[160] Ginevra

Vorwort des Herausgebers

[161] [163]Vorwort des Herausgebers.

Auch in unserer Novelle hat Saar ältere Motive wieder aufgegriffen und fortgesponnen. Das Motiv des mit Liebesschuld beladenen Offiziers hatte er in der Umarbeitung von »Vae victis« wieder fallen gelassen (Band VIII, Seite 9); und mit den Papieren zum »Haus Reichegg« stimmt nicht bloß die Situation, die Teilnahme der Offiziere an dem Tanzvergnügen der Städter, sondern auch die Schilderung Ginevras überein. Die Handschrift unserer Novelle ist »Blansko, 4. März 1889« datiert. Es ist eine Reinschrift, die aber noch so viele Korrekturen erfahren hat, daß sie stellenweise nur schwer leserlich geworden ist. Sie liegt zunächst dem ersten Abdruck in dem Wiener Jahrbuch »Dioskuren« 1890 (XIX. Jahrgang, Seite 149–179) zugrunde, der freilich bei der Korrektur noch leise Abänderungen erfahren hat; auf den Dioskuren beruht aber auch noch der späte Abdruck in der Zeitschrift »Moderne Kunst« (XVII. Jahrgang, 1902/3, Seite 262 ff., 294 ff., 305 ff., 314 ff.). Für eine neue Ausgabe hat der Dichter zunächst in einem Separatabdruck aus den Dioskuren Änderungen angebracht, sie aber dann doch wieder in die Handschrift eingetragen und diese zum zweiten Male dem Abdruck in der vierten Novellensammlung »Frauenbilder« 1892 (Seite 1–82) zugrunde gelegt, wodurch die Korrekturen so zahlreich geworden sind, daß der Verleger wiederholt einzelne Stellen ins Reine schreiben mußte und sich bei dieser Gelegenheit auch für ein paar Änderungen im Wortgebrauch die Zustimmung des Dichters einholte. Trotzdem auch hier noch bei der Korrektur nachgeholfen worden war, genügte auch diese Fassung dem unermüdlich feilenden Dichter nicht. Er erbat sich am [163] 3. April 1896 ein Exemplar der »Frauenbilder« für eine etwa notwendige zweite Auflage und unterzog sie im März des folgenden Jahres eingehenden Verbesserungen, die dann der ersten zweibändigen Ausgabe der »Novellen aus Österreich« 1897 (zweiter Band, Seite 179–232) zugute kamen und nicht mehr bloß die Form betrafen: denn die Mutter der Ginevra stammt nun nicht mehr aus Conegliano, sondern aus Bassano, und der Satz am Schlusse, nach welchem der Oberst zu der Polin immer noch in Beziehungen steht, ist erst hier eingefügt. In der zweiten Ausgabe dieser Sammlung (a.a.O.) ist dann neben geringen stilistischen Änderungen die Chiffre L ... in Leitmeritz aufgelöst worden. Dem Abdruck in Reclams Universalbibliothek (Nr. 4600 [1904]) scheinen noch nicht zu Ende korrigierte Druckbogen dieser letzten Ausgabe zugrunde zu liegen; denn er stimmt an einigen wenigen Stellen noch mit der vorletzten überein.

[164]

Das Diner war vorüber und die kleine Tischgesellschaft begab sich in den Garten der Villa, um dort den Kaffee zu nehmen. Nachdem man sich auf einer Terrasse niedergelassen, die den Ausblick auf die umliegenden Höhen und einen Teil der Stadt eröffnete, sagte die Hausfrau: »Erzählen Sie uns doch endlich von dieser Ginevra, lieber Oberst. Versprochen haben Sie es längst. Jedenfalls muß sie etwas ganz Besonderes gewesen sein, da Sie noch immer mit einer Art Andacht ihrer gedenken. Lassen Sie sich daher nicht bitten. Wir sind ganz unter uns, und hoffentlich kommt kein unerwarteter Besuch, der Sie unterbrechen könnte.«

Der Oberst, ein hochgewachsener, schlanker Mann in bürgerlicher Kleidung, blickte nachdenklich auf die Glimmfläche der Zigarre nieder, die er sich soeben angezündet. »Nun denn,« sagte er, »wenn Sie wollen, soll es geschehen, obgleich ich befürchten muß, ein recht unüberlegtes Versprechen gegeben zu haben. Denn was ich vorbringen kann, ist eigentlich doch nur eine veraltete Liebesgeschichte, welche, wenn sie heute gedruckt würde, vielleicht niemand mehr lesen möchte. Indes, wie gesagt, wenn Sie es wirklich wünschen, bin ich bereit. Ist es doch ein Genuß, wenn auch ein schmerzlicher, sich in die goldenen Tage der Jugend zurückzuversetzen.«


* * *

1.

I.

»Ich war zwanzig Jahre alt und Fähnrich bei einem Regiment, das einen Teil der Friedensbesatzung von Theresienstadt bildete. Diese Festung mag – abgesehen von ihrer anmutigen Lage [165] in einem der gesegnetsten Landstriche Böhmens – auch noch heute kein besonders erfreulicher Aufenthaltsort sein; damals aber – in den vierziger Jahren – konnte er wahrhaft trostlos genannt werden. Denn außer dem großen, mit zwei Baumreihen umpflanzten Hauptplatze, der fast durchgehends militärische Gebäude aufwies, gab es dort nur vier Gassen. Sie führten in den entsprechenden Windrichtungen nach den Toren und Wällen und bestanden zumeist aus kleinen, hüttenähnlichen Häusern, in denen sich Krämer und Handwerker, Bierwirte und Branntweinschänker angesiedelt hatten. Die Offiziere waren daher ganz und gar auf den kameradschaftlichen Verkehr angewiesen, und wir Jüngeren führten nicht eben das erbaulichste Dasein. In den Vormittagsstunden mehr oder minder dienstlich beschäftigt, verbrachten wir die übrige Zeit im Militärkasino am Billard und am Spieltische, oder begaben uns nach der jenseits der Elbe gelegenen Kreisstadt Leitmeritz, wo wir zum Mißvergnügen der ehrsamen Pfahlbürger in Kaffee- und Gastwirtschaften sehr anspruchsvoll auftraten, leichtfertige Liebeshändel anzuknüpfen suchten, und nach der Rückkehr in die Festung begaben sich manche noch in ein höchst zweifelhaftes Lokal, um dort halbe Nächte bei Punsch und Glühwein zu durchschwelgen.

Was nun mich selbst betraf, so machte ich dieses wüste, gedankenlose Treiben schon deshalb mit, weil man sich nicht ausschließen konnte. Zudem war ich jung, und nach der strengen Zucht, die ich früher in einem Kadettenhause erdulden mußte, hatten derlei Ausschreitungen für mich den Reiz der Neuheit. Mein Oheim, der mich, den früh Verwaisten, gewissermaßen an Sohnesstatt angenommen und einen ziemlich hohen und einflußreichen Posten beim damaligen Hofkriegsrate bekleidete, setzte mir eine ganz ansehnliche Geldzubuße aus; ich lebte also sorglos in den Tag hinein, wenn ich auch bisweilen, meiner Natur nach, von sentimentalen und hypochondrischen Anwandlungen nicht ganz frei blieb.

So kam es auch, daß ich eines Abends, im Karneval, einmal [166] und nachdenklich in meiner öden Kasernenwohnung saß und mich höchst unglücklich fühlte, und zwar aus folgendem Grunde.

Der Festungskommandant, ein invalider General, erfreute sich einer Tochter, welche zwar weder besonders jung, noch besonders hübsch zu nennen war, aber schon vermöge ihrer Stellung Anreiz genug besaß, um einem Neuling, wie ich, den Kopf zu verdrehen. Sie war auffallend schlank gewachsen, hatte glänzend schwarze, stechende Augen, sehr weiße, leicht zwischen den Lippen hervorstehende Zähne, und wußte ihren etwas vergilbten Wangen durch zartes Auflegen von Rot künstliche Frische zu verleihen. Bei erfahrenen Kameraden galt sie als eine ausbündige Kokette, und man hatte mich gleich anfangs, halb im Scherz, halb im Ernst, vor ihr gewarnt. Dennoch verliebte ich mich in sie, und zwar anläßlich einer religiösen Feierlichkeit, der sie, halb verschleiert, an der Seite ihrer Mutter auf dem Oratorium der Garnisonskirche beiwohnte. Obgleich sie sehr andächtig in ihr Gebetbuch versunken schien, konnte ich doch bemerken, daß sie von Zeit zu Zeit nach mir hinblickte, anfänglich nur so von der Seite, dann aber mit Zuwendung des Antlitzes immer länger und eindringlicher. Ich glaubte dies um so mehr zu meinen Gunsten auslegen zu dürfen, als sie fortan stets hinter den Fensterscheiben erschien, wenn ich – und das geschah mehrmals des Tages – am Kommandantenhause vorüberging; ja einmal konnte ich sogar wahrnehmen, daß sie in der Mitte des Zimmers auf einen Stuhl gestiegen war, um mich von dort aus, wie sie wohl meinte, ungesehen beobachten zu können. Ich hatte daher keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr endlich persönlich näher zu treten, und der offizielle Ball, den ihr Vater demnächst zu geben verpflichtet war, erschien mir als huldvollste Gelegenheit. Ich stellte mir bereits sehr lehbaft vor, wie auch sie diesem Abend sich entgegen freue, wie sie mich sofort an sich heranziehen, wie ich mit ihr im Tanze vereint dahinfliegen würde – und was dergleichen [167] jugendliche Erwartungen mehr waren. Aber ich hatte, wie man zu sagen pflegt, die Rechnung vollständig ohne den Wirt gemacht. Denn zu dem Balle wurden auch auswärtige Gäste geladen, und unter diesen befanden sich neben höheren Standespersonen vom Zivil auch die Offiziere eines Chevauxlegers-Regiments, das auf dem platten Lande stationiert war. Da hatte ich nun den Schmerz, zu sehen, wie diese interessanten Ankömmlinge die Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses derart auf sich lenkten, daß sie für mich keinen Blick, und als ich mich später vorstellen ließ, auch kein aufmunterndes Wort übrig hatte. In der Verwirrung darüber fand ich gar nicht den Mut, sie zum Tanze aufzufordern, und während die Grausame fast die ganze Zeit über von einem sehr aristokratisch aussehenden Rittmeister in Beschlag genommen wurde, fiel mir durch ein Verhängnis, wie es derlei Niederlagen stets zu begleiten pflegt, die schwindsüchtige Tochter eines Kreisrates zu, welche, da sie sonst niemand aufzufordern Lust bezeigte, mit ihren rötlich blonden Schmachtlocken gleich einer Klette an mir hing, bis ich mich endlich, sobald dies in anständiger Weise geschehen konnte, aus dem Staube machte und vom Balle verschwand.

