[209] [213]I.
Im Frühling des Jahres 1870 fand in dem Wiener Vororte, wo ich damals meinen Wohnsitz genommen hatte, eine festliche Hochzeit statt. Fast der gesamten Einwohnerschaft waren zierlich gedruckte Anzeigen zugegangen, und wer nur irgend abkommen konnte, der fand sich auch am festgesetzten Tage zum feierlichen Trauungsakte in der geräumigen Pfarrkirche ein. Ich konnte gleichfalls nicht umhin, zu erscheinen, denn ich war mit dem Bräutigam persönlich bekannt, wenn auch nicht näher, als dies öftere Begegnungen an öffentlichen Orten mit sich zu bringen pflegen. Er war ein junger Mann in den ersten Dreißigern und so recht das Bild eines Wiener Bürgersohnes von älterem Schlage. Nicht allzu groß, dabei leicht zu körperlicher Überfülle neigend, hatte er ein hübsches, frisch gefärbtes Gesicht und äußerst gutmütige blaue Augen, die in beständiger Heiterkeit strahlten. Er kleidete sich nach neuestem Schnitte und hatte eine Vorliebe für bunte Halsbinden, nahm sich aber keineswegs geziert oder geckenhaft aus; vielmehr trat in seinem ganzen Wesen eine gefällige, etwas sorglose Natürlichkeit zu Tage. Sein Vater, ein wohlhabender Mann, hatte es aus kleinen Anfängen heraus zum Stadtzimmermeister gebracht und am Eingange des Ortes ein ansehnliches Familienhaus erbaut, an das sich ein großer Arbeitsplatz und weitläufige Holzlager schlossen, zu welchen Liegenschaften sich im Laufe der Zeit noch ausgedehnte Ziegeleien in der nächsten [213] Umgebung gesellten. Als der alte Städler starb, teilten sich zwei Söhne in den wohlgegründeten Besitz, so zwar, daß der ältere, welcher bereits verheiratet war, die Zimmermeisterei weiter betrieb, der Jüngere aber das Holzgeschäft und die Verwaltung der Ziegeleien übernahm, nebenher ein behagliches, jedoch keineswegs lockeres Junggesellenleben fortführend. Jetzt aber war er, wie sich zeigte, dessen überdrüssig geworden; im Stammhause war Raum genug für eine zweite Familie – und so hatte er eben nur die Braut zu wählen gehabt.
Die Kirche, durch deren gotische Bogenfenster das Licht eines sonnigen Maitages fiel, war überfüllt; wie natürlich, zeigte sich das weibliche Geschlecht vorwiegend vertreten und harrte mit Spannung auf das Erscheinen der Brautleute. Und als dieses jetzt endlich erfolgte und das junge Paar mit einem zahlreichen Anhange in die Kirche trat, da ging ein vernehmbares Murmeln der Bewunderung durch den stillen Raum, und aller Augen folgten der Braut, die in der Tat einen entzückenden Anblick darbot. Hohen Wuchses den Bräutigam etwas überragend, schritt sie an seinem Arm, bleich vor innerer Erregung, mit gesenktem Haupte dem Altare zu. Der wallende Schleier, der Myrtenschmuck im dunkelblonden Haar, das matte Weiß des Hochzeitskleides gaben der kräftig schlanken Gestalt etwas sanft Verklärtes, und als sie jetzt aufblickte, schimmerten ihre Augen hell wie Gold. Man war erstaunt und atmete kaum; so viele, so makellose Reize hatte man nicht zu sehen erwartet. Auch ich war überrascht – doppelt überrascht. Denn ich hatte das schöne Geschöpf, das jetzt in reifer Märchenhaftigkeit vor den Altar trat, in fast noch knospender Entwicklung gekannt, und während nunmehr der Priester seine Anrede hielt, das Brautpaar mit klangvollen Stimmen die Jaworte sprach und die Ringe gewechselt wurden, erinnerte ich mich an folgendes.
* * *
[214] Es war zu Anfang der Sechziger Jahre. Ich hatte den Soldatenrock noch nicht lange ausgezogen und mich mit meinen literarischen Hoffnungen und Entwürfen in einer stillen Vorstadtwohnung eingesponnen, die ich in der Regel während der ersten Nachmittagsstunden verließ, um in einer nahe gelegenen Gastwirtschaft mein Mahl einzunehmen. Auf dem Wege dahin mußte ich an einem stattlichen Hause vorüber, an einer jener Neubauten, wie sie damals allerorten emporwuchsen und hier der Hauptstraße der Vorstadt ein immer vornehmeres Aussehen verliehen. Es gehörte, wie ich später erfuhr, der Witwe eines Baumeisters, der die Herstellung auf eigene Rechnung in Angriff genommen hatte, inzwischen aber mit dem Tode abgegangen war. An einem Fenster des ersten Stockwerkes, in welchem die Eigentümerin wohnte, gewahrte ich nun öfter das reizende Profil eines Mädchens, das hinter einer Reihe wohlgepflegter Blumentöpfe saß. Die noch sehr jugendliche Schöne wendete natürlicherweise den Kopf bisweilen nach der Straße, und so kam es, daß sich eines Tages unsere Blicke begegneten, wobei nur ihre hellen Goldaugen besonders auffielen. Seitdem stellte sich zwischen uns eine Art stillen Einverständnisses her, so zwar, daß sie mich jetzt immer zu erwarten schien und sich, wenn sie mich kommen sah, hinter den Blumen erhob, mir auf diese Art auch den Anblick ihrer zarten Büste zuteil werden lassend. Obgleich ich nun keinerlei Absichten hegte, so spann ich doch den Faden des kleinen Romans in anmutigen Träumen fort, indem ich es gewissermaßen dem Schicksale überließ, ob es mich vielleicht ohne mein Zutun dem holden Geschöpfe näher bringen wolle. Es durchzuckte mich daher ein freudiger Schreck, als ich sie eines Tages, da ich gerade auf dem Heimwege begriffen war, sehr zierlich gekleidet aus dem Haustor treten und in die nächste, nur ein paar Schritte entfernte Seitengasse einbiegen sah. Im ersten Augenblick war ich wie eingewurzelt stehen geblieben; dann aber folgte ich ihr. Sie trug ein helles, blau gestreiftes Sommerkleid und [215] ein braunes Strohhütchen, das mit künstlichen Feldblumen geschmückt war. Zum ersten Male hatte ich ihre hohe, schlanke Gestalt ganz vor Augen und konnte die harmonischen Gliederbewegungen, die kräftig ausschreitenden Füßchen und die dichte Fülle des Haares bewundern, das ihr, nach der Mode jener Zeit, halbgelöst, in einem feinen Seidennetze weit über den Nacken hinabhing. Sie mußte mich vorhin gleichfalls wahrgenommen haben, denn sie wendete öfter den Kopf zur Seite, wie um zu spähen, ob ich ihr gefolgt und in der Nähe sei.
Jetzt hatte sie die Gasse durchschritten, welche in eine breite, von Menschen und Fuhrwerken sehr belebte Straße mündete. Dort blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen, setzte dann behutsam auf den Fußspitzen über den Fahrweg, der erst vor kurzem bespritzt worden war, und ging jenseits, sich nach rechts wendend, noch ein Stück fort, um in eine jener stillen, nach dem Südbahnhof führenden Gassen einzubiegen, welche damals noch zum größten Teil von wipfelüberragten Gartenmauern gebildet wurden. Tat sie das, um mir Gelegenheit zu ungescheuter Annäherung zu bieten? Kaum konnte ich daran zweifeln, denn sie hatte ja jetzt mit einer raschen Wendung nach mir zurückgeblickt. Dennoch und obgleich ich nun ebenfalls die Gasse betrat, konnte ich einer gewissen mutlosen Befangenheit nicht Herr werden und hielt mich noch immer in einiger Entfernung. Endlich, da ich sah, daß sie langsamer zu gehen anfing, faßte ich ein Herz und war bald an ihrer Seite, indem ich mich, den Hut lüftend, in einem Gewirr von Worten verfing, wie man sie bei ähnlichen Anlässen zur Entschuldigung zu stammeln pflegt.
Sie blickte mich leicht von der Seite an und brach dann in ein klingendes Lachen aus.
»Entschuldigen Sie sich doch nicht gar so sehr«, sagte sie. »Wir sind ja alte Bekannte, denn Sie gehen täglich an unserem Hause vorüber. Aber wer sind Sie eigentlich?« fuhr sie nach [216] einer Pause fort, indem sie mich jetzt mit ihren hellen Augen eindringlich musterte.
Ich gestehe, daß mich nunmehr eine eigentümliche Verlegenheit überkam. Der Berufstitel »Schriftsteller« diente zu jener Zeit noch nicht zu besonderer Empfehlung; man war weit eher geneigt, einige Mißachtung daran zu knüpfen. Überdies hatte ich noch keine öffentlichen Proben meiner Tätigkeit abgelegt, war daher gewissermaßen weder Fleisch noch Fisch. Dennoch mußte ich mich entschließen, mit einiger Beklemmung zu sagen: »Ich bin Schriftsteller«.
»So«, erwiderte sie gedehnt. »Und was schreiben Sie denn?«
Neue Verwirrung meinerseits. »Nun – Dramen – Novellen –«
Ich konnte bemerken, wie sich ihr Näschen, dessen seine Nüstern leicht geschwellt waren, ein wenig rümpfte.
»Also ein Dichter!« sagte sie spöttisch. »Aber das tut nichts; Sie sehen gar nicht danach aus. Für heute übrigens«, setzte sie kurzweg hinzu, »müssen wir uns trennen. Bleiben Sie hier zurück; mein Weg führt mich nach einer ganz anderen Richtung, und begleiten dürfen Sie mich nicht. Wenn Sie aber wieder mit mir zusammentreffen wollen, so kommen Sie einmal zu Schwott. Sie wissen doch –?«
»O ja, ich weiß –«
»Nun also. Jeden Samstag, manchmal auch an Donnerstagen bin ich abends dort. Es ist sehr lustig. Und nun leben Sie wohl!« Sie streckte mir die Hand entgegen, drückte die meine kurz und kräftig und eilte mit raschen Schritten den Weg zurück, auf dem sie gekommen war.
Ich jedoch blieb mit sehr niederdrückenden Empfindungen in der verödeten Gasse stehen. Schon das anfängliche Lachen und die ersten Worte des jungen Mädchens hatten mich befremdet; die ungezwungene, gleichsam überlegen leichtfertige Art und Weise, in der sie sich gab, hatte mich mehr und mehr [217] enttäuscht und ernüchtert; – bei ihrer Aufforderung aber, zu »Schwott« zu kommen, war ich vollends aus allen Himmeln gefallen.
Zu Schwott! Es war dies eine nach ihrem Besitzer benannte Tanzschule, die sich in einem alten, heute nicht mehr bestehenden Häuserkomplex der inneren Stadt befand. Sie wurde weit weniger des Unterrichtes wegen besucht, den man dort erteilte: ihre Hauptanziehungskraft waren die sogenannten »Gesamtübungen«, welche an drei Abenden der Woche stattfanden. Nicht bloß ein Teil der jeunesse dorée in all ihren Spielarten erschien dabei; es kamen auch ältere, ja selbst alte Lebemänner, die hier im Trüben zu fischen gedachten. Denn es war bekannt, daß man in den schwülen und überfüllten Räumen der Tanzschule neben interessanten, vielumworbenen Erscheinungen aus der feineren weiblichen Halbwelt auch den frischen Reizen von Beamten- und Bürgerstöchtern begegnete, die sich, wie man annehmen konnte, ohne Vorwissen ihrer Angehörigen hierher begaben, jugendlicher Vergnügungssucht – oder auch schlimmeren Antrieben folgend. Ich selbst war in früherer Zeit einmal dort gewesen und hatte es, wie meine Schöne gesagt, in der Tat sehr lustig gefunden. Aber auch sie war in diesem ruchlosen Gewirre zu treffen – sie, die mir hinter ihren Blumen als Bild der Jungfräulichkeit erschienen war! Ich fühlte, wie sich mir jetzt bei diesem Gedanken das Herz zusammenzog. Trotzdem wäre ich immerhin genug Realist gewesen, um ein Stelldichein von seiten eines so reizenden Geschöpfes unter allen Umständen willkommen zu heißen. Um aber mit einer jungen Dame, die zu »Schwott« ging, in nähere Beziehung zu treten, dazu waren meine Verhältnisse in keiner Weise angetan. So kam ich denn, während ich langsamen Schrittes nach Hause ging, mehr und mehr zur Einsicht, daß der Sache ein für allemal ein Ende zu machen und jeder weitere Verkehr abzubrechen sei. Die Ausführung dieses Entschlusses wurde mir auch durch äußere Umstände erleichtert.[218] Denn, nachdem ich eine Zeitlang vermieden hatte, mich in der Hauptstraße zu zeigen, mußte ich infolge einer Kündigung meine Wohnung räumen. Ich mietete mich hierauf in einem entlegeneren Teile der Vorstadt ein und sah die schöne Elise Schebesta – den Namen hatte ich später in Erfahrung gebracht – in der Tat nicht mehr. Einmal nur, als ich an einem nebligen Oktoberabende die innere Stadt durchschritt, glaubte ich beim Scheine der Gasflammen erkannt zu haben, daß sie an der Seite eines sehr vornehm aussehenden Herrn in einem Fiaker an mir vorübergefahren war.
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Und nun, nach einer Reihe von Jahren, stand sie, schöner denn je, mit schimmernder Myrte geschmückt am Altar .....
Die Zeremonie war zu Ende, und die Menge drängte aus der Kirche in den leuchtenden Tag hinaus, um die Teilnehmer der Hochzeit noch in die Wagen steigen zu sehen. Diese aber fuhren jetzt, während sich der Schleier der Braut in der wehenden Luft aufbauschte und leicht hin und her flatterte, dem Bürgerhause zu, das am Eingange des Ortes mit blumengeschmückter Pforte dem fröhlichen Einzug entgegen harrte.