Was brauchen wir –?

Hermann Schützinger hat in der ›Berliner Volkszeitung‹ von dem Kampf um die Deutsche Linke gesprochen, der hier geführt wird. Dabei geht er mich heftig an. Mit den Angriffen der›Schlesischen Zeitung‹ und der ›Deutschen Tageszeitung‹ wische ich mir seit Jahren die Augen aus – aber wenn ein politischer Freund und noch dazu ein so tapferer und reiner Mann wie Schützinger angreift, hat er Anspruch auf eine Antwort. Die kann ihm umso leichter erteilt werden, als seine Arbeit, bis auf einen häßlichen Satz gegen Zeigner, dem Wunsch entspricht, durch Kritik zu klären, also mitzuarbeiten. Arbeiten wir.

Schützinger spricht, ein bißchen spöttisch, davon, wie wenig offizielle Anerkennung wir gefunden hätten, wie die Reichstagsfraktionen uns keine Beachtung schenkten, wie unfruchtbar wir blieben. Darf ich ihm aus dem schönen Aufsatz über Leo Trotzki – in ›Schatten der Geschichte‹ von Valeriu Marcu (bei Hoffmann & Campe zu Berlin) – diese pariser Geschichte aus dem Jahre 1916 erzählen:

[348] »Ein Freund Trotzkis, ein Deputierter, sagt mir: ›Ach, diese Russen – sie sind in der Emigration für uns eine Plage. Reden jetzt während des Krieges vom Zarismus. Sehen Sie Trotzki, sicherlich ein fähiger Journalist – doch auch er kann politisch nur im Keller und als Sektierer denken. Haben eben keine Ahnung von den tatsächlichen Machtverhältnissen.‹ Der so sprach, war ein Radikaler und stand auf der äußersten Linken, war sogar bereit, einen Frieden ›ohne Annexionen‹ zu schließen. Und trotzdem trug er die Sorgen der ganzen Generalität und Admiralität. In diesem Palais Bourbon, umgeben von der Tradition eines Jahrhunderts, war der Abgeordnete der Opposition ein Teil der Staatsmacht, ein kleiner Zahn am Rade der Staatsmaschine. Er war kein Vagabund, kein Literat, kein Vaterlandsloser, er konnte den Vertreter Joffres in irgendeinem Ausschuß zur Rede stellen, er konnte sogar gegen den Kriegsminister stimmen.

Und Trotzki? Konnte Trotzki zum Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch gelangen? Er konnte höchstens einige hundert Kilometer von Petersburg entfernt in Paris einen Leitartikel gegen Nikolai Nikolajewitsch schreiben. Was gab ihm diese Starrheit, diese Impertinenz gegen eine ganze Welt? Er legte sein Ohr auf die Erde und hörte von weitem inmitten des Gebrülls der Kanonen verzweifelte Stimmen, die kein Realpolitiker vernehmen konnte. Trotzki wurde indes das neue Machtverhältnis. Der französische Realpolitiker aber durfte bis ans Ende seines Lebens radikaler Deputierter seines Departements bleiben und die Machtverhältnisse genau kennen.«

Ich weiß schon: wir haben keinen Trotzki unter uns. Aber Umwälzungen haben immer so angefangen, mit zunächst unbeachteten Konventikelunterhaltungen, und alles, was später eine Partei wurde, war zuvor eine Sekte. Wir säen Keime. Einer wird schon aufgehen.

Er kann nur aufgehen, wenn wir uns zuvor verstehen. Schützinger schilt uns Ästheten. Dieser Vorwurf schmeckt nach Bier und Rauchtabak. »Ich weiß, daß in den Parteivorständen mancher Parteien mit viel mehr Geist und Kultur gearbeitet werden könnte, als es tatsächlich geschieht.« Ach nein, das kann es eben nicht: denn Geist und Kultur sind ein Ausdruck, keine Zutat, die man ankleistern kann. (Ich erinnere mich, wie mich einmal ein sozialdemokratischer Redner in den Reichstag bat und mir dort vorschlug, ich solle ihm doch »die Witze in seine Reden machen«.) Auf die Kultur pfeife ich – und auch von der Schönheit der äußern Form, von der Schützinger spricht, ist hier niemals die Rede gewesen.

