Siebenundzwanzigster Brief
Fürchten Sie nichts für Realität und Wahrheit, wenn der hohe Begriff, den ich in dem vorhergehenden Briefe von dem ästhetischen Schein aufstellte, allgemein werden sollte. Er wird nicht allgemein werden, solange der Mensch noch ungebildet genug ist, um einen Mißbrauch davon machen zu können; und würde er allgemein, so könnte dies nur durch eine Kultur bewirkt werden, die zugleich jeden Mißbrauch unmöglich machte. Dem selbständigen Schein nachzustreben, erfodert mehr Abstraktionsvermögen, mehr Freiheit des Herzens, mehr Energie des Willens, als der Mensch nötig hat, um sich auf die Realität einzuschränken, und er muß diese schon hinter [661] sich haben, wenn er bei jenem anlangen will. Wie übel würde er sich also raten, wenn er den Weg zum Ideale einschlagen wollte, um sich den Weg zur Wirklichkeit zu ersparen! Von dem Schein, so wie er hier genommen wird, mochten wir also für die Wirklichkeit nicht viel zu besorgen haben; desto mehr dürfte aber von der Wirklichkeit für den Schein zu befürchten sein. An das Materielle gefesselt, läßt der Mensch diesen lange Zeit bloß seinen Zwecken dienen, ehe er ihm in der Kunst des Ideals eine eigene Persönlichkeit zugesteht. Zu dem letztern bedarf es einer totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise, ohne welche er auch nicht einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde. Wo wir also Spuren einer uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins entdecken, da können wir auf eine solche Umwälzung seiner Natur und den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm schließen. Spuren dieser Art finden sich aber wirklich schon in den ersten rohen Versuchen, die er zur Verschönerung seines Daseins macht, selbst auf die Gefahr macht, daß er es dem sinnlichen Gehalt nach dadurch verschlechtern sollte. Sobald er überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen und an den Schein (den er aber dafür erkennen muß) Realität zu wagen, so ist sein tierischer Kreis aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.
Mit dem allein nicht zufrieden, was der Natur genügt und was das Bedürfnis fodert, verlangt er Überfluß; anfangs zwar bloß einen Überfluß des Stoffes, um der Begier ihre Schranken zu verbergen, um den Genuß über das gegenwärtige Bedürfnis hinaus zu versichern; bald aber einen Überfluß an dem Stoffe, eine ästhetische Zugabe, um auch dem Formtrieb genugzutun, um den Genuß über jedes Bedürfnis hinaus zu erweitern. Indem er bloß für einen künftigen Gebrauch Vorräte sammelt und in der Einbildung dieselben vorausgenießt, so überschreitet er zwar den jetzigen Augenblick, aber ohne die Zeit überhaupt zu überschreiten; er genießt mehr, aber er genießt nichtanders. Indem er aber zugleich die Gestalt in seinen Genuß zieht und auf die Formen der Gegenstände merkt, die seine Begierden befriedigen, hat er seinen Genuß nicht bloß dem Umfang und dem Grad nach erhöht, sondern auch der Art nach veredelt.
Zwar hat die Natur auch schon dem Vernunftlosen über die Notdurft [662] gegeben und in das dunkle tierische Leben einen Schimmer von Freiheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt und kein Raubtier zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit mutvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrei der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unleugbar ist in diesen Bewegungen Freiheit, aber nicht Freiheit von dem Bedürfnis überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äußern Bedürfnis. Das Tier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Tätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichtum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Tätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgibt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen. So gibt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten und hebt hier schon zum Teil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang des Bedürfnisses oder dem physischen Ernste nimmt sie durch den Zwang des Überflusses oder das physische Spiel den Übergang zum ästhetischen Spiele, und ehe sie sich in der hohen Freiheit des Schönen über die Fessel jedes Zweckes erhebt, nähert sie sich dieser Unabhängigkeit wenigstens von ferne schon in der freien Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel ist.
