Gottes Blasbalg
Dr. Owlglaß
1860. Durch die bläuliche Mondlandschaft wallt der Dichter. Seine strohblonden Haare ringeln sich zu Locken, in den Händen hält er die Leier und schlägt sie, tüm tüm. Sein sanfter Blick ist gen Himmel gerichtet, und seine in weite Samthosen gehüllten Beine stolpern über die Chaussee. Milchiges Licht ergießt sich über die weithingestreckte Landschaft. Horch, da tönt des Dichters Falsett: »Feinsliebchen, was bist du so stille, Feinsliebchen, was bist du so bloond, es ist doch Gottes Wille, da oben scheinet der Mond . . . « Aber nicht immer stehet des Menschen Phantasie im Gleichklang mit jener Realität, wie sie sich zum Beispiel in dem Corpus eines besoffenen Bauern darstellt. Der Dichter achtet nicht des Wegs und fällt richtig über unsern Krischan, der einen Kriegervereinsrausch lieber im Felde als an der Seite seiner schmälenden Gattin ausschnarcht. Nun erhebt er sich grunzend und torkelt auf den Dichtersmann zu, dessen feucht-bläuliche Augen noch immer an der vollen Selene hängen. »Du büs woll'n büschen duhn, wat?« Tüm! macht die Laute, und der Dichter will die zweite Strophe beginnen. »Feinsliebchen . . . ?« – »Hup«, sagt der Bauer, »da schall doch glik –«, und sie kugeln alle drei miteinander in den Graben: die Laute mit einem Wehklang, Krischan mit einem kommunen Fluch, und der Dichter Wunibald mit dem letzten Reim auf den Lippen. Dichter sind eben zu gut für diese Erde.
[242] Aber dann taugen sie nichts. Hart im Raume stoßen sich die Sachen, und wers nicht vertragen kann, der soll seinen Laden schließen. Bei dem heyseren Pathos einer vergangenen Zeit stört uns nichts mehr als dies: die unentwegt gefühlvolle Empfindlichkeit, und kitzelt uns nichts mehr als dies: so einem glibberigen Sänger einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Die Natur darf diesen Kronen der Schöpfung als Hintergrund dienen, Mond, Sonne, Schilfgeflüster, Waldesrauschen – all das hat der liebe Gott nur des Reimes wegen geschaffen, und das egozentrische Gebrüll manches Barden störte die Stille der sommerlichen Nacht. Später, als man die gute, beliebte décadence kistenweise aus Frankreich importierte, schlug die Lyrik nach innen, und man suchte vom Zwerchfell auf- und abwärts sorgsam jedes Plätzchen ab.
Hier darf ich nun einen Menschen präsentieren, keinen Dichterling und keinen Reimer und keinen Gefühlsfabrikanten, sondern einen Menschen, einen wahrhaftigen Menschen.
An der Lyrik des Herrn Dr. Owlglaß, der übrigens nicht so heißt, scheint mir bemerkenswert zu sein, daß sie so vorsichtig und zurückhaltend ist. Dieser Doktor ist viel zu klug, um alle Welt mit seinem Pathos zu belästigen. Und wie Hofmiller einmal Stellen aus Wilhelm Busch solchen aus Schopenhauer gegenübergestellt hat, so ließe sich mit Leichtigkeit eine bittersüße Lebensphilosophie aus den Versen des schwäbischen Medikus herauskochen. »Jedenfalls«, hat er einmal von sich selbst gesagt, »ist er seit Jahren als praktischer Arzt tätig, lernte den Tod in mancherlei Gestalt kennen und das Leben – reservatis reservandis – lieb gewinnen.« Er hat das Leben lieb und hat es oft gestaltet. Was ihn nicht hinderte, eine neue Art von sozusagen intellektueller Lyrik zu schaffen, ein Kasperletheater des Denkvermögens, worin der Verstand als Hanswurst viele merkwürdige Rollen zu agieren hatte. Man wird das in den beiden Bändchen finden: ›Der saure Apfel‹ und ›Gottes Blasbalg‹ (bei Albert Langen). In diesen Titeln ist der ganze Owlglaß: er weiß, daß er nur ein »hölzernes Gestell ist, das ein Herre befingert«.
Und er weiß, daß er, wie es bei Grimm heißt, immer lustige Streiche machen soll, damit die Leute lachen; »und wenn sie mir einen Apfel reichen, und ich beiße hinein, so ist er sauer«. Muß einer erst Arzt sein, um diesen Zwiespalt von Körper und Seele ganz zu empfinden, die ewige Lächerlichkeit des Daseins, das Duo von Stoff und Geist?
Und nachdem er das alles gesagt hat, wie das so hienieden bestellt ist, und wie bitter es sich rächt, wenn man sich unabhängig glaubt –
[243]– nachdem er das alles gesagt hat, darf er sich erlauben, uns auch einmal eindeutig und lyrisch zu kommen. Das Beste davon steht gleichfalls in ›Gottes Blasbalg‹ und in dem großen Band: ›Von Lichtmeß bis Dreikönig‹, den Rudolf Sieck wunderschön illustriert hat (bei Albert Langen).
Hier ist die Natur keine Kulisse, hier fühlt man wirklich, wie ein Mensch am See entlang schlendert oder durch eine blühende Wiese, und er hat gar keine Leier in der Hand, sondern er raucht eine Zigarre und pafft und sieht liebevoll jede junge Birke an – bedenkt es bei sich und erinnert sich . . .
Solche Gedichte wie den ›Vorfrühling‹ und ›Altes Nest am Morgen‹ kann man nicht machen. Die müssen wachsen. So etwas entsteht langsam, und eines Tages ist dann zufällig der letzte Ausdruck dafür da. Und es ist ein Lied, und man möchte es gesungen hören.
Wenn man verurteilt ist, die schmalen Bände in der großen Stadt zu lesen, dann mag man tiefer atmen und an Mörike denken. Aber der lebt nicht mehr; auch ist Owlglaß noch etwas anders. Es hat keiner so nachdenklich die Sehnsucht geschildert und sie mit leiser Selbstpersiflage verspottet, und es hat keiner so beruhigend und so voll und warmblütig von der endlichen Erfüllung gesprochen. Die Stelle ist ein Höhepunkt seines Werkes. Ein schönes Bild von Sieck steht dabei, grau und blau, in matten Farben – die Worte aber heißen so:
Und ich möchte euch bitten, mit mir einen stillen Gruß hinüberzuschicken nach Fürstenfeldbruck bei München.