16.

Zwey junge Dirnlein, die eine schön, die andere häßlich, säten Lein, jene auf dem Berge, diese im Thale. Die Schöne aber sang, während sie vor dem Pfluge ging und gedachte dabey der vielen Freyer um ihre Schönheit, die andere hingegen, weil garstig und nicht begehrt, arbeitete gar fleissig darauf los, und warf nur hie und da ein Körnlein in die Büsche des nahen Waldes für das Holzfräulein.

Als die Leinsaat aufgegangen war und üppig emporwuchs, kamen die Mädchen wieder, um das Unkraut zu jäten. Die Schöne aber dachte mehr an ihre Freyer als an die Arbeit, und die Garstige war um so emsiger, das Unkraut auszureissen, und versäumte nicht, am Ende des Feldes dem Holzfräulein aus Flachsstengeln ein kleines Hüttchen zusammenzubinden. Dann rief sie noch in den Wald: »Hulzfral, dau is dàñ Dal, gib an [369] Flachs an kräftinga Flaug, nau hob J und Du gnaug« – und ging nach Hause.

So verkam aber der Flachs auf dem Berge, und der im Thale schoß ellenlang auf. Beyde brachten ihre Aerndte ein und spannen im Winter und trugen im Frühlinge die Leinwand auf die Bleiche in die Wiese, und siehe, die Leinwand der Schönen war grob und wenig, die der Häßlichen fein und viel. Da erzürnte die Schöne und schalt ihre Freundin und rief: »Ich weiß schon, wie du es gemacht hast, du Nachteule, eine Hexe bist du und hast es mit dem schäbigen Holzfräulein zu thun; darum bist du aber auch so garstig und bekommst ebenso wenig einen Mann, wie die alte Waldjungfer.«

Da rollte es plötzlich auf dem Waldwege heran und ein schöner Prinz, auf einem goldenen Wagen, kam mit vier Schimmeln gefahren und hatte einen Mohren hinten auf dem Sitze. An der Wiese hielt er an und stieg aus. Und er nahm die Schöne bey der Hand und frug sie: »Ich will dich heiraten; ist deine Leinwand fein?« – Das Mädchen schwieg, der Wiederhall vom Walde her aber rief: »Nein!« Der Prinz ließ ihre Hand los und ging zur Garstigen, und nahm sie bey der Hand und frug: »Ich will dich freyen, ist dieses deine Leinwand da?« – Sie aber schwieg erröthend; und vom Walde kam der Wiederhall mit der Antwort: »Ja!«

Nun umarmte und küßte er sie als seine Braut und von seines Mundes Hauch ward sie so schön wie [370] ein Engel und stand da in die reichsten Gewänder gekleidet. Dagegen wurde die Schöne, als sie dieses sah, giftig vor Neid, und so garstig, daß der Mohr, der sie für seines Gleichen hielt, auf sie zusprang und ihr seine Hand anbot, die sie voll Aergers wegstieß.

Der Prinz fuhr mit seiner glücklichen Braut von dannen, die Schöne, nun häßlich geworden und unglücklich aus Neid, kehrte in's Dorf zurück. Seitdem singt kein Mädchen mehr beym Säen des Leins, und vergißt auch nicht, dem Holzfräulein ein Hüttchen von den Restchen der Flachsstengel zu bauen. Neuenhammer.

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