Wie die körperlichen Werkzeuge, so hat in dem Menschen auch die Einbildungskraft ihre freie Bewegung und ihr materielles Spiel, in welchem sie, ohne alle Beziehung auf Gestalt, bloß ihrer Eigenmacht und Fessellosigkeit sich freut. Insofern sich noch gar nichts von Form in diese Phantasiespiele mischt und eine ungezwungene Folge von Bildern den ganzen Reiz derselben ausmacht, gehören sie, obgleich [663] sie dem Menschen allein zukommen können, bloß zu seinem animalischen Leben und beweisen bloß seine Befreiung von jedem äußern sinnlichen Zwang, ohne noch auf eine selbständige bildende Kraft in ihm schließen zu lassen 13. Von diesem Spiel der freien Ideenfolge, welches noch ganz materieller Art ist und aus bloßen Naturgesetzen sich erklärt, macht endlich die Einbildungskraft in dem Versuch einer freien Form den Sprung zum ästhetischen Spiele. Einen Sprung muß man es nennen, weil sich eine ganz neue Kraft hier in Handlung setzt; denn hier zum erstenmal mischt sich der gesetzgebende Geist in die Handlungen eines blinden Instinktes, unterwirft das willkürliche Verfahren der Einbildungskraft seiner unveränderlichen ewigen Einheit, legt seine Selbständigkeit in das Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche. Aber solange die rohe Natur noch zu mächtig ist, die kein anderes Gesetz kennt, als rastlos von Veränderung zu Veränderung fortzueilen, wird sie durch ihre unstete Willkür jener Notwendigkeit, durch ihre Unruhe jener Stetigkeit, durch ihre Bedürftigkeit jener Selbständigkeit, durch ihre Ungenügsamkeit jener erhabenen Einfalt entgegenstreben. Der ästhetische Spieltrieb wird also in seinen ersten Versuchen noch kaum zu erkennen sein, da der sinnliche mit seiner eigensinnigen Laune und seiner wilden Begierde unaufhörlich dazwischentritt. Daher sehen wir den rohen Geschmack das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche [664] und Bizarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen und vor nichts so sehr als vor der Einfalt und Ruhe fliehen. Er bildet groteske Gestalten, liebt rasche Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreiende Lichter, einen pathetischen Gesang. Schön heißt ihm in dieser Epoche bloß, was ihn aufregt, was ihm Stoff gibt – aber aufregt zu einem selbsttätigen Widerstand, aber Stoff gibt für ein mögliches Bilden, denn sonst würde es selbst ihm nicht das Schöne sein. Mit der Form seiner Urteile ist also eine merkwürdige Veränderung vorgegangen; er sucht diese Gegenstände nicht, weil sie ihm etwas zu erleiden, sondern weil sie ihm zu handeln geben; sie gefallen ihm nicht, weil sie einem Bedürfnis begegnen, sondern weil sie einem Gesetze Genüge leisten, welches, obgleich noch leise, in seinem Busen spricht.
Bald ist er nicht mehr damit zufrieden, daß ihm die Dinge gefallen; er will selbst gefallen, anfangs zwar nur durch das, was sein ist, endlich durch das, was er ist. Was er besitzt, was er hervorbringt, darf nicht mehr bloß die Spuren der Dienstbarkeit, die ängstliche Form seines Zwecks an sich tragen; neben dem Dienst, zu dem es da ist, muß es zugleich den geistreichen Verstand, der es dachte, die liebende Hand, die es ausführte, den heitern und freien Geist, der es wählte und aufstellte, widerscheinen. Jetzt sucht sich der alte Germanier glänzendere Tierfelle, prächtigere Geweihe, zierlichere Trinkhörner aus, und der Kaledonier wählt die nettesten Muscheln für seine Feste. Selbst die Waffen dürfen jetzt nicht mehr bloß Gegenstände des Schreckens, sondern auch des Wohlgefallens sein, und das kunstreiche Wehrgehänge will nicht weniger bemerkt sein als des Schwertes tötende Schneide. Nicht zufrieden, einen ästhetischen Überfluß in das Notwendige zu bringen, reißt sich der freiere Spieltrieb endlich ganz von den Fesseln der Notdurft los, und das Schöne wird für sich allein ein Objekt seines Strebens. Er schmückt sich. Die freie Lust wird in die Zahl seiner Bedürfnisse aufgenommen, und das Unnötige ist bald der beste Teil seiner Freuden.
