Das Märchen von Berlin

Die Verantwortung für den Tod der 23 trägt so jener stupide Aberglaube an die Gewalt, der . . . noch heute die Leitung der KPD beherrscht.

Heinrich Ströbel


Das ›Andere Deutschland‹ hat das Verdienst, das ›Märchen von Dinant‹, jene sinn- und haltlosen Behauptungen deutscher Offiziersbestien durch Zeugenaussagen beteiligter deutscher Soldaten ad absurdum [77] geführt zu haben. Was den Belgiern recht ist, soll den Berlinern billig sein. An dem berliner Blutvergießen sind nicht nur die Kommunisten schuld.

Deren Schuld steht außer jedem Zweifel. Nach Lektüre der blutdürstigen Telegramme aus Moskau ist zu sagen:

Wenn die Herren in Moskau die Lage in Deutschland nicht sehen; wenn sie nicht wissen, wo der Kapitalismus hier wirklich steht; wenn sie, belegen oder blind, die deutsche Innenpolitik derart verkennen, dabei an heftigem Größenwahn noch die Kirche übertreffend – so ist das traurig genug. Daß die deutschen Arbeiter aus Moskau Geld und Weisungen bekommen, habe ich immer für gut und richtig gehalten – daß diese Weisungen in der letzten Zeit jämmerlich schlecht sind, haben wir zu bedauern.

Wenn aber Heinrich Ströbel in der Nr. 19 des›Andern Deutschland‹ den Kommunisten fast die alleinige Schuld an den empörenden berliner Vorgängen gibt, so erlaube er mir, ihm ein klares Nein zu sagen. Die KPD hat nicht die alleinige Schuld.

Damit wir uns recht verstehen: Heinrich Ströbel ist einer der wenigen Führer der SPD, die niemals umgekippt sind; einer, der immer nur die Wahrheit gesagt hat, kein ›Taktiker‹ und kein Paktierer – es ist eine Ehre, mit ihm zu diskutieren. Das möchte ich tun.

Das ›Märchen von Dinant‹ und das Märchen von Berlin sind einander gar nicht so unähnlich – sie sind beide aus ihrer Vorgeschichte zu erklären.

Was zunächst das Verbot der Maifeier angeht, so ist zu sagen, daß es ungerechtfertigt gewesen ist. Der berliner Polizeipräsident hatte die Machtmittel, eine Maifeier, deren Teilnehmer über die Stränge schlagen, zu meistern – er hat das gar nicht erst versucht. Ob der Grund in der vorhandenen Furcht vor der kommunistischen Konkurrenz oder einfach im Machtkoller gelegen hat, der so vielen kleinen zur Macht gekommenen Leuten der SPD zu Kopf gestiegen ist, mag unentschieden bleiben: für die SPD bleibt die beschämende Tatsache bestehen, daß unter ihrer Ägide in der Hauptstadt des Reiches jene Feier unterdrückt wurde, die der Arbeiter seit 40 Jahren alsseine Feier anzusehen gewohnt ist. Und es ist eine Unterdrückung, wenn den Arbeitern die Straße verboten wird – die Straße, die nicht Herrn Zörgiebel, sondern dem Arbeiter gehört, der sie gebaut hat. Die Erregung der Kommunisten war echt und richtig.

Es geht auch nicht an, diese Maifeier mit jener im Jahre 1918 zu vergleichen, wie Ströbel das getan hat. Hier spüre ich – Heinrich Ströbel möge es mir verzeihen – eine Empfindung, die hinter der Zeit zurückbleibt. Aufstand gegen ein kaiserliches Verbot – ja; gegen ein sozialdemokratisches: nein? Ströbel fühlt nicht, worum es geht: daß damals die Ludendorffsche Frühjahrsoffensive bekämpft werden mußte, [78] ist richtig; aber der Arbeiter fühlt heute die Provokation Zörgiebels, und die wog für viele sehr schwer. Das sind Gefühlswerte – keine realen. Es gibt eben Dinge, die tiefer gehen als die ›Dreiklassenschmach‹, die wir heute noch hätten, wenn das kaiserliche System sich nicht selbst sein Grab geschaufelt hätte. Die SPD hätte dieser Schmach kein Ende bereitet.

Aber der Hauptgrund, weswegen der schwere Irrtum Ströbels zu berichtigen ist, liegt gar nicht da. Viele Arbeiter haben friedlich in Sälen ihre kleine, gutbürgerliche Maidemonstration abgemacht – in Hamburg, einer Hochburg der Kommunisten, ging es im Freien hoch her, da hielten die Sozialdemokraten alle die Hände hoch und ließen die Partei hochleben, die ein paar Bahnstunden weiter jede Demonstration verboten hatte . . . das Hauptstück der Zörgiebelschen Politik liegt anderswo, ganz und gar anderswo.

Es liegt in der militärischen Vorbereitung der Polizei.

Und hier frage ich Heinrich Ströbel, der ein ehrlicher Mann ist, der nicht im Parteikram verblödet ist wie so viele seiner Genossen – hier frage ich ihn auf Ehre und Gewissen:

Weiß er das oder weiß er es nicht –?

Weiß er, daß wir in der ›Weltbühne‹ seit Jahr und Tag die Militarisierung der preußischen Polizei aufgezeigt haben – ja oder nein? Weiß er, daß es nicht möglich ist, unter Severing nicht, unter Grzesinski nicht, unter keinem Sozialdemokraten, der das Innenministerium gehabt hat – auch nur die winzigste Besserung zu erreichen? Weiß er, daß die Polizisten, und vor allem ihre Offiziere, seit Jahr und Tag auf den Bürgerkrieg gedrillt werden – genau, wie die uniformierten Verbrecher von Dinant auf den Staatenkrieg gedrillt worden sind? Weiß Ströbel, daß die Lehrbücher aller Polizeischulen den Straßenkampf rein militärisch lehren – ohne – und hier halte ich jeden braven SPD-Mann fest am Wickel und lasse ihn nicht los – ohne, daß sich in den letzten Jahren auch nur einmal eine militärisch formierte Aufrührerrotte bemerkbar gemacht hätte? Weiß Herr Ströbel das, ja oder nein –? Es ist ja nicht wahr, daß der Rotfront-Bund militärisch so gefährlich ist – die Polizei weiß ganz genau, daß von den großfressigen ›Plänen‹ und ›Aufmarschparolen‹ und was sie da alles haben, auch noch nicht ein Viertel in die Praxis umgesetzt werden kann. Eine Polizei muß sich gewiß mit den neuen Methoden der Technik bekannt machen – aber aus allen im ›Tagebuch‹ und in der›Weltbühne‹ und in großen Zeitungen veröffentlichten Zeugenaussagen geht eines klar hervor –:

Unter dem Kaiser ist die Achtung vor dem Menschenleben bei der Polizei größer gewesen als sie das heute unter der republikanischen, von Sozialdemokraten dirigierten Polizei ist –!

Das hat nicht der Krieg mit sich gebracht. Wer das behauptet, lügt der Partei ins Mitgliedsbuch.

[79] Denn die Gegenseite mordet ja nicht in demselben Umfange! Ein einziger Polizist in Berlin ist wirklich schwer verletzt – wo sind die »militärischen« Aufrührer? In den Telegrammen aus Moskau – gut. Aber wo sonst?

Ich werde es jenen Sozialdemokraten sagen, deren Horizont nicht über eine geschickt gedeichselte Funktionärversammlung hinausreicht:

Der Militarismus steckt nur in den Köpfen der Polizeioffiziere. Die können nicht anders. Die machen sich in ihren Lehrbüchern – um ihre Existenz aufzuplustern, aus politischen Gründen – einen Mummenschanz zurecht; die spielen Krieg; die bereiten Feldzüge gegen die eigenen Landsleute vor –

und der sozialdemokratische Polizeipräsident hat sie nicht in der Hand.

Es ist ein kleiner Mann, der Herr Zörgiebel – die Partei hat Pech mit ihren Funktionären, die sie in die Staatsstellungen schickt. Es sind fast alles kleine Leute gewesen, und wenn sie zur Macht kommen, werden sie bösartig. Und blind.

Die alleinige Schuld an dem vorher präparierten Auftreten der Polizei, die nicht nur – wie Heinrich Ströbel schreibt – übermüdet, sondern aufgehetzt war, trägt Zörgiebel. Das wäscht kein Schwamm von ihm ab.


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