Eben jene ›Willens- und Charakterbildung‹, die in der ›Berliner Volkszeitung‹ als das Zeichen wahren Führertums gedeutet wird, vermissen wir. Wir haben sie an Ebert nicht gesehen, wir haben sie an[349] Scheidemann nicht gesehen, und daß wir sie am Schandfleck der Partei: an Noske nicht bemerkt haben, wird auch Schützinger verstehen.

»Der Literat sieht nur die Kulisse, sieht nur die Form, und so verstehe ich sehr wohl, daß die Stürmer und Dränger der Deutschen Linken sich ganz andre Führer ersehnen.« Nein, der Literat sieht nicht nur die Form. Er sieht ganz etwas andres.

Wir sehen, daß ihr, die ihr uns Taktik, Realpolitik, Toleranz und andre schöne Dinge predigt, in den vergangenen acht Jahren nichts, nichts und noch einmal nichts erreicht habt. Daß ihr Prügel bezogen habt, wo ihr euch nur sehen ließet. Daß man euch alles genommen hat: eure kleinen Errungenschaften aus der Vorkriegszeit und das bißchen Sieg, das euch im Jahre 1918 in den Schoß gefallen ist. Verprügelt seid ihr, daß ihr nicht grade stehen könnt. Der Achtstundentag ist hin. Eine Reichswehr ist – durch eure Schuld – aufgebaut worden, die ihr heute mit vielen Künsten zu beschwören versucht. Ihr könnt ihr nicht einmal eine Kompanie streichen. Versuchts doch: sie gäbe die Waffen nicht ab. Das Heeresbudget wird von Jahr zu Jahr höher, ihr steht machtlos daneben und seid taktisch. Wir sehen die Genossen, die Pazifisten und die echten Republikaner von einem Richterstand malträtiert, der sich die unbequemen Kritiker dadurch vom Leibe hält, daß er als Angeklagter in eigner Sache richtet. Wir sehen eine reaktionäre Verwaltung, die in Schule und Universität, in der Polizei und auf der Steuer schlimmer haust, als unter dem Kaiser jemals möglich gewesen ist. Das sehen wir.

Und wir bewerten euch gar nicht literarisch und gar nicht ästhetisch und gar nicht formal; sondern einzig nach dem, was mit dieser eurer Taktik bisher erreicht worden ist. Für die Beurteilung eines aktiven Politikers ist nur sein Erfolg maßgebend. Hat er den, darf er jedes Manöver entschuldigen. Aber Verrat üben, sich drehen und winden, das Wort ›Kompromiß‹ von Kompromittieren herleiten und nachgeben, immer nachgeben: das ist doch wohl kläglich. Wie sehen diese Größen aus? Herr Wels hat, sagen Sie, am 9. November Heldentaten auf einem berliner Kasernenhof verrichtet. Wo war Herr Wels im Januar 1918? Wo war Herr Ebert im Januar? Ich werde Ihnen das sagen, wo sie waren: in voller Deckung. Und von da aus haben sie den Munitionsarbeiterstreik abgewürgt, eine der tapfersten revolutionären Taten, die während des Krieges getan worden sind.

Wie jämmerlich verteidigt ihr euch heute gegen den Vorwurf, die Revolution gemacht zu haben! Immer verteidigt ihr euch, immer steht ihr in der Defensive. Hättet ihr sie nur gemacht! Aber in allen Prozessen, vor allen Untersuchungsausschüssen wimmert ihr dasselbe traurige Lied: Wir sind es nicht gewesen – wir waren brav.

Und es nützt euch nicht einmal. Ihr behaltet den Namen ›Landesverräter‹, einen Ehrentitel, den der alte Liebknecht und der junge gern angenommen haben.

[350]

Sie fragen des weitem, ob denn unbedingt nötig sei, »daß der demokratisch-sozialistisch-republikanische Einzelmensch sich hineinmengt in – um einige Beispiele zu gebrauchen – den Streit zwischen Reichsbanner und Westdeutscher Friedensgesellschaft«. Nun, ich zum Beispiel, habe mich eingemengt, weil ich ihn entfesselt habe. Ich sagte damals, der Soldat aller Länder sei für einen Dreck gefallen. Hörsing verbot daraufhin ›Das Andre Deutschland‹ wo diese Äußerung gestanden hatte, für das Reichsbanner; vielleicht hielt er seine Leute für sexuell noch nicht aufgeklärt.