So wie sich ihm von außen her, in seiner Wohnung, seinem Hausgeräte, seiner Bekleidung allmählich die Form nähert, so fängt sie endlich an, von ihm selbst Besitz zu nehmen und anfangs bloß den äußern, zuletzt auch den innern Menschen zu verwandeln. Der gesetzlose [665] Sprung der Freude wird zum Tanz, die ungestalte Geste zu einer anmutigen, harmonischen Gebärdensprache, die verworrenen Laute der Empfindung entfalten sich, fangen an, dem Takt zu gehorchen und sich zum Gesange zu biegen. Wenn das trojanische Heer mit gellendem Geschrei gleich einem Zug von Kranichen ins Schlachtfeld heranstürmt, so nähert sich das griechische demselben still und mit edlem Schritt. Dort sehen wir bloß den Übermut blinder Kräfte, hier den Sieg der Form und die simple Majestät des Gesetzes.
Eine schönere Notwendigkeit kettet jetzt die Geschlechter zusammen, und der Herzen Anteil hilft das Bündnis bewahren, das die Begierde nur launisch und wandelbar knüpft. Aus ihren düstern Fesseln entlassen, ergreift das ruhigere Auge die Gestalt, die Seele schaut in die Seele, und aus einem eigennützigen Tausche der Lust wird ein großmütiger Wechsel der Neigung. Die Begierde erweitert und erhebt sich zur Liebe, so wie die Menschheit in ihrem Gegenstand aufgeht, und der niedrige Vorteil über den Sinn wird verschmäht, um über den Willen einen edelern Sieg zu erkämpfen. Das Bedürfnis zu gefallen unterwirft den Mächtigen des Geschmackes zartem Gericht; die Lust kann er rauben, aber die Liebe muß eine Gabe sein. Um diesen höhern Preis kann er nur durch Form, nicht durch Materie ringen. Er muß aufhören, das Gefühl als Kraft zu berühren, und als Erscheinung dem Verstand gegenüberstehn; er muß Freiheit lassen, weil er der Freiheit gefallen will. So wie die Schönheit den Streit der Naturen in seinem einfachsten und reinsten Exempel, in dem ewigen Gegensatz der Geschlechter löst, so löst sie ihn – oder zielt wenigstens dahin, ihn auch in dem verwickelten Ganzen der Gesellschaft zu lösen und nach dem Muster des freien Bundes, den sie dort zwischen der männlichen Kraft und der weiblichen Milde knüpft, alles Sanfte und Heftige in der moralischen Welt zu versöhnen. Jetzt wird die Schwäche heilig, und die nicht gebändigte Stärke entehrt; das Unrecht der Natur wird durch die Großmut ritterlicher Sitten verbessert. Den keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röte der Scham, und Tränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwert des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher [666] Herd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfing.
Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.
Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.
Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet. Alle andre Formen der Vorstellung trennen den Menschen, weil sie sich ausschließend entweder auf den sinnlichen oder auf den geistigen Teil seines Wesens gründen; nur die schöne Vorstellung macht ein Ganzes aus ihm, weil seine beiden Naturen dazu zusammenstimmen müssen. Alle andere Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht. Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Anteil nähme; wir können also [667] unsre sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil wir unser Individuum nicht allgemein machen können. Die Freuden der Erkenntnis genießen wir bloß als Gattung und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urteil entfernen; wir können also unsre Vernunftfreuden nicht allgemein machen, weil wir die Spuren des Individuums aus dem Urteile anderer nicht so wie aus dem unsrigen ausschließen können. Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung. Das sinnliche Gute kann nur einen Glücklichen machen, da es sich auf Zueignung gründet, welche immer eine Ausschließung mit sich führt; es kann diesen einen auch nur einseitig glücklich machen, weil die Persönlichkeit nicht daran teilnimmt. Das absolut Gute kann nur unter Bedingungen glücklich machen, die allgemein nicht vorauszusetzen sind; denn die Wahrheit ist nur der Preis der Verleugnung, und an den reinen Willen glaubt nur ein reines Herz. Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, solang es ihren Zauber erfährt.
Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, soweit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet. Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit unbedingter Notwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört; es erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung waltet und die Form noch nicht anfängt; ja selbst auf diesen äußersten Grenzen, wo die gesetzgebende Macht ihm genommen ist, läßt sich der Geschmack doch die vollziehende nicht entreißen. Die ungesellige Begierde muß ihrer Selbstsucht entsagen und das Angenehme, welches sonst nur die Sinne lockt, das Netz der Anmut auch über die Geister auswerfen. Der Notwendigkeit strenge Stimme, die Pflicht, muß ihre vorwerfende Formel verändern, die nur der Widerstand rechtfertigt, und die willige Natur durch ein edleres Zutrauen ehren. Aus den Mysterien der Wissenschaft führt der Geschmack die Erkenntnis unter den offenen Himmel des Gemeinsinns heraus und verwandelt das Eigentum der Schulen in ein Gemeingut der ganzen menschlichen Gesellschaft. In seinem Gebiete muß auch der mächtigste Genius sich seiner Hoheit begeben und zu dem Kindersinn vertraulich herniedersteigen. Die Kraft muß sich binden lassen durch die Huldgöttinnen, [668] und der trotzige Löwe dem Zaum eines Amors gehorchen. Dafür breitet er über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt durch ihn entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von dem Leblosen wie von dem Lebendigen ab. In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen. Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben.
Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.
Fußnoten
1 Ich beziehe mich hier auf eine kürzlich erschienene Schrift: »Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten«, von meinem Freund Fichte, wo sich eine sehr lichtvolle und noch nie auf diesem Wege versuchte Ableitung dieses Satzes findet.
2 Die Sprache hat für diesen Zustand der Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung den sehr treffenden Ausdruck: außer sich sein, das heißt, außer seinem Ich sein. Obgleich diese Redensart nur da stattfindet, wo die Empfindung zum Affekt und dieser Zustand durch seine längere Dauer mehr bemerkbar wird, so ist doch jeder außer sich, solange er nur empfindet. Von diesem Zustande zur Besonnenheit zurückkehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, das heißt, in sein Ich zurückkehren, seine Person wiederherstellen. Von einem, der in Ohnmacht liegt, sagt man nicht, er ist außer sich, sondern: er istvon sich, d.h. er ist seinem Ich geraubt, da jener nur nicht in demselben ist. Daher ist derjenige, der aus einer Ohnmacht zurückkehrte, bloß bei sich, welches sehr gut mit dem Außersichsein bestehen kann.
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Sobald man einen ursprünglichen, mithin notwendigen Antagonism beider Triebe behauptet, so ist freilich kein anderes Mittel, die Einheit im Menschen zu erhalten, als daß man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet. Daraus aber kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch ewig fort geteilt. Die Unterordnung muß allerdings sein, aber wechselseitig: denn wenngleich die Schranken nie das Absolute begründen können, also die Freiheit nie von der Zeit abhängen kann, so ist es ebenso gewiß, daß das Absolute durch sich selbst nie die Schranken begründen, daß der Zustand in der Zeit nicht von der Freiheit abhängen kann. Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d.h. sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form. (Diesen Begriff der Wechselwirkung und die ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinandergesetzt in Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, Leipzig 1794.) Wie es mit der Person im Reich der Ideen stehe, wissen wir freilich nicht; aber daß sie, ohne Materie zu empfangen, in dem Reiche der Zeit sich nicht offenbaren könne, wissen wir gewiß; in diesem Reiche also wird die Materie nicht bloß unter der Form, sondern auch neben der Form und unabhängig von derselben etwas zu bestimmen haben. So notwendig es also ist, daß das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide, ebenso notwendig ist es, daß die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden kann.
In einer Transzendentalphilosophie, wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreien und das Notwendige von allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen. Eine solche Vorstellungsart liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.