So saß ich denn, in meiner Eigenliebe, oder wie ich mir damals einbildete, in meinen heiligsten Gefühlen gekränkt, zwischen den kahlen vier Wänden, während die Dämmerung längst hereingebrochen war und ich kaum mehr die Rauchwolken sah, die ich aus einer langen Pfeife mechanisch vor mich hinblies. Plötzlich vernahm ich hastige Tritte, die sich draußen auf dem Gange der Tür näherten; diese wurde polternd aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien eine mantelumhüllte Gestalt, die sich schwarz in schwarz von der sie umgebenden Dunkelheit abhob.

›Bist du hier?‹ rief eine kräftige, etwas schnarrende Stimme, an der ich sofort einen meiner näheren Freunde, den Leutnant Dorsner, erkannte. Und da ich mich jetzt bemerkbar machte, [168] fuhr er eintretend fort: ›Zum Teufel, was treibst du denn da im Finstern?‹

Ich legte die Pfeife weg und zündete eine Kerze an, bei deren zweifelhaftem Schein ich wahrnahm, daß Dorsner, der jetzt den Mantel auseinanderschlug, in eine schmucke, ganz neue Halbuniform gekleidet war und Lackstiefel an den Füßen hatte.

›Ich gehe nach Leitmeritz hinüber‹, sagte er, meine Frage vorweg nehmend. ›Es ist heute dort Ball auf der Schießstätte. Und du sollst mit mir kommen.‹

›Wir sind ja gar nicht geladen.‹

›Das tut nichts. Ich habe einer Dame versprochen, zu erscheinen, und so muß es geschehen.‹

Ich wußte, daß er in geheimnisvollen Beziehungen zu der hübschen Tochter eines wohlhabenden Lohgerbers stehe, die er auch später geheiratet hat.

›Gut,‹ erwiderte ich; ›aber wie willst du das anfangen?‹

›Ganz einfach; ich gehe eben hin. Was bleibt den Herren »Ballausschüssen« anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber deshalb siehst du auch ein, daß ich nicht ganz allein dort erscheinen kann. Ich hatte mich schon mit Heillinger verabredet; aber dieser ist im letzten Augenblicke verhindert worden. Also tu' mir den Gefallen.‹

Aber ich war an diesem Abend zu derlei Unternehmungen ganz und gar nicht aufgelegt und wandte daher neuerdings ein; ›Und wenn man erfährt, daß wir dort waren? Du weißt doch, wie sehr man höheren Orts dagegen ist, daß wir an derlei Unterhaltungen teilnehmen.‹

›Unterhaltungen? An was für Unterhaltungen?‹ rief er ärgerlich. ›Es kommen die anständigsten Bürgerfamilien von Leitmeritz zusammen. Und überdies: auf einen Verweis mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Seit wann bist du denn so ängstlich geworden? Ich, als dein Vorgesetzter, befehle dir, mit mir zu gehen. Vorwärts! Marsch!‹

Noch immer konnte ich mich nicht entschließen und schützte [169] Unwohlsein vor. Ich hätte mich auf dem Kommandanten-Balle erkältet.

›Ach was! Flausen! Derlei Erkältungen tanzt man sich am besten gleich wieder aus dem Leibe. Und gib acht, was für Mädchen du da drüben in die Arme bekommen wirst. Ganz andere Geschöpfe, als diese dürren Gliederpuppen, wie sie gestern an uns herumbaumelten.‹

Ich sah, daß es kein Entrinnen gab, und da endlich doch auch der Gedanke einer möglichen Zerstreuung in mir auftauchte, so erklärte ich mich schließlich bereit und ging daran, mich umzukleiden, während Dorsner ebenfalls von Zeit zu Zeit vor den kleinen Wandspiegel trat und sein dichtes, von Natur gekräuseltes Haar unternehmend auflockerte.

Endlich war ich fertig, und wir traten, die Festung hinter uns lassend, den Marsch nach Leitmeritz an. Tagsüber war Tauwetter eingefallen; nun aber hatte der Boden, sehr zum Vorteil unserer Beschuhung, wieder angezogen. Trotz des Frostes war in der herben Luft etwas wie ein Vorhauch des Frühlings zu spüren, und so schritten wir behaglich in gleichmäßigem Takt den hell erleuchteten Saalfenstern entgegen, welche von der am Eingange der Stadt gelegenen Schießstätte durch feine weiße Nebel herüberstrahlten.

2.

II.

Es kam, wie Dorsner vorhergesagt. Zwei Komiteemitglieder – ein älteres und ein junges – waren im Vestibül anwesend, als wir erschienen. Sie sahen uns sehr befremdet und mit gespreizter Zurückhaltung an; da aber Dorsner mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit auf sie zutrat und, sich tief verbeugend, fragte, ob es denn nicht möglich wäre, an dem schönen Feste teilzunehmen, so zuckte es geschmeichelt um ihre Nasenflügel, ein wohlwollendes Lächeln verbreitete sich über ihre Gesichter, und indem sie etwas von ›besonderer Ehre‹ [170] murmelten, geleiteten sie uns zuvorkommend in den Saal, wo eben ein Tanz zu Ende ging und die Musik verstummte. Wir befanden uns also einem bunten Gewirr von sich auflösenden Paaren gegenüber und wurden anfänglich kaum bemerkt. Nachdem aber die verlassen gewesenen Sitzplätze wieder eingenommen waren, wendete sich uns nach und nach die allgemeine Aufmerksamkeit zu, die von männlicher Seite keine besonders wohlwollende zu sein schien, während der weibliche Teil eine gewisse angenehme Überraschung nur schwer verbergen konnte. Dorsner, indem er das unbärtige Komiteemitglied vertraulich unter dem Arm faßte, bat, ihn einigen jungen Damen vorstellen zu wollen; denn der Schalk vermied es, geradenwegs auf sein Ziel, die rosige Gerberstochter, loszugehen, welche sein Erscheinen sofort bemerkt hatte und nun, das Antlitz hinter dem ausgespannten Fächer verbergend, mit ihren wohlbeleibten Anverwandten an einem Tische des anstoßenden Speisezimmers saß; man konnte in dieses durch eine offene Flügeltür sowohl, wie auch durch einige hohe Fenster, die nach dem Saale gingen, bequem hineinblicken. Es dauerte nicht lange, so wurde das Zeichen zu einer Polka gegeben, welche Dorsner mit einer stämmigen Brünette eröffnete, die ihn, der von kleinem, zierlichem Wuchse war, fast um Haupteslänge überragte. Ich selbst hatte mich, hinter einer Reihe von Zuschauern, in eine Fenstervertiefung gestellt, wo ich nun mehr und mehr in meine frühere Verstimmung zurücksank. Denn die Gesellschaft, die ich hier vor Augen hatte, zog mich in ihrer spießbürgerlichen Behäbigkeit keineswegs an, und die zwar blühenden, aber plump und geschmacklos geputzten Mädchen und jungen Frauen erschienen mir so reizlos wie möglich. So beschloß ich denn, noch eine Weile in meinem halben Versteck auszuharren und dann unbemerkt zu verschwinden, da ich ja nunmehr meinen Freund, der sich jetzt im Tanze bereits zu seiner Holden gefunden hatte, getrost seinem Schicksal überlassen konnte. Plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit gefesselt. In den Armen eines vierschrötigen, [171] ungelenken Tänzers schwebte eine schlanke Gestalt anmutig vorüber. Ein einfaches, hellblaues Kleid reichte ihr, nach der Mode der damaligen Zeit, mit einer leichten Falbel bis an die Knöchel und ließ die zierlichen Füße sehen. Ihr Haar, von schimmerndem Aschblond, war aus der Stirn gestrichen, rückwärts zusammengeknotet und bloß mit einem weißen Sträußchen geschmückt; um den Hals war ein schmales schwarzes Samtband geschlungen, an dem ein kleines goldenes Kreuz hing. Ich ließ die gefälligen Wendungen dieser lieblichen Erscheinung nicht mehr aus den Augen, und als sie jetzt, wieder in meine Nähe gelangend, aufsah, begegneten sich unsere Blicke. Die Polka dauerte schon ziemlich lange; die meisten Paare hatten bereits untereinander abgewechselt, nur der Tänzer der schlanken Blondine schien dies nicht willens zu sein. Er tanzte unerschütterlich weiter, den Arm gleich einer Klammer um den zarten Leib des jungen Mädchens geschlungen, den Blick starr auf ihren Scheitel geheftet. Endlich schien es ihr zu viel zu werden. Mit dem Ausdruck von Mißmut im Antlitz machte sie sich gewaltsam los und sank aufatmend in einen nahen Stuhl. Es war mir, als blicke sie dabei nach mir hinüber, gleichsam erwartend, ich würde jetzt auffordernd an sie herantreten. Aber ein eigentümlich lähmendes Zögern überkam mich – und als ich mich endlich entschließen wollte, hatte sie schon ein anderer junger Mann in den Reigen gezogen, der übrigens sehr bald zu Ende ging. In dem verdrießlichen Gefühl meines ungeschickten Verhaltens vermied ich es jetzt, ihren Blicken zu begegnen; später gewahrte ich, wie sie am Arme ihres früheren Tänzers in das Speisezimmer trat. Dort nahmen beide an einem Tische Platz, an welchem eine vertrocknete alte Frau saß, eine mit kupferroten Bändern verzierte Haube auf dem Kopf; ein nicht mehr ganz junges, kränklich aussehendes Mädchen ihr zur Seite mußte, der Ähnlichkeit nach, die Tochter sein; auch konnte man immerhin den jungen Mann trotz seines breiten, wuchtigen Auftretens für den Sohn halten. Auch Dorsner war da drinnen zu erblicken; [172] er verweilte bereits im besten Einvernehmen bei der Familie des Lohgerbers. Ich erwog nun, ob ich gehen oder bleiben solle, und drückte mich eine Zeitlang unschlüssig an den Wänden hin, als ich mit einem Mal rings herum eine auffallende Bewegung wahrnahm, deren Grund mir auch alsbald klar wurde. Ein kleiner, burlesk aussehender Mann, in eng anliegenden Beinkleidern, Schuhen und Strümpfen, das ergraute Haar nach vorne gestrichen und über der Stirn in eine hoch emporstehende Schraube gedreht, war in die Mitte des Saales getreten und kündigte jetzt mit laut kreischender Stimme an, daß nunmehr eine Française erfolgen würde. Dieser Tanz war damals noch keineswegs etwas Gewöhnliches, er galt vielmehr in kleinen Städten als ganz besondere Neuerung, in deren Schwierigkeit sich die wenigsten gefunden hatten. Daher trat auch, als der Alte mit einem abgenützten Klapphute, den er unter dem Arm hervorzog, dem Orchester das Zeichen zur Einleitung gab, nur eine geringe Anzahl von Paaren heran.

›Was!?‹ rief der Sprecher, der sie sofort mit einem Blicke überzählt hatte, ›was, nur neun Paare!? Sind wir denn in Krähwinkel? C'est une honte! Schämen Sie sich, meine Herrschaften! En avant! Ich bitte, herbei zu kommen!‹

Diese Worte ermunterten manche, die unschlüssig gewesen zu sein schienen; sie näherten sich befangen und zögernd.

›Bravo! Nur immer herbei! Ich bin überzeugt, daß noch viele da sind, die ganz gut mittanzen könnten.Pas de gêne, mes dames! Keine Umstände, meine Damen! J'arrangerai tout! Es wird vortrefflich gehen. Nur Courage, meine Herren!‹

Diese Zurufe lockten noch einige heran, so daß nunmehr etwa zwanzig Paare Aufstellung genommen hatten. Nun aber zeigte es sich, daß ein vis-à-vis fehle.

›Ein vis-à-vis!‹ schrie der Alte wieder. ›Wir brauchen noch einen Herrn und eine Dame! Ein Königreich für ein vis-à-vis! Kommt wirklich niemand? Nun, ich werde schon irgendwo [173] etwas Verborgenes ausfindig machen – vielleicht im Speisezimmer!‹ Und damit eilte er dorthin, trat auf die Schwelle und erblickte die schlanke Blondine, die mit dem Rücken gegen den Saal gekehrt saß, während ihre Tischnachbarn dem Forschenden unwillige Blicke zuwarfen. ›Was?‹ rief er in seinem höchsten Fisteltone, ›Fräulein –‹ er kreischte einen Namen, den ich nicht verstehen konnte – ›was, die beste meiner ehemaligen Schülerinnen macht sich unsichtbar, wenn es an eine Quadrille geht?! Das muß ich mir ausbitten! Es scheint, meine Herrschaften,‹ wendete er sich an die übrigen, ›es scheint, daß Sie die junge Dame hier zurückhalten!‹

›Wir halten niemand zurück, Herr Tanzmeister,‹ erwiderte die alte Frau mit scharfer, beinerner Stimme. ›Wenn das Fräulein tanzen will, so mag sie es immerhin.‹

Diese aber schien in großer Verlegenheit und im Kampfe mit sich selbst zu sein. Der Alte jedoch ließ ihr keine Zeit zu weiterer Überlegung. Er ergriff sie rasch beim Arm und zog die allerdings nur schwach Widerstrebende in den Saal hinaus. Dort fiel sein Blick sofort auf mich, denn ich war inzwischen dem Schauplatz dieser Szene näher getreten. ›Und da haben Sie auch gleich einen vorzüglichen Tänzer!‹ rief er aus. ›Ich habe es wohl bemerkt, wie halsstarrig der Herr Offizier vorhin meiner Aufforderung ausgewichen ist; jetzt aber, hoff' ich, wird er sich nicht länger bedenken!‹ Und damit ließ er uns, seiner Sache sicher, voreinander stehen. Wir erröteten beide, verneigten uns gegenseitig und traten, nachdem ich ihr den Arm geboten, in die Reihe.

Noch hatten wir in unserer Befangenheit kein Wort gewechselt, als schon die Quadrille begann, bei welcher man in jener Zeit nicht bloß nachlässig hin und her schlenderte, sondern jeden Schritt aufs genaueste markierte. Und da war es eine Freude zu sehen, mit welcher Grazie sich meine Tänzerin bewegte. Die schmächtigen Arme an den Hüften hinabsenkend, schien sie damit ein leichtes Heben ihres Kleides andeuten zu [174] wollen, während die schmalen Füßchen, in knappen Schuhen mit Kreuzbändern, nur so über den Boden hinschwebten. Mit vollendeter Anmut streckte sie mir, wenn wir uns nach kurzer Trennung wieder zusammenfanden, die Hand entgegen. Dabei lag ein fast feierlicher Ernst in ihren Zügen; man konnte bemerken, daß sie von ihrer Aufgabe, sich als fertige Tänzerin zu erweisen, erfüllt war, indes ich nun Gelegenheit hatte, in nächster Nähe jede Einzelheit ihrer jugendlichen Schönheit zu bewundern: die schimmernde Stirn, das etwas kurze, aber fein modellierte Näschen, die durchsichtig zarte Muschel des Ohres. Noch immer verhielten wir uns schweigend; erst als der Tanz bewegter wurde und trotz der schrillen Feldherrnstimme des Alten mehrfache Irrungen und Stockungen entstanden, fand ich Anlaß zu einigen scherzhaften Bemerkungen, die sie jedoch bloß mit einem reizenden Lächeln erwiderte.

Jetzt aber, als alles glücklich zu Ende war und die Paare Arm in Arm einen Rundgang durch den Saal antraten, begann ich mit der allerdings banalen, aber am nächsten liegenden Phrase: ›Wahrhaftig, mein Fräulein, Sie tanzen wundervoll, und ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies an Ihrer Seite zu erkennen.‹

Sie errötete ein wenig und sagte dann mit einer ganz eigentümlich tiefen und wohllautenden Stimme: ›Nun ja, ich habe mir Mühe gegeben, die Quadrille ordentlich zu erlernen. Es ist auch gar nicht so schwer; man muß nur ein bißchen den Kopf zusammenhalten. Aber die meisten Mädchen sind so zerstreut und ziehen daher die einfachen Rundtänze vor.‹

›Diese sind vielleicht auch in mancher Hinsicht angenehmer,‹ erwiderte ich, noch immer sehr unsicher in der Fortführung des Gespräches. ›Aber ich habe bis jetzt verabsäumt, mich Ihnen vorzustellen.‹ Ich nannte meinen Namen.

Sie verneigte sich leicht und sagte dann: ›Ich heiße Ginevra – Ginevra Maresch.‹

›Ginevra? Dieser Name ist außerhalb Italiens ein seltener.‹

[175] ›Ich bin auch eine Italienerin,‹ entgegnete sie lächelnd, – ›das heißt, eine halbe. Meine Mutter ist aus Bassano im Venezianischen, wo sie mein Vater, als er noch Offizier war, kennen gelernt.‹

›Ihr Vater war Militär?‹

›Jawohl; aber er hat seine Charge niedergelegt, um meine Mutter heiraten zu können. Sie besaßen beide kein Vermögen. Es wurde dem Vater sehr schwer, eine andere Stellung zu finden, und so mußten sie sich lange gedulden. Endlich gelang es ihm, sich beim Steuerwesen unterzubringen. Vor drei Jahren ist er hier als Einnehmer gestorben,‹ setzte sie ernst hinzu.

›Und Ihre Mutter?‹

›Die lebt – dem Himmel sei Dank. Aber sie hat in diesem Winter eine schwere Krankheit, – eine Lungenentzündung, durchgemacht, von der sie sich nur sehr langsam wieder erholt. Dies hielt sie auch ab, mich auf den Ball zu begleiten.‹

›Sind Sie mit Verwandten hier?‹

›Nicht mit Verwandten. Es sind bloße Bekannte, die sich erboten, mich mitzunehmen. Aber ich hätte es vorziehen sollen, zu Hause zu bleiben.‹

›Wieso?‹

›Nun sehen Sie, diese Leute haben uns vor längerem einen nicht unbedeutenden Dienst erwiesen, für welchen wir ihnen auch sehr dankbar waren. Aber sie wollen uns immer eine gewisse Abhängigkeit fühlen lassen – besonders die alte Frau, die eine wohlhabende Witwe ist, und das verträgt sich schwer. Die Tochter wäre eigentlich ein ganz gutes Mädchen, es ließe sich mit ihr auskommen. Aber leider ist sie gar nicht hübsch, und das empfindet sie sehr schmerzlich – besonders bei solchen Gelegenheiten, wo sie kaum einer um eine Tour bittet. Da muß es ihr auch doppelt weh tun, wenn sie wahrnimmt, wie andere von allen Seiten bestürmt werden. Um ihr das Herz nicht noch schwerer zu machen, wollte ich mich eigentlich von der Quadrille zurückziehen, die sie überhaupt gar nicht tanzen [176] kann – so wie ihr Bruder, der sie gewissermaßen aus Hochmut nicht lernen will. Hingegen scheint er zu wünschen, daß ich sonst mit keinem andern tanze, als mit ihm.‹

›Und hat er ein Recht zu solchem Verlangen?‹

Sie erbleichte flüchtig. ›O nein! Nicht das geringste! Aber er tut sich etwas auf seine Wohlhabenheit zugute. Ich mag ihn gar nicht leiden, und zeig' es ihm auch, so weit es angeht. Aber er will es nicht verstehen, und nur die Rücksicht auf den erwähnten Umstand hat mich bis jetzt abgehalten, es ihm rund heraus zu sagen.‹

›Das ist freilich unangenehm.‹

›Sehr. Und ich sehe immer deutlicher ein, daß es für mich besser gewesen wäre, den Ball gar nicht zu besuchen. Aber es war mein erster, und dieser Verlockung vermag ein junges Mädchen nicht zu widerstehen.‹

›Konnten Sie sich denn nicht jemand anderem anschließen?‹

›Nein; wir haben uns im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zurückgezogen. Die Menschen hier hatten uns immer gewissermaßen als Fremde behandelt – und so sind wir es zuletzt geblieben.‹

Wir hatten während dieses Gespräches den Saal mehrmals umschritten und gar nicht bemerkt, daß sich die übrigen Paare allmählich verloren hatten, was uns jetzt zum Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit machen mußte. Nun aber begann das Orchester einen Walzer zu spielen, den man wahrscheinlich deshalb so bald folgen ließ, damit die von der Française Zurückgebliebenen entschädigt würden. Von den raschen Klängen durchzuckt, umfaßte ich sofort meine Begleiterin und zog sie in den beginnenden Wirbel hinein. Leicht, gleichsam körperlos, schwebte sie in meinen Armen dahin – und doch versetzte mich die Umschlingung in so wonniges Entzücken, daß ich es unwillkürlich ihrem anspruchsvollen Begleiter nachtat und sie nicht eher freigab, als bis der letzte Geigenstrich verklungen war. Tief Atem schöpfend, das losgegangene Haar aus der Stirn [177] zurückschüttelnd, machte sie eine Verbeugung, blickte dann, wie sich besinnend, im Saale umher und eilte in das Speisezimmer.

Um mich drehte sich noch alles, und als ich mich jetzt mit hochklopfendem Herzen nach einem Stuhl umsah, trat Dorsner lächelnd an mich heran. ›Nun,‹ sagte er, ›dein Geschmack ist nicht übel. Aber es ist ein noch ganz blutjunges Ding – und dabei arm wie eine Kirchenmaus. Gib acht, daß du nicht hängen bleibst.‹

Ich verstand kaum, was er sagte, und wollte mich eben setzen – da gewahrte ich, wie Ginevra an der Schwelle des Speisezimmers erschien. Sie war ganz bleich und ihre blauen Augen hatten einen dunklen, metallischen Glanz angenommen. Ich näherte mich ihr; sie kam mir sofort entgegen.

›Denken Sie,‹ begann sie mit zitternder Stimme, ›was man mir angetan! Meine Begleiter sind fort und haben mich allein hier zurückgelassen.‹

Einen Augenblick schwieg ich betroffen. Dann aber sagte ich: ›Nun, das wäre ja eigentlich das Schlimmste nicht.‹

›Gewiß nicht, wenn ich jetzt ungescheut bleiben könnte. Und eigentlich könnt' ich es auch,‹ fuhr sie fort, indem sie das Haupt erhob und frei und stolz um sich blickte, ›das Gerede der Leute sollte mich wenig kümmern. Aber meiner Mutter wegen darf ich es nicht. Im übrigen ist es gut, daß es so gekommen. Diese Menschen haben nun selbst das Band zerrissen, das uns drückte. Ich will mich nur noch ein wenig abkühlen, dann gehe ich nach Hause.‹

›Allein?‹

›Warum nicht? Ich kenne den Weg, und der ist kurz. Wir wohnen gleich in der Nähe – außerhalb der Stadt.‹

›Wie glücklich wäre ich, dürft' ich Ihnen trotzdem meine Begleitung anbieten.‹

›Das können Sie – wenn Sie meinetwegen den Ball verlassen wollen. Auch ist es ja, wie gesagt, nicht weit – in zehn Minuten sind Sie wieder da.‹

[178] ›Ich werde nicht zurückkehren; denn was sollte ich hier noch, wenn Sie fort sind?‹

Jede andere würde nun, obgleich ich diese Worte in überzeugendem Tone gesprochen hatte, doch irgend eine spöttisch bezweifelnde Einwendung hingeworfen haben. Ginevra aber blickte nachdenklich zu Boden. ›Wirklich?‹ fragte sie dann, indem sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem vollen Blick ansah.

›Gewiß‹, bekräftigte ich.

Sie schwieg wieder. Dann sagte sie mit ihrer weichen, dunklen Stimme: ›Das freut mich.‹

Inzwischen hatte sich der Saal fast gänzlich geleert; denn die Raststunde war herangekommen, und alles drängte und zwängte sich behufs Erquickung und Stärkung in den Nebenraum, diesen überfüllend. Ich konnte mich daher mit Ginevra ruhig niederlassen, und zwar unweit einer offenstehenden Nebentür, die zur Damengarderobe führte. Vor dieser, in einem ganz kleinen Zimmerchen, war eine äußerst primitive Konditorei eingerichtet; es gab allerlei Backwerk, Orangen und Fruchtsäfte; Eis war nicht zu haben.

›Kann ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?‹ fragte ich.

›Nein, ich danke. Oder doch – um ein Glas Wasser möchte ich bitten.‹

Ich trat zu der alten Frau, die mit verdrießlichem Gesicht bei der Ware saß, begehrte Wasser, und um doch etwas zu erstehen, ließ ich auch einige Orangen auf den Teller legen, den ich Ginevra überreichte.

›Die Orangen sind schön‹, sagte sie. ›Ich werde eine davon nehmen und sie der Mutter bringen.‹

Nachdem sie getrunken hatte, blieben wir noch eine Weile schweigend nebeneinander sitzen. ›Nun aber bin ich bereit‹, sagte sie jetzt, indem sie sich erhob. ›Erwarten Sie mich draußen am Eingang; ich nehme nur meine Sachen aus der Garderobe.‹ [179] Ich eilte nach dem Vestibül, wo mein Mantel hing. Es dauerte nicht lange, so erschien sie, in einen ganz leichten Überwurf gehüllt, ums Haupt ein schwarzes Schleiertuch geschlagen, aus welchem ihr lichtes Antlitz wundervoll hervorschimmerte. Draußen bog sie gleich links ab und schlug einen schmalen Fußpfad ein. Ich wagte es nicht, ihr den Arm zu bieten, und hielt mich in ehrerbietiger Entfernung an ihrer Seite. Es war eine mondlose Nacht; aber die Sterne flimmerten, und man konnte die Landschaft deutlich wahrnehmen.

›Sehen Sie die Reihe kleiner Häuser?‹ begann sie. ›Dort wohne ich.‹

›Das ist noch näher, als ich gedacht. Nur mehr ein paar Augenblicke – und Sie sind mir entschwunden. Vielleicht für immer.‹

Sie erwiderte nichts.

›Soll ich Sie wirklich nicht mehr wiedersehen?‹

›Ich werde die Mutter fragen,‹ sagte sie nach einer Pause.

›Und wie werde ich den Bescheid erfahren?‹

Sie schien zu überlegen. ›Kommen Sie morgen um vier Uhr nachmittags in jene Allee.‹ Sie deutete auf zwei Reihen kahler Bäume, die sich dunkel quer über die Felder gegen den Fluß hinzogen. ›Es ist mein Lieblingsweg; besonders in dieser Jahreszeit, wo es hier herum noch ganz einsam ist. Wollen Sie?‹

›Sie fragen? – –‹

›Es dürfte morgen gutes Wetter sein,‹ fuhr sie, stillstehend, mit einem Blick nach dem Himmel fort; ›auch schlechtes würde mich nicht abhalten. Jetzt aber bleiben Sie zurück. Gewahren Sie die erleuchteten Fenster? Meine gute Mutter wacht noch.‹ Sie reichte mir die Hand. ›Also addio! Auf morgen!‹

Sie eilte nach vorwärts, den matten Lichtern entgegen. ›Addio!‹ rief sie leise zurück. Dann klopfte sie leicht an eine Scheibe. Gleich darauf wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen.

[180] Ich aber stand noch eine Weile und spähte nach dem Schatten Ginevras, der sich auf den durchschimmerten Fenstervorhängen abzuzeichnen schien. Endlich trat ich den Heimweg an, die Brust voll seliger Empfindungen, in welchen jede Erinnerung an meine Festungscirce spurlos unterging.

3.

III.

In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittagsstunde entgegensah, läßt sich denken; ich zählte die Minuten und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang solch ein minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen, ganz unvorhergesehene Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr, abzukommen, und mich fast laufend auf den Weg zu machen.

Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen. Die schönste Februarsonne strahlte vom blauen Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn auch die Landschaft noch ihre ganze winterliche Kahlheit aufwies.

Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms mitgenommen und ausgespannt hatte, grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt.

›Also sind Sie doch gekommen‹, sagte sie lächelnd, als ich endlich atemlos und erhitzt vor ihr stand. ›Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln.‹

Ich wollte zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinandersetzen, aber sie unterbrach mich. [181] ›Das tut ja nichts. Sie sind jetzt da – und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab' ich Ihnen eine gute Nachricht, mitzuteilen: meine Mutter will Sie empfangen.‹

›Welch ein Glück!‹ rief ich aus.

›Ich hatte es vorausgesehen,‹ fuhr sie ruhig fort. ›Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe – oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, dann ist sie auch überzeugt, daß es ein sehnlicher und wohlüberlegter ist, auf welchem ich, wenn es not tut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher bloß: wenn du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. – Und Sie meinen es doch redlich?‹ setzte sie hinzu, indem sie mir voll und tief in die Augen sah.

Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und sie mit stummer Beteuerung geküßt.

›Ich habe nicht daran gezweifelt‹, sagte sie in festem Tone. ›Die Offiziere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurteil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über alles geht. – Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; allein der Tag neigt sich doch schon dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten.‹

So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos [182] umzäunten Gärtchen und winzigen Grundstücken unterbrochen, eine Art Vorort, der im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien wohlgehalten und reinlich. In den blanken Scheiben spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Türen.

Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlicher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinanstiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb gerötete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche gleich darauf im Flur an uns vorüberkam und in einer Seitentür verschwand.

›Das war unsere Hauswirtin,‹ sagte Ginevra; ›die Witwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirtschaftet hatte. Sie selbst bewohnt eben nur eine Kammer; alles andere haben wir um ein Billiges gemietet.‹

Sie öffnete eine zweite Seitentür, durch welche wir in eine helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau, die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röte flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob.

›Da ist er, Mamma,‹ sagte Ginevra. ›Ich lasse dich mit ihm allein.‹ Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus.

Ich näherte mich der blassen Frau, die sich wieder gesetzt hatte, und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat ein.

Endlich begann ich: ›Sie waren so gütig, mir zu gestatten – –‹

›Es freut mich, Sie kennen zu lernen‹, erwiderte sie in ziemlich gebrochenem Deutsch. ›Bitte, nehmen Sie Platz.‹

Ich zog einen Stuhl heran.

›Ich weiß nicht,‹ fuhr sie nach einigem Zögern fort, ›ob [183] ich recht getan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir alles mitgeteilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am geratensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit‹ – sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien zu hören ist – ›Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer höchst peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, duch die Verhältnisse im elterlichen Hause dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten habe. Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich einen solchen Verkehr doch stets als Verrat an meinen Angehörigen.‹

Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit.

Sie erriet meine Gedanken und sagte lächelnd: ›Nicht wahr, Sie finden, daß mir Ginevra gar nicht ähnlich sieht? Sie ist ganz nach ihrem Vater geraten. Wenn Sie sich die Mühe nehmen und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen.‹

Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich verblaßtes Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in Offizierstracht der Jägertruppe vor. Aus [184] dem überhohen Frackkragen ragte ein fein geschnittener, höchst ausdrucksvoller Kopf mit lichtblonden Haaren und blauen Augen. Je länger ich das Bild bei dem ungewissen Dämmerlichte des Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge Ginevras daraus entgegen.

›Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm,‹ fuhr die Frau auf meine laute Beistimmung fort; ›auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist.‹

›Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!‹ rief ich aus.

›Nun, vielleicht sind wir beide bestochene Richter. Aber soviel glaube ich wohl selbst sagen zu dürfen: sie ist ein vortreffliches Mädchen und verdient glücklich zu werden.‹

›Sie wird es auch gewiß!‹

›Das steht in Gottes Hand.‹

Ein Schweigen trat ein, währenddessen man aus der Küche herein das Knistern des Herdfeuers, sowie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte.

›Ginevra bereitet den Kaffee‹, sagte Frau Maresch. ›Sie muß ja überall mit angreifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Not – und was noch schlimmer, in Abhängigkeit von fremden Menschen geraten sein.‹

›Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?‹ fragte ich.

›Nein – wenigstens niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind schon vor Jahren rasch nacheinander weggestorben. Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und mich dann [185] in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich denken können, trotz meines ehelichen Glückes sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anderswohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten – und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen.‹

So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: ›Ich sehe, daß Sie aus vornehmer Familie sind. Und Emil heißen Sie – Emilio. Ein schöner und mir wohlbekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt.‹

In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand eine kleine, grün lackierte Schirmlampe, wie sie damals gebräuchlich waren, und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte.

›Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter,‹ sagte sie, die Leuchte niederstellend, ›und ich kann den Kaffee bringen, der eigentlich längst fertig ist – und zu welchem Sie‹ – sie wandte sich mit einer Verbeugung an mich – ›eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen.‹

Und nun begann sie rasch, ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch nahe an die Mutter heran und breitete ein frisches [186] Tuch darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kanne und Tassen, welch letztere sie sorgsam füllte und lächelnd kredenzte.