Und als sich gar der jüdische Rechtsanwalt Ludwig Haas erhob und herausdonnerte, »wir Juden würden, wenn es das Vaterland gebeut, noch einmal . . . « oder so etwas, da habe ich schon zugeschlagen, und ich bin auch heute noch der Meinung, daß die Angst vor dem Antisemitismus etwas viel Schlimmeres verbirgt: eine geistige Minderbemitteltheit, die bei Juden selten, aber wenn vorhanden bodenlos ist.

Sie sagen zum Schluß, Sie seien niemals ein Ebert-Schwärmer gewesen, und ich kann mir auch nicht denken, wie so ein Lebewesen wohl aussehen sollte. Sie hätten aber zu allem, was er tat, geschwiegen, besonders in Versammlungen – aus einem Gefühl heraus, das uns leider fehle, und das uns so sehr nötig tue: aus Disziplin.

Nun gibt es sicherlich eine richtige Disziplin. Hätte ich das Vergnügen, in einem kleinen Ort neben Ihnen mit Sozialisten, Kommunisten und Reichsbanner gegen die Fürstenabfindung zu kämpfen, so sagte ich kein Wort wider Ebert und gewisse Bonzen der sozialdemokratischen Fraktion, und ich nähme noch Partei für den lauesten Demokraten, wenn der Pfarrer, der Amtsrichter oder der Gutsinspektor den Mund auftäten. Aber hier sind wir unter uns, und wollten wir immer erwägen, daß und wie unsre Äußerungen vom Kyffhäuserbund oder von nationalistischen Schmierern aufgegriffen und mißbraucht werden könnten, so wäre jede offene Diskussion so unmöglich wie etwa im ›Vorwärts‹.

Und ich sage Ihnen, daß diese falsch verstandene Disziplin das Verderben der deutschen Sozialdemokratie ist, in deren Presse und Partei so viel wertvolle Kräfte vorhanden sind, aber schlummern und schlummern müssen. Dieses Unteroffizierstum mit dem umgekehrten Vorzeichen, noch in den Niederlagen, das Einschwenken auf einen Befehl, der eben nicht durch eine geistig anständige Diskussion zustande gekommen ist oder durch die wahre Überlegenheit diktatorischer Führer, sondern durch elende Geschäftsordnungspraktiken wie die des Herrn Wels, der, »ein robuster, stiernackiger Fechter mit wenigen Worten und mit harter Faust«, gegen wen wirtschaftet –? Gegen seine Arbeitergenossen, die andrer Meinung sind als er, dieser dürftige Funktionär.

Eben diese Disziplin haben wir nicht, und wir wollen sie nicht haben. Und wir, die wir uns nicht »an Ebert reiben«, wie Sie sagen, sondern [351] ihn, der sein lebelang in mildernden Umständen gewesen ist, einen Klassenverräter und einen Renegaten nennen – wir glauben, daß wir ganz etwas andres brauchen als solche Disziplin.

Es gibt zwei Mächte in Europa, die durchgesetzt haben, was sie wollten: der Faschismus und die Russen. Das entscheidende Moment ihrer Siege war eine tapfere Unbedingtheit, die sich erst später, nach dem Sieg, die Taktik erlaubt hat. Ihr lernt nichts. Und am allertragischsten finde ich, daß ihr nicht einmal seht, in welchem Wurstkessel ihr sitzt, daß ihr nicht einmal die Tiefe eurer Niederlage ermeßt, daß ihr nicht fühlt, wie ihr von Tag zu Tag tiefer rutscht. Die Felle sind davongeschwommen, die Taktik ist geblieben und die Toleranz.

Und wir brauchen eure Taktik und eure Toleranz nicht und nicht die Disziplin, sondern gegen eitle alte Leute, die ihre ganze Kraft auf die Aufrechterhaltung ihrer Stellung verwenden, und gegen eine Jugend, die nie jung gewesen ist – gegen sie brauchen wir etwas andres. Den revolutionären, unnachgiebigen, intoleranten und klassenkämpferischen Erfolg.


Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek