IV.
Sie waren, damit es nicht auffalle, jedes allein nach Hause gegangen, nach langer, langer Zeit mit einem Gefühl des Glückes in der Brust. Und da sie an Entbehren gewöhnt waren, so genügte es ihnen auch, daß sie sich nun öfter und öfter sehen und einander mit den Augen zulächeln konnten. Denn es wurde ja jetzt wirklich Frühling, und die alten Fliederhecken im Garten standen, vom warmen Sonnengold umglänzt, in voller Blüte. Und da saßen und gingen die Bewohner des Armenhauses [123] wieder im Freien herum. Die Frauen waren in der Mehrzahl und hielten sich in jeweilig befreundeten Gruppen zusammen. Nur das Fräulein Hanstein fand das unter ihrer Würde und blieb zumeist in dem leeren Zimmer, wo sie ihren Freund ungestört empfangen konnte. Die Rosi aber hatte sich an ein altes Weiberl angeschlossen, das Hofbauer hieß und mit einer großen verhärteten Balggeschwulst an der rechten Seite des Halses behaftet war. Trotzdem zeigte sich die kleine schmächtige Greisin noch beweglich und rührig und half der Rosi in allem, was diese allein nicht zu leisten vermochte. Sie war ihr beim Ankleiden behilflich, reinigte für sie Zimmer und Gang, kochte für beide Kaffee und holte aus der nächsten Wirtschaft das gemeinsame Mittagsmahl herüber, das aus Suppe und etwas Gemüse bestand. Fleisch konnten die Ärmsten ja nicht erschwingen. Dennoch erholte und kräftigte sich Rosi zusehends, und Schirmer hatte die Freude, wahrzunehmen, wie sie von Tag zu Tag beweglicher wurde. Auch mit den Händen schien es besser zu werden; denn er sah, daß sie schon ab und zu Strickversuche machte, wobei sie freilich mit dem Halten der Nadeln große Mühe hatte.
Eines Tages, als sich Schirmer zufällig allein im Herrenzimmer befand, erschien ein Postbote und überbrachte ihm einen Brief, dessen Empfang er bescheinigen mußte. Er war sehr überrascht, denn er konnte sich gar nicht erklären, wer ihm geschrieben haben sollte. Doch nicht etwa seine Frau? Als er aber zögernd und prüfend das Kuvert betrachtete und darauf die Amtsstampiglie eines Wiener Advokaten bemerkte, erschrak er heftig. Sollte es sich da um etwas Rückständiges, Vergessenes aus früherer Zeit handeln, das jetzt mahnend und fordernd an ihn herantrat? Mit zitternder Hand entfaltete er den Brief. Als er ihn aber gelesen hatte, bebte er am ganzen Leibe. Doch nicht aus Angst, sondern aus Freude. Er mußte sich setzen, sonst wäre er vielleicht umgesunken. Denn der Advokat schrieb, daß der Wiener Bürger Jakob Bürdell im Jahre 1831 eine Stiftung für verarmte Familienmitglieder errichtet habe, die [124] den Namen Bürdell führen oder mütterlicherseits mit ihm zusammenhängen. Diejenigen, so diese Stiftung genossen hatten, seien im Laufe der Jahre mit dem Tode abgegangen; zuletzt ein altes Ehepaar, das vor kurzem fast gleichzeitig gestorben sei. Da sich schon seit langem niemand mehr um eine Präbende gemeldet, so habe er, der Advokat, als Rechtsanwalt der Stiftung, es für seine Pflicht erachtet, Nachforschungen anzustellen, da sonst das zu ziemlicher Höhe angewachsene Stiftungsvermögen dem Fiskus anheimfallen würde. Dabei habe er nun ermittelt, daß die Mutter Schirmers eine geborene Bürdell gewesen und daß nunmehr ihrem Sohne, da dieser gänzlich verarmt sei, der Anspruch auf eine Präbende von jährlich sechshundert Gulden zustehe. Schirmer möge daher in der nächsten Woche sich in der Advokaturskanzlei einfinden, wo man alles Weitere besprechen und veranlassen werde.
