Nachher
»Wieviel Uhr . . . « – aber schon sank die Hand schlaff herunter, »Ach so –«, sagte er. Ich lächelte doch. Als ich den Ausdruck seiner Augen bemerkte, stellte ich die Lachfalten wieder gerade. »Keine Zeit«, flüsterte er. »Sich daran zu gewöhnen, daß es keine Zeit mehr gibt. Ja, die guten Aprioristiker . . . « Ich bog ab. »Haben Sie sich da unten die Zeit auch geometrisch vorgestellt?« sagte ich. »Nein, wie . . . « sagte er. »Als lebe man im Raum vorwärts«, sagte ich. »Als könne man im Raum der Zeit auf- und abrutschen, vorwärts und rückwärts, mit allen Spielen im Raum: wer da hinten auftaucht, ist noch klein, er kommt auf uns zu, wird immer größer, dann nimmt seine Gestalt ab, verschwindet, wissen Sie?« – »Das kenne ich nicht«, sagte er. »Nicht?« sagte ich. »Es ist so:
Das kleine Haus, in dem ich einmal gewohnt habe, steht unbeweglich. Nun setzt es sich in Bewegung; nachts, wenn wir nicht einschlafen können, hört man, was es macht. Es fährt durch die Zeit. Vorn, am Bug schäumt das Zeitwasser hoch auf, mit solcher Geschwindigkeit geht es vorwärts, es zerteilt die Zeit, sie gleitet rechts und links am Haus vorbei, da rauscht sie auf, überall, und wir liegen in der kleinen Bettschublade und werden davongetragen, wehrlos, machtlos, weiter und immer weiter. Manchmal streckt sich eine Hand aus solch einem [128] Bett, sie hängt laß herunter und bewegt sich – zurück? Da gibt es kein Zurück. Manchmal schaudert der Schlafende vor dem, was nun kommt – aber sie fahren mit ihm. Ahnungen helfen nicht. Morgens früh, wenn du aufwachst, hält das Haus schon anderswo.«
»Ja – etwas Ähnliches habe ich doch wohl schon empfunden«, sagte er. »Man ist übrigens nicht sehr glücklich dabei.«
»Nein«, sagte ich. »Man ist nicht sehr glücklich dabei. Zum Schluß bleibt die etwas trübe Empfindung von einer Masse Eindrücke; es wäre ein herzhafter Spaß, wenn man den Zeitraffer anbringen könnte und das ganze Leben, das man zu führen verurteilt ist, donnerte mit einem Male herunter. Aber das war nicht zu machen.«
»Haben Sie sich sehr gesehnt, zu . . . hierher zu kommen?« sagte er.
»Oft«, sagte ich. »Hunger habe ich alle meine Lebtage gehabt. Hunger nach Geld, dann: Hunger nach Frauen, dann, als das vorbei war: Hunger nach Stille. Oh, solchen Hunger nach Ruhe. Mehr: Hunger nach Vollendung. Nicht mehr müssen – nicht mehr durch die Zeit fahren müssen –.«
»Man geht spurlos dahin –«, sagte er, »Nein«, sagte ich. »Man geht nicht spurlos dahin. Ach, denken Sie nicht an Denkmäler – das ist ja lächerlich. Und ich weiß schon, was Sie jetzt sagen wollen: unsterbliche Werke. Ich bitte Sie . . . Nein, etwas anderes. Ich habe etwas dort gelassen, ja, ich habe etwas dort gelassen.« – »Was?« sagte er, ein wenig ironisch.
»Ich habe den Dingen etwas gelassen«, sagte ich. »Seit jenem Tage, wo ich den greisen Klavierspieler in Paris wiedersah, den mein Vater zwanzig Jahre vorher in Köln gesehen hatte. Er spielte noch dieselben Stücke, der Wandervirtuose – noch genau dieselben. Und da war mir, als grüßte durch ihn mein toter Vater. Auch ich habe den Dingen etwas gesagt. Ich habe an vieles, was längere Dauer hat als ich und Sie, Grüße befestigt. Ich habe hier einen Gruß angeheftet und da einen Kranz, hier einen Fluch und da ein abwehrendes Schweigen . . . und als ich das tat, da merkte ich, daß die Dinge schon voll waren von solchen Grüßen Verstorbener. Fast alle hatten sich an die Materie gehalten, hatten Spuren hinterlassen; wenn man vorüberstrich, bat, flehte, beschwor, fluchte und segnete es von diesen Sachen herunter, die die Menschen tot nennen. Ich bin nicht spurlos dahingegangen. Nur –«
»Nur –?« sagte er.
»Nur –«, sagte ich, »Die Menschen sind Analphabeten. Sie können es nicht lesen.«
Er sah mich an und tastete an die Stelle, wo einmal seine Uhr gesteckt hatte. »Kommen Sie!« sagte er. »Wir wollen zum Nachmittagskaffee.«