II.
Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte lebendig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er sah, wie die Männer nach und nach das dürftige Lager verließen, allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte, und damit aus der Tür gingen. Er hatte sich gleichfalls erhoben, war in seinen Kittel geschlüpft und stand unschlüssig und erwartungsvoll da, als sich Tertschka, einen schweren Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte. »Der Aufseher schläft noch«, sagte sie. »Aber ich weiß, was du zu tun hast. Nimm den Hammer dort; wenn du willst, kannst du mit mir an die Arbeit gehen.« Er tat, wie sie ihn hieß, und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen war es kühl und still; nur hier und dort zwitscherte ein Vogel, und auf der Wiese lag der helle Tau. Sie gingen schweigend an das Bahngeleise und längs desselben noch eine Strecke hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo sich bereits einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die übrigen, mit Karren und Schaufeln ausgerüstet, an der Bahn verteilt waren. Tertschka schritt mit Georg an den Männern vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. »Das ist mein Platz«, sagte sie, indem sie sich mitten [119] unter Bruchsteinen und Geröll auf den Boden niederließ. »Ich bin nicht gern bei denen dort. Sie sind ein wüstes, hämisches Volk. Aber du kannst bei mir bleiben, wenn es dir recht ist.« Er erwiderte nichts und setzte sich still neben sie. »Siehst du, diese Trümmer müssen in kleine Stücke zerschlagen werden. Das dort«, setzte sie hinzu und deutete mit der Hand auf einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, »das hab' ich in dieser Woche zustande gebracht.« Er zog einen größeren Kalkstein zu sich heran und schlug mit dem Hammer darauf. Der Stein blieb ganz. »Stärker!« rief Tertschka und führte nun selbst einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er sah sie verwundert an und erprobte noch einmal seine Kraft. Diesmal mit besserem Erfolg, und so begannen die beiden, ohne mehr ein Wort zu wechseln, ihr Tagewerk. Der Ort, wo sie saßen, erschloß eine prachtvolle Fernsicht über die mächtigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geiernest an einer bewaldeten Felsenzacke; tief unten in einer engen Talschlucht, langgestreckt und mit rötlichen Dächern, lag der Markt Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendstein auf, und von den grünen Matten an seinem Fuße herüber schimmerte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche »Maria Schutz« genannt. Aber die Emsigen hatten kein Auge für das herrliche Bild; sie hämmerten und klopften, in dumpfem Eifer tief zur Erde hinabgebeugt. Höher und höher stieg die Sonne und brannte schon heiß und sengend auf ihre Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer schwächer, immer langsamer; endlich ließ er den Hammer sinken, lüftete die Mütze und trocknete sich den Schweiß ab, der in hellen Tropfen über sein Antlitz rann. Auch Tertschka hielt inne. »Bist du schon müd?« fragte sie, indem sie ihn teilnehmend ansah.
»Weiß Gott, das bin ich«, antwortete er mit tonloser Stimme. »jetzt spür ich erst, wie arg mich das Fieber heruntergebracht hat.«
[120] »Wie hast du auch da heraufkommen können, krank und hinfällig, wie du bist?« fuhr sie fort.
»Was hätt' ich anderes tun sollen? Betteln vielleicht? Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich keins gelernt. Vater und Mutter sind mir früh gestorben, und da hab' ich im Ort die Gänse hüten müssen und später die Kühe – bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück, und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Assentierung war ich doch recht. ›Im zweiten Glied kann er mitlaufen‹, meinten sie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hause geschickt. Eine Zeitlang wurd' ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es, ich solle gehen und Steine klopfen. Na – und jetzt klopf ich sie«, schloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Hammer griff.
Sie hatte schweigend das Haupt gesenkt. »Aber du wirst es nicht aushalten«, sagte sie still.
»Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu essen habe. Es ist mir recht schlecht gegangen in den letzten Tagen, und seit gestern früh hab' ich nicht einen Bissen über die Lippen gebracht.«
Sie antwortete nichts und zog langsam ein Stück schwarzen Brotes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach es in zwei ungleiche Teile und reichte ihm den größeren hin. »Iß«, sagte sie.
Er warf einen scheuen Blick auf das Gebotene. »Das ist dein Brot«, erwiderte er leise und ablehnend.
»Das tut nichts; ich hab' an dem da genug.« Und da er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, so legte sie es dicht an seiner Seite auf den Boden nieder. »Du wirst auch durstig sein«, fuhr sie fort. »Ich will dir einen Trunk Wasser holen; dort oben fließt eine Quelle.« Und damit stand sie auf, bückte sich nach einem Krüglein, das halb zerscherbt zwischen dem Geröll lag, und stieg bis zum Tannicht oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Wasserstrahl unter dunklem Moose [121] hervorrieselte. Sie füllte das Krüglein, trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brot lag noch immer unberührt neben Georg. Aber das Wasser nahm er. »Ich danke dir«, sagte er innig, nachdem er getrunken hatte.
»Weshalb? Ich tu's ja gern. – Aber jetzt iß«, fuhr sie, sich wieder setzend, mit sanftem Drängen fort. »Von mir kannst du's schon nehmen.«
Er langte verschämt nach dem Brote. »Du hast gewiß im Leben auch schon viel Not gelitten, weil du so gut bist«, sagte er, indem er, ohne sie anzusehen, ein Stückchen wegbrach. –
»Ja, das hab' ich. Und ich spür auch jetzt noch oft genug, wie weh der Hunger tut.«
Es war, als blieb ihm der Bissen im Halse stecken.
»Auch jetzt noch?« fragte er endlich. »Wird denn die Arbeit gar so schlecht bezahlt?«
»Mir wird sie gar nicht bezahlt.«
»Was? Du bekommst keinen Tagelohn?«
»Nein; den behält der Aufseher.«
»Der Aufseher?«
»Er ist mein Stiefvater.«
»Dein Stiefvater –« wiederholte er, noch immer ganz gedankenlos vor Erstaunen.
»Ja; mein rechter Vater ist bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abstürzende Erde hat ihn verschüttet. Dann ist die Mutter bei dem Aufseher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog.«
»Also aus Böhmen bist du? Darum redst du auch so fremd und hast einen so seltsamen Namen. Ter – ich kann ihn gar nicht nachsagen.«
»Tertschka«, ergänzte sie. »Deutsch heißt es Therese.«
»Hierzulande würden sie dich Resi nennen. – Aber«, fuhr er fort, »wenn dein Stiefvater deinen Lohn behält, so muß er dir doch zu essen geben.«
[122] »Gerade so viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubst nicht, wie geizig er ist. Sich selber läßt er's freilich wohl geschehen, und es vergeht fast kein Tag, an dem er sich nicht betrinkt. Aber den andern gönnt er das Wasser nicht, wenn sie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt' alles verhungern, eh er aus freien Stücken die Hand auftät'. So muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und dabei behält er, wie gesagt, meinen Lohn und obendrein die vierzig Gulden in Silberstücken, die mir meine Mutter hinterlassen hat. Das wäre jedoch alles das Schlimmste nicht. Aber er ist auch ein boshafter Mensch, der mich oft schlägt. Du hast gestern gesehen, wie er mich wegen der Jacke anließ.«
»Ja, das hab' ich gesehen.«
»Und so war er auch stets mit meiner Mutter. Ich laß mir's nicht nehmen, daß sie die Schwindsucht, an der sie gestorben ist, von einem Schlage bekam, den er ihr einst im Zorn und Rausch vor die Brust versetzt hat.«
Sie schwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich sagte Georg: »Wenn dich dein Stiefvater gar so übel behandelt, warum bleibst du bei ihm?«
»Weil ich weiß, daß er mich nicht fortließe«, antwortete sie nach einer Pause. »Er braucht ein so armes, hilfloses Ding um sich, das er ungestraft quälen und martern kann. Denn er ist im Innersten feig, wenn er auch oft grimmig und wütend wird. – Und wohin sollt' ich gehen?« setzte sie mit einem Seufzer hinzu. »Es ist überall nicht gut in der Welt.« Sie hatte bei diesen Worten wieder ihren Hammer ergriffen; Georg, etwas gestärkt, tat desgleichen, und bald waren sie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft.
So verrann Stunde um Stunde, und die Mittagshitze lagerte sich glühend über Berg und Tal. Weithin regte sich nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit stimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen, rauhen Gesang an.
[123] Plötzlich ertönte der schrille Laut einer Glocke. »Was ist das?« fragte Georg, der sah, daß die andern ihre Werkzeuge hinlegten und auf die Hütte zuschritten.
»Der Aufseher hat zum Essen geläutet«, erwiderte Tertschka.
»Zum Essen –« wiederholte er matt. »Und was gibt es denn bei euch?«
»Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweinefleisch sein; denn das haben sie gestern mitgebracht.«
»Es ist schon lange her, daß ich kein Fleisch mehr gegessen habe«, sagte er nachdenklich.
»Iß auch heute keins, du hast das Fieber; es könnte dir schaden. Denn der Aufseher hat kein Gewissen und nimmt dem Metzger in Schottwien die schlechte, verdorbene Ware ab, und da er's bei der Bauleitung durchgesetzt hat, daß jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß, so schlägt er alles teuer genug los und hat seinen sündhaften Gewinn dabei. Drum kocht er auch selbst; denn er traut keinem von uns.«
»Er kocht?«
»Ja. Um die Arbeit kümmert er sich wenig und läßt es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nachsehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meisten mit solchen, die nicht den Mut haben, etwas zu erwidern.«
»Seltsam; aber mit dem Fleisch hat es bei mir keine Gefahr«, sagte Georg bitter. »Denn da ich kein Geld habe, kann ich mir auch keines kaufen.«
»Je nun, er würde dir schon borgen bis Samstag, wo der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh dir, wenn er dich einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er dir alles doppelt anrechnet, er zwingt dich auch, mit ihm zu zechen und Karten zu spielen, damit er dich ganz in die Klauen bekommt. Dann siehst du von dem Deinigen keinen Kreuzer mehr und bleibst ihm verfallen wie die arme Seele dem Teufel.«
Er hatte ängstlich zugehört. »Aber wie stell ich es an, bis Samstag zu leben«, sagte er kleinlaut. »Heut ist erst Mittwoch. [124] Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf, so muß ich verhungern.«
Sie hatte sich schon früher am Saume ihres Rockes zu schaffen gemacht und einen kleinen Teil der Naht aufgetrennt. Jetzt zog sie ein zusammengewickeltes Stückchen Papier daraus hervor und entfaltete es langsam. Es war eines jener Banknotenfragmente, welche damals in Österreich unter dem Namen »Viertel« im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze ersetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. »Nimm«, sagte sie; »das langt bis Samstag, wenn du recht sparsam bist. Du kannst es mir allwöchentlich kleinweise von deinem Lohn zurückgeben.«
Er blickte sprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in ihrer Hand. Überraschung, Rührung und verschämte Freude malten sich wundersam in seinem Antlitz. Er war wie betäubt und regte sich nicht.
»Es ist mein einziges«, fuhr sie treuherzig fort. »Unser Ingenieur hat mir's geschenkt, als er im vorigen Monate hier war. Er hatte seinen Mantel in der nächsten Hütte liegen lassen, und den mußt' ich ihm holen. Aber du tust mir einen Gefallen, wenn du das Geld nimmst. Ich fürcht immer, ich könnt' es verlieren; derhalb hab' ich's auch in meinen Rock eingenäht. Wenn der Aufseher darum wüßte, hätt' er mir's längst abgefordert.« Und damit legte sie es in seine Hand. »Aber jetzt komm und laß uns zum Essen gehen. Vergiß nicht, was ich dir wegen des Fleisches gesagt habe, und begnüg dich mit dem übrigen. Das Mehl ist zwar auch meistens dumpfig; aber gestern haben sie frische Kartoffeln gebracht. Und abends kannst du dir ein Glas Branntwein gönnen; das wird dir gut tun.« Er stand auf und folgte ihr schweigend. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte ihr tief in die sanften braunen Augen. »Wie soll ich dir's vergelten, Tertschka«, sprach er mit zitternder Stimme. »So gut und lieb wie du war noch kein Mensch mit mir.«
[125] »Ach was«, erwiderte sie; »man muß sich gegenseitig helfen in der Welt. Und dann – du bist ja auch gut. Das hab' ich dir gleich gestern angesehen, als du kamst.«
Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die andern, aus schadhaften Näpfen essend, bereits den Herd, an welchem der Aufseher stand, die Ärmel aufgekrempelt und mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein mächtiges Bratenstück anzuschneiden, dessen brenzlicher Duft den Eintreten den entgegenschlug und Georg einen unwillkürlichen Seufzer entlockte. Auch die übrigen blickten gierig nach dem fetttriefenden Fleische und nahmen der Reihe nach ein Stück davon in Empfang, das sie von der Faust weg verzehrten. Einige legten Geld dafür nieder; bei den meisten jedoch machte der Aufseher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte von Tertschka einen Napf erhalten; damit näherte er sich nun dem Herde. Der Aufseher sah ihn befremdet an. Endlich entsann er sich. »Aha, der Knirps von gestern!« rief er. »Nun, hast du etwas gearbeitet?«
»Ja; Steine hab' ich zerschlagen.«
»Und nun hast du Lust, zu essen. Was willst du?«
»Ich möcht euch um Grütze und Kartoffeln bitten.«
Der Aufseher tat ihm das Verlangte in den Napf und nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte. »Du wirst doch auch ein Stück Braten wollen«, sagte er dann.
Das war nun eine gewaltige Versuchung für den Armen. Aber er gedachte der Warnung Tertschkas und erwiderte, während der andere schon das Messer ansetzte: »Nein, ich esse kein Fleisch.«
»Was? Bist du ein Knicker? Bei deinem verhungerten Aussehen solltest du froh sein, etwas Ordentliches in den Leib zu kriegen.«
»Er hat das Fieber; das fette Fleisch könnt' ihm übel bekommen«, sagte Tertschka hinzutretend; denn sie fühlte, daß es dieser barschen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft Georgs zu stützen galt.
[126] »Halt dein Maul!« schrie der Mann. »Wer hat dir gesagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!« Und zu Georg gewendet fuhr er fort: »Also willst du, oder willst du nicht?«
Diese Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Gericht nicht zurückzuweisen. Aber der Schüchterne nahm all seinen Mut zusammen und erwiderte: »Sie hat recht, ich darf das Fleisch nicht essen.«
»Nun, so laß es sein!« schrie der andere giftig, indem er das Messer beiseite warf. »Bitten werd ich dich nicht.« Und da Georg vor ihm stehen blieb, fragte er: »Auf was wartest du noch?«
»Ihr sollt mir herausgeben«, antwortete jener stockend.
»Ja, ja, ja!« rief der Aufseher. »Glaubst du, ich werde die lumpigen paar Kreuzer behalten?« Und damit warf er ihm den Rest in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit der anderen mühsam die umherrollenden Geldstücke auf; dann setzte er sich in einen Winkel und begann sein karges Mahl zu verzehren, das mittlerweile schon ziemlich kalt geworden war. Er sah dabei, wie der Aufseher eine grünliche Flasche ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu Mund wanderte. Er aber vertröstete sich auf den Abend, den Worten Tertschkas gemäß, welche inzwischen, dürftig genug, ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des Stiefvaters daran ging, das Kochgeschirr zu scheuern. Die andern lagerten sich draußen im Schatten der Hütte, um den Rest der Ruhestunde zu verschlafen. Der Aufseher jedoch nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher sich ein lecker zubereitetes Huhn befand, und stellte sie nebst Teller und Eßzeug und einer Flasche Wein auf den nahen Tisch. Als er sich eben anschicken wollte, behaglich zu schmausen, fiel sein Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwischen den Knien, still überlegte, ob er nicht Tertschka [127] beim Scheuern helfen solle, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen Manne abhielt. »Was sitzt du da und gaffst?« schrie jetzt dieser. »Pack' dich hinaus zu den andern! Ich brauch' hier keinen Spion, der mir den Bissen vom Maul wegguckt!« Georg schrak empor, schlich aus der Hütte und legte sich draußen auf den sonnigen Boden nieder, da er im Schatten keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufseher wieder die Glocke zur Arbeit erschallen; er selbst begab sich in seinen Verschlag, um nun auch Siesta zu halten. Die Männer reckten und dehnten sich und folgten nur zögernd dem Rufe; einige drehten sich sogar auf die andere Seite und schliefen weiter. Georg aber schritt mit Tertschka wieder zum Steinbruch hinan, wo sie, bis der Abend sank, ihrer harten Pflicht oblagen. Und auch in den Tagen, die nun folgten, saßen sie nebeneinander. Denn die Kräfte Georgs hoben sich wirklich; die bitterste Not war ja vorüber, zudem schien der frische Hauch der Gebirgsluft heilend auf seinen fiebersiechen Körper zu wirken. Er schwang den Hammer schon ganz rüstig und erzählte dabei der armen Genossin allerlei aus seinen Militärjahren. Es waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldatenstreiche, was er vorbrachte; bei seinem scheuen und in sich selbst gedrückten Wesen hatte er ja nur die Schattenseiten eines Standes kennengelernt, der so manchem anderen den heitersten Genuß des Daseins eröffnet. So konnte er nur berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die unerbittliche Korporalsfaust zur Hölle gemacht, von langem Schildwachstehen im Schnee, von beschwerlichen Märschen und nächtlichen Kampierungen im Regen und Sturm – und vor allem, wie er bei der Belagerung Venedigs mit seinem Regimente vor dem Fort Malghera gestanden und dort ihrer Hunderte in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera hinweggerafft wurden. Tertschka hörte still zu. Vieles faßte sie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er sprach, hatten ja stets so fernab von ihr gelegen, und vollends von einer Stadt, die mitten im Wasser erbaut [128] sei, konnte sie sich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei dem Worte »Meer« nichts als eine undeutlich schimmernde Wolke vorschwebte. Aber sie fühlte heraus, wie schlecht es Georg all seine Tage ergangen sei, und erzählte hinwieder auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, einförmigen Dasein in der Erinnerung geblieben war. So trösteten sie sich unbewußt gegenseitig, und es tat ihnen wohl, daß sie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum Steinbruch hinanstiegen und die langen sonnigen Tage nebeneinander verbringen konnten, wobei sie oft den Ruf der Glocke überhörten oder darob erschraken, weil er sie aus ihrer wehmütig trauten Einsamkeit in die wüste Gemeinschaft der Hütte zurücktrieb. –
Aber nicht lange sollte die Zeit dauern, wo sich die beiden in lang erduldeter Not und still entsagendem Kummer, wie andere in Lust und Fröhlichkeit und drängender Lebensfülle, immer inniger zusammenfanden. Sei es, daß der Aufseher durch die andern Arbeiter von ihrem Einvernehmen übelwollende Kunde erhalten, sei es, daß er es mit dem Instinkte der Bosheit von selbst erraten hatte – genug: er stand eines Tages hinter ihnen. »Was hockt ihr da beieinander wie die Kröten?« schrie er, während sie erschrocken aufsahen. »Marsch, du Hungerleider, zu deinen Kameraden, wo du hingehörst!« Und damit streckte er gebieterisch die Hand gegen den untern Teil des Steinbruches aus. »Und du, heimtückisches Aas«, wandte er sich zu Tertschka, während Georg betroffen und sprachlos dem Befehl Folge leistete, »mir scheint, du hältst es mit dem elenden Krüppel da? Wart', das will ich dir austreiben! Wenn ich euch noch einmal beisammen seh', so ist der Kerl die längste Zeit hier gewesen, und du erblickst mir kein Tageslicht mehr!« –
So wurden sie rauh und plötzlich auseinandergerissen. Georg mußte in den nächsten Tagen unten am Bahngeleise arbeiten, und wenn sie um die Mittagsstunde oder nach Sonnenuntergang in der Hütte zusammentrafen, so wagten sie kaum, sich anzusehen, geschweige nur ein Wort miteinander zu reden. [129] Denn der Aufseher behielt sie scharf im Auge, und auch die andern schienen mit stumpfer Schadenfreude über ihnen zu wachen.
Eines Abends jedoch – es war Samstag – hatte sich der Aufseher mit einigen Zechgenossen in die Schenke einer nahen Ortschaft begeben, indes die Zurückgebliebenen, wie gewöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Karten wagten, dessen beschmutzte Blätter in ihren Händen die Runde machten. Während es dabei immer wüster und lärmender herging, faßte Georg Mut, sich verstohlen Tertschka zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiste saß, das Haupt auf die Hände gestützt. »Tertschka«, sagte er leise, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der Tasche zog, »hier ist das letzte von dem Gelde, das ich dir schuldig bin.« Und dabei legte er sachte einige Kreuzer in ihren Schoß.
»Ach, lass' es«, erwiderte sie; »du wirst es noch brauchen.«
»Wozu sollt' ich's brauchen?« fuhr er niedergeschlagen fort. »Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, seit ich nicht mehr mit dir arbeiten kann.«
»Ich auch nicht«, sagte sie leise.
»Weshalb er uns nur auseinandergejagt hat?« begann er nach einer Weile. »Ihm könnt' es doch eins sein, ob wir beisammen sitzen oder nicht; wenn wir nur unser Tagewerk ordentlich verrichten.«
Sie blickte vor sich hin. »Er ist ein böser Mensch«, sagte sie endlich, »der nicht sehen kann, daß es einem anderen wohl ist, und jeden gern um sein Liebstes bringt.«
Tertschka war bei diesen Worten aufgestanden, hatte den Deckel der Kiste zurückgeschlagen und holte jetzt langsam eine wollene Jacke, einen Rock aus Kattun und ein Paar schwere Schuhe hervor. Dann noch ein verschossenes rotes Halstuch und einen alten Rosenkranz mit einem Kreuzlein von Messing daran, welche Gegenstände sie samt und sonders auf dem wieder herabgelassenen Deckel der Kiste sorglich zurechtlegte.
»Was tust du denn da?« fragte Georg, der ihr zusah.
[130] »Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche gehen«, erwiderte sie. »Er kann's freilich nicht leiden, denn er kennt keinen Herrgott und hat schon die Mutter immer gescholten, weil sie sonntags niemals die Messe versäumen wollte und mich immer mit sich nahm. Er weiß mir immer etwas in den Weg zu legen, und ich bin schon zwei Monate nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh' ich; er soll sich anstellen, wie er will. Ich mag nicht das Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur ans Trinken und Kartenspielen denkt.«
Georg sah vor sich hin. »Ich bin auch schon lang in keiner Kirche gewesen«, sagte er. »Wie schön wär' es, wenn ich morgen mit dir gehen könnte.«
»Ja, es wär' schön; aber es kann nicht sein.«
»Je nun«, fuhr er fort, »der Aufseher müßt' es gerade nicht merken. Wir gingen ein jedes für sich allein fort, und wir fänden uns erst unten wo zusammen.«
Sie dachte nach. »Du hast recht; so wär' es möglich. Aber du müßtest lange vor mir aufbrechen. Gleich links von der Hütte führt ein schmaler, versteckter Steig ins Tal hinab; unten steht ein hölzernes Kreuz – dort könntest du mich erwarten. Aber jetzt geh«, setzte sie ängstlich drängend hinzu, »damit die andern nicht merken, daß wir miteinander gesprochen haben.«
Und so ging er und suchte das harte Lager auf, wo er mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher Erwartung des kommenden Tages sanft einschlief. –
Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnenglanze, als Georg den steilen Fußpfad hinabstieg, welchen ihm Tertschka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz im Tale aus und gewahrte bald, wie es morsch und windschief aus jungen Fichtenschößlingen hervorsah. Nun hatte er es erreicht und setzte sich, da es noch früh war, auf den bemoosten Steinblock, der gleichsam als Betschemel davor lag. Tiefes, sonntägliches Schweigen umgab ihn; selbst die Bienen über den [131] Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erschlossen, schienen nicht zu summen. Georg kam ein unwillkürliches Lauschen an, und wie er so recht in die Stille hineinhorchte, da ward es ihm, als vernehm' er ein leises, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber stellte sich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob sich, schritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen, auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. »Die will ich der Tertschka geben, wenn sie kommt«, sagte er zu sich selbst, indem er auf den unbeabsichtigten Strauß sah, den er in der Hand hielt. Dann brach er noch ein langes Farrenkraut ab und steckte es an seine Mütze, wo es sich, hin und her schwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand, und bald war Tertschka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegengeeilt war. »Da bin ich«, sagte sie rasch atmend. »Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen lassen.« Georg stand vor ihr und sah sie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das schlichte Haar frei gescheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Rot des Halstuches sanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich viel zu weit war, und der helle Kattunrock standen ihr so übel nicht. »Wie schön du heut aussiehst!« sagte er endlich. Sie schlug erglühend die Augen nieder. »Ich hab' das alles noch von meiner seligen Mutter«, erwiderte sie, indem sie den bauschenden Rock zurechtdrückte. »Ich trag es so selten, und da hält es sich.« »Da, hast du Blumen«, fuhr Georg fort; »ich hab' sie unterdessen gepflückt.« Sie nahm den Strauß, den er früher halb hinter sich verborgen hatte, und wollte ihn vor die Brust stecken. Aber er war zu groß, und sie behielt ihn in der Hand, um welche sie den Rosenkranz gewunden hatte. So schritten die beiden durch die grünen Gefilde und an schmalen Äckern vorüber, wo das Korn bereits geschnitten und aufgehäuft lag, bis sie den Markt Schottwien erreicht hatten. Dort trafen sie alles in Bewegung. Denn es war eben Kirchtag, und die [132] lange breite Gasse, aus welcher der Ort besteht, wimmelte von festlich gekleideten Menschen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte man Bretterbuden aufgeschlagen, und dort war eine Menge der verschiedenartigsten Dinge bunt nebeneinander zum Verkauf ausgelegt. Tücher, Tabakspfeifen, Messer, Glasperlen und Wachskorallen; allerlei Kochgeschirr, Pfefferkuchen und Spielzeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all diesen Herrlichkeiten stehen, und Georg bekam Lust, eine Pfeife zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; später, in seinem Elend, hatte er's aufgeben müssen, nun aber, da er sein Brot erwarb und weder trank noch spielte wie die andern, konnte er sich diesen Genuß wohl wieder gönnen. Er teilte seine Absicht Tertschka mit, und diese sprach ihm zu, er möge nur handeleins werden; sie selbst würde unterdessen langsam vorausgehen. »In der Ortskirche sind zu viele Menschen«, sagte sie. »Eine halbe Wegstunde außerhalb des Marktes liegt eine einsame Kirche; in der bin ich schon einmal gewesen und will auch heute wieder hineingehen.« Sie meinte damit »Maria Schutz« am Fuße des Sonnwendsteins. Georg drängte sich durch eine Gruppe von Gaffern und Feilschenden und er stand eine hübsche Porzellanpfeife mit bunten Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie schön sich der am Halse Tertschkas ausnehmen würde. Da der Preis, welchen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, so ließ er sich das Geschmeide in Papier wickeln und steckte es zu sich. Mit den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam, kaufte er in der anstoßenden Bude ein großes Herz aus Pfefferkuchen; dann sprang er noch um ein bißchen Tabak in den nächsten Kramladen und eilte mit seinen Schätzen der Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerst die Pfeife, die ihr wohl gefiel. »Das ist für dich«, sagte er hierauf und gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen geschmückt, das ein zweites kleines Herz vorstellte, von einem Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde [133] faßte das Ganze ein. Sie betrachtete es still und schob es mit dankendem Lächeln zwischen den Strauß und den Rosenkranz ein. »Ich habe noch etwas für dich gekauft«, fuhr er nach einer Weile fort, indem er das kleine Päckchen langsam aus der Tasche zog und die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie warf einen Blick darauf. »Wie kannst du nur soviel Geld für mich ausgeben!« sagte sie; aber ihre Miene strahlte von froher Überraschung und reinster Freude. »Für dich möcht ich alles hingeben«, erwiderte er innig. »Aber nimm es gleich um; es wird dir gut stehen!« Sie reichte ihm, was sie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts festzumachen war, so konnte sie damit nicht recht zustande kommen. »Laß das mich tun!« rief er, gab ihr wieder alles zurück, drückte, nachdem sie sich umgewendet, ihre braunen Haarflechten sanft empor und schob die beiden Teile einer kleinen Schließe ineinander. »So!« sagte er, indem er mit zufrieden prüfendem Blick vor sie hintrat. Dann gingen sie fröhlich weiter und hatten bald die Kirche erreicht, die aus schattigen Wipfeln hervorsah. Sie trafen nur sehr wenige Beter an; ein alter Priester mit grämlichen Gesichtszügen war eben zum Altar getreten und begann gleichgültig die Messe zu lesen. Tertschka kniete in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und das Herz vor sich hin und faltete die Hände. Georg blieb hinter ihr stehen. Es wurde ihm ganz eigentümlich zumute in dem stillen Raume. Durch die hohen schmalen Bogenfenster fiel das Licht sanft und mild herein; er hörte das Gemurmel des Priesters, das Klingen des Ministrantenglöckleins, und Andacht durchschauerte ihn. Aber beten konnte er nicht: er blickte nur unverwandt auf Tertschka, die vor ihm kniete und mit gesenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die Messe war bald zu Ende; der Priester gab den Segen, und die Anwesenden entfernten sich. Nur Tertschka verweilte noch. Endlich bekreuzigte sie sich, stand auf und schritt, während Georg folgte, nach der Tür, wo der Küster bereits [134] ungeduldig die Schlüssel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vormittag, und nicht weit von der Kirche entfernt streckte ein stattliches Wirtshaus einen Busch von Tannenreisern gar einladend aus. »Willst du dich schon auf den Heimweg machen?« sagte Georg, da Tertschka wieder schweigend den Weg nach dem Markte einschlug.
»Wohin sollten wir denn?« erwiderte sie und sah empor.
»Dort drüben ist ein Wirtshaus. Ich glaube, wir könnten uns heut etwas zugute tun, Tertschka. Wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.«
»Nun, wenn du Lust hast«, sagte sie und blieb stehen. »Der Aufseher wird freilich schelten, wenn ich so spät zurückkomme. Aber du hast recht: wer weiß, ob wir wieder einmal miteinander gehen.«
Sie schritten also auf das Haus zu, vor welchem sich ein sanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, riesige Buche und breitete ihre Äste über einer Anzahl roh behauener Tische und Bänke aus. Aber niemand saß daran. Es war ganz still und einsam hier; nur drinnen schien sich geschäftiges Leben zu regen. Endlich sah der Wirt aus der Tür, in schneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Samtmützchen auf dem Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäste von der Seite anblickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein in einem großen Henkelglase, Brot und Fleisch. Das setzte er ihnen auf den Tisch, an welchem sie sich niedergelassen hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder ins Haus zurück. Georg schob Tertschka den Teller zu, und diese zerlegte nun das Fleisch in kleine Stücke. Dann brachen sie das Brot und begannen gemeinschaftlich zu essen, wobei sich Tertschka, da der Wirt nur für einen gesorgt hatte, des Messers als Gabel bediente. Auch den Wein genossen sie zusammen, nacheinander das Glas zum Munde führend. Nach beendetem Mahle brannte Georg seine Pfeife an und sah wohlgemut dem Rauche nach, der sich leicht und bläulich in die sonnige Luft hineinkräuselte. »Schau, Tertschka«, sagte [135] er, indem er seine Hand auf die ihre legte, »das hätten wir uns gestern früh nicht träumen lassen, daß wir heute so fröhlich beieinandersitzen würden.«
»Ja«, erwiderte sie, »ich hätt' es nicht verhofft.«
Inzwischen war der Mittag herangerückt, und mit einemmal ertönten in der Ferne lustige Klänge von Hörnern und Klarinetten. Gleich darauf stürzte der Wirt aus der Tür. »Die Hochzeiter sind da!« rief er dem nachfolgenden Gesinde zu. »Sputet euch! die Tische sollten schon gedeckt sein.« Der Befehl wurde rasch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit; denn schon kam, von der lärmenden Ortsjugend umsprungen, ein stattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippschaft, zahlreiche Hochzeitsgäste und ein Rudel Neugieriger. Im Nu waren die Tische besetzt und umlagert, und nun ging es an ein Schmausen, Trinken und Jubilieren, und die Musikanten, die auch Streichinstrumente mitgebracht hatten, fiedelten und bliesen dazu, daß ihnen fast der Odem ausging. Es waren seltsam wechselnde Empfindungen, die unser Paar inmitten dieser lauten Lustbarkeit überkamen. Zuerst hatten sie erstaunt in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertschka das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die sah auch gar schön aus und mußte eine reiche Bauerstochter gewesen sein. Sie trug ein knappes Mieder von schwarzem Samt, das ihren schlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kettlein von eitel Gold war fünf- oder sechsmal um ihren Hals geschlungen, und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar stand ihr zu dem etwas stolzen und strengen Gesichte wie eine kleine Krone. Auch der Bräutigam war ein stattlicher Junge, dem gegen Bauernsitte ein Bärtchen an der Oberlippe dunkelte und dessen schmuckes, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl imstande war, die Bewunderung Georgs auf sich zu lenken. Nach und nach aber beschlich die beiden ein banges, drückendes Gefühl der Verlassenheit unter den vielen [136] Menschen, davon gar manche sie mit scheelen Blicken musterten, als wollten sie fragen: »Was haben die hier zu schaffen?«
Endlich wandte sich Tertschka an Georg. »Komm, laß uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen uns drüben am Waldrand niedersetzen. Dort können wir alles von weitem mit ansehen und der Musik zuhören.«
Er war es zufrieden, und so schritten sie dem dunklen Fichtenwald entgegen, dessen Saum die helle Wiese begrenzte. Auf einem kleinen Abhange ließen sie sich nieder und lauschten den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen herüberzogen. Mit einemmal ward es still; sie sahen, wie drüben alles von den Tischen aufstand und einen Halbkreis bildete. Gleich darauf begannen wieder die Geigen zu schwirren.
»Die Brautleute tanzen!« rief Tertschka. Und wirklich war es so. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wendungen bewegten sich die hohen schlanken Gestalten auf dem grünen Plan. »Wie lustig sie sich drehn!« fuhr Tertschka fort, indem sie sich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte. »Schau nur!«
»Ja, es sind glückliche Leute«, sprach er, ohne hinzusehen, wie im Traum. – »Wenn wir nur auch einmal Hochzeit haben könnten.«
»Ach geh«, sagte sie leise und langte nach einer roten Blume, die zu ihren Füßen blühte.
»Resi«, fuhr er fort – es war das erstemal, daß er sie so nannte – und legte seinen Arm scheu und bebend um ihren Leib, »Resi – ich hab' dich so lieb!«
Sie erwiderte nichts; aber in dem Blick, den sie zu ihm aufschlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und das Brautpaar, durch allseitiges Rufen und Händeklatschen angefeuert, sich im stürmischen Wirbel dahinschwang, da zog er sie fest ans Herz, und ihre Lippen schlossen sich zu einem langen, tiefen Kusse zusammen. –