20
Einlage des vorigen Briefes
Ich erwarte Deine Zurückkunft, Lovell, und bis dahin will ich für Dich diese Aufsätze schreiben, damit Du endlich die so sehnlich gewünschte Erklärung erhältst. Du hast recht, wenn Du glaubst, daß es nicht möglich sei, immer unter Träumen umherzugehn, daß der Geist endlich nach einer trocknen Überzeugung schmachtet, und diese soll Dir auch jetzt werden. – Ich habe alle Deine Briefe an Rosa gelesen und alles hat mich in meiner Meinung von Dir bestätigt; ich habe Dich jetzt kennen lernen und Du sollst nun auch erfahren, soviel es möglich ist, wie ich beschaffen bin.
Du wirst aber alle meine Gedanken vielleicht zu ernsthaft nehmen und sie eben darum weniger verstehn: es ist sehr Deine Sache, aus allzugroßer Heftigkeit in einem Gedanken etwas [666] ganz anders zu finden, als der andere gemeint hat. Du gehörst zu jenen Lesern, die in allen Büchern nur sich selber suchen, und nicht die Fähigkeit besitzen, sich in fremde Wesen hineinzudenken. – Ich hoffe, Du sollst durch einige Nachrichten erschüttert, durch manche Gedanken sollst Du klüger werden, und wenn beides geschieht, will ich meine Zeit und Mühe nicht bereuen. – Meine Krankheit zwingt mich zu irgendeiner Beschäftigung; ich will Dir also diese Papiere als ein Denkmal von mir zurücklassen, als ein Testament, als die Erbschaft selbst, die Du von mir erwarten kannst.
Meine Jugend
So wisse denn, daß ich Waterloo heiße und ein Engländer bin. Ich bin mit Deinem Freunde Burton nahe verwandt, denn ich bin der Oheim seines Vaters, Du kennst durch Deinen Vater vielleicht schon meinen Namen, ja Du mußt sogar oft mein Gemälde gesehn haben, welches in einem von euern Zimmern hängt.
Ich habe schon seit lange darauf gedacht, meine Geschichte kurz niederzuschreiben, nur habe ich noch nie eine gelegene Zeit dazu finden können: jetzt, da ich nichts zu tun habe, da alle meine Bekannten mich verlassen, will ich mir die Vergangenheit zurückrufen, um mit ihr und mit mir selber zu tändeln, so wie ich bisher mit den Menschen spielte. –
Mein Vater war ein rauher und strenger Mann, ich war sein einziges Kind. Er hatte sein Vermögen in der englischen Revolution verloren, er lebte daher auf dem Lande äußerst sparsam und eingezogen, die Eitelkeit und die Pracht der Welt kannte ich nur vom Hörensagen. In einem einsamen Tale wuchs ich auf, und fast immer mir selbst überlassen, entwickelten sich in meiner Seele wunderbare Träume, die ich für die Wirklichkeit ansah. Frömmigkeit erfüllte mein Herz, ich war in einem beständigen andächtigen Taumel, es verging alles vor meinen Sinnen und Gedanken, wenn ich mir Gott und die Unsterblichkeit vorzustellen suchte. Heilige Stimmen liefen oft durch den Wald, wenn ich allein dort lag, alle Wipfel vereinigten sich dann zu einem leise brausenden Chor, und der Gesang der Vögel erschallte munter dazwischen, wie ein Weltgesang der weltlichen Freuden mit dem Segen des Himmels. Ich schlummerte oft ein und faßte dann die größten und frömmsten Entschließungen: dann hob ich meine Hände kindlich zum Himmel empor, und alle Gefühle zerrannen [667] in meinem Herzen und vereinigten sich in einen Punkt. Tränen stürzten dann aus meinen Augen und endigten so meinen hohen Taumel. Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den Menschen gehört, und dies Gefühl hielt ich für diese Liebe, denn es war, als wenn mein Herz ein magnetischer Mittelpunkt wäre, der vom Himmel unwiderstehlich angezogen würde und den die körperliche Hülle kaum noch auf der Erde zurückhielte. Mein Vater war selbst im Alter fromm geworden, und seine Gespräche dienten sehr dazu, meine Phantasie noch mehr zu erhitzen. Ich kann sagen, daß ich in den überirdischen Regionen so einheimisch wurde, wie in unserm Garten, daß mir die seltsamsten Träumereien so geläufig wurden, wie meine Kinderspiele, und daß ich mich mit der ruhigsten Sicherheit für die frömmste und auserwählte Seele hielt, die dem höchsten Engel nur die Hand bieten durfte, um gleich mit ihm in Brüderschaft zu treten.
Enthusiasmus
Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich die Geschichte, oder andre Bücher über Menschen las, für einen ganz vorzüglichen Geist. Ich traute keiner andern Brust die Empfindungen zu, die wie eine sanftwechselnde Musik in meinem Herzen auf- und niederstiegen. Diese Vorstellungen hoben mich über die ganze Welt hinaus, ich vergaß alle Dürftigkeiten des Lebens und war nur in reinen Strahlen einheimisch.
Fast jeden Menschen beherrscht in der Zeit, wenn er vom Kinde zum Jünglinge übergeht, ein hoher Enthusiasmus; der ist glücklich, der sehr schnell den Zirkel aller täuschenden Empfindungen durchläuft, um endlich, wenn er die Runde gemacht hat, sich selber anzutreffen. Die hohe Reizbarkeit dient dazu, uns in tausend Torheiten zu verwickeln, aber auch, uns über diese Torheiten zu belehren; je feinere Sinnlichkeit ein Mensch besitzt, um so eher ist es ihm möglich, recht früh klug zu werden.
Ich möchte den jugendlichen Enthusiasmus, so wie manches andre im Menschen, nichts als eine Anlage nennen, die sich zur Geschicklichkeit ausbilden läßt. Es ist eine Kunst, die man sich durch Übung erwirbt, keine von den Armseligkeiten zu erblicken, die uns in der spätern Zeit oft zurück und auf der Erde festhalten, wenn uns eben ein fliegender Taumel ergreifen will; wir stellen in der Jugend alles in einen dunkeln Hintergrund, was vor uns hin die schöne Aussicht verdecken könnte. Man nimmt [668] sich nur vor, ein großer Mensch zu werden, solange man die Menschen und sich selber nicht kennt: es ist ein Spiel, das uns erhaben vorkömmt, weil wir uns so lange zwingen, bis wir es so finden. Dem kälteren Menschen erscheint der Enthusiasmus gerade so, wie derjenige, der kein Spiel versteht, denen zusieht, die sich mit vieler Aufmerksamkeit mit einem scharfsinnigen Kartenspiele beschäftigen.
Der Enthusiast meint, die ganze Welt sei nur darum da, um seine Entwürfe darin auszuführen, die Welt sei nur darum so sonderbar aus Übeln und Vortrefflichkeiten zusammengesetzt, damit er durch die Überwindung der Schwierigkeiten ein desto größeres Verdienst erringe. Er würde nicht mehr gut sein wollen, wenn es leicht wäre, gut zu sein, und wenn es alle Menschen mit ihm zugleich wären.
Liebe
Bei den meisten Menschen ist der Enthusiasmus für das Große und die Tugend nur eine Vorbereitung zurLiebe, es ist derselbe Trieb, der sich in die Allgemeinheit verliert und Ideen sucht, weil er keinen Gegenstand vor sich hat: die Liebe verarbeitet die Menschen eine Zeitlang und führt sie nachher zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem sie verständiger, aber auch weit größere Toren als vorher werden können. Es ist der Kreuzweg, auf dem die meisten sich in verwickelten Irrgängen verlieren und umzukehren glauben, wenn sie immer tiefer in die Wildnis hineinrennen.
Mein Vater starb, als ich sechszehn Jahr alt war, ein tauber Schmerz erdrückte und verfinsterte meinen Geist, ich glaubte alles verloren zu haben; ein Irrtum, den jeder Mensch beim ersten Verluste begeht, weil er noch nicht in den Wechsel des Lebens eingelernt ist. – Ich trieb mich lange in der Einsamkeit herum, um meinem Schmerze nachzuhängen und aus ihm nach der ersten Betäubung eine Art von Kunstwerk zu bilden, in welchem ich mir wieder gefiel. Ich zog nach und nach meine vorigen Ideen in meinen jetzigen Zustand hinein, und so war es, als wenn sich ein sanfter Mondschimmer über mir bildete, in dessen melancholischer Dämmerung ich gerne wandelte.
Ich lernte eine Familie in der Nachbarschaft kennen, oder vielmehr, ich besuchte sie nur fleißig, weil mein Vormund mich dort eingeführt hatte. Antonie, die einzige Tochter des Hauses, [669] lenkte nach kurzer Zeit alle meine Aufmerksamkeit auf sich; die Dämmerung um mich her ward immer traulicher, und ich hatte am Ende meinen Schmerz vergessen, indem ich immer noch sehr unglücklich zu sein glaubte.
Mein ganzes Leben bekam einen neuen Schwung und es ward mir auf eine andere Art lieb. Alle meine großen Entwürfe fielen zusammen, meine große heroische Biographie kroch in einen Seufzer ein, ein einziger holdseliger Blick erfüllte alle meine Wünsche.
In dieser Zeit ist man von allen Frauenzimmern gern gesehn, weil man sie verehrt und für göttliche Wesen hält; sie sind immer in der Gesellschaft eines jungen unerfahrnen Menschen glücklich und unbefangen; je blöder, je verlegener er sich nimmt, je lieber ist er ihnen, wenn sie ihn öffentlich auch noch so sehr verspotten. Als ich in mehrern Familien bekannt ward, war ich bei allen Frauenzimmern eine ordentliche Modeware; alle bildeten sich ein, daß sie mich erziehn wollten, um mich zu einem ganz vorzüglichen Menschen zu machen, jede entdeckte in mir Talente, die sich unter ihrem hohen Schutze gewiß vortrefflich in mir entwickeln würden. Es ward nun an mir so fein erzogen, daß ich es sogar in meiner damaligen Verstandesblödigkeit bemerkte, man wandte alles an, um mich eitel und verkehrt zu machen, meine Erzieher arbeiteten recht mühsam dahin, daß ich sie verachten mußte, weil sie eine noch höhere Verehrung von mir erzwingen wollten.
Antonie war das einzige Mädchen, das sich nicht um mich zu kümmern schien. Ich hörte so oft mit Verachtung von ihr sprechen, daß ich mir selbst am Ende einbildete, sie wäre mir verächtlich; man sagte von ihr, daß sie keinen Verstand besitze, und so schien es auch, denn sie sprach nur selten und sehr furchtsam mit, wenn die übrigen ihre feinen Gedanken auf eine glänzende Art entwickelten. Wenn ich allein bei ihr war, fühlte ich mich aber auf eine unbegreifliche Art zu ihr hingezogen, im einfältigen, fast kindischen Gespräche wurde mir dann der Verstand aller übrigen weit zurückgerückt, sie interessierten mich dann nicht, ich konnte sie selbst in der Erinnerung nicht achten. Ich wunderte mich oft über diese seltsamen Widersprüche, ich überlegte in der Einsamkeit, wodurch ich so wunderbar gestimmt werden könne, daß ich immer die entgegengesetzte Seite fände und sie jedesmal für die wahre hielte. In kurzer Zeit ward dieser Widerspruch in mir gehoben, denn ich gab mich gegen meine Überzeugung Antonien ganz hin, die Gesellschaft aller [670] übrigen Menschen war mir schal und ermüdend, ich lebte nur für sie, ich dachte nur sie, ich träumte nur von ihr. – Selbst jetzt in der Erinnerung könnt ich mir, ein achtzigjähriger Greis, jene schöne Zeit zurückwünschen.
Meinem Ohre gab die ganze Natur jetzt nur einen einzigen Ton an, es war als wenn die Poesie mit himmelbreiten Flügeln über die Welt hinrauschte, und Sonne, Mond und Sterne anrührte, daß sie tönten: alles Volk stand unten und staunte aufwärts, vom neuen Glanz, von der nie gehörten Harmonie betäubt und verzaubert.
Ohne daß ich oft vernahm, was sie sagte, konnte mich der bloße Ton ihrer Stimme in Entzücken versetzen, alle meine Gedanken schliefen gleichsam in Blumen und in süßen Tönen, meine Seele ruhte in der ihrigen aus, und in einem Elemente, das für den Menschen zu fein ist, schwamm und spielte ich umher.
Meine übrigen Freundinnen sahen nun mit Hohngelächter auf mich hinab; sie gaben mich verloren und meinten, ich werde nun ebenso einfältig bleiben, als es meine Geliebte sei.
Ich wünschte tausendmal, für Antonien sterben zu können, für sie irgendein Verdienst zu erringen. Ich wünschte sie arm und in Unglück, um sie zu retten, in Todesgefahr, ich flehte, daß wenn sie mich nicht lieben könne, so wie ich sie liebte, der Himmel sie möchte sterben lassen, damit ich dann Ruhe hätte, damit ich auf ihrem Grabhügel so lange weinen könnte, bis ich ihr nachstürbe. – Der Mensch kann nie in irgend etwas groß sein, ohne zugleich ein Tor zu sein.
Ich bemerkte nur zu bald, daß sie mich nicht liebte; sie war zwar immer freundlich gegen mich und mehr, wie gegen manchen andern, allein sie war mit mir nie in Verlegenheit: sie erriet mich und doch kam sie mir nicht entgegen, in jedem Worte, das sie sprach, fühlte ich es innig, daß sie mich nicht liebe. Alle meine Empfindungen peinigten mich mit Folterschmerzen, ich wußte nicht, was ich wollte, ich begriff nicht, was ich dachte, alles war im Widerspruche mit sich selber, die Natur umher ward wieder stumm, die dürre Wirklichkeit kroch wieder langsam und träge aus ihrem Winkel hervor, in den sie sich versteckt hatte: es war, als würde das Instrument mit allen seinen klingenden Saiten in tausend Stücken geschlagen.
In einer recht vertraulichen Stunde gestand sie mir nun selbst, daß sie mich nicht lieben könne, weil sie schon an einen reichen jungen Menschen versprochen sei, dem sie ihr ganzes Herz hingegeben habe.
[671] Alles in mir löste sich auf. Ein tauber Schmerz saß in meinem Herzen und dehnte sich immer weiter und weiter aus, als wenn er das Herz und die Brust zersprengen wollte, und doch kam ich mir zugleich albern und abgeschmackt vor. Ich verachtete meine Tränen und Seufzer, ich hielt alles in mir für Affektation, alle lebendige Poesie flog weit von mir weg, alle Empfindungen zogen vorüber wie etwas Fremdes, das mir nicht zugehörte. –
Der Liebhaber kam, um sie abzuholen. Sie reiste ab, und dachte nicht daran, in welcher Einsamkeit sie mich zurückließ: ich hatte ihr noch selber alles zur Reise einpacken helfen. Die Zimmer waren ausgeleert, und in der Mitternachtstunde ging ich dem öden Hause vorüber, und hörte nur noch drinnen eine Wanduhr, die ewig und langweilig ihre wiederkehrenden Schwingungen abmaß. Es war mir, als hörte ich den Takt, der kalt und empfindungslos das menschliche Leben abmißt: ich ahndete im voraus den Gang der Zeit und alle die trüben Veränderungen, die sich träge in der Einförmigkeit ablösen und gähnend wiederkehren.
Melancholie
Es ist, als wenn die Liebe wie ein Frühlingsschein in den Vorhof unsers Lebens hingelegt wäre, damit wir diese schöne Empfindung in uns recht lange nähren und fortsetzen, damit uns der schönste Genuß der Seele durch unser ganzes Leben begleite, und durch die bloße Erinnerung uns dies Leben teuer mache. Wenige nur wagen es, nachdem sie durch dies goldene Tor gegangen sind, das Leben und seine Freuden zu verachten. Begrüßte uns nicht die Liebe am Eingange des Lebens, so würden sich alle Menschen ohne Mühe von ihren Vorurteilen losmachen können, keiner würde sich um die Tugend kümmern und keiner über den Verlust seiner jugendlichen Gefühle Reue empfinden. Aber so wird uns ein Talisman mitgegeben, der uns beherrscht, ohne daß wir es wissen.
Ich fühlte mich jetzt von der ganzen Welt losgerissen, ohne allen Zusammenhang mit irgend etwas, das in ihr war. Oft lag ich ganze Tage hindurch im Walde und weinte, mit unsichtbaren Wesen führte ich Gespräche und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als wenn die Natur und die rauschenden Bäume meinem Herzen plötzlich näherrückten, und ich streckte dann meine Arme aus, um sie mit einer unnennbaren Liebe zu umfangen, [672] aber dann fiel es wieder vor meine Seele nieder, ich war in meinem Schmerze mit mir selber nicht befreundet, und alles übrige erschien mir kalt und ohne Interesse. Menschen, die dann in der Ferne vorübergingen, beneidete ich, indem ich sie verachtete: ein verworrenes Gewühl von tausend Gestalten lag drückend in meiner Phantasie; keine konnte sich losarbeiten, um als ein einzelnes, anschauliches Bild dazustehn. – Dies sind die Empfindungen eines jungen unentwickelten Menschen, der nach etwas greift, das er selbst nicht kennt.
Das hohe Ideal der Tugend und der Vortrefflichkeit des Menschen kam jetzt in meine Seele zurück. Ich nahm mir vor, alle meine Gefühle in dieser Vorstellung zu verbinden, ich sah jetzt meine unglückliche Liebe als ein Opfer an, das ich der Tugend und der Notwendigkeit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stunden Trost in diesem Gedanken, und ich nahm mir von neuem vor, ein recht edler und vollendeter Mensch zu werden, alle die gewöhnlichen Armseligkeiten wegzuwerfen und mich ganz der hohen Vorstellung zu weihen, die mein Herz erweiterte. Dieser Vorsatz ist es eigentlich nur, der den Menschen so oft über diese Welt hinüberhebt, denn in der langsamen und weitschweifigen Ausübung geht bald aller Enthusiasmus verloren. Mir ging es aber bei weitem übler. Die Menschen witterten etwas von meinen Ideen, die sie Schwärmerei nannten; um mich zu bessern, verfolgten sie mich mit falschem Witze auf die gemeinste Weise. Alles, was ich tat und sagte, war ihnen nicht recht und zu jugendlich; sie ließen mir nicht die Zeit, selbst Erfahrungen zu machen, um meine Torheiten einzusehn, sondern ich sollte in einem Treibhause klüger werden.
Es ist gewiß leicht, ein großer Mensch zu werden und zu bleiben, wenn sich uns sogleich große Unglückfälle in den Weg werfen, die die Bahn zu versperren drohen. Dann nimmt der Mann alle seine Kräfte zusammen, um keinen Schritt zurückzutun. Gefängnis und Ketten, Todesgefahr und allgemeiner Haß sind nur Mittel, die seine Seele stärken und verhärten, er lebt in einem ewigen Kampfe gegen die wilden Massen, die ihn umgeben, und dieser Kampf er hält ihn munter und lebendig. Eigensinn wird endlich seine Haupttugend werden, an dem sich seine übrigen Tugenden nur lehnen, er wird sich selbst verachten, wenn er fühlt, daß er innerlich nachzugeben im Begriff ist, und auf die Art wird die Spannung seiner Seele niemals nachlassen. Das Bild eines solchen Mannes ist groß, wenn man will, aber noch größer wäre der, der seinen Vorsatz durchführt, wenn er[673] gleich nicht bemerkt wird, dem nichts Großes entgegengeht, sondern der in einer schalen Unbedeutenheit lebt und von allen verachtet wird; vor dem der eine Tag so wie der andere vorüberzieht, und um den sich die Zeit und das Unglück gar nicht zu kümmern scheint. Ein solcher Mensch wird seinen Wert bald aufgeben, alles wird ihm nur ein Hirngespinst scheinen, und er wird entweder zu den ganz gewöhnlichen Menschen hinabsinken, oder sich an diesen zu rächen suchen.
Wie oft ward mein guter Wille verkannt und das Beste in mir verhöhnt: wem ich mit meiner Freundschaft entgegenging, der wies mich kalt zurück, meine jugendliche Empfindung nannte man sich gemein machen. Alle Menschen waren klüger, verständiger und besser, als ich, und ich glaubte es am Ende selbst; ich verachtete mich jetzt ohne Grund, so wie ich mich vorher ohne alle Ursache verehrt hatte; ich hielt es am Ende nicht der Mühe wert, an mich selbst zu denken, es war mir lächerlich, daß ich mich verbessern wollte, die Welt und ich selber ward mir gleichgültig, und so schlief ich von einem Tage zum andern hinüber, ohne Wünsche und ohne Reue, in mir selber ausgestorben und ohne Lebenskraft, neue Blüten zu treiben.
Denn Blüten sind gewöhnlich nur das, was wir schon Früchte nennen, und die Früchte selbst sind für uns nur deswegen ein Bild der Vollendung, weil sie unsern Bedürfnissen zustatten kommen: in ihnen liegt der Stamm, der in der Zukunft wieder Blüten und Früchte bringen würde. –
Plötzlich erwachten in mir ganz alte und vergessene Träume. Bilder von Ländern, Landkarten, die ich in meiner Kindheit betrachtet hatte, gingen meiner Phantasie vorüber, ich hörte entfernte Ströme rauschen und sah einen fremden Himmel über mir. Eine unbeschreibliche Lust, die Menschen und die wohlbekannten Gegenden zu verlassen, ergriff mich, ich ahndete so viel Neues, und in dem Neuen so viel Mannigfaltigkeit, daß ich plötzlich mein Vermögen zusammenraffte, und in der größten Eile England verließ.
Sinnlichkeit
Es war alles nicht so, wie ich es mir gedacht hatte. Ich traf allenthalben dieselben Menschen wieder an, eben das flache, abgegriffene Gepräge, das mich in meiner Heimat innerlich so oft empört hatte. – Ich glaubte endlich, es sei Narrheit, anders sein [674] zu wollen, ich zwang mich in diese Form hinein, und nun war ich allen lieb.
Schon vorher hatte ich von einigen sogenannten Vertrauten gehört, daß in meinem Gesichte etwas liege, das die Menschen im Anfange von mir zurückstoße; eine verborgene Widrigkeit, die man nicht genau zu beschreiben wisse, die mich aber bald lächerlich, bald wieder zu einem Gegenstande der Furcht mache. Nun wußt ich doch, warum die Menschen mich haßten und verfolgten; weil meine Nase etwas anders stand als sie es wünschten, fanden sie mich verwerflich.
Ich überließ mich jetzt dem frohern Genuß des Lebens, alle meine dunkeln Empfindungen lösten sich in Sinnlichkeit auf, ich glaubte, alles frühere sei nur ein Weg hierher gewesen, eine Vorbereitung zu dieser Vollkommenheit.
Ich verachtete jetzt alles in mir selbst, was mir als groß und erhaben erschienen war; mir selbst zum Trotz zeichnete ich mir meine Liebe als das Lächerlichste vor, ich machte mich mit den widrigsten Vorstellungen vertraut, und galt nun bald allenthalben für einen witzigen Kopf, weil ich im Grunde den Verstand verloren hatte.
So durchschwärmte ich ohne Genuß Italien und Frankreich. Man sah mich allenthalben gern, und allenthalben war ich mir selbst zur Last: ich bemerkte endlich mit Schrecken, daß mein kleines Vermögen fast gänzlich verloren sei, ich war meinem Vaterlande ganz fremd geworden, weil ich schon sechszehn Jahre entfernt gewesen war; ein Zeitraum, der mich jetzt außerordentlich kurz dünkte. – Mit dem Gelde, das mir übrigblieb, beschloß ich nach England zurückzukehren, weil mir indes das Alte etwas Neues geworden war. – Ich betrat das englische Ufer, um hier neue Erfahrungen zu machen.
Klugheit
Ich kam mit der festen Überzeugung zurück, die Menschen zu kennen. Ich hatte im Laufe meines wilden Lebens nicht unterlassen, sie zu beobachten, aber ich war mir dieser Beobachtungen viel zu sehr bewußt, als daß sie hätten richtig sein können. Es ist schwer, die Menschen in der Gegenwart zu kennen, weit richtiger beurteilt man sie in der Entfernung, wenn wir nach und nach die wahrgenommenen Merkmale sammeln. Über meine Freunde in Italien fing ich daher an, ganz richtig zu denken, und doch [675] brachten mich die Menschen, die ich in England traf, von neuem in Verwirrung: ich suchte mich in jede Gestalt, die mir aufstieß, hineinzustudieren, und darüber geschah es denn unvermerkt, daß ich selbst manches von dem Menschen annahm, den ich mir nur verständlich machen wollte; es ist dieselbe Erfahrung, die jeder Übersetzer macht, der während der Arbeit sein Original zu hoch anschlägt.
Meine ehemalige Geliebte traf ich als eine zänkische, eigensinnige Hausfrau wieder, selbst in ihrer Gestalt waren nur wenige Spuren ihrer sonstigen Liebenswürdigkeit zurückgeblieben. Wir gingen miteinander um, wie alle übrigen Menschen miteinander sprachen, und alle meine jugendlichen Empfindungen für sie erschienen mir schal und abgestanden, alle Festtage waren für mich im menschlichen Leben ausgestrichen, und mein Blick verlor sich in der unabsehlichen Folge der alltäglichen Stunden und Vorfälle, von keinem Gefühle aufgeputzt, von keiner Schwärmerei beglänzt. Wie albern erschien mir jetzt die Erinnerung meines ehemaligen Lebens und meiner jugendlichen Gefühle! Ich trat unter den Haufen der Menschen, und betrachtete jedes Gesicht mit einem kalten Blicke: keiner ging mein Herz näher an, als der andre.
Ich erhielt bald in vielen Häusern Zutritt, weil ich, ich weiß nicht durch welchen Zufall, den Namen eines witzigen Kopfes bekommen hatte. Man ist sehr oft in der Welt witzig, wenn man auf eine gewisse Art einfältig ist, wenn man jeden Einfall und Gedanken wagt, ohne an alle die Rücksichten zu denken, die der klügere Mensch nie aus den Augen verlieren wird. Ich sprach alles, was mir in den Sinn kam, und machte mich besonders durch abgeschmackte Anekdoten sehr beliebt; der wahre Witz wird in Gesellschaften selten geachtet und verstanden, die meisten Leute haben immer nur die Vorstädte des Verstandes und des Witzes kennengelernt, sie behalten daher zeitlebens ihre kleinstädtischen, entfernten Begriffe von diesen Vortrefflichkeiten. Durch den allgemeinen Beifall, dessen ich genoß, ließ ich mich verleiten, immer witziger zu werden, ich fand Behagen an mir selbst, und setzte am Ende in meine Armseligkeiten einen ebenso hohen Wert, als es die übrigen Menschen taten. Man wird meistenteils durch den Umgang einfältiger und eitler, selten klüger und besser. Ich hatte damals überhaupt gerade so viel Verstand und Erfahrung, um mich sehr dumm zu betragen, der ganz Einfältige geht einen weit bessern und sicherern Weg, als der Mensch, dessen Klugheit im Wachstume ist; die einzig schädliche[676] Dummheit ist jene halbe Klugheit, die sich allenthalben zurechtfinden will, alles zu ihrem Vorteile benutzen, das Widerspenstige auf eine sinnige Art verbinden und so durch einen feinen, unbemerkten Despotismus die ganze Welt regieren. Diese Klugheit war eben bei mir grün in die Höhe geschossen, so daß ich sie zwar bemerken, aber noch keine Früchte davon einernten konnte: diese unreife Klugheit kann höchstens einem Schriftsteller zugute kommen, der in seinen Büchern mit den Menschen machen kann, was er will, ohne daß sie sich eben zu sehr widersetzen; aber in der wirklichen Welt ist sie eben der Angelhaken, mit dem diese Goldfische von klügern Fischern gefangen werden. Man sollte daher entweder zeitlebens einfältig bleiben, oder schnell jene gefährliche Periode der Entwickelung zu überstehen suchen.
Damals lernte ich einen jungen Menschen, Deinen Vater, kennen. Er stand noch in der empfindenden Periode, und ich war ihm mit meiner Ausbildung so sehr gewachsen, daß er mich bald für das Muster eines Mannes hielt. Er wünschte nichts so sehr, als meine Freundschaft, und es traf sich, daß wir in kurzer Zeit recht vertraut miteinander wurden. Er entdeckte mir seine Liebe zur Lady Milford, und bat mich um meine Vermittelung, weil ich in ihrem Hause oft war, und viel beim Vater galt. Ich nahm mich seiner redlich an, und es kam so weit, daß die Verlobung in kurzem gefeiert werden sollte. Marie Milford war ein treffliches Mädchen, die mir mit jedem Tage mehr gefiel; ohne daß ich sagen könnte, wie es geschah, war ich selbst in sie verliebt, noch ehe ich glaubte, daß es möglich wäre. Ich dachte jetzt darauf, Lovell von ihr zu entfernen, ich tat vieles, ohne genau zu überlegen, was und wie es sei, und so gelang es mir am Ende wirklich, daß ihm der Vater das Haus verbot. Der junge Burton, der Lovells Freund war, ward jetzt heimlich mein Vertrauter, wir errichteten einen ordentlichen Vertrag. So jung dieser Mensch damals auch war, so war er mir dennoch überlegen; ob ich gleich sein Oheim war, so konnte ich es doch nicht unterlassen, im stillen eine große Achtung vor ihm zu empfinden. Es zeigte sich auch in der Folge, daß ich hierin recht hatte, ob ich mich gleich im ganzen in ihm irrte.
Marie war unglücklich, und alle meine Bemühungen, ihr Wohlwollen auf mich zu lenken, waren vergebens. Je mehr sie mir widerstand, um so heftiger wurde meine Begierde. Ich glaubte daher, daß diese Liebe noch stärker sei, als meine erste jugendliche zu Antonien. Der Vater ward immer mehr für mich [677] eingenommen, und er wünschte nichts so sehnlich, als mich zum Schwiegersohne zu bekommen.
Ich hatte Lovell nach und nach und mit einigem Scharfsinne beim Vater verleumdet, ich hatte allen meinen Aussagen den Anstrich der Wahrheit zu geben gewußt, aber doch war die ganze Intrige ohne einen eigentlichen Plan angelegt, ich verließ mich mehr auf den Zufall und auf die Leichtgläubigkeit der Menschen, als auf mich selbst. Ich dachte eigentlich nur selten an den Erfolg, sondern ließ sich die Maschine selber umtreiben, so wie es die meisten Menschen machen, die wahrlich mehr ihre Plane ausbessern und den üblen Folgen derselben aus dem Wege treten, als daß sie diese Plane selbst durchsetzen. Diese Schläfrigkeit in der Bosheit macht, daß die Menschen noch so ziemlich miteinander fertig werden, daß es dem einen nicht sauer wird, den andern zu überlisten, und daß dieser sich wieder nicht sehr widerspenstig erzeigt, überlistet zu werden.
Die Tochter schien mir immer abgeneigter zu werden, aber sie war bei Tage und in der Nacht mein einziger Gedanke. Ich gab mein ganzes voriges Leben verloren, und beschloß, durch ihren Besitz gleichsam von neuem geboren zu werden, mich und mein Glück in jeder Stunde recht bedächtlich zu genießen und mit mir selber ernsthafter umzugehen. Es schien mir jetzt, als habe ich alle meine Jahre in einem wilden, drückenden Rausche verschleudert, ich erschrak vor dem Gedanken, leer durch das Leben zu gehen und dann so hinzusterben. Und doch überfiel mich oft die Überzeugung, daß es so kommen würde und müsse, denn ich fühlte es in allen Stunden innig, daß sich Mariens Seele gänzlich von mir zurückneigte, wie eine Blume von dem kalten Schatten. Ich war verzweifelt. Ich gewann mir selber die Überzeugung ab, daß jetzt die Täuschungen aller Art im Begriff seien, von mir abzufallen, mein Herz erwachte aus seinem Taumel, was in meiner Jugend Traum war, wollte sich jetzt zur Wahrheit emporarbeiten, und ich fühlte durch mein ganzes Wesen den Glanz der Liebe schlagen, die sich mir jetzt in allen ihren Kräften offenbaren wollte. O welche selige Wirklichkeit konnte die Stelle früherer glänzender Phantome einnehmen! Marie ward in einer Stunde offenherzig und gestand mir ihr Gefühl, wie alles sie von mir zurückstoße, mein Wesen, ein Etwas, das sie nicht beschreiben könne, das ihr aber in manchen Stunden sogar fürchterlich sei. In demselben Augenblicke zog ein grimmiger, ein entsetzlicher Haß durch meine Brust, ein Haß gegen die ganze Welt und gegen mich selbst. Alle Blüten meines Geistes, alle Selbstachtung, [678] jede Heiligkeit erstarben in meinem Innern. Aber ich nahm mir nun um so fester vor, sie unter jeder Bedingung zu besitzen, ihr und mir zum Trotze; sie von Lovell loszureißen, war jetzt schon meine Glückseligkeit.
Der bestimmte Tag, an dem ich mit ihr verheiratet werden sollte, nahte sich wirklich; alle Gäste waren zugegen, Musik ertönte, Marie war traurig und der Vater froh, als Lovell plötzlich hineinstürzte, der bis dahin in London gewesen war, und nun sich alles zu meinem Schimpfe entwickelte, indes ich kaum ein einziges Wort erwidern konnte.
Alles verließ mich, ich mußte Burton nach meinem Versprechen einige hundert Pfund geben, die gerade den Rest meines Vermögens ausmachten; er hatte mich wider meinen Willen in seiner Gewalt.
Haß
Ich stand einsam da. Ich hatte nur eine Empfindung in meiner Brust, die mein Herz zu zerreißen drohte; ein tiefer, unversöhnlicher, brennender Haß gegen Lovell. Mein ganzes Leben hätte ich daransetzen mögen, um das seinige zu verbittern. Ich konnte nicht an seinen Namen denken, ohne vor Wut zu zittern: mein Innres bewegte sich auf die gewaltsamste Weise, wenn ich an alle Vorfälle dachte, und ich dann sein Vorhaben gekrönt, ihn glücklich sah. Ich schwur es mir, ihn ewig nicht zu vergessen, mich nie im Herzen mit ihm auszusöhnen. Mein Leben hatte nun einen Faden gefunden, an dem es sich hinunterspinnen konnte.
Ich wußte es zu bewerkstelligen, daß er Gift bekam, allein er wurde wiederhergestellt. Ich erstaunte, als ich inneward, daß mein Haß einen noch höhern Grad erreichen könne. Marie starb im ersten Wochenbette, und nun fühlte ich erst ganz, wie ich sie geliebt hatte, wie ich sie hätte lieben können. Ihr Kind, an welchem der Vater sich freute, war mir der Mörder alles meines Glückes, mein Herz brannte an diesem Rache zu nehmen. In diesem Gefühl zehrte ich fort, es erhielt mich, alle mein Sinnen war darauf gerichtet, diese Rache einmal zu schmecken, mich in ihr zu sättigen.
Elend
Es war jetzt die Zeit gekommen, daß ich die Menschen wirklich sollte kennenlernen. Der Mensch ist nichts, wenn ihm seine Nebengeschöpfe fremd bleiben, und indem er sie kennenlernt, [679] verliert er alles, was ihm Wert gab: es ist ein klägliches und wieder lächerliches Rätsel.
Alle Menschen entfernten sich nun von mir, ich war von allen Gesellschaften ausgeschlossen, ich suchte Hülfe oder nur Mitleid, aber ich ward kalt und höhnisch zurückgewiesen. Man hatte mich gesucht und an sich gezogen, und jetzt verachtete mich jeder Dummkopf, ohne daß er sich einen auch nur halbklugen Grund anzugeben wußte. Ich ärgerte mich innig über diese Menschen, die mich vorher ohne alle Ursache geschätzt hatten, und mich nun so plötzlich fallenließen, und sich dabei so hoch über mir erhaben dünkten. Ich war gebrandmarkt, und jedermann vermied mich als einen Angesteckten; sie hatten sonst einmal etwas von Tugend und Rechtschaffenheit gehört, und nun meinten sie, die Leute könnten wohl gar denken, sie hielten nicht viel von diesen hohen Dingen, wenn sie sich mit mir abgäben. Es waren Menschen darunter, die nicht ihre einfältigsten Gedanken mit der Sprache von sich zu geben wußten.
Die weite Welt lag jetzt vor mir, aber ich begriff nicht, wie ich darin leben wollte. Mein ganzes Vermögen war verloren, ich hatte keine Freunde und keine Aussichten, keinen Mut, mir selber zu vertrauen, um das Verlorne wiederzugewinnen. Ich hätte in London eine Zeitlang bleiben können, aber ich war es müde, Anekdoten zu erzählen, oder hin und her zu schwatzen, und mich abzuquälen, um einen witzigen Einfall zusammenzubringen. Die Menschen hatten mir selbst den Mut genommen, zu schmeicheln, um damit ein kümmerliches Dasein durchzuschleppen.
So tief war ich gesunken. Ich sah zurück, wer ich war, wer ich in Mariens Armen geworden wäre. Besser zurückgekehrt zu allem Hohen, mein Herz wäre dann aufgeblüht, mein Geist erschlossen. Ewig hinter mir war dies Paradies verriegelt, und mir selber und der leeren Welt preisgegeben, ich sah einem ewigen Schmachten, einer unendlichen Dürre entgegen, in der der einzige arme Trost keimte, daß ich mich vielleicht zerstreuen, mich vergessen, mich mir selbst entfremden könne.
Ich reiste wieder nach Frankreich, und vermied die Gesellschaft der Menschen soviel als möglich. Im Schatten von rauschenden Wäldern überlas ich oft alle die Erfahrungen, die ich in meinem Gedächtnisse aufbewahrt hatte, es taten sich viele Lichter da hervor, wo bis jetzt in meiner Seele dickes Dunkel, oder verworrene Dämmerung geherrscht hatte. Nichts lehrt uns so sehr die Menschen verachten, als die Einsamkeit, jede Armseligkeit [680] dieses Geschlechts erscheint noch ärmer, wenn man sich im einsamen Forste ihrer erinnert, indem ein Gewitter rabenschwarze Schatten hinunterwirft, und der Donner ungewiß über die zitternden Baumwipfel geht.
Ich suchte endlich Hülfe bei Menschen, die sonst meine vertrauten Freunde gewesen waren, und denen ich aus schlecht angebrachter Gutherzigkeit sonst tausend Dienste, selbst mit meinem Schaden, geleistet hatte. Keiner kannte mich wieder, einige wurden sogar auf meine Unkosten witzig; ich sah jetzt ein, daß Achtung und Freundschaft nur so lange dauern können, als jeder der sogenannten Freunde ohngefähr gleich viel Geld in der Tasche hat; sie verhalten sich wie Waageschalen, die nur im Gleichgewichte stehn, wenn in jeder ein gleiches Gewicht liegt.
Eine Krankheit überfiel mich. Ich mußte zum Schmählichsten meine Zuflucht nehmen; auf mein inständiges, wiederholtes Bitten nahm man mich in einem Hospitale auf. Ich kann nicht sagen, daß man für mich sorgte, denn selbst der trägste Gärtner behandelt die Blumen, die schon verwelken wollen, liebreicher und mit mehr Aufmerksamkeit, als hier die kranken, mit dem Tode ringenden Menschen gehandhabt wurden. Manche werden dennoch wieder gesund, und zu diesen gehörte auch ich. Man entließ mich, ein Geistlicher gab mir sogar fromme Wünsche mit, und die Sonne schien mir nun wieder auf der freien Straße entgegen. Ich war noch sehr schwach, abgefallen und bleich, aber dennoch ward niemand zum Mitleiden bewegt. Es gibt gar zu viele Elende! rief man mir von allen Seiten entgegen, weil selten ein Mensch so gewissenhaft ist, es aufrichtig zu gestehn, daß er sich nicht berufen fühle, die Not der Menschen zu erleichtern. Ich bettelte gleich dem Verworfensten, aber mein Anzug war noch zu gut, um das flüchtige Mitleid gefangenzunehmen: wer mir einen Sous gab, hielt sich zugleich für berufen, mir tausend Bitterkeiten zu sagen, die mich noch mehr schmerzten, als Hunger und Krankheit, ja manche taten es gewiß nur, um eine Gelegenheit zu haben, ihre guten Lehren an den Mann zu bringen.
Ich ward meines Lebens überdrüssig, das wie eine Kette um mich lag. Ich saß auf Pont neuf, und hatte schon seit Sonnenaufgang das Mitleid der Vorübergehenden angefleht. Hunger und Durst zehrten mich auf, ich erinnerte mich der Märchen von wohltätigen Zauberern und Kobolden, und sah jedem Vorübergehenden ins Gesicht, aber alle sahen zu sehr den Menschen ähnlich, als daß ich etwas hätte hoffen können. Die Sonne ging unter, und die roten Wellen winkten mir, der Fluß schien mir ein [681] goldenes Bette, in dem ich endlich alle Sorgen und allen Verdruß verschlafen könne. Immer gingen noch Menschen vorüber, und keiner von allen warf mir nur auch die kleinste Münze zu. Ich beschloß noch zwölf Vorübergehende abzuwarten, und mich dann, wenn mir von diesen keiner etwas mitteile, in den Strom zu stürzen.
Da es schon spät war, gingen die Leute schon seltner, ich verdoppelte mein Flehn, aber man hörte nun in der Dämmerung noch weniger auf mich. Schon waren eilf Unbarmherzige vorübergegangen, und auch der zwölfte kam und sah sich nicht nach meinen Bitten um: schon war ich aufgestanden, um mich köpflings über das Geländer der Brücke zu stürzen, als ich einen singenden Menschen hörte, der sich näherte. Ich hielt ein, um auch noch mit diesem einen Versuch zu machen, von dem ich schon im voraus überzeugt war, daß er vergeblich sein würde, denn der Spaziergänger war froh und guter Dinge. Er kam näher. Es war ein Trunkener, der sich kaum mehr aufrecht zu erhalten wußte, sein Bewußtsein hatte ihn fast gänzlich verlassen, und er brummte ein unverständliches Lied zwischen den Zähnen. Es kam mir vor wie eine Satire auf mich selbst und auf die Menschheit, als ich mit demütigen Bitten sein Wohlwollen und sein christliches Herz in Anspruch nahm. Er stand still, betrachtete mich und lachte dann über mein kümmerliches Aussehen aus vollem Halse. Ich hätte beinahe mit eingestimmt. Mit einem widrigen Gesichte griff er jetzt in die Tasche, und zog gähnend eine schwere Börse hervor, er machte sie auf und gab mir ein Goldstück: ich dankte und er ging fort. Kaum war er einige Schritte gegangen, als er aus Nachlässigkeit die Börse verlor und es nicht bemerkte. So schnell ich konnte, lief ich hinzu, und hob sie auf, neben ihr lag ein Taschenbuch, das er ebenfalls verloren hatte: er hatte mich nicht gesehen, und ich war schon jenseits der Brücke, als er hinter mir drein keuchte und mich fragte, ob ich seine Börse nicht gesehn habe. Ich verneinte es fest, und er fing nun an zu suchen, er kroch die Brücke auf und ab, und ich mußte ihm helfen, wobei ich sein Unglück sehr beklagte. Er bog sich endlich über das Geländer, stieg hinüber, um auch dort nachzusehn, er kam aus dem Gleichgewichte und stürzte in das Wasser. Da ich ihn nicht schreien hörte, ging auch ich stillschweigends fort. Ich weiß nicht, ob man ihn wieder ans Land gezogen hat.
Das Geld machte mich bald wieder angesehen; außerdem fand ich noch bedeutende Banknoten und Wechsel in dem Taschenbuch; ich verließ die Stadt, und setzte bei der ersten günstigen [682] Gelegenheit alles in bares Geld um; mit einem nicht unbeträchtlichen Vermögen ging ich unter einem erborgten Namen nach Italien.
Verstand
Ich kam nun mit dem festen Vorsatze aus der Schule, besonnener zu leben. Ich verglich mich mit den übrigen Menschen, und fand, daß sie häufig, ja meistenteils einfältiger waren, als ich; es gereute mich doppelt, daß ich mich so von ihnen hatte beherrschen lassen. Ich sah ein, daß wenn ich versteckter und feiner handelte, als sie, ich sie alle um desto eher würde beherrschen können. Denn soviel ist gewiß, daß man die Gesellschaft entweder verlassen, oder sich zum Beherrscher aufwerfen, oder sich beherrschen lassen muß.
Ich hatte es an allen Menschen mit so vielem Unwillen bemerkt, daß sie sich zuweilen recht kluge Regeln aus ihren Lebenserfahrungen abstrahiert hatten, daß diese ihnen aber immer nur dazu dienten, in Gesellschaften angenehm und sinnreich zu sprechen; sie dachten alle nur, um über ihr Denken zu reden, nicht aber um ihre Resultate in Ausübung zu bringen. Daher kömmt es denn auch, daß sie im Denken, so wie in einem Hasardspiele, wagen, daß sie oft ohne alle Überzeugung überzeugt tun, damit sie nur Gelegenheit finden, scharfsinnig zu sein. Diese kläglichste von allen Schwächen hatte ich schon seit lange verachtet; ich nahm mir vor, jeden Gedanken über die Welt und den Menschen recht genau zu nehmen, ihn treu aufzubewahren, damit er mir nützen könne. So legte ich es freilich wenig darauf an, über Menschen gut zu sprechen, aber desto mehr, sie von ihrer wahren Seite zu begreifen.
Jeder Mensch sucht aus seinem Leben etwas recht Bedeutendes zu machen, und jeder glaubt, er sei der Mittelpunkt des großen Zirkels. Keiner lebt im Allgemeinen, keiner kümmert sich um das große Intresse des Ganzen, sondern jeder weiß in diesem unendlichen Stücke nur seine kleine armselige Rolle auswendig, die oft nur so wenig zum Ganzen beiträgt. Man kann sich daher nicht besser gegen die verächtlichen Schwächen der Menschen, gegen blinde Eitelkeit und kurzsichtigen Stolz waffnen, als wenn man sich das bunte Leben immer unter dem Bilde eines Schauspiels vorstellt; es ist ein wirkliches Drama, weil jedermann es dazu zu machen strebt, denn keiner kommt auf den Gedanken, so in den Tag, oder ins Blaue hineinzuleben, sondern selbst zum [683] kürzesten Auftritte bürstet ein unbemerkter Bediente seinen Hut ab, und will durch die Tressen auf dem Rocke blenden. Nie muß man sich ganz in einzelne Menschen verlieren, sondern immer daran denken, daß diese von andern wieder anders betrachtet werden, als wir sie betrachten; denn sobald jemand Einfluß auf uns hat, so ist unser Blick auch schon bestochen.
Vorsätze
Wie jedermann Vorsätze faßt, wär es auch nur am Geburts- oder Neujahrstage, so faßte ich auch die meinigen. Wer nicht konsequent handeln kann, sollte lieber gleich unbesehen alle Handlungen aufgeben, weil er sich sonst beständig selber etwas in den Weg legen wird, und zwar eben durch den Versuch, sich manches aus dem Wege zu räumen. Ich hatte nun einmal eine gewisse Art zu leben und zu denken angenommen, und ich mußte so fortfahren, oder von neuem ins Hospital oder Narrenhaus geschickt werden. Ich überlegte aber, was man mir entgegensetzen könne, und fand es alles abgeschmackt. Daß die Welt nicht bestehen könne, wenn alle Menschen so dächten und handelten, dieser Gedanke ist es ja eben, der einzelne Köpfe aufrufen muß, von der gewöhnlichen Art abzuweichen, weil sie durch die Gewöhnlichkeit der andern Menschen imstande sind, ihr falsches Geld für echtes auszugeben. Sie sind in dem wilden Kampfe des menschlichen Lebens die Heerführer, die es wissen, wovon die Rede ist, die übrigen sind ihre Untergebenen, und die echt Tugendhaften die ewige schöne Ursache, daß dieser Krieg nie zu Ende kömmt, sie gießen die Kugeln und teilen sie gratis beiden Parteien aus. – Der wichtigste Einwurf ist nun, daß etwas in uns wohne, das in uns schlägt und zittert, wenn wir von dem Wege abweichen, von dem man sagt, daß ihn die Natur vorgezeichnet habe. Aber eben von diesem unsichtbaren Dinge, oder sogenanntem Gewissen konnt ich mich nie überzeugen. Es gibt mehrere dergleichen fabelhafte Traditionen beim Menschengeschlechte, wodurch der größte Teil desselben wirklich in einer gewissen Furcht gehalten wird, die manchen in müßigen Stunden, wenn er nicht zu sehr gedrängt und getrieben wird, tugendhaft machen; es sind die philosophischen Nebenstunden, auf Schreibpapier gedruckt und mit Vignetten verziert. Ich beschloß, es mit dieser unsichtbaren Gewalt aufzunehmen, und ihr nicht minder, als dem gewöhnlichen Gerede, das man unter dem [684] Namen Grundsätze so oft ablesen hört, Trotz zu bieten, und bis jetzt habe ich keinen Anstoß, keinen innern Ruf bemerkt, ob ich gleich jeden Fehler, der mir im Wege lag, mitnahm; es sind mannigfaltige Sünden von mir begangen worden, aber bis jetzt bin ich immer noch ruhig geblieben. – So hatte sich nach und nach das Ideal eines Menschen verändert, das ich mit ungeübtem Finger in der Kindheit entworfen hatte. Ich habe oft jene bekannten tugendhaften Bücher gelesen, um mir die Sache recht nahezubringen, aber weder Poesie noch Prosa haben in mir etwas angeschlagen, ob ich mir gleich jene armseligen gequälten Menschen ziemlich deutlich vorstellen kann.