Nachdem das Vesperbrot eingenommen war, stand sie auf und zündete eine Kerze an. ›Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen‹, rief sie. ›Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt.‹

Sie öffnete eine Seitentür, die ich schon mehrmals ins Auge gefaßt hatte, und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein, so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mttelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links davon waren zwei eingerahmte Tuschzeichnungen angebracht, welche südliche Landschaften darstellten. Knapp am Fenster ein mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe dabei ein anderes kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöpfen ein Vogelbauer stand. Die eine Seitenwand deckte ein Kasten, die andere ein Regal, das sich vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt zeigte.

›Nun, hab' ich es mir nicht hübsch eingerichtet?‹ fragte Ginevra. ›Wenn ich hier nähe, kann ich in unseren Garten blicken. Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier‹ – sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief – ›das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lustig. Und dort‹ – sie beleuchtete das Regal – ›dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborner – oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Er kannte kein anderes Vergnügen. In seinen jüngeren Jahren war er auch Zeichner; jene Landschaften dort sind von ihm [187] in Neapel aufgenommen worden, denn er hat im Jahre Zwanzig die österreichische Intervention mitgemacht.‹

Ich hatte inzwischen einen der Bände herausgezogen und aufgeblättert.

›Lesen vielleicht auch Sie italienisch?‹ forschte sie.

›Ich sollte wohl; denn es wurde im Kadetteninstitute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht.‹

›Wir wollen miteinander lesen, dann wird es schon gehen. – Hast du gehört, Mamma,‹ rief sie ins Zimmer hinein, ›daß ihm unsere Sprache nicht fremd ist?‹

›Ho compreso; che piacere!‹ ließ sich die Mutter vernehmen.

›Sie können sich übrigens denken,‹ fuhr Ginevra fort, ›daß ich selbst das meiste von dem nicht kenne, was in den Büchern steht; es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen.‹

Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich jetzt zu verabschieden.

›Auf Wiedersehen‹, sagte die Mutter. ›Sia benedetta la sua intrata da noi.‹

Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und trat aus der Tür, von Ginevra mit dem Lichte begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus.

›Sie lieben mich also?‹ fragte sie mit einem innigen Blick.

Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlossen sich zu einem langen Kusse zusammen.«

4.

IV.

»Und nun«, fuhr der Oberst fort, »begann für mich eine selige Zeit. Ich suchte, so oft es nur anging, das kleine Haus auf, dessen Stille und Abgeschlossenheit den Reiz eines Verhältnisses [188] erhöhte, das sich unter dem sanften Auge der Mutter immer inniger entfaltete – und dabei das reinste und lauterste blieb, das sich denken läßt. Denn bei aller Leidenschaftlichkeit, mit welcher mir Ginevra ihre junge Seele erschloß, erwies sie doch eine jungfräuliche Hoheit und Würde, die mich mit Ehrfurcht und heiliger Scheu erfüllte. Ich kam gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Dann saß Ginevra am Nähtisch und ich neben ihr, plaudernd oder still in ihren Anblick versunken, und wenn die Lampe angezündet war, lasen wir, während die Mutter zuhörte, in den Büchern des Vaters: Sonette Petrarcas, leicht faßliche Gesänge aus der divina commedia, und hin und wieder ein Bruchstück von Meister Ludovicos phantastischem Gedicht. Aber nicht lange mehr duldete es uns in den Stubenräumen. Denn es war Frühling geworden und sonnige, warme Tage lockten uns vor das Haus. Die Mutter ließ sich ihren Lehnstuhl in das Gärtchen schaffen, wo bereits das erste Grün schimmerte und die Knospen dem Aufbrechen nahe waren. Dort weilte sie, während wir an deren in das Feld hinausschritten, nach den Lerchen empor spähten, die schmetternd von den Schollen aufstiegen, und Ginevra die ersten Veilchen sowie andere frühe Blumen zum Strauße pflückte, den sie mir beim Abschied mitgab. So lebten wir wie in einem schönen Traum dahin und ahnten nicht, daß die Tage des Glückes gezählt seien .....

Als ich einmal bei einbrechender Nacht nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief meines Oheims vor, worin mir dieser mitteilte, daß es seinem Einflusse möglich geworden sei, meine Versetzung zu einem in Wien befindlichen Regimente zu erwirken. Und zwar mit gleichzeitiger Beförderung zum Leutnant; eine sprungweise Vorrückung, wie sie in jener Zeit durch die Gunst eines befreundeten Regimentsinhabers nicht allzu schwer zu erreichen war. Er hoffe daher, so schloß er, mich recht bald umarmen zu können. Unter anderen Umständen wäre diese Nachricht eine höchst erfreuliche gewesen; in diesem Augenblick [189] aber fuhr sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf mich nieder. Was sollte mir jetzt eine Beförderung? Was eine Versetzung nach Wien und das Wiedersehen meines Oheims, wenn mich dies alles so rasch und plötzlich von der Geliebten wegriß!? Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, und schon am nächsten Morgen wurde ich von der Angelegenheit auch dienstlich verständigt, mit dem Beisatze, daß ich binnen dreier Tage an meinen neuen Bestimmungsort abzugehen habe. Also nur drei Tage, drei kurze Tage waren mir noch vergönnt – und auch diese, wie ich bei näherer Überlegung erkannte, nur in den allerkleinsten Bruchteilen. Denn gerade bei meinem Scheiden aus dem Regiment war ich in dieser Spanne Zeit mehr als je an den kameradschaftlichen Verkehr gebunden, ganz abgesehen von den sonstigen Verpflichtungen, die mein so unerwarteter Abgang mir auferlegte. Ich konnte also höchstens noch einen vollen Abend für mich retten. Der heutige war schon von einer gemeinsamen Fechtübung in Anspruch genommen, welche allwöchentlich stattfand und mit einer Tafel im Kasino zu schließen pflegte. Drüben war man davon unterrichtet und erwartete mich daher nicht. Aber die Stunden, die knapp vor mir lagen, konnte ich erhaschen und machte mich sofort auf den Weg nach Leitmeritz. Es war ein schwerer Gang; mußte ich doch die Frauen von der so bald bevorstehenden Trennung in Kenntnis setzen!

Ich traf die Mutter allein zu Hause. Sie war in letzter Zeit etwas zu Kräften gelangt und schien eben beschäftigt, Verschiedenes im Zimmer zu ordnen.

›Ah, Emilio!‹ rief sie überrascht, als sie mich eintreten sah. ›Wie schön, daß Sie wieder einmal vormittags kommen und uns für den verlorenen Abend entschädigen. Ginevra besorgt eben ein paar kleine Einkäufe in der Stadt; sie wird jedoch gleich wieder zurück sein. Aber was haben Sie denn?‹ fuhr sie mit besorgten Blicken fort, da sie meine ernste und niedergeschlagene Miene wahrnahm. ›Ist vielleicht etwas vorgefallen?‹

[190] ›Allerdings, carissima madre‹ – ich pflegte sie stets so zu nennen – ›allerdings ist etwas vorgefallen. Etwas ganz Unerwartetes, Trauriges – –‹ Und nun teilte ich ihr zögernd und mit aller Vorsicht mit, was nicht verschwiegen bleiben konnte.

Sie mußte sich setzen. ›Mein Gott,‹ brachte sie mühsam hervor, ›so rasch, so plötzlich! Und was wird Ginevra dazu sagen? Sie ist zwar ein starkes Mädchen – aber dennoch – – Ich glaube, da ist sie schon‹, setzte sie aufhorchend hinzu.

In der Tat waren draußen die leichten Schritte Ginevras zu vernehmen, und gleich darauf kam sie selbst ins Zimmer geeilt, das Antlitz von der Luft gerötet, ein Körbchen am Arm, das sie rasch beiseite stellte, um mir dann, wie gewöhnlich, an die Brust zu fliegen.

›Da bist du ja!‹ rief sie. ›Ich hab' es gewußt! Den ganzen Weg über ist es mir im Geiste vorgegangen, daß ich dich beim Nachhausekommen hier treffen würde!‹

›Mit deinen Ahnungen!‹ sagte die Mutter. ›Wenn du wüßtest, was ihn hierher geführt –‹

Sie erblaßte leicht. ›Was willst du damit sagen,Mamma?‹ fragte sie mit stockender Stimme, indem sie uns beide mit atemloser Spannung ansah.

Und nun erfuhr auch sie, was da kommen sollte.

Bei jedem Worte, das sie vernahm, wurde sie bleicher, ihre Arme sanken langsam an den Hüften hinab; so stand sie eine Weile wie erstarrt. Dann aber strich sie mit der Hand langsam über die Stirn und sagte: ›Wir hätten darauf gefaßt sein können, daß dies früher oder später geschehen würde. Und da es nicht zu ändern ist, so wollen wir es mit Standhaftigkeit tragen. Wann mußt du schon fort?‹

›In drei Tagen.‹

›Das ist freilich bald, sehr bald. Aber gleichviel. Wien ist nicht aus der Welt, und du wirst mich dort wie hier lieben.‹

›Nun, wer weiß,‹ warf die Mutter mit erzwungener Scherzhaftigkeit ein, ›ob er uns in Wien nicht vergißt.‹

[191] ›Wie kannst du nur so sprechen, madre‹, brauste sie auf. ›Als ob du nicht aus deinem eigenen Leben wüßtest, daß selbst die größte Entfernung, die längste Trennung an Gefühlen, wie die unseren, nichts zu ändern vermögen! Im Gegenteil werden sie dadurch nur gefestigt. Nicht wahr?‹ – wandte sie sich an mich und schlang den Arm um meine Schultern – ›nicht wahr, wir gehören einander an fürs Leben?‹

›Für ewig!‹ erwiderte ich und küßte sie auf die Stirn. ›Und sieh‹, fuhr ich, plötzlich von einem tröstlichen Gedanken überkommen, fort, ›vielleicht reißt mich das Schicksal in bester Absicht von deiner Seite. Ich treffe in Wien mit meinem Oheim zusammen, der ein vielvermögender Mann ist. Er liebt mich wie einen Sohn und wird sich gewiß bestimmen lassen, irgend etwas für unsere Zukunft zu tun. Wir sind ja beide noch jung und können warten.‹

›Ja,‹ erwiderte sie, ›wir können und wollen warten.‹

Aber schon hatte mich die Empfindung überkommen, eine grundlose Hoffnung ausgesprochen zu haben. Gerade von meinem Oheim hatte ich, fürs erste wenigstens, gar nichts zu erwarten; vielmehr hatte ich die Überzeugung, daß er sich sofort feindselig gegen ein Verhältnis stellen würde, das ihm bei seinen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich meiner militärischen Laufbahn durchaus nicht wünschenswert erscheinen konnte. Um dieses unangenehme Bewußtsein zu übertäuben, sagte ich rasch: ›Und wie es auch sein möge, jedenfalls komme ich nach den Waffenübungen um einen Urlaub ein, den man mir nicht verweigern kann. Ich kehre also ganz gewiß im Spätherbst zurück und werde in der Festung bei einem Freunde oder hier in einem Gasthofe wohnen. Dann können wir uns einige Wochen für die Trennung schadlos halten.‹

›Und uns um so inniger des Wiedersehens freuen‹, setzte sie hinzu, mir tief in die Augen blickend. ›Aber heute bleibst du doch?‹

[192] ›Du weißt, ich kann nicht; höchstens bis drei Uhr. Es wird uns überhaupt nur ein Abend mehr vergönnt sein – der morgige. Ich werde so früh wie möglich kommen – zum Abschied.‹

›Zum Abschied‹, wiederholte sie still. ›Aber heute kannst du wenigstens mit uns zu Mittag essen. Ich werde gleich das Nötige veranlassen.‹ Und sie erhob sich, um nach der Küche zu sehen, wo sich bereits die Hauswirtin am Herde zu schaffen machte.

