Eine deutsche Kindheit

»Auf! Nieder! – Auf! Nieder!«

Pestalozzi


Vor Jahren hat einmal ein früherer Kadett und Offizier, Joachim Freiherr v. Reitzenstein, ein Buch geschrieben, das ich hier angezeigt habe und das seine Kinderjahre in einem preußischen Kadettenkorps schildert: ›Vergitterte Jugend‹ (erschienen im Verlag Dr. Eysler & Co. zu Berlin). Herr v. Reitzenstein war damals bei mir, und ich habe ihn gefragt, ob die novellistische Fassung dieser Erinnerungen der Wirklichkeit entspräche. Er erzählte mir, daß die Wirklichkeit tausendmal grauenhafter gewesen sei, und daß er die novellistische Form aus vielerlei Gründen gewählt habe; der Wahrheit täte sie aber keinen Abbruch. Die Geschichten enthielten die jämmerlichsten und rohesten Quälereien der Kadetten untereinander, Scheußlichkeiten von einem fast krankhaften Ausmaß, durchaus unterstützt durch die militärische Erziehung und das militärische System. Die Angaben des Autors sollten sonderbar bestätigt werden.

Ein Universitätslehrer hat im Verlag Paul Steegemann zu Hannover Erinnerungen aus seinen Kadettenjahren erscheinen lassen (Leopold v. Wiese:›Kindheit‹). Das ruhig geschriebene und würdige kleine Werk enthält Satz für Satz und Faktum für Faktum dieselben Dinge wie Reitzensteins Geschichtensammlung.


Der erste Eindruck des Zehnjährigen im Kadettenhaus Wahlstatt ist ein Trommelsignal und das Kommando des Offiziers vom Dienst beim Abendbrot: »Wir wollen beten!« Der zweite: »Der Stubenälteste kam auf mich zu und fragte, warum ich noch nicht eingekleidet wäre. Ich antwortete, daß ich es nicht wüßte. ›Na, du scheinst ja ein netter Dussel zu sein‹, war die Entgegnung, Mir brannte die Wange von der ersten Backpfeife, die ich zur Begrüßung erhalten hatte.«

[500] Aus Kinderbriefen schreit die Not eines gequälten Herzens, ein Kind ruft aus dem Dunkel nach der Mutter, weil es sich nicht mehr zu helfen weiß. Es regnet Püffe, Fußtritte und Ohrfeigen. Es hagelt Schläge mit dem Lineal und boshafte Quälereien. Die tun dem Körper weh. Schlimmer ist, daß die Seele gepeinigt wird: gepeinigt von der seelenlosen Stupidität einer rohen Rotte, die nichts von dem natürlichen und kraftüberquellenden Übermut gesunder Jungen hat, sondern schon im Keim, karikaturistisch überzüchtet, alle schlechten Eigenschaften der spätem Kaste: Herzensroheit, Verachtung alles Geistigen, individuelle Feigheit und Mißbrauch der Gruppenübermacht. Das Kind weiß nicht mehr ein noch aus. Schreibt verzweifelte Briefe nach Hause. Weint. Will fliehen. Macht ein, zwei vergebliche Fluchtversuche. Stellt sich verrückt. Und ist doch so eingeschüchtert und überrumpelt von der Umwelt, die seine einzige greifbare Realität darstellt, daß es sich nicht muckst und rührt, daß es der Mutter nicht und nicht dem Kommandeur sagt, was es auf dem Herzen hat, wen es auf dem Herzen hat. Es ›petzt‹ nicht. Und als es gar nicht mehr weitergeht, wird der Stube von dem preußischen Erzieher, einem Offizier, mitgeteilt, daß es ihre Pflicht sei, noch mehr als bisher »an seiner militärischen Erziehung zu arbeiten«. Das ist die klare und selbstverständlich strafbare Aufforderung zur Mißhandlung.

»Die Stube wußte Bescheid; bald auch die Kompanie. Hier lag offenbar der Tatbestand für eine glatte Lage vor.« Was ist eine glatte Lage?