Doch ich werde zu weitläuftig, und Du verstehst mich doch nicht ganz; ich will daher hier mehrere Jahre übergehen, um mich dem Schlusse meiner Erzählung zu nähern.
Geheime Gesellschaft
Als ich etwas älter geworden war, fand ich mich damit nicht beruhigt, daß mich die Menschen nicht betrügen konnten. Jeder Mensch hat irgendein Spielwerk, ein Steckenpferd, dem er sich mit ganzer Seele hingibt, und da jetzt bei mir der Trieb zur Tätigkeit erwachte, so wünschte ich mir auch irgend etwas einzurichten, worin ich mit Vergnügen arbeiten könnte. Ich hatte von je einen großen Hang zu Seltsamkeiten in mir verspürt, und so war es auch jetzt die Idee eines geheimen Ordens, die mich vorzüglich anlockte. Man hatte mir so viel davon erzählt, ich hatte so oft behaupten hören, daß es ein außerordentlicher Mann sein müsse, der an der Spitze einer solchen Gesellschaft stehe, daß ich den Wunsch nicht unterdrücken konnte, mich selbst zu einem ähnlichen Oberhaupte aufzuwerfen. Die Menschen erschienen mir in einem so verächtlichen Lichte, daß ich es für die leichteste Sache von der Welt hielt, sie zu beherrschen, kurz, ich nahm mir vor, den Versuch anzustellen, möchte er gleich ausfallen, wie er wollte.
Ich hielt mich in Rom auf, und man hielt mich für einen eingebornen Italiener. Mein seltsames, eingezogenes Wesen hatte schon die Aufmerksamkeit mancher Leute auf sich gezogen, man konnte aus mir nicht recht klug werden, und es geschah daher sehr bald, daß ich für einen interessanten, ja für einen äußerst interessanten Menschen ausgeschrien wurde, im Grunde nur, weil man nicht ausfindig machen konnte, in welcher Gegend ich [685] geboren war und wovon ich lebte. Ich ward nach und nach mit manchen jüngern und ältern Leuten bekannter, und es ward mir nicht schwer, sie um mich zu versammeln. Ich sah jetzt erst ein, wie leicht man die Menschen in einer gewissen Ehrfurcht erhalten könne, alles was sie nicht recht verstehen, halten sie für etwas ganz Außerordentliches, eben deswegen, weil selbst sie es nicht begreifen können.
Ich ließ nur einige, die ich für die Klügeren hielt, mit mir vertrauter werden, die übrigen blieben stets in einer demütigen Abhängigkeit. Unsere Gesellschaft breitete sich bald in mehrern Städten aus, und bekam entfernte Mitglieder, und jetzt war es die Zeit, etwas durchzusetzen, denn sonst wäre sie immer nur ein albernes Possenspiel geblieben. Es war mein Zweck, das Vermögen andrer Leute auf ein oder die andre Art in den Schatz der Gesellschaft zu leiten, und es glückte mir mit manchem. Derjenige, der mehrere Grade bekommen und viel zum Vorteile der Gesellschaft gewirkt hatte, konnte dann auf die Teilnahme an dieser allgemeinen Kasse Ansprüche machen. So wurden alle mit Hoffnungen hingehalten, und jeder einzelne war zufrieden; nur wenige wußten um den Zweck des Meisters, und selbst diese durften nur mehr ahnden, als sie überzeugt sein konnten.
Ich fürchtete anfangs, daß klügere Menschen meinem Plane auf den Grund sehn möchten, allein diese Besorgnis fand ich in der Folge sehr ungegründet. Sobald man sich nur selbst für gescheiter hält, als die übrigen Menschen, sind diese auch derselben Meinung. Man muß sich nur nicht hingeben, sondern sich kostbar machen, nie ganz vertraut werden, sondern immer noch mit tausend Gedanken zurückzuhalten scheinen, so gerät jeder Beobachter in eine gewisse Verwirrung, sein Urteil ist wenigstens nicht sicher, und damit ist schon alles gewonnen. Jeder wird suchen, einem solchen wunderbaren Menschen näherzukommen, und um ihn zu studieren wird man es unterlassen, ihn zu beobachten: selbst der scharfsinnigste Kopf wird besorgt sein, daß jener schon alle seine Ideen habe, und jede Widerlegung bei ihm in Bereitschaft stehe. Alle werden auf die Art die Eigenschaften zu besitzen streben, die sie jenem zutrauen, und so werden sie am Ende selbst die Fähigkeiten verlieren, eine vernünftige Beobachtung anzustellen. – Den meisten Menschen tut es ordentlich wohl, wenn man ihnen imponiert, und sie kommen selbst auf dem halben Wege entgegen. Es waren auch gar nicht die scharfsinnigen Köpfe, die mir auf die Spur kamen, sie bemerkten die Blößen gar nicht, die ich gab, als ich mich etwas zu [686] sehr gehnließ, als mich Dein einfältiges Benehmen in England aufbrachte und eine Krankheit mich verdrüßlich machte; sondern die Einfältigsten reichten mit ihrem kurzen Sinne gerade so weit, um auf meine Schwäche zu treffen.
Hang zum Wunderbaren
Dieser war es vorzüglich, der die Menschen an mich fesselte, weil alle etwas Außerordentliches von mir erwarteten. Die meisten Leute glauben über den Aberglauben erhaben zu sein, und doch ist nichts leichter, als sie von neuem darein zu verwickeln. Es liegt etwas Dunkles in jeder Brust, eine Ahndung, die das Herz nach fremden unbekannten Regionen hinzieht. Diesen Instinkt darf man nur benutzen, um den Menschen aus sich selbst und über diese Erde zu entrücken. Ich fand, daß ich gar nicht nötig hatte, feine Sophistereien, oder seltsam schwärmerische und doch vernünftig scheinende Ideen zu gebrauchen, die den gesunderen Verstand nach und nach untergrüben: der Sprung, den diese Menschen immer zu tun scheinen, ist wirklich nur scheinbar. Deswegen, weil nichts die Unmöglichkeit der Wunder beweisen kann, glaubt jedes Herz in manchen Stunden fest an diese Wunder.
So ist dieses seltsame Gefühl eine Handhabe, bei der man bequem die Menschen ergreifen kann. Ich habe dadurch mehr wirken können, als durch das klügste Betragen. Es war mein Grundsatz, daß wenn man die Menschen betrügen wolle, man ja nicht darauf ausgehn müsse, sie recht fein zu betrügen. Viel Feinheit würde voraussetzen, daß die andern auch einen feinen Sinn haben, dann wäre sie angewandt: aber eben darum verderben recht viele gute Plane, weil sie viel zu sehr kalkuliert waren; die nahe, unbeholfene Einfalt tritt dazwischen und zerreißt alle Fäden, die zum leisen Gefangennehmen dienen sollten. Wer recht vorsichtig und vernünftig ist, dem wird auch bei der feinsten Machination der Gedanke naheliegen, daß man wohl darauf ausgehn könne, ihn zu täuschen, und so ist diese Feinheit in jedem Falle verlorne Mühe. Das Unwahrscheinliche und Grobe glauben die Menschen eben darum am ersten, weil es unwahrscheinlich ist, sie meinen, es müsse denn doch wohl irgend etwas Wahres dahinterstecken, weil sich ja sonst kein Kind dadurch würde hintergehn lassen.
Haben die Menschen in die Wissenschaft des Glaubens erst [687] einen Schritt hineingetan, so ist nachher kein Aufhalten mehr; sie fühlen sich nun über die auf geklärten Menschen erhaben, sie glauben über den Verstand hinweggekommen zu sein, und jedes Kindermärchen, jede tolle Fiktion hat sie jetzt in der Gewalt.