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Der schlimme Einfluß einer überwiegenden Sensualität auf unser Denken und Handeln fällt jedermann leicht in die Augen; nicht so leicht, ob er gleich ebenso häufig vorkommt und ebenso wichtig ist, der nachteilige Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und auf unser Betragen. Man erlaube mir daher, aus der großen Menge der hieher gehörenden Fälle nur zwei in Erinnerung zu bringen, welche den Schaden einer der Anschauung und Empfindung vorgreifenden Denk- und Willenskraft ins Licht setzen können.
Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsre Naturwissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu teleologischen Urteilen, bei denen sich, sobald sie konstitutiv gebraucht werden, das bestimmende Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie heraus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unsrer Prävention übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber, daß so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beste der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben.
Ebenso schwer dürfte es zu bestimmen sein, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden oder durch die Rigidität unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unsrer Sinne oder durch den Egoism unsrer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu teilnehmenden, hülfreichen, tätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, sowie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird sowohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in der, die wir selbst uns geben, in demselben Maße unterdrückt, als man die Macht der Begierden zu brechen und den Charakter durch Grundsätze zu befestigen sucht. Weil es Schwierigkeit kostet, bei aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu bleiben, so ergreift man das bequemere Mittel, durch Abstumpfung der Gefühle den Charakter sicherzustellen; denn freilich ist es unendlich leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen mutigen und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht dann auch größtenteils das, was man einen Menschen formieren nennt; und zwar im besten Sinne des Worts, wo es Bearbeitung des innern, nicht bloß des äußern Menschen bedeutet. Ein so formierter Mensch wird freilich davor gesichert sein, rohe Natur zu sein und als solche zu erscheinen; er wird aber zugleich gegen alle Empfindungen der Natur durch Grundsätze geharnischt sein, und die Menschheit von außen wird ihm ebensowenig als die Menschen von innen beikommen können.
Es ist ein sehr verderblicher Mißbrauch, der von dem Ideal der Vollkommenheit gemacht wird, wenn man es beider Beurteilung anderer Menschen und in den Fällen, wo man für sie wirken soll, in seiner ganzen Strenge zum Grund legt. Jenes wird zur Schwärmerei, dieses zur Härte und zur Kaltsinnigkeit führen. Man macht sich freilich seine gesellschaftlichen Pflichten ungemein leicht, wenn man dem wirklichen Menschen, der unsre Hülfe auffodert, in Gedanken den Idealmenschen unterschiebt, der sich wahrscheinlich selbst helfen könnte. Strenge gegen sich selbst, mit Weichheit gegen andre verbunden, macht den wahrhaft vortrefflichen Charakter aus. Aber meistens wird der gegen andere weiche Mensch es auch gegen sich selbst, und der gegen sich selbst strenge es auch gegen andere sein; weich gegen sich und streng gegen andre ist der verächtlichste Charakter.
5 Zum bloßen Leben macht die Schönheit Burke in seinen »Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen«. Zur bloßen Gestalt macht sie, soweit mir bekannt ist, jeder Anhänger des dogmatischen Systems, der über diesen Gegenstand je sein Bekenntnis ablegte: unter den Künstlern Raphael Mengs in seinen Gedanken über den Geschmack in der Malerei; andrer nicht zu gedenken. So wie in allem, hat auch in diesem Stück die kritische Philosophie den Weg eröffnet, die Empirie auf Prinzipien und die Spekulation zur Erfahrung zurückzuführen.
6 Wenn man (um bei der neuern Welt zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien und das frohe, schöne Leben des Corso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer sein, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feinern Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist.
7 Einem aufmerksamen Leser wird sich bei der hier angestellten Vergleichung die Bemerkung dargeboten haben, daß die sensualen Ästhetiker, welche das Zeugnis der Empfindung mehr als das Räsonnement gelten lassen, sich der Tat nach weit weniger von der Wahrheit entfernen als ihre Gegner, obgleich sie der Einsicht nach es nicht mit diesen aufnehmen können; und dieses Verhältnis findet man überall zwischen der Natur und der Wissenschaft. Die Natur (der Sinn) vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Untersuchung noch nicht geendigt hat. Man kann deswegen ohne alle weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine philosophische Deduktion nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen, wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem erstern mag man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des Menschenverstandes neue Systeme gründen will.
8 Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, sooft hier von Freiheit die Rede ist, nicht diejenige gemeint ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, notwendig zukommt und ihm weder gegeben noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch, daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freiheit der ersten Art, dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art. Man könnte die letztere schlechtweg durch eine natürliche Möglichkeit der erstern erklären.
9 Für Leser, denen die reine Bedeutung dieses durch Unwissenheit so sehr gemißbrauchten Wortes nicht ganz geläufig ist, mag folgendes zur Erklärung dienen. Alle Dinge, die irgend in der Erscheinung vorkommen können, lassen sich unter vier verschiedenen Beziehungen denken. Eine Sache kann sich unmittelbar auf unsern sinnlichen Zustand (unser Dasein und Wohlsein) beziehen; das ist ihre physische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf den Verstand beziehen und uns eine Erkenntnis verschaffen; das ist ihre logische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf unsern Willen beziehen und als ein Gegenstand der Wahl für ein vernünftiges Wesen betrachtet werden; das ist ihre moralische Beschaffenheit. Oder endlich, sie kann sich auf das Ganze unsrer verschiedenen Kräfte beziehen, ohne für eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu sein, das ist ihre ästhetische Beschaffenheit. Ein Mensch kann uns durch seine Dienstfertigkeit angenehm sein; er kann uns durch seine Unterhaltung zu denken geben; er kann uns durch seinen Charakter Achtung einflößen; endlich kann er uns aber auch, unabhängig von diesem allen, und ohne daß wir bei seiner Beurteilung weder auf irgendein Gesetz, noch auf irgendeinen Zweck Rücksicht nehmen, in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße Erscheinungsart gefallen. In dieser letztern Qualität beurteilen wir ihn ästhetisch. So gibt es eine Erziehung zur Gesundheit, eine Erziehung zur Einsicht, eine Erziehung zur Sittlichkeit, eine Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit. Diese letztere hat zur Absicht, das Ganze unsrer sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden. Weil man indessen, von einem falschen Geschmack verführt und durch ein falsches Räsonnement noch mehr in diesem Irrtum befestigt, den Begriff des Willkürlichen in den Begriff des Ästhetischen gerne mit aufnimmt, so merke ich hier zum Überfluß noch an (obgleich diese Briefe über ästhetische Erziehung fast mit nichts anderm umgehen, als jenen Irrtum zu widerlegen), daß das Gemüt im ästhetischen Zustande zwar frei und im höchsten Grade frei von allem Zwang, aber keines wegs frei von Gesetzen handelt und daß diese ästhetische Freiheit sich von der logischen Notwendigkeit beim Denken und von der moralischen Notwendigkeit beim Wollen nur dadurch unterscheidet, daß die Gesetze, nach denen das Gemüt dabei verfährt, nicht vorgestellt werden und, weil sie keinen Widerstand finden, nicht als Nötigung erscheinen.
10 Zwar läßt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken und zu Entschließungen übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit notwendig durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüter können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bei andern, welche ihren Genuß mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens als einer einzelnen Handlung desselben setzen, der ästhetische Zustand in eine weit größere Fläche aus. So sehr die ersten sich vor der Leerheit fürchten, so wenig können die letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche kaum zu erinnern, daß die ersten fürs Detail und für subalterne Geschäfte, die letzten, vorausgesetzt, daß sie mit diesem Vermögen zugleich Realität vereinigen, fürs Ganze und zu großen Rollen geboren sind.
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Diese geistreiche und ästhetisch freie Behandlung gemeiner Wirklichkeit ist, wo man sie auch antrifft, das Kennzeichen einer edeln Seele. Edel ist überhaupt ein Gemüt zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß dient (bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbständigkeit aufdrückt. Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit setzen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung. Der vorherrschende Ausdruck des Verstandes in einem Gesicht, einem Kunstwerk u.dgl. kann daher niemals edel ausfallen, wie er denn niemals auch schön ist, weil er die Abhängigkeit (welche von der Zweckmäßigkeit nicht zu trennen ist) heraushebt, anstatt sie zu verbergen.
Der Moralphilosoph lehrt uns zwar, daß man niemehr tun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen recht, wenn er bloß die Beziehung meint, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben. Aber bei Handlungen, welche sich bloß auf einen Zweck beziehen, über diesen Zweck noch hinaus ins Übersinnliche gehen (welches hier nichts anders heißen kann als das Physische ästhetisch ausführen), heißt zugleich über die Pflicht hinaus gehen, indem diese nur vorschreiben kann, daß der Wille heilig sei, nicht daß auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es gibt also zwar kein moralisches, aber es gibt ein ästhetisches Übertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel. Eben deswegen aber, weil bei dem Edeln immer ein Überfluß wahrgenommen wird, indem dasjenige auch einen freien formalen Wert besitzt, was bloß einen materialen zu haben brauchte, oder mit dem innern Wert, den es haben soll, noch einen äußern, der ihm fehlen dürfte, vereinigt, so haben manche ästhetischen Überfluß mit einem moralischen verwechselt und, von der Erscheinung des Edeln verführt, eine Willkür und Zufälligkeit in die Moralität selbst hineingetragen, wodurch sie ganz würde aufgehoben werden.
Von einem edeln Betragen ist ein erhabenes zu unterscheiden. Das erste geht über die sittliche Verbindlichkeit noch hinaus, aber nicht so das letztere, obgleich wir es ungleich höher als jenes achten. Wir achten es aber nicht deswegen, weil es den Vernunftbegriff seines Objekts (des Moralgesetzes), sondern weil es den Erfahrungsbegriffs seines Subjekts (unsre Kenntnisse menschlicher Willensgüte und Willensstärke) übertrifft, so schätzen wir umgekehrt ein edles Betragen nicht darum, weil es die Natur des Subjekts überschreitet, aus der es vielmehr völlig zwanglos hervorfließen muß, sondern weil es über die Natur seines Objekts (den physischen Zweck) hinaus in das Geisterreich schreitet. Dort, möchte man sagen, erstaunen wir über den Sieg, den der Gegenstand über den Menschen davonträgt; hier bewundern wir den Schwung, den der Mensch dem Gegenstande gibt.
12 Ich erinnere noch einmal, daß diese beiden Perioden zwar in der Idee notwendig voneinander zu trennen sind, in der Erfahrung aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muß man nicht denken, als ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er empfindet. Jene drei Momente, welche ich am Anfang des vierundzwanzigsten Briefs namhaft machte, sind also zwar, im ganzen betrachtet, drei verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch bei jeder einzelnen Wahrnehmung eines Objekts unterscheiden und sind mit einem Wort die notwendigen Bedingungen jeder Erkenntnis, die wir durch die Sinne erhalten.
13 Die mehresten Spiele, welche im gemeinen Leben im Gange sind, beruhen entweder ganz und gar auf diesem Gefühle der freien Ideenfolge, oder entlehnen doch ihren größten Reiz von demselben. So wenig es aber auch an sich selbst für eine höhere Natur beweist, und so gerne sich gerade die schlaffesten Seelen diesem freien Bilderstrome zu überlassen pflegen, so ist doch eben diese Unabhängigkeit der Phantasie von äußern Eindrücken wenigstens die negative Bedingung ihres schöpferischen Vermögens. Nur indem sie sich von der Wirklichkeit losreißt, erhebt sich die bildende Kraft zum Ideale, und ehe die Imagination in ihrer produktiven Qualität nach eignen Gesetzen handeln kann, muß sie sich schon bei ihrem reproduktiven Verfahren von fremden Gesetzen frei gemacht haben. Freilich ist von der bloßen Gesetzlosigkeit zu einer selbständigen innern Gesetzgebung noch ein sehr großer Schritt zu tun, und eine ganz neue Kraft, das Vermögen der Ideen, muß hier ins Spiel gemischt werden – aber diese Kraft kann sich nunmehr auch mit mehrerer Leichtigkeit entwickeln, da die Sinne ihr nicht entgegenwirken und das Unbestimmte wenigstens negativ an das Unendliche grenzt.