Der saß noch immer da, das Blatt in den Händen. Er las es wieder und wieder, denn er traute seinen Augen nicht; es war ihm, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Aber keinen schmerzenden, sondern einen, der ihn in einen wonnigen Taumel versetzte. Nein, das Glück! Sechshundert Gulden aufs Jahr! Sollte das wirklich möglich sein! Aber da stand's ja schwarz auf weiß. Daß ihm auch seine Mutter nie von dieser Stiftung gesprochen hatte! Freilich, sie waren ja wohlhabende Leute damals, und da brauchte man an derlei nicht zu denken. Jetzt aber gab es kein Hindernis mehr, daß er und die Rosi zusammenziehen konnten in eine kleine hübsche Wohnung, irgendwo in einem billigen Vorort. Das sollte ein Leben werden! Und sie war ja auch fast gesund. Erst kürzlich hatte er wahrgenommen, daß sie die Zimmerfenster scheuerte. Sie konnte also auch schon ihre Hände wieder gebrauchen. Und so mußte sie es auch gleich erfahren, was für ein unverhofftes Glück ihnen jetzt bevorstand. Wenn er sie nur für einen Augenblick sehen und ihr rasch alles sagen könnte! Er schob den Brief sorgfältig in die Brusttasche und eilte die Treppe hinunter in den Garten. Dort saßen einige[125] Weiber, aber die Rosi war nicht darunter. Er ging auf und ab in der Erwartung, daß sie vielleicht kommen würde. Aber sie kam nicht. In seiner Unruhe trat er unter die Einfahrt und blickte nach rechts in den Gang der Weiberabteilung hinein. Er war leer und still. Jetzt aber ging eine der beiden Zimmertüren auf, und Rosi trat heraus, einen irdenen Krug in der Hand.
Sie näherte sich, ohne ihn zu gewahren, der Wasserleitung und drehte den Hahn. »Rosi!« rief er gedämpft. Sie erschrak und wandte sich um. »Erschrecken S' nicht«, flüsterte er. »Ich hab' Ihnen was zu sagen.«
»Was denn?« fragte sie leise.
»Etwas sehr Gutes. Aber so in der Eil' kann ich nicht alles herausbringen. Wär's denn nicht möglich, daß wir eine Viertelstund' lang miteinander reden könnten?«
»Ja, wo denn?«
Er dachte einen Augenblick nach. »Wissen S' was, kommen S' heut nachmittag um viere zur Barbarakapell'n in der Krottenbachstraßen. Dort gehen immer nur wenig Leut'. Und weit ist's auch nicht.«
»Weit ises nicht«, sagte sie zögernd. »Aber –«
»Kommen S' nur«, drängte er. »Es trifft sich ja auch gut, daß heut' der Weißeneder und die Hanstein ein' Ausflug g'macht haben. Ins Krapfenwaldl. Dort wollen s' z' Mittag essen. Denn es ist heut ihr Namenstag, und sie wird vielleicht irgendwoher ein Geld'kriegt haben. Also um viere wart' ich auf Sie bei der Kapellen. Ich hab' Ihnen wirklich was Wichtig's zu sagen. Ich hoff, Sie werden eine Freud' haben, Rosi.« Er sah sie dabei dringend und flehend an.
Sie zögerte noch. Endlich sagte sie: »Na ja, ich werd' kommen. Aber jetzt gehn S'«, fuhr sie flüsternd fort und legte den Finger an den Mund, »mir scheint, ich hör' wen.« Wirklich knarrte die zweite Tür.
Er war schon fort, als zwei Weiber heraustraten, die sahen ihn also nicht mehr. Er aber ging jetzt in die kleine schlechte Wirtschaft, [126] um wie gewöhnlich dort zu essen. Er konnte jedoch kaum einen Bissen hinunterbringen, so aufgeregt war er. Und nachher mußte er wieder Karten spielen. Sie waren heute wieder nur zu drei, und die Mitspieler dachten ihn tüchtig zu rupfen. Aber merkwürdig; er, der sonst immer verlor, gewann heute in einem fort. Das ärgerte die beiden Kumpane, und endlich warf der fallierte Gemischtwarenhändler Wufka heftig die Karten auf den Tisch und schrie: »Der Schirmer hat heut ein Sauglück, ich spiel' nicht weiter!« Darüber war er natürlich sehr froh und machte, daß er in die Krottenbachstraße kam. Es war noch nicht viel über drei Uhr, und er konnte noch lange warten. Es war ein heißer Juninachmittag, und die weitgedehnte Straße lag im grellen Sonnenschein da. Die Häuser schienen ausgestorben, kein Wagen fuhr. Auch von der angrenzenden Türkenschanze kein Laut. Denn die Kinder, die dort auf den grasigen Abhängen zu spielen pflegten, waren noch in der Schule. Das heiße Licht und der weiße Straßenstaub, der es zurückwarf, blendeten ihn und taten seinen Augen weh. Er schritt bis zu der ziemlich weit oben liegenden Kapelle und noch ein Stück darüber hinaus. Da sah er ein kleines, abseitiges Wirtshaus, das er wohl so vom Vorübergehen kannte, in das er aber niemals hineingegangen war. Es lag feldeinwärts an der Straßenerhöhung und war mit einem terrassenförmigen Vorgärtchen versehen, in welchem Tische und Stühle standen. Auch hinter dem Hause befand sich ein schmaler Garten mit schattenden Wipfeln. Diese Gastwirtschaft, in der man auch Kaffee und Milch bekam, war an Wochentagen fast gar nicht besucht, nur an Sonn- und Feiertagen fielen oft zahlreiche Gäste ein, meistens Ausflügler, die hier ein Gabelfrühstück oder bei der Rückkehr ein spätes Nachtmahl einnehmen wollten. ›Dahinein werd' ich mit der Rosi gehn‹, dachte Schirmer. ›In dem hinteren Garten ist es einsam, und da können wir alles ungestört miteinander bereden.‹ Er freute sich, daß er die Entdeckung gemacht hatte, und kehrte wieder um. Es dauerte aber noch eine gute Weile, bis er endlich die Erwartete von weitem kommen [127] sah. Sie ging nicht sehr rasch und hatte ein verwaschenes blaues Kopftuch zum Schutz gegen die Sonne tief ins Gesicht hineingezogen. Er eilte ihr entgegen.
»Da bin ich«, sagte sie, seinen Gruß erwidernd, »wenn uns nur niemand sieht.« Dabei blickte sie ängstlich hin und her.
»Wer sollt' uns denn sehen?« erwiderte er. »Und wenn auch, es liegt nix mehr dran. Kommen S' nur mit. Ich hab' ein gutes Platzl gefunden; wo ich Ihnen alles sagen kann.«
Sie begriff nicht, was er eigentlich vorhatte, und schritt zögernd an seiner Seite hin. »Da ist die Kapellen«, sagte sie, als sie davor angelangt waren.
»Ja, das ist sie. Aber wir gehn noch ein Stückel weiter«; er wies gegen das kleine Haus hin. »Dort oben setzen wir uns im Garten nieder.«
»Das ist ja ein Wirtshaus«, sagte sie.
»Freilich ist's eins. Und da können wir gleich eine Jausen nehmen.«
»Ich hab' mein bissel Kaffee schon trunken«, warf sie ein.
»Das macht nichts. Sie können noch ein' zweiten trinken. Oder ein Glas Bier. Das werden S' bei der Hitz' schon vertragen.«
»Aber ich weiß gar nicht –« Sie sah ihn unschlüssig und forschend an.
»Werden S' schon erfahren. Kommen S' nur, Frau Weigel.«
Und so schritten sie jetzt die acht oder zehn Stufen empor, die an dem Vorgärtchen vorbei ins Haus und in den rückwärts gelegenen Garten führten. Sie setzten sich an einen der letzten rohgezimmerten Tische. Eine angenehme, dämmerige Kühle umfing sie.
»Is da nicht schön«, sagte er, »unter die alten Nußbäum'?«
»Ja«, erwiderte sie und schob ihr Kopftuch zurück, so daß die weiße Stirn und zwei schlichte, aber noch immer füllige Haarscheitel zum Vorschein kamen. Er sah sie an und wollte [128] etwas sagen. Aber da erschien ein verschlafen aussehender Bursch in Hemdärmeln und fragte nach ihrem Begehr.
»Bringen S' derweil eine Flaschen Bier«, sagte Schirmer.
»Abzug oder Lager?«
»A Lager! Wir brauchen nicht zu sparen«, fügte er, zu Rosi gewendet, hinzu, als der Bursch fort war. Die Rosi aber blickte noch immer unsicher und verlegen vor sich hin und nestelte an den dünnen Trikothandschuhen, die sie trug. Alte, zurückgelegte Waren, wie sie im Ausverkauf um ein paar Kreuzer zu haben war.
Als das Bier auf dem Tische stand, öffnete Schirmer den Verschluß der Flasche und füllte die Gläser.
»Für mich net so viel«, sagte Rosi abwehrend, »ich bin's nicht g'wohnt.«
»Ach was«, erwiderte er. »Also jetzt anstoßen!« Er hob sein Glas und hielt es ihr entgegen. Sie tat ihm Bescheid und trank, aber eigentlich nur so den Schaum weg. Er jedoch leerte sein Glas fast mit einem Zuge, denn durch die Hitze und Aufregung war er sehr durstig geworden; die Zunge hatte ihm schon an dem Gaumen geklebt. »So. Und jetzt!« sagte er mit einem tiefen Atemzug und holte den Brief des Advokaten aus der Brusttasche hervor. Dann rückte er sich auf der Bank zurecht und begann den Brief langsam und deutlich vorzulesen. »Na, was sagen S' denn jetzt, Frau Weigel?« fragte er, als er fertig war.
