Ausflug nach Robinson

Über die Stadt Paris kann man dreihunderterlei Meinungen haben – über ihre Umgebung nur eine. Sie ist bezaubernd, und doppelt bezaubernd, weil sie gar nicht von der Nähe der Großstadt angeknabbert ist. Eine halbe Stunde von Paris ist man wirklich tief im Lande, auf dem Lande. Dabei macht der Pariser, soweit ich das übersehen kann, nicht so übermäßigen Gebrauch von seiner Umgebung. Ausgenommen, unter anderm, Robinson. Das ist eine grüne Laube voller Fröhlichkeit.

Wenn man nun diese echte französische Fröhlichkeit kennen lernen will, dann muß man nicht nachmittags um fünf Uhr ins ›Klärridsch‹ gehen, wo brasilianische Rastas und Mr. Benjamin aus Chicago ein Tänzchen wagen, sondern man muß den französischen Kleinbürger, zu dem auch der Arbeiter gehört, da aufsuchen, wo er sich amüsiert. Zum Beispiel in Robinson.

Robinson liegt ein halbes Stündchen von Sceaux, man fährt von der Gare du Luxembourg mit einer Bahn hinaus, die zu stolz ist, zu bimmeln. [414] Sie sollte es aber doch tun – denn sie repräsentiert die alte Zeit, im Gegensatz zur neuen, die die Métro nun auch bis hierher legen will. Robinson hat einen hohen Ruf, zirka zwanzig Meter hoch: das sind seine Bäume, auf denen man Kaffee trinken kann. Da sind oben auf dicht belaubten Kastanien kleine Altane und Nester gebaut (was sich gefährlicher anhört als es ist) – und man klettert hinauf, läßt das Essen in Körben emporgleiten und sieht in das schöne Tal von Bièvre. Die Gegend ist leicht gewellt, überall stehen kleine Häusergruppen, rotbedachte Häuschen, auch hier und da eine Fabrik. An diesem Sonntag war die Luft ganz zart, ein feiner Dunst lag auf der Landschaft, wie ein warmer Hauch. Dabei war es kalt, man sah seinen Atem. Und man hatte den Eindruck, an einem frischen Vorfrühlingstag an Kulissen vorbeizugehen, an Kulissen des Sommers.

Da ziehen die pariser Bürger, Mann, Frau und Kind, manchmal Kinder. Alle sind sehr gesittet, artig – man hört nie ein ungezogenes Wort, nie einen Zank. Und vergnügt sind die Leute –! Wegen gar nichts, versteht sich: im Freien sind kleine Tanzplätze, überall klingelt, bumbert und miaut eine Jazz-Band, die sich merkwürdigerweise unter freiem Himmel gut macht. Die kleinen Mädchen tanzen, selig; manche werden von ›Ihm‹ in einem kleinen Motorrad spazieren geführt (mit Badewanne – hinten drauf sitzt keine), die Kinder und die Erwachsenen haben Papiermützen auf, so, wie man sie früher aus Knallbonbons zog, und sie blasen auf Pappschalmeien – aber es ist kein Bockbierfest. Die Lustigkeit ist viel leichter, viel gewichtloser.

»Hier können Familien Kaffee kochen« – gibt es nicht. Aber dafür steht doch an den kleinen Cafés: »On reçoit les clients avec leurs provisions«, was also schließen läßt, daß man da seine mitgebrachten Stullen zu dem hellen Wein verzehren darf. Aber Stullen gibt es ja auch nicht. Man hats mitunter schwer, die Kulturen zu vermitteln . . . Viele essen Papageiennüsse (cacahuettes genannt), viele gehen eng umschlungen; französische Liebespaare benehmen sich in der Öffentlichkeit viel ungenierter als die unsern, aber auch viel harmloser. Einer probiert an einer Verkaufsbude alle Blasinstrumente durch – guten Appetit für den nächsten! – in einem Häuschen gibt es auch eine Schießbude. Aber die Schußbahn ist umsäumt von blühenden Rosensträuchern. (»Na, hörn Se ma – dann ist es doch aber keine richtige Schußbahn!« – Nein, dann ist es wohl keine richtige.) Kinder reiten auf Eseln, auf Papas – alle Lauben sind besetzt, von Schmausenden. Es sind Sonntagspreise, das ist wahr – aber wie sauber ist alles, wie höflich sind Kellner und Wirte noch in dem kleinsten Lokal, und ich muß an das in schlechtem Fett gebratene Schnitzel und an die Weinterrassen meiner Heimat denken . . . Alle Welt ist ehrlich vergnügt, nirgends sieht man das Gesicht von einem, der auszog, das Amüsieren zu lernen. Wie nett und fröhlich ist dieses Land –!

[415] An den Augen des Besuchers liegts nicht. Das Wetter war nicht sehr sommerlich, ich war ganz allein, Freundin und Auto hatte ich für diesen Tag ausgeliehen – und doch empfand ich: es gibt bei uns nichts dieser leichten Fröhlichkeit Vergleichbares.

Ein Automobil braust vorüber, aber der Gegensatz zu den Insassen und den Fußgängern ist nicht hart – die da drin verachten die da draußen nicht, und diese fühlen sich nicht gedemütigt, weil sie zu Fuß gehen. Ein anderes kommt angehupt – mit Mädchen und jungen Leuten im Rokoko-Kostüm – auf dem Montmartre war an diesem Sonntag Wettrennen im Langsamfahren – vielleicht waren sie da. Ein Grammophon singt das Lied von der ›Schönen Señorita.‹, den Nationalgesang aller pariser Revuen, den Raquel Meller aufgebracht hat, eine Spanierin, sagt sie . . .

Und ich fahre wieder nach Hause. (Denn so zu Hause habe ich mich in Berlin nie gefühlt.) Das kleine Coupé erster Klasse, das ich in einem Anfall von Größenwahn besteige, sieht sauber aus, auf den Kissen liegen die gehäkelten weißen Sofaschoner. Es mufft wie in einem Dorfzimmer, das lange bei verschlossenen Fenstern gestanden hat – es riecht nach Sonne, Staub und altem Holz. Ich lasse die Fenster herunter. Von draußen klingen die Stimmen der Singenden, im Zug singen sie – es ist, als ob das ganze Land singt. Und ich bin so neidisch – Sie werden das verstehen – neidisch auf die Heimat der andern, denen es gut geht und die nicht nur den Krieg gewonnen, sondern auch ihre Seele nicht verloren haben.


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