›Merkwürdiges Mädchen!‹ sagte die Mutter, als wir jetzt allein waren, mit feuchten Augen. ›Diese Seelenstärke! Man würde es nicht für möglich halten. Ich selbst war bei gleichem Anlaß in Tränen aufgelöst und vermochte mich tagelang nicht zu fassen. Und sie! Sie ist wirklich ganz ihr Vater.‹

Später deckte Ginevra, bleich zwar, aber ruhig wie sonst, den Tisch, und wir setzten uns zum Mahle, von welchem unter einsilbigem Gespräch nur wenig berührt wurde. Auch später blieb es ganz still in der vertrauten Stube. Ich saß mit Ginevra Hand in Hand auf einem kleinen Sofa, der Mutter gegenüber, die eine Strickarbeit vorgenommen hatte und uns dabei von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtete. Endlich war es drei Uhr und ich erhob mich.

›Also morgen‹, sagte Ginevra, indem sie mir die Hand drückte.

›Morgen – zum letztenmal!‹

›Nicht zum letztenmal!‹ sprach sie kraftvoll.

Als ich aber jetzt der Mutter die Hand reichte und mich der Tür zuwandte, da brach in ihr der zurückgedämmte Schmerz mit elementarer Gewalt hervor. Laut aufweinend stürzte sie auf mich zu und umschloß mich mit den Armen.

So standen wir lange, während sie mich krampfhaft festhielt und mit ihren heißen Tränen benetzte; dann riß ich mich los.«

5.

[193] V.

Der Oberst hielt inne und blickte eine Zeitlang schweigend vor sich hin. »Ich möchte am liebsten meine Geschichte hier abbrechen,« sagte er dann; »denn die Rolle, die ich nunmehr zu spielen beginne, ist nichts weniger als glänzend. Aber ich will mir die Buße auferlegen und im Kontext fortfahren.

Der Abschied war ein tief ergreifender gewesen. Ich hatte Ginevra beim Scheiden ein Ringlein mit blauem Stein gegeben, welch letzterer im Geschmack jener Zeit ein kleines Herz vorstellte. Sie selbst löste das goldene Kreuz, das sie beständig trug, vom Halse los und reichte es mir. ›Nimm!‹ sagte sie. ›Es ist ein Andenken meines Vaters; das einzige Schmuckstück, das ich von ihm habe. Schon seine Mutter hat es getragen. Trag' es jetzt du als Erinnerung an mich, bis wir wieder vereint sind.‹

Ich kam mir damit wie gefeit vor und fühlte, wie siegreich das Bild Ginevras, deren im Trennungsschmerz zitternde Gestalt, deren bleiches, verweintes Antlitz ich während der Reise beständig vor Augen hatte, allen neuen Eindrücken standhalten würde. Es waren anfänglich nicht allzu viele. Denn fürs erste galt es, im Regiment, wo man den eben nicht erwünschten Einschub mit mißtrauischer Zurückhaltung empfangen hatte, festen Fuß zu fassen, was mir eine doppelt eifrige Diensteserfüllung zur Pflicht machte. Auch hatte ich in Wien keine Anverwandten außer meinem Onkel, und der war ein eingefleischter alter Hagestolz, welcher, trotz seiner hochgestellten Verbindungen, der sogenannten Gesellschaft mit barscher Rücksichtslosigkeit aus dem Wege ging. Seine Erholung war, allabendlich ein vielgerühmtes Gasthaus in der innern Stadt aufzusuchen, wo er sich im Kreise einiger Alters- und Gesinnungsgenossen nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebte. Da hatte er nun seine Freude daran, mich dort einzuführen und, so oft es anging, auf das köstlichste zu bewirten, [194] wobei der Champagner nicht gespart wurde. So war meine freie Zeit fast ausschließlich von ihm in Anspruch genommen, höchstens, daß ich hin und wieder einmal das Theater besuchte. Dabei war und blieb aber meine größte Freude der Briefwechsel mit Ginevra. Wir schrieben einander regelmäßig alle acht Tage, was unter den damaligen Verhältnissen dem heutigen täglichen Schreiben gleichkam, und es läßt sich nicht sagen, mit welcher Aufregung ich jeden Brief Ginevras erbrach, mit welchem Entzücken ich ihn las – und wieder las .....

So waren mehr als drei Monate verstrichen, als der Adjutant des Bataillons, bei welchem ich stand, schwer erkrankte und ich beauftragt wurde, einstweilen seine Dienstgeschäfte zu übernehmen. Der kommandierende Major, ein Baron Dumont, stammte aus einer französischen Emigrantenfamilie und galt als höchst unfähiger Mann, dem allerdings eine gewisse Gutmütigkeit nachgerühmt wurde. Da er des deutschen Idioms niemals ganz mächtig geworden, hing er gar sehr von seinem Adjutanten ab, den er übrigens auch zu einer Art persönlichen Hofdienstes heranzuziehen liebte. Als schlechter Reiter sah er es gerne, wenn man seine schönen Pferde tummelte; bei Spaziergängen ließ er sich begleiten, und abends war man ein für allemal zum Tee gebeten, wogegen man sich freilich herbeilassen mußte, stundenlang mit ihm Pikett oder Ecarté zu spielen, das einzige Vergnügen, das er kannte. Er war mit einer polnischen Gräfin verheiratet, die zur Zeit meines Eintreffens beim Regiment auf einem Gute in der Nähe Lembergs sich befand, nunmehr aber eines Tages ganz plötzlich in Wien erschien. Beim ersten Anblick dieser Frau hatte ich eine eigentümliche Empfindung; ich wußte nicht, war es Schreck oder Wohlgefallen – vielleicht beides zusammen. Die Gräfin mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war bereits leicht verwittert; bei näherer Betrachtung jedoch zeigte sich ein reizendes Profil, und die blassen Lippen enthüllten im Lächeln zwei Reihen der köstlichsten Zähne. Von [195] nicht allzu hohem Wuchse, zeichnete sie sich durch etwas langsame, aber ungemein graziöse Bewegungen aus; Hände und Füße waren die schönsten, die ich je gesehen. Ihr reiches Haar war von einem matten, glanzlosen Braun, und auch die grauen, von den Lidern halb verdeckten Augen hatten etwas Erloschenes, das plötzlich in ein überraschendes Aufleuchten übergehen konnte. Dazu die weiche, fremdländische Aussprache, die vornehme Ungezwungenheit einer vollendeten Weltdame – und man mußte sich sagen, daß man sich hier einer höchst verführerischen Erscheinung gegenüber befinde. Ihr Gatte schien sich durch ihre Anwesenheit etwas beengt zu fühlen, und es war ihm sichtlich recht, daß sie mich mit großer Liebenswürdigkeit aufforderte, meine Abendbesuche nach wie vor fortzusetzen. So spielten wir denn jetzt zu dreien Whist mit dem Strohmanne, und nach dem Tee plauderten wir, wobei die Hausfrau es liebte, sich in träger Behaglichkeit auf einer Chaiselongue auszustrecken und Zigaretten zu rauchen, was damals noch etwas ganz Unerhörtes war. Dieses Gehaben behielt sie auch bei, wenn zuweilen noch andere Herren geladen waren; sie liebte es dann, in solch ungezwungener Weise Cercle zu halten. Damen wurden niemals beigezogen; die Gräfin erklärte, sie sei noch nicht in der Verfassung, eigentliche gesellschaftliche Beziehungen aufzunehmen. Gegen mich erwies sie eine Art mütterlicher Vertraulichkeit, die sich oft zu allerlei unbefangenen kleinen Zärtlichkeiten steigerte. Sie strich mir, auch in Gegenwart ihres Gatten, das Haar zurecht, berührte, nach polnischer Sitte, schmeichelnd meine Schulter oder ließ im Gespräch ihre Hand wie unbewußt lange auf meiner ruhen, wobei mich stets heißer Schauer durchrieselte.

Es wäre nun an der Zeit gewesen, öfter das goldene Kreuzchen zu befühlen, das ich an mir trug. Nicht etwa, daß das Bild Ginevras durch den intimen Verkehr mit der schönen Frau getrübt oder gar verwischt worden wäre; nein, es leuchtete mir noch immer in voller Klarheit entgegen, aber aus viel weiterer [196] Entfernung als früher, wo es mich sozusagen auf Schritt und Tritt begleitet hatte.

Eines Abends, als wir wieder beim Whist saßen und ich mir einige Fehler im Spiel hatte zu schulden kommen lassen, sagte die Gräfin: ›Aber was treiben Sie denn, mon enfant? Sie leiden ja an einer unverantwortlichen Zerstreutheit. Sind Sie vielleicht gar verliebt?‹

›Du stellst Gewissensfragen, Lodoiska‹, bemerkte ihr Gatte mit seinem stereotypen Lächeln.

›Und wenn dem so wäre, Gräfin?‹ entgegnete ich halb im Ernst, halb im Scherz.

›So würd' ich es begreiflich finden‹, antwortete sie. ›Denn die Liebe ist das Recht der Jugend. Und wo weilt der Gegenstand Ihrer Gefühle? Hier in Wien?‹

›Keineswegs. Weit – sehr weit von hier entfernt.‹

Sie erwiderte nichts und steckte hastig ihre Karten ineinander. ›Ist es ein junges Mädchen?‹ fragte sie nach einer Weile.

›Das versteht sich wohl von selbst‹, sagte der Major.

›Schön?‹ fuhr sie kurz fort.

›Ungemein‹, warf ich hin, den angeschlagenen Ton festhaltend.

›Brünett?‹

›Blond.‹

Sie schwieg und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiele zu. Als der Robber beendet war, stand sie auf und sagte, sie leide heute an Migräne und wolle sich deshalb zeitig zur Ruhe begeben. So brach auch ich früher als sonst auf, vom Major wie immer mit einem wohlwollenden Händedruck verabschiedet.

Von jenem Abend an beobachtete sie gegen mich eine gewisse Zurückhaltung. Sie nahm seltener am Spiele teil und zog sich währenddessen in den anstoßenden Salon zurück, wo sie auf dem Klavier phantasierte oder Stücke von Chopin spielte. Dann kam sie wieder herein und nahm ihre gewohnte Lage auf der Chaiselongue ein. Wenn ich nach ihr hinsah, konnte[197] ich bemerken, daß ihr Blick mit einem ganz seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet war.

Dies alles verfehlte nicht, mich in eine gewisse Unruhe zu versetzen, die auf den Briefwechsel mit der entfernten Geliebten nicht ohne Einfluß blieb. Es war mir, als hätte ich etwas zu verschweigen, geheim zu halten, und infolgedessen gerieten meine Briefe weniger rund und fließend als früher; sie wurden gezwungener, fragmentarischer. Ginevra aber schien nichts davon zu bemerken. Ihre Zeilen atmeten die gewohnte gleichmäßig ernste Leidenschaftlichkeit, die sich in Worten jeder Überschwenglichkeit enthielt, jedoch die reinsten und vollsten Herzenstöne anschlug. Und immer kam die stets wachsende Freude darüber zum Ausdruck, daß nun die Zeit näher und näher rücke, um welche ich auf Urlaub in Leitmeritz erscheinen würde.

Das aber war es, was meine Unruhe nur noch steigerte. Denn je reiflicher ich diese Angelegenheit erwog, desto deutlicher wurde mir, zu welch unüberlegtem Versprechen ich mich damals hatte hinreißen lassen. Wie konnte ich, nachdem ich mich kaum sechs Monate beim Regiment befand, schon um einen Urlaub nachsuchen – und das gerade jetzt, wo ich mich in einer besonderen dienstlichen Verwendung befand, deren Ende sich gar nicht absehen ließ; denn der Adjutant, obwohl schon auf dem Wege der Genesung, bedurfte noch einer längeren Erholung. Und ganz abgesehen von diesen so gewichtigen Bedenken: ich mußte mein Gesuch doch irgendwie begründen. Womit? Mit Familienangelegenheiten? Man wußte ja, daß mein Oheim in Wien lebte, und wie würde sich dieser, den ich jetzt ohnehin selten genug sah, zu meiner Absicht verhalten? Gewiß verweigernd, um so verweigernder, wenn ich ihn, wozu ich einen Augenblick schon entschlossen gewesen, in den ganzen Sachverhalt einweihte. Ich war also in der Tat ganz ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte.

In dieser peinlichen Gemütslage begab ich mich an einem nebligen Oktoberabende, nachdem ich einen einsamen und gedankenvollen [198] Rundgang um das Glacis gemacht, in die Wohnung des Majors, der ich nun schon drei Tage ferngeblieben war. Im Spielzimmer brannte bereits die Astrallampe; im Halbdunkel des Salons aber saß Gräfin Lodoiska am Flügel, dessen Töne mir schon beim Eintritt entgegengeklungen hatten.

Als sie jetzt mein Erscheinen gewahr wurde, rief sie mir, ohne sich zu unterbrechen, zu: ›Kommen Sie nur da herein. Es ist mir draußen zu hell; die Lampe tut meinen Augen weh.‹ Dann erhob sie sich und trat mir, von dem Schein eines leichten Feuers, das im Ofen flackerte, phantastisch beleuchtet, entgegen. Sie trug ein einfaches, knapp anliegendes Tuchkleid, von dessen dunklem Blau sich ein weit ausgelegter weißer Halskragen und hohe Manschetten glänzend abhoben. Ihr volles, Haar, auf welches sie scheinbar wenig Sorgfalt verwendete, umrahmte in losen Scheiteln ihr schimmerndes Antlitz.

›Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen‹, begann sie in melancholischem Tone. ›Dumont hat notgedrungen eine Einladung angenommen. Ich selbst ließ mich entschuldigen; denn ich bin so gar nicht gestimmt, in die Welt zu gehen.‹

Sie hatte sich bei diesen Worten auf einen Pouf niedergelassen, der in der Mitte des Salons stand, und lud mich mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.

›Ich bin seit einiger Zeit auch nicht in der besten Stimmung‹, sagte ich, mich setzend.

›Ich habe es wohl bemerkt‹, erwiderte sie leise und nachdenklich. ›Vertrauen Sie mir doch an, was Sie drückt.‹

Es wurde mir nicht leicht, darauf zu antworten. ›Nun,‹ sagte ich endlich, ›vielleicht entsinnen Sie sich noch meiner Erklärungen – oder eigentlich Andeutungen über eine Herzensangelegenheit – –‹

›Jawohl; ich erinnere mich.‹

›Ich hatte in dieser Hinsicht,‹ fuhr ich zögernd fort, ›um einen Urlaub einkommen wollen, sehe aber, daß sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen –‹

[199] ›Dann denken Sie nicht weiter daran,‹ warf sie leicht hin.

›Ja, wenn das nur so ginge. Ich habe eine bestimmte Zusage gemacht – man erwartet mich – –‹

›Nicht jede Erwartung kann erfüllt werden. Aber beichten Sie mir, mon enfant,‹ fuhr sie im alten vertraulichen Tone fort, indem sie meine Hand faßte, ›wer ist denn eigentlich die junge Dame? Ist sie von guter Familie? Haben Sie ernste Absichten?‹

Es wurde mir wieder schwer, zu antworten. ›Allerdings hege ich solche – obgleich –‹

›Sich auch in dieser Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen?‹ fügte sie rasch bei. ›Ich verstehe. Es ist ein armes Mädchen, das Sie nicht sofort zur Ihrer Frau machen können. Aber sagen Sie: haben Sie ein bindendes Versprechen gegeben? Oder wäre‹, fuhr sie, mir höchst ausdrucksvoll in die Augen sehend, fort, ›wäre das Verhältnis etwa schon so weit gediehen, daß Sie durchaus nicht mehr zurücktreten könnten?‹

Ich verstand, was sie meinte. ›O nein!‹ rief ich; ›das ist keineswegs der Fall.‹

›Dann ist es ja ein wahres Glück, daß Sie hier zurückgehalten werden, lieber Freund! Bedenken Sie, wie gefährlich für Sie – und auch für Ihre Geliebte ein solches Wiedersehen wäre. Es könnte Ihnen dann wirklich die Verpflichtung erwachsen, das Mädchen zu heiraten. Und wie wollten Sie das anfangen? Sie wären vielleicht gezwungen, Ihre ganze Karriere aufzugeben, wie schon mancher vor Ihnen – zu ewiger Reue. Und das alles schon in Ihren Jahren! Nein, nein; schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn!‹

Ich vernahm schon eigentlich nicht mehr recht deutlich, was sie sprach. Denn sie war mir ganz nahe gerückt; ihr warmer Odem, ihr duftiges Haar streiften meine Wange. Ich fühlte, wie es sich wie ein schwerer, betäubender Schleier über mich legte. Ich erwiderte nichts und seufzte nur tief auf.

›Armes Kind,‹ sagte sie, indem sie mir das Haar aus [200] der Stirn strich, ›armes Kind, lieben Sie sie denn wirklich so sehr?‹

Sie mochte in dem Blick, mit dem ich sie jetzt ansah, ein ganz anderes Geständnis lesen, und ein Ausdruck grausamen Triumphes überflog ihre Züge.

›Sie werden alles vergessen, wenn Sie bei uns bleiben. Und Sie bleiben bei uns – nicht wahr?‹

Sie hielt mir die Hand hin, die ich ergriff und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.

Sie ließ es lächelnd geschehen; dann drückte sie ihr Haupt fest an meine Schulter, und flüsterte: ›Endlich!‹

Ich sank ihr zu Füßen.

6.

VI.

Mehr als ein Jahr war seitdem verstrichen, ich selbst aber ganz in dem Taumel einer Leidenschaft untergegangen, die bereits anfing, mich mit all den Qualen zu erfüllen, welche ähnliche Beziehungen mit sich bringen. Ich hatte damals Ginevra ganz kurz mitgeteilt, daß es mir unmöglich sei, einen Urlaub anzutreten; die Gründe würde ich in meinem nächsten Briefe ausführlich auseinandersetzen. Das verschob ich aber von Tag zu Tag – um es schließlich zu unterlassen. Was hätte ich auch schreiben sollen? Zwei Briefe, die inzwischen von Ginevra eingetroffen waren – den Empfang des zweiten hatte ich auf einem Schein bestätigen müssen – fand ich gar nicht den Mut zu lesen, sondern schob sie unerbrochen in ein Fach meines Schreibtisches und legte das Kreuz dazu, auf daß es mich nicht länger an meine Treulosigkeit mahne. So gebärdete ich mich wie der Vogel Strauß, und da nun auch aus Leitmeritz keine weitere Kundgebung mehr eintraf, so hielt ich mit jenem Leichtsinn der Unreife, der einem in späteren Jahren ganz unfaßlich vorkommt, die Sache für wohl oder übel abgetan, und die Stimme des Gewissens sprach immer seltener und schwächer.

[201] Da, an einem strahlend kalten Januartage, als ich eben im Begriffe war, an einer Schlittenpartie in den Prater teilzunehmen, welche Lodoiska, die dieses Vergnügen sehr liebte, vorgeschlagen hatte, wurde mir – ich trat gerade aus meiner Wohnungstür – ein Brief überbracht. Ein Blick auf die Adresse genügte, um mich erkennen zu lassen, daß er von der Mutter Ginevras war. Erschrocken schob ich ihn rasch in die Brusttasche meines Mantels, entschlossen, mir durch diese unerwartete Mahnung die Freude des Tages nicht verkümmern zu lassen. Als ich spät in der Nacht nach Hause kam und den Brief hervorlangen wollte, fand er sich nicht mehr vor; er mußte, da ich den Mantel inzwischen mehrmals abgelegt, der Tasche entglitten sein. Dieser Verlust berührte mich höchst peinlich. Wer konnte wissen, wem das Schreiben in die Hände gefallen war, und während der nächsten Tage hegte ich die Erwartung, daß es in irgend einer Weise an mich zurückgelangen würde. Aber das geschah nicht, und ich glaubte endlich einen Wink des Schicksals darin zu erkennen. War mir doch so die bittere Wahl erspart geblieben, ob ich den Brief hätte lesen sollen oder nicht; zudem konnte ich mir ja leicht vorstellen, was er enthalten haben mochte. Dennoch wurde durch diesen Zwischenfall mein Gewissen wieder in Aufruhr gebracht, und ich mußte, trotz aller Übertäubungsversuche, in einem fort an die blasse, hinfällige Frau denken, die mir in ihrem mütterlichen Schmerze geschrieben. Mit der Zeit freilich wurden auch diese Nachwirkungen schwächer und gingen endlich ganz vorüber.

So war es, seit ich Theresienstadt verlassen, zum zweiten Male Karneval geworden. Obgleich die Pariser Februarrevolution Europa in Bestürzung versetzt hatte, tanzte man in Wien doch sorglos auf einem Vulkan, dessen Ausbruch in allernächster Zeit bevorstand. Lodoiska, die keine Lust an Bällen zeigte, wollte gleichwohl eine Redoute besuchen, wo damals die Damen weniger durch ihre Toiletten, als vielmehr durch Geist und Witz zu glänzen suchten und sich den [202] Herren gegenüber unter der Larve gerne die Zügel schießen ließen. Lodoiska, in einen rosenroten Domino gehüllt, machte von der Maskenfreiheit den ausgiebigsten Gebrauch und umschwärmte fortwährend einige junge Kavaliere, die sie zu kennen schien. Sie hatte nämlich im verflossenen Sommer ein Landhaus in Hietzing bezogen und war dort wieder mit den Kreisen in Berührung gekommen, denen sie angehörte. Dabei hatten sich für mich bereits mehrfache Anlässe zu beschämender Eifersucht ergeben, die ich um so peinlicher empfand, als ich mich auch sonst mehr und mehr durch ein Verhältnis entwürdigt fand, das der Major, nach Art gewisser Ehemänner, auffallend begünstigte.

Ich war also gegen Morgen höchst mißmutig von der Redoute nach Hause gekommen und hatte dann weit in den Tag hinein geschlafen. Als ich eben mit dem Ankleiden fertig war, erschien mein Diener und meldete, daß eine junge Dame in Trauer mich zu sprechen wünsche.

Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Ginevra! Aber schon hatte ich auch diesen Gedanken mit der Annahme beschwichtigt, daß die Betreffende möglicherweise eine pauvre honteuse sein könne, wie solche nicht allzu selten die Offiziere in Anspruch zu nehmen pflegten. Ich sagte also meinem Diener, er möge die Dame nur ins Nebenzimmer treten lassen.

Als ich, dennoch bangen Herzens, die Tür öffnete, stand sie – stand wirklich Ginevra aufrecht in der Mitte des Zimmers, die Arme, wie es ihre Art war, an den Hüften hinabgesenkt, die Hände leicht ineinandergeschlossen. Sie war auffallend größer geworden, und ihre Formen zeigten sich erst jetzt vollständig entwickelt. Eine elfenbeinartige Blässe lag über ihrem Antlitz, und die Augen hatten den mir bekannten dunkel metallischen Glanz der Erregung. Ihr Haar schimmerte noch goldiger als früher unter dem schwarzen Krepphute hervor.

›Verzeihen Sie,‹ begann sie mit einem leichten Senken des Hauptes, ›daß ich Sie aufgesucht. Es würde nicht geschehen [203] sein, wenn Sie den Brief meiner Mutter einer Antwort gewürdigt hätten.‹

›Den Brief Ihrer Mutter –‹ stammelte ich in atemloser Verwirrung. Und mit einem Blick auf ihre schwarze Kleidung fuhr ich fort: ›Ihre Mutter –‹

›Ist vor zwei Monaten gestorben,‹ sagte sie ernst.

›Mein Gott –‹ erwiderte ich tonlos.

›An einem Rückfall in jene Krankheit, von der Sie ja wissen.‹

Es war, als wollte sie in diese Worte für mich eine Beruhigung legen.

›Mein Gott –‹ wiederholte ich, während sich jetzt ihre Augen langsam mit Tränen füllten. ›Aber ich bitte, setzen Sie sich doch –‹

Sie drückte ihr Tuch an die Wimpern und machte eine kurz ablehnende Bewegung. ›Ich werde Sie nicht lange stören. Ich bin nur gekommen, um eine Bitte auszusprechen, die ich durch meine Mutter an Sie richten ließ. Ich ersuche Sie, mir das Kreuz zurückzustellen, das ich Ihnen gegeben. Sie kennen den Wert, den es für mich hat – und hoffentlich befindet es sich noch in Ihrem Besitz.‹

›Gewiß, gewiß‹, entgegnete ich und wollte an meinen Schreibtisch treten. Aber unwillkürlich hielt ich inne. ›Und Sie, Ginevra – was werden Sie jetzt – –‹

›Ich folge dem Rufe von Verwandten, die in Graz leben; denn in Leitmeritz mag ich nun nicht länger bleiben. Aber ich werde niemandem zur Last fallen, sondern Unterricht im Italienischen erteilen, der in jener Stadt sehr gesucht sein soll.‹

Wie sie jetzt so vor mir stand, ungebrochen von allem, was da geschehen, in mädchenhafter Selbständigkeit, im Vollbewußtsein ihrer Hoheit und Würde, da überkam mich das ganze Gefühl meiner eigenen Erbärmlichkeit und drohte mich zu ersticken. Wie aus einem Sumpfe blickte ich zu ihr empor.

[204] ›Ginevra,‹ rief ich, ›Sie verachten mich – Siemüssen mich aufs tiefste verachten!‹

›Ich verachte Sie nicht‹, entgegnete sie ruhig. ›Was können Sie dafür, daß Sie mich nicht geliebt haben?‹

›O! Nicht geliebt!‹

›Nicht so, wie ich in törichter Zuversicht vorausgesetzt – nicht so, wie ich Sie geliebt. Wie sehr ich durch diese allmähliche Erkenntnis gelitten, werden Sie mir ohne weitere Versicherung glauben. Jetzt aber habe ich überwunden und sehe ein, daß es nicht anders kommen konnte. Daher hege ich auch keine Verachtung, keinen Groll gegen Sie; vielmehr bin und bleibe ich Ihnen dankbar für die erste schöne Täuschung meiner Jugend. Sie war trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens – und wird es wohl in meiner Erinnerung immer bleiben. Und so stelle ich Ihnen auch‹ – sie zog bei diesen Worten einen Handschuh halb ab – ›den Ring, den Sie mir damals gaben, nicht zurück – wie ich es vielleicht sollte. Ich werde ihn tragen bis ans Ende meiner Tage.‹

In mir wogten die unaussprechlichsten Gefühle.

›Ginevra!‹ rief ich leidenschaftlich und wollte, ihre Hand erfassend, vor ihr niederknieen.

Sie trat rasch einige Schritte zurück. ›Was soll das?!‹ rief sie mit herber Stimme. ›Es ziemt sich nicht zwischen uns.‹

›Verzeihen Sie! Und doch, wenn Sie – wenn Sie vergessen könnten – –‹

Sie zog die Brauen zusammen. ›Nun, nun, sprechen Sie weiter!‹

›Es könnte noch alles gut werden‹, hatte ich sagen wollen. Aber ich brachte die Worte nicht mehr hervor. Denn ich empfand, wie hohl und nichtig eine solche Versicherung aus meinem Munde klingen müsse, und die unklare Vorstellung eines versöhnenden Ausgleiches, die sich meiner bemächtigt hatte, ging unter in dem Bewußtsein vollständiger Unkraft. Ich schwieg.

Sie betrachtete mich mit einem Blick des Mitleids. ›Sehen [205] Sie, Sie wissen selbst nicht, was Sie sagen sollen, und fühlen, daß wir für immer geschieden sind. Und nun bitte ich: das Kreuz.‹

Keiner Erwiderung fähig, ging ich an den Schreibtisch, suchte es hervor, und reichte es ihr. Sie nahm es und wickelte mit zitternder Hand die Papierhülle los. In ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich, als jetzt ihr Blick auf das matt schimmernde Gold fiel. Ich sah, wie sie sich gewaltsam beherrschte, um nicht in Tränen auszubrechen. Ein Schüttern ging durch ihren ganzen Körper, sie mußte sich setzen. ›Mein Gott! Mein Gott!‹ sagte sie still. Dann stützte sie die Stirn mit der Hand und begann leise zu weinen.

Ich wagte nicht zu atmen.

›Es ist vorüber‹, sagte sie endlich, indem sie aufstand, und sich die Augen trocknete. ›Leben Sie wohl!‹

Noch einmal war es mir, als sollte ich die Hand, die sie mir jetzt reichte, nicht wieder loslassen, sollte die herrliche Gestalt an mich ziehen, wie einst. Sie schien es zu fühlen, und rasch sich mir entreißend, schritt sie der Tür zu.

›Ginevra!‹ stieß ich hervor und wollte sie zurückhalten. Aber sie winkte mir heftig abwehrend zu und verschwand. Ich sank auf den Stuhl, den sie eingenommen hatte, und blieb regungslos sitzen .....

Bald darauf folgten jene Märztage, deren stürmische Ereignisse auch mich über mich selbst hinausrissen. Freilich in einem anderen Sinne als diejenigen, die damals das Banner der Freiheit entfalteten. Wir waren eben Soldaten und erfüllten unsere Pflicht. Ich selbst stand noch bei den Truppen, die Wien belagerten. Dann kam der ungarische Feldzug mit seinen wechselvollen Geschicken und blutigen Schlachtfeldern – und als spätere Jahre über so Vieles den Schleier der Vergessenheit breiteten, war auch über meine jugendlichen Herzenskämpfe das Gras gewachsen.«


[206] * * *


»Und haben Sie nichts mehr von Ginevra gehört?« fragte man nach einer Weile.

»Allerdings; ich war in der Lage, Erkundigungen einzuziehen. Sie lernte in Graz einen jungen Triestiner kennen, der sich im Laufe der Zeit eine sehr glänzende Stellung in Ägypten gemacht. Sie hat ihn geheiratet. Auch gesehen glaube ich sie zu haben – und zwar während der Wiener Weltausstellung in einem offenen Wagen vorüberfahren mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter. Es ist jedoch möglich, daß ich mich getäuscht.«

»Sie wird es wohl gewesen sein,« sagte die Hausfrau nachdenklich. »Und so haben Sie wenigstens das Bewußtsein, daß sie glücklich geworden.«

»Daran habe ich nie gezweifelt. Denn sie war eine starke Natur; unglücklich sind allein die Schwachen.«

»Und die Polin?« fragte eine andere Dame.

»Das wäre eine Geschichte für sich«, antwortete der Oberst, indem er aufstand und den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher warf. »Vielleicht erzähle ich sie Ihnen nächstens. Jetzt aber muß ich nach der Stadt zurück; ich werde erwartet.« Er verabschiedete sich und ging.

Die anderen blickten ihm nach, bis seine hohe Gestalt im Abenddunkel zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann wandte sich der Hausherr zu der Dame, welche nach der Polin gefragt hatte. »Sie sollen wissen, liebe Freundin, daß er zu jener Frau noch immer in Beziehungen steht. Sie ist zwar zehn Jahre älter als er – also bereits eine Greisin –, aber er konnte nicht mehr loskommen. Schade um ihn! Er hat sich seit jeher mit Weibern geschleppt, und da wird man, wie Goethe sagt, zuletzt abgewunden gleich Wocken.«

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