Die glatte Lage ist das Ideal aller guten Nationalisten. Es ist die rohe körperliche Züchtigung eines einzelnen durch die Kollektivität, deren einzelne Angehörige keine Verantwortung tragen, und gegen die es keine Berufung gibt. Es wird mit Instrumenten geschlagen. Das Opfer wird gewöhnlich nach einer Minute ohnmächtig. Wiese wird es.

Am schlimmsten sind nicht einmal die Vorgesetzten, am schlimmsten sind die kleinen Vorgesetzten: die Kameraden.

Es ist kein Zufall, daß ein Soziologe dieses Buch von der Kindheit geschrieben hat. Die hohenzollern-brandenburgische Tradition, die militärische Tradition folgt in ihrem Bestreben, Untergruppen durch Eifersüchteleien zu schwächen, sodaß sie als ganze nicht mehr gefährlich werden können, einem alten Gesetz. »Es war allgemeine Übung der Inkas«, sagt Simmel, »einen neueroberten Stamm in zwei ungefähr gleiche Hälften zu teilen und in beide je einen Vorsteher einzusetzen, und zwar mit einer geringen Rangdifferenz zwischen beiden.« So auch hier. Die deutschen ›Untertanen‹, stets viel zu sehr beschäftigt, die Reihenfolge ihrer kleinen Würden unter sich auszumachen, haben niemals Zeit gehabt, gegen ihre eigentlichen Bedrücker vorzugehen, deren schlimmste allerdings sie selbst waren. Die Stubenältesten und die offiziell nicht abgestempelten, aber um so stärkern Vorgesetzten durch Prestige hausten im Kadettenkorps wie die Räuber. Das hatte auch seine materiellen Gründe: diese zukünftige Elite der Nation erpreßte Geld [501] und Nahrungsmittel von den Kameraden, wo sie nur konnte. Wiese: »In Wirklichkeit waren es erpreßte Abgaben, auf die man einging, um sich etwas Ruhe vor den Peinigern zu verschaffen. Freilich war das auf die Dauer ein Irrtum. Wie überall in der Welt, wo der Schwächere dem Stärkeren schutzlos gegenübersteht, weckte jeder entrichtete Zins stärkeres Begehren nach größern Leistungen.« Und wenn man ein paar Breitengrade weiter südlich geht und die weiße Hautfarbe in ein dunkleres Braun verwandelt, so ändert sich nichts. Albert Londres berichtet in seinem Aufsehen erregenden Werk: ›Dante n'avait rien vu‹ über die französischen Militärstraflager in Nordafrika, ›Biribi‹ genannt, von den Funktionen der dortigen Stubenältesten, die man ›caïd‹ nennt. (Caïd ist eigentlich die Bezeichnung für einen arabischen Statthalter.) Londres sagt darüber: »Wenn ein Gefangener von seiner Familie ein Paket bekommt, so trägt er es zunächst zum caïd. Der caïd trifft seine Wahl und läßt liegen, was ihm nicht gefällt. Bei der Bataillonsausgabe von Wein setzt der caïd den Zuber neben sich und gibt selbst aus. Was übrig bleibt, gehört ihm; er verwendet es für sich oder verkauft es. Der Tabak, den jeder empfängt, gehört dem caïd. Wenn der Strafgefangene dem caïd Tabak gibt, so ist das keine Gefälligkeit, sondern eine Zinszahlung (il lui paie une redevance).« Man beachte die gleiche Terminologie zweier so verschiedener Autoren. Beide sprechen von einem ›Zins‹. Nun, diesen Zins hat der kleine Wiese reichlich bezahlen müssen.

Heute betrachtet er sein Unglück soziologisch, »Daß der Gruppengeist trotz aller versachlichten Normen und trotz der Grade von der Eigenart der vorbildlichen oder autoritären Menschen abhängig ist, zeigte sich mir besonders darin, daß das Gemeinschaftsleben innerhalb der Kompanie in jedem Jahre wesentlich anders, daß auch das Verhalten der Kadetten zwischen den beiden Kompanien sehr verschieden war . . . Am entscheidendsten war stets der Umstand, welche ›Clique‹ tonangebend war.« Dabei erwähnt Wiese allerdings nicht, daß diese Clique nicht vom Himmel heruntergefallen ist, sondern daß die Gruppe sie als ihren Extrakt gewissermaßen ausgeschwitzt hat. Es gibt keine Regierung, die einem nicht zu den Heloten zu zählenden Volk auf die Dauer künstlich aufgepfropft wäre: jede Regierung ist im Tiefsten, besonders im Passiven, der Ausdruck ihres ganzen Volkes. Die Einzelheiten aber, die Wiese von diesen Kadettencliquen angibt, schreien zum Himmel.

Prügel. In die Fresse schlagen. Die glatte Lage. Eisernes Lineal auf weiche Kinderhände. Spitze Federn in die Kehrseite. Ein Maikäfer wird an einen Faden gebunden, dem Opfer zum Schlucken gegeben und wieder herausgezogen. (Strafverschärfung: der Maikäfer wird vorher in Tinte gebadet.) Stundenlanges Strammstehen. Herunterstopfen sämtlicher Tellerabfälle einer ganzen Tischgemeinschaft. Würgen mit der [502] Halsbinde, bis der Gewürgte ohnmächtig wird. Von den sexuellen Anomalien soll hier nicht gesprochen werden. Das ungefähr waren die Grundpfeiler der gerühmten deutschen Heereserziehung.

Wer waren die Erzieher? Die Erzieher waren ehemalige Kadetten, die nicht einsehen konnten, warum es andre besser haben sollten, als sie es selbst einmal gehabt hatten, und die sich einredeten, »doch auch recht tüchtige und ordentliche Menschen geworden zu sein«. Sie ließen die Dinge also nicht nur treiben, sondern begünstigten und provozierten sie sogar. Sie verhinderten nicht, sie stifteten an. Daß dabei einer dieser Jugenderzieher einen uns auch sonst teuern Namen trägt, mag als lustiger Zufall gebucht werden. »Der Kompaniechef, der im Herbst 87 den Hauptmann v. Scheidt abgelöst hatte, Herr Noske, war zeitweise ein ganz jovialer Mann, der sich sehr gern reden hörte und sich irrigerweise für ein pädagogisches Genie hielt.« Es scheint in der Familie zu liegen.

Wiese litt annähernd acht Jahre unter diesem Auswurf einer Nation. Bei der Konfirmation stand ein Haken seines Uniformkragens offen, und einer der als Hauptleute kostümierten ewigen Feldwebel sagte zu der Mutter des Kadetten: »Er wird sich sehr zusammennehmen und noch sehr bessern müssen, wenn noch was Ordentliches aus ihm werden soll, gnädige Frau!« Hoffentlich hat er dann später immer hübsch seine Kragen geschlossen gehalten.


»Wenn ich diese Aufzeichnungen veröffentliche, geschieht es, weil sie mir Warnungen zu enthalten scheinen, deren die Gegenwart bedarf. Viele Eltern und Lehrer sehnen sich heute nach der alten, mehr oder weniger militärischen Erziehungsweise zurück und wähnen, daß den Kindern die Zucht und Bindung der Internate alten Stils, vor allem des Kadettenkorps, not täte. Überall in Deutschland mehren sich die Anzeichen einer freiwilligen ›Militarisierung‹ des Erziehungswesens, wobei ich unter Militarisierung nicht äußere Kriegsvorbereitungen, sondern eine innere Formung der Jugend nach Regeln und Grundsätzen eines unfreien Geistes verstehe.« Leopold v. Wiese, der uns wegen seiner anständigen und menschlichen Haltung im Kriege im besten Gedächtnis ist, ein Mann, dessen künstlerische Vergangenheit und wissenschaftliche Leistungen dafür bürgen, daß er nicht eine blinde Hetzschrift geschrieben, hat hier das schärfste sachliche Urteil über die militärische Erziehung gesprochen.

Die militärische Erziehung macht den Menschen zu einem Gruppenbestandteil und stützt die Fiktion mit den schlechtesten Mitteln. Sie appelliert dabei an tiefe barbarische Urinstinkte des Menschen, an seine Eitelkeit, an gewisse Berührungspunkte der Sexualität mit dem Sadismus, an das Männchen im Mann und an das Fleischfressende im Menschen. Die Verantwortung ist so aufgeteilt, daß niemand sie mehr [503] trägt, und hier ist an die vorzügliche Stelle aus Simmels Soziologie zu erinnern: »Ebenso gefährlich wird dem einzelnen die Zugehörigkeit zu einer Gesamtheit auch nach der Seite des Tuns, hier handelt es sich darum, daß das wahre oder das vorgebliche Interesse einer Gemeinschaft den einzelnen zu Handlungen berechtigt oder verpflichtet, für die er als Einzelner die Verantwortung nicht tragen möchte . . . Korporationen politischer . . . Art üben so empörende Unterdrückungen individueller Rechte – wie es dem einzelnen, wenn er als Person sie verantworten sollte, doch unmöglich wäre oder doch ein Erröten abzwingen würde.« Die Faulheit und geistige Unfähigkeit von Erziehern und Vorgesetzten, wirtschaftliche Interessen und ein Tiefstand der öffentlichen Gruppenmoral haben das deutsche Militär groß gemacht. Dieser Militarismus ist in alle Berufszweige und Schichten so tief eingedrungen, daß er die Deutschen unfähig gemacht hat, koordiniert zu arbeiten. Sie können es nur subordiniert. Die dauernd gestellte Frage, wer ›mehr zu sagen‹ hat, schiebt sich als tote Last in jeden Arbeitsorganismus ein. Eine unproduktive Hemmung, eine Verderbnis der Seelen und ein Mord an Tausenden und aber Tausenden der jungen Generation.

»Am befremdlichsten ist mir beim Rückblick auf die wahlstätter Jahre, daß mir aus der langen Zeit meines Aufenthalts im Vorkorps kaum ein Fall bekannt ist, den ich als Beweis von Ritterlichkeit unter den Kadetten anführen könnte.«

Und: »Eine Möglichkeit, durch irgendetwas andres als durch Körperkraft und physischen Mut legal zu imponieren, gab es nicht. Geistige Leistungen erregten bis zum Beweise des Gegenteils den Verdacht der Schlappheit.« Schlapp sind unsre Heerführer nie gewesen.

Nicht nur die Reichswehr mit einem demokratischen Minister an der repräsentativen Spitze hat sich die Aufgabe gestellt, die ›Tradition‹ hochzuhalten. Schulen, Internate, ein Teil der Volksschullehrer, die Oberlehrer, ein Teil der Universitäten, selbstverständlich die Studenten, diese phantasielosen Rivalen der alten Offizierkorps: die ganze herrschende Klasse Deutschlands, soweit sie von Einfluß ist, seufzt nach einem neuen, staatlich sanktionierten Militarismus und nimmt vorläufig mit dem privat konstruierten kleinem Kreise vorlieb. Viel ethisch und praktisch begründeter Widerstand ist nicht vorhanden. Selbst die Kommunisten schwenken langsam in Gruppen rechts ein und ersehnen sich einen neuen Militarismus mit umgekehrten Vorzeichen.

Das Buch Leopold v. Wieses ist ein Warnungsfanal für ein verhetztes Volk. Von der Reichsleitung ist nach ihrer Vorbildung und Klassenzugehörigkeit nicht das geringste Verständnis für das, was in dem Buche schmerzlich und ruhig ausgesprochen ist, zu erhoffen. Es wird an uns sein, einer verkommenen und in Roheit verluderten Schicht im Innern und einer Welt draußen zu sagen, daß es noch andre [504] Deutsche als diese, daß es neben den Unteroffizieren und Generalstabskadetten, neben brüllenden Wachtmeistern und rotangelaufenen Frontgötzen, neben größenwahnsinnig gewordenen Beamten, neben Prügelnden und Verprügelten noch andre Deutsche, daß es noch Menschen in Deutschland gibt.


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