Rosa
Schon früh suchte ich einen Schildknappen zu bekommen, der mir meine Waffen nachtrüge, damit ich es um so bequemer hätte. Jedermann wird, wenn er sich einige Mühe gibt, einen Menschen antreffen, der es über sich nimmt, auf die Worte seines Meisters zu schwören, ihm jeden Gedanken auf seine eigene Weise nachzudenken, diese dann wie Scheidemünze auszugeben, und so den Ruf seines Herrn mit seinem eigenen zugleich zu verherrlichen. Man trifft allenthalben Menschen, die nichts so gern tun, als sich an einen andern hängen, den sie für klüger halten. – Ich fand bald einen jungen Menschen, der bei seinen armen Eltern in einer sehr drückenden Lage lebte; er schien nicht ohne Kopf, er konnte schnell etwas auffassen, dachte aber nie weiter, als es ihm vorgeschrieben war. Diese schnelle Langsamkeit schien mir gerade zu meinem Endzwecke am dienlichsten. Ich nahm ihn zu mir, und lehrte ihn den Genuß eines freieren Lebens kennen; er ward nach und nach meine hauptsächlichste Maschine, denn man darf solchen leicht sinnigen lebhaften Menschen nur die Aussicht auf ein angenehmes, untätiges Leben geben, so kann man sie zu allem bewegen. Rosa ist ein ganz erträglicher Mensch, sein größter Fehler ist, daß er seinen Leichtsinn für Verstand hält; er hat gerade so viel Scharfsinn, um einzusehn, daß er eine Stütze bedarf, an der er sich festhalten kann. Ich konnte ihn recht gut gebrauchen, nur war er töricht genug, daß er zuweilen seine Aufträge zu gut besorgen wollte. So hatte er den Gedanken, den jungen Valois in unsre Gesellschaft zu ziehn, um das Vermögen der Blainville hieherzubekommen; er hatte sich mit einem Narren eingelassen, der mit sich selbst nicht fertig werden konnte, noch weniger mit der Welt, und der sich am Ende erschießen mußte, um nur irgendeinen Schluß, eine Art von vollendeter Handlung in seinen Lebenslauf zu bringen.
Das Gefühl hat dieser Rosa nie gekannt, ebensowenig die eigentliche Denkkraft, er hat immer nur gesprochen, und sich dabei ganz wohl befunden. Für seine treuen Dienste habe ich ihm das Gut in Tivoli geschenkt. Ich hätte ihn leicht betrügen können, [688] aber irgendeinem Menschen muß ich ja doch mein Vermögen hinterlassen; ich hoffe immer noch, er soll es sehr bald verschwenden.
Balder
Mit Dir kam dieses seltsame Geschöpf nach Italien, an das Du anfangs sehr attachiert warst. Er war mir wegen seiner Originalität interessant. Es war eine schöne Anlage zur Verrücktheit in ihm, um die es sehr schade gewesen wäre, wenn sie sich nicht entwickelt hätte. Da aber die meisten Menschen selber nicht wissen, was in ihnen steckt, so nahm ich mir vor, den Funken aus diesem seltsamen Steine herauszuschlagen. So unterhielt es mich denn, daß ich ein paarmal als ein Gespenst durch seine Stube ging, und er nachher nicht begreifen konnte, wo ich geblieben sei. Ich habe ihn nachher fleißig beobachtet, und ich fand zugleich, daß diese Vorfälle meine künftige Bekanntschaft mit Dir sehr gut präparierten. Nachher wurde mir dieser Mensch gleichgültig und langweilig, weil er sich immer zu ähnlich blieb, und er tat recht wohl daran, fortzulaufen.
Herr William Lovell
Ich muß fast lachen, indem ich Deinen Namen niederschreibe und nun von Dir die Rede sein soll. Soll ich weitläuftig von Dir sprechen, der Du fast nichts bist?
Ich hatte Nachrichten von Dir und wußte um Deine Reise nach Italien. Rosa kam Dir bis Paris entgegen. Mein alter Haß gegen Deinen Vater, gegen Dich, eine Erinnerung an Marie, eine Wut, die sich immer gleichgeblieben, wachte jetzt gewaltig in mir auf, ich glaubte jetzt die beste Gelegenheit gefunden zu haben, mich an ihm und an Dir zu rächen. Dich selbst wollt ich gegen den Vater empören; Du solltest von ihm und von Dir selber abfallen, dann wollt ich Dich zurückschicken. So ließ ich Dich durch alle Grade gehen, um Dich zu einer seltsamen Mißgeburt umzuschaffen. Du kränktest Deinen Vater, und er starb nun weit früher, als ich es geglaubt hatte. Ich fuhr indessen mit meinen Künsten fort, weil die Maschinen einmal in den Gang gebracht waren und ich mich daran gewöhnt hatte, Dich als mein gehegtes Wild zu betrachten. Du wirst hier nicht von mir [689] verlangen, daß ich Dir weitläuftig auseinandersetze, auf welche plumpe Art Du Dich hintergehen ließest, es würde Deiner Eitelkeit nur zu wehe tun. Es gelang mir, Dich immer in Spannung zu erhalten; ein Zustand, der am leichtesten die Vernunft verdunkelt. Jetzt hörte ich, daß der alte Burton gestorben sei, und ich schickte Dich mit Aufträgen nach England, die Du so ungeschickt wie ein unwissender Knabe ausrichtetest. Wenn Eduard nicht mehr lebte, und seine Schwester auch aus dem Wege geschafft war, so hatte ich die nächsten Ansprüche auf das ansehnliche Vermögen dieser Familie, Du hättest dann Deine verlornen Güter wieder zurückbekommen, und alles wäre in einem ganz guten Zustande gewesen. Weil ich Dir aber damals noch nicht sagen mochte, daß ich Waterloo sei, so hast Du Dich wie ein wilder, unsinniger Mensch in Frankreich und England herumgetrieben, hast da manches fühlen und seltsame Dinge denken wollen, die für Dich gar nicht gehören. – Nun wirst Du zurückkommen und Dich selbst darüber wundern, daß es nicht so gegangen ist, wie Du es Dir vorgenommen hattest.
Du hast Dich bis jetzt überhaupt für ein äußerst wunderbares und seltenes Wesen gehalten, und bist doch nichts weniger; Du verachtest jetzt die Menschen mit einer gewissen Großsprecherei, die Dich sehr schlecht kleidet, weil Du nie imstande sein wirst, sie zu kennen, und wenn Du sie auch kennst, sie zu beurteilen und in das wahre Verhältnis gegen Dich selbst zu stellen. Du hast Dir seit lange eine unbeschreibliche Mühe gegeben, Dich zu ändern, und Du bildest Dir auch ein, gewaltsame Revolutionen in Deinem Innern erlitten zu haben, und doch ist dies alles nur Einbildung. Du bist immer noch derselbe Mensch, der Du warst; Du hast gar nicht die Fähigkeit, Dich zu verändern, sondern Du hast aus Trägheit, Eitelkeit und Nachahmungssucht manches getan und gesagt, was Dir nicht aus dem Herzen kam. Deine Philosophie war Eigensinn, alle Deine Gefühle nichts weiter, als ein ewiger Kampf mit Dir selber. Du hättest ein recht ordentlicher, gewöhnlicher, einfältiger Mensch werden können; auf einem Kupferstich in einer Waldgegend, neben einer jungen Frau sitzend, würdest Du Dich ganz gut ausgenommen haben, aber nun hast Du alles darangewandt, um ein unzusammenhängender philosophischer Narr zu werden. – Ich bin neugierig, Dich zu sehn, und so magst Du denn hereinkommen. – Wahrhaftig, ich kann aufhören, Dich zu beschreiben, denn da stehst Du ja nun leibhaftig vor mir. –
Zum Schluß
[690] Einige Worte über mich selbst
Und wer bin ich denn? – Wer ist das Wesen, das hier so ernsthaft die Feder hält, und nicht müde werden kann, Worte niederzuschreiben? Bin ich denn ein so großer Tor, daß ich alles für wahr halte, was ich gesagt habe? Ich kann es von mir selbst nicht glauben. – Ich setze mich hin, Wahrheit zu predigen, und weiß am Ende auch nicht, was ich tue. – Ich habe mich auch in manchen Stunden für etwas recht Besonderes gehalten – und was bin ich denn wirklich? War es nicht sehr närrisch, mich unaufhörlich mit abenteuerlichen Spielwerken zu beschäftigen, indes ich in guter Ruhe hätte essen und trinken können? Ich freute mich sehr, das Haupt einer geheimen, unsichtbaren Räuberbande zu sein, ein Gespenst zu spielen, und andre Gespenster herbeizurufen, die ganze Welt zum Narren zu haben, und jetzt fällt mir die Frage ein, ob ich mich bei dieser Bemühung nicht selber zum größten Narren gemacht habe. – Ich bin vielleicht jetzt ernsthafter als je, und doch möchte ich über mich selber lachen.
Und daß ich mit solcher Gutmütigkeit hier sitze, und noch kurz vor meinem Tode mich mit Schreiben abquäle, um eine jämmerliche Eitelkeit zu befriedigen, ist gar unbegreiflich und unglaublich. – Wer ist das seltsame Ich, das sich so mit mir selber herumzankt? – Oh, ich will die Feder niederlegen, und bei Gelegenheit sterben.