Lebensgeschichte eines Rebellen
Der Alte Dessauer
Arthur Holitscher hat seine Erinnerungen geschrieben, und sechsundfünfzig Jahre Mitteleuropa ziehen an uns vorüber. (›Lebensgeschichte eines Rebellen‹. Im Verlag S. Fischer.) Ein Rebell –?
›Schonungslose Lebenschronik‹ könnte das Buch heißen, nach dem Titel einer Autobiographie von Kurt Martens, eines zu gleicher Zeit dummen, vernünftigen, unappetitlichen, kleinlichen und eigentümlichen Buches. Holitschers Erinnerungen sind Abrechnung mit sich selbst, Zeitzeichnung, Kunstgeschichte und Rückblick.
Memoiren haben für den Unbeteiligten meist etwas Rührend-Komisches: mit welcher Wichtigkeit Ereignisse aufgeplustert werden, nur, weil der Erzählende zufällig oder schicksalsbestimmt an ihnen mitgewirkt hat, die Weltkarte sieht aus, wie sie Lichtenberg einmal skizziert hat: die umliegenden kleinen Dörfer riesig, exakt, durchbeobachtet bis in alle Einzelheiten, weiterhin wird es immer verschwommener, und ›là-bas‹ liegen dann Asien, Afrika, Amerika, Australien. Holitscher sagt immer: Seht, dieses war meine Welt; nirgends: Es ist die Welt.
In Ungarn beginnts. In Ungarn, wo Deutsche, Juden, Ungarn zusammenwohnen, und wo das versprengte Deutschtum doch ein bißchen anders ausgesehen hat und aussieht, als es uns die germanischen Irredentisten erzählen wollen. Das Getto wird leidenschaftslos geschildert, mit seiner lächerlichen Unterschätzung der ›Gojim‹, wie sich ja überhaupt der deutsche Jude nur deshalb für klüger hält, weil die andern dümmer sind. Hier erlebt der Junge seine Jugend, die keine ist.
Bis zur Mitte ist dieses Leben in Schwermut getaucht, weil es eine solche Jugend gehabt hat; oder hat es eine solche Jugend gehabt, weil es in Schwermut beinah versinkt? Noch in den lustigen kleinen Erlebnissen wird gelächelt, so: Ja – recht heiter: aber es ist ja nur eine Unterbrechung, das Eigentliche wird gleich wieder einsetzen. Und dieses Eigentliche ist Trauer. Holitscher empfindet selbst, wie nahe er dem Schlemihl gewesen ist; schließlich ist man selbst schuld, wenn einem grade immer die letzte Bahn vor der Nase wegfährt. Es gibt Glückspilze und Unglücksraben – Unglück ist dauerhafter.
Nach der Schulzeit, dem Ritualmord von Tisza-Eszlar; Bankbeamter in Budapest, in Fiume und in Wien. Dies ist das schönste Kapitel des Buches: Die verlorenen Jahre. Wer kann sagen, ob sie verloren gewesen sind? Aber er empfand sie doch so, und das ist die Hauptsache. Sie werden eingeleitet mit einer ausgezeichneten Beschreibung der Bankbeamtenseele – wie wenig hat sich das geändert! –, und da sitzt [152] er nun, eingeengt von Beruf und einer andern Elementarkraft des Judentums: der Familie.
In der Berufsschilderung steht an keiner einzigen Stelle: Nur ich hatte recht, und alle andern waren Trottel. Es ist auch schon jene leise Trauer darin, daß diese ›verlorenen Jahre‹ für die meisten ein Leben bedeuten, und wie schrecklich ist es, daß sie dergleichen eben nicht als verloren empfinden! Eingefangen ist er – es geht nicht mehr weiter.
Die Familie umschließt ihn wie ein Käfig. Diese Brutwärme der Liebe, die das gehegte Wesen zu Tode drückt, aber keineswegs gestatten will, daß es in der Freiheit aufblüht, dieser Backofen des Egoismus mit dem falschen Vorzeichen . . . es geht auch hier nicht mehr weiter.
Ungemein bezeichnend, womit der junge Holitscher aufgeweckt wird. Hamsun ist es, dieser Ausländer des Daseins, Hamsun, der den großen Ruf ungekannt an einen Ungekannten ergehen läßt. Der vernimmt ihn, reibt sich die Augen und entflieht. Nach Paris.
Beneidenswert, wer so Paris erlebt hat. Da mag viel zusammengekommen sein: der Kontrast von Sklaverei und Freiheit, die Jugend, ein Paris, das der Welt damals mehr zu geben hatte als heute – die grünen Tage des Luxembourg-Gartens leuchten durch das ganze Buch, sie kommen immer wieder, weil sie unwiederbringlich dahin sind. Hier setzen die literarischen Erinnerungen ein, die höchst reizvoll sind, lehrreich und frisch. Hamsun erscheint, er wohnt in der langen rue de Vaugirard, ein kleiner Ausländer, um den sich niemand kümmert, Albert Langen wirtschaftet schon in Paris umher, und nun wird ein Literaturpanoptikum vorgeführt, worin jede Nummer ihre Meriten hat. Der hat wirklich halb Europa kennen gelernt und keine Bücherverfasser erlebt, sondern Menschen. Erzählt ist alles das sehr leise, still, niemals mit diesem unerträglichen Augenschlag: »Das ist nämlich der, von dem so viel in den Zeitungen stand, und ich, ich, ich habe ihn gekannt.« Er ist selbstverständlich und natürlich – und das will schon etwas heißen in Deutschland.
Auch die pariser Anarchisten hat Holitscher aufgesucht, mit ihnen gelebt, gehorcht, gesucht. Dem Schriftsteller ist in diesen Schilderungen einmal das Schwierigste geglückt: er erzählt von einem homosexuellen Freund, der ihn besitzen möchte, eine Szene, bei der sich einem der Magenumdrehen würde, stammte sie nicht eben von Holitscher. Bei dem zeigt einem diese Episode nichts weiter als: Auch dies gibt es – so sind die Menschen.
Sein Stil ist gepflegt, aber niemals literarisch. Der französische Einfluß ist unverkennbar. Einmal entwickelt ein pariser Graf recht bösartige Theorien über die Frauen, mit deren einer, einem finstern Exemplar, er zusammenlebt. Weiber! Weiber! Weiber . . . ! »Die verheirateten Herren stimmten ihm zu hinter den Wolken der ziemlich mittelmäßigen Zigarren.« Und so zieht das vorüber, die pariser Plätze, der französisch-chinesische [153] Literaturbetrieb, die Radaupremieren, wo einmal dem alten Sarcey, dem Rudolf v. Gottschall von Paris, ein Überzieher auf den Kopf fällt, aus tiefem Theaterschlaf fährt er auf . . . eine Welt wird lebendig.
Folgt München. Das ist uns nun auch den Jahren nach näher, der verstorbene Keyserling taucht noch einmal auf, der ein wertvoller Mensch war und so gar keine Ähnlichkeit mit seinem Namensvetter hatte; der ganze ›Simplicissimus‹-Verband, mit Wassermann, Wedekind, Dauthendey und Thomas Mann. Der spielt keine sehr angenehme Rolle in dem Buch, wahrscheinlich mit Recht. Holitscher hat einmal das Modell zu einer amüsanten Figur in Manns Novelle›Tristan‹ abgegeben, und wie es dazu kam, erzählt er, ohne Bitterkeit, aber enttäuscht von der Unzulänglichkeit einer so korrekten Erscheinung. »So waren wir, ich fühlte es, in diesen Nachmittagsstunden einander nahe gekommen, und ich ging mit dem frohen Bewußtsein die Straße entlang, daß ich einen Freund habe. Durch irgendeinen Umstand wurde ich beim Weitergehen gezwungen, stehen zu bleiben und mich umzudrehen. Da sah ich oben im Fenster der Wohnung, die ich soeben verlassen hatte, Mann, mit einem Opernglas bewaffnet, mir nachblicken. Es dauerte nur einen Augenblick, im nächsten verschwand der Kopf blitzschnell aus dem Fenster.« Dann erscheint die Novelle, durch die jene Figur geht, »mit den Schritten eines, der innerlich davonläuft« . . . Wer hat hier davonzulaufen? In eben jener Lebenschronik von Kurt Martens steht ein Brief, den Thomas Mann in seiner Militärzeit geschrieben hat. Darin heißt es: »Schreiben Sie einmal wieder – hierher. Aber besuchen Sie mich nicht. Das mag ich nicht. Hoffentlich bekommen Sie mich in Uniform überhaupt nicht zu sehen.« Aber die Ruhe und Ordnung mancher Staatsbürger beruht eben auf dieser Uniform. Betrachtet man alles das unpolitisch, so gefällts einem nicht.
Figuren kommen und gehen – man versteht zunächst nicht, wie sich dieses bunte Wirrsal zu einem Ganzen geeint haben kann; man versteht auch nach dieser braungetönten Traurigkeit nicht, wie einer sich so jung erhalten kann, mit sechsundfünfzig Jahren. Aber dieser erste Band der Alterserinnerungen eines jungen Mannes zeigt noch nicht die große Wandlung, nur ihre Vorbereitung. Diese Wandlung in Holitschers Leben ist der Kommunismus.
So, wie ein wahrhaft frommer Mensch ein Zentrum in sich hat, um das alles tendiert, so, wie ihm nichts geschehen kann, weil alles einen Sinn hat – so hat sich dieser gefunden. Ergreifend sind die letzten Seiten, auf denen das Bekenntnis zur Güte, zur Menschlichkeit, zum Menschen zu lesen ist. Das Dogma des Kommunismus ist ihm viel – der Mensch mehr und alles. Man hat ob seiner jugendlichen Begeisterung manchmal gelächelt, und ich weiß nicht, ob er seine Werke über Rußland und Palästina als statistische Werke gewertet haben will.[154] Wahrscheinlich sind sie es nicht. Aber sie sind, wie dieses Buch, das Bekenntnis eines lautem Charakters, eines überzeugungsfesten Mannes, der als Dichter ersehnt und als politischer Bekenner gefunden hat, was in ihm ist: Treue zu einer großen Idee.
Ein Rebell –? Ein gequälter, sich quälender, erlöster und tapferer Mensch.