Sie war ganz blaß geworden, und ihre Hände zitterten. »Was soll ich denn sagen? Es ist ein groß's Glück für Sie, Herr Schirmer.«
»Und für Sie auch! Denn jetzt können wir aus dem höllischen Haus fortkommen und miteinander wirtschaften.«
Sie schwieg. Doch da er sie, auf eine Antwort harrend, dringend ansah, so sagte sie endlich: »So sollt's doch wahr werden?«
»Freilich! Es kommt nur drauf an, ob Sie wollen?« Er suchte in ihrem Antlitz zu lesen, und da fand er auch, daß sie wollte, obgleich sie nichts erwiderte und die Augen auf die Tischplatte [129] gesenkt hielt. »Na also«, fuhr er fort, »Jetzt haben wir nur mehr eine Wohnung z' finden, die für uns paßt.«
»Ich wüßt' schon eine«, sagte sie nachdenklich.
»So? Wo denn?«
»In Salmannsdorf. Dort hab' ich eine Tant'! Ein arm's Weib, obwohl s' ein klein's Haus hat. Solang ihr Mann glebt hat, der als Anstreicher ein' guten Verdienst g'habt hat, haben s' auch allein drin g'wohnt. Aber seit er tot ist, muß sie eine Partei 'neinnehmen. Und da hat s' halt ihr Kreuz. Denn der Zins wird oft schuldig blieben oder gar net 'zahlt. Und da wär sie g'wiß froh, wenn s' ein paar ordentliche Leut' in die Wohnung krieget.«
»Und ist die Wohnung sauber?«
»Wie ich sie kenn', ist sie ganz gut. Zimmer, Kammer und Kuchel. Ein Gartl ist auch dabei.«
»Das wär' ja grad, was wir brauchen täten. Und aufm Land lebt sich's auch schöner als in der Stadt, wo wir doch in so ein Zinshaus für kleine Parteien ziehen müßten und eine Menge Nachbarn hätten – weiß Gott, was für eine.«
»Freilich. Und die Tant' ist auch ein seelengutes Weib. Wenn ich g'sund g'wesen wär' und ein bißl was hätt' leisten können, hätt's mich auch zu sich g'nommen, obwohl für mich eigentlich kein Platz g'wesen wär'. Denn sie hat mit ihrer Tochter selber nur ein ganz kleines Zimmerl.«
»Na, alsdann. Da gehn wir halt miteinander nach Salmannsdorf und schaun uns die G'schicht' an.«
»Ich hab' eh schon immer die Tant' heimsuchen wollen.«
»Wissen S' was? Gehn wir gleich morgen. Morgen ist Sonntag, und da wird's auch der Tant' ganz recht sein, wenn wir kommen. Wir können uns wieder bei der Kapellen z'sammfinden. Aber schon in der Früh', daß wir nicht in die große Hitz' hineinkommen.«
»Erst geh' ich in die Mess' mit der Hofbauer«, sagte sie.
»Recht ist's. Beten S' für uns. Wir müssen auch unserm [130] Herrgott danken, daß er uns ein so unverhofftes Glück g'schickt hat in unserm Elend. Lang g'nug haben wir's ertragen müssen, aber jetzt wollen wir, soweit's noch geht, froh und zufrieden leben.« Er legte seine Hand sanft auf die ihre. Sie fester anzufassen oder gar zu drücken, wagte er nicht, denn er fürchtete der Rosi weh zu tun.
»Meine Händ' sind auch schon besser«, sagte sie still.
»Sehn S', ich hab's g'sagt. Aber lassen S' einmal schaun.«
Er zog ihr leise und vorsichtig den Handschuh von der Rechten und blickte forschend auf die Hand nieder, die nach und nach zum Vorschein kam. Sie hatte die krankhafte Mißfarbe verloren und erglänzte fast rosig. Aber gerade dieses Glänzen der Haut und eine stark gerötete Schwellung an den Fingerspitzen zeigten, daß die Hand noch immer nicht gesund war. »Und weich ist sie auch schon«, sagte er mit zartem Drücken. »Sie haben immer eine so schöne Hand g'habt, Rosi.«
Sie erwiderte nichts, ließ ihm aber die Hand, die er in der seinen behielt. Und da fühlte er sich durchrieselt wie damals, als