr . . . Ja, die sollte er heiraten, ein immens reiches Mädchen. Und vor dem Standesbeamten, als alles ganz still und feierlich in Zylinderhüten dastand, da ließ er einen Kehlkopfroller los, und da ging die Partie zurück . . . Schreckliche Sachen passieren manchmal im Leben . . .

Das ist Papa, das ist Mama, das bin ich – das bin ich auch – das war mein neuer heller Sonntagsanzug, da habe ich auf einer Landpartie mal eine Katze gefunden und habe sie auf dem Arm getragen, den ganzen Weg. Und da hat sie mir den Anzug bekleckert, und da habe ich Haue bekommen. Ja, ich habe ein bißchen viel Haue bekommen. Du nicht –? Das ist Kurt Fehsenbach, mit dem spricht Tante Minna und Onkel Julius nicht mehr, weil sie behaupten, er habe ihnen ihr ganzes Vermögen verspekuliert . . . Die ist der schlimmste Feind von Großmama gewesen, nein, von der anderen Großmutter, mütterlicherseits: das ist Fräulein Lachmannsky, eine Stieftochter von Tante Hannas Bruder. Das war ein Zwilling. Das ist Hanna, die wirst du ja nachher kennenlernen – (na, sag mal, wo bleibt sie eigentlich! Soll ich mal klingeln . . . ? Na gut, warten wir noch.)

Das ist Großpapa noch mal, das ist Bernhard, der ist nach Amerika gegangen, ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist . . . Das? Das sind

PETER UND PAUL.

Ja, Vettern von mir. Peter und Paul waren immer zusammen, und sie zankten sich immer: es waren eben echte Verwandte. So etwas von Zanken kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Sie haben sich mit allem gehauen, womit man sich überhaupt nur hauen kann. Du meinst, weshalb sie . . . weshalb sie dann aber immer zusammen waren?

Mein liebes Kind, du hast doch eine Familie, nicht wahr? Und daher mußt du das wissen, was das ist: Verwandtschaft. Siehst du, mit den [168] Verwandten ist das so:

Verwandte klucken immer zusammen und wissen alles voneinander. Sie wissen von den Interna der Familie gewöhnlich mehr als von ihren eigenen Sachen, um die sie sich kümmern sollten – sie wissen in allem Bescheid, was die andern machen – ganz genau. Und sie sind unglücklich, wenn sie es nicht wissen. Sie telefonieren fast alle zwei Tage miteinander, sie hocken aufeinander und dicht zusammen. Und darüber stöhnen sie.

Sie sagen alle: Ach, die Familie! Wenn ich das bloß nicht brauchte! Wie mir das zum Halse herauswächst! Wie mir davor graut!

Aber sie nehmen es todübel, wenn einer absagt, wenn einer nicht genügend ›Interesse‹ bezeigt, wenn einer nicht dabei ist. Es gibt ganz offizielle Gelegenheiten, die keinesfalls ausgelassen werden dürfen; als da sind: alle Geburtstage, Weihnachten, Silvester, alle Hochzeiten, natürlich – ja, da werden wir wohl nicht drumherumkommen! – na, und dann natürlich beinahe alle Sonntage. Natürlich. »Sonntags sind wir in Familie« – heißt das. Der ganze Sonntag ist hin. Sonntag ist eigentlich nur schön bis morgens zehn Uhr, am schönsten um acht, wenn man sich noch mal rumdrehen und weiterschlafen kann. Aber dann ist es aus. Dann sind wir in Familie. Das geht reihum, weißt du, und man sieht immer wieder dieselben Gesichter und hört wieder dieselben Gespräche und dieselben Stimmen und alles das. Und es wird einem so über – so mächtig über! Aber was will man machen? »Sonntags ist man in Familie.« Und dann wird alles erzählt, und Blicke werden gewechselt, und todsicher ist natürlich mindestens einer oder eine beleidigt. Darauf kannst du dich verlassen. Manchmal schmeißt auch einer die Serviette hin und geht raus. Aber gewöhnlich geht ihm dann einer nach und holt ihn wieder zurück . . .

Und weil sie doch alles, alles voneinander wissen, wissen sie auch, wo jeder am verletzlichsten ist und wo man ihn am besten treffen kann. Und ich glaube, es gibt keine fremden Menschen, die sich so bitter bekriegen wie Verwandte. Und diese Gefrierstimmung, die manchmal ist – nicht wahr, das kennst du auch? Ja, das ist ganz schrecklich. Dann ziehen alle so steife Gesichter und sprechen auf einmal so ganz unnatürlich und fein, und dann weiß man schon immer: Hier ist etwas nicht in Ordnung! Und wenn sie sich über ein altes Kinderkleidchen zanken, dann holen sie immer gleich alle alten Familiengeschichten in Bausch und Bogen heraus, alle, von Beginn der Welt an, und werfen sich den ganzen Kitt noch einmal vor, über den man sich doch unter der vorigen Weihnachtstanne glücklich versöhnt hatte . . . Und es gibt keine Erbschaft, das sage ich dir, und du kannst es glauben, die so hoch wäre, daß sich alles lohnt! Und da werden Rücksichten genommen und Verabredungen getroffen und nicht innegehalten und lange Telefongespräche geführt – warum eigentlich? Die Stimme des Blutes? Ach, laß dich doch nicht auslachen! [169] Ich werde dir mal sagen, was es ist:

Die Verwandtschaft ist eine Plage, die der liebe Gott sonst ganz gesunden Menschen auferlegt hat, damit sie nicht zu übermütig werden! Das ist es. – – Da ist Tante Hanna.

Erlaubst du, Tante Hanna, daß ich dir meine Braut vorstelle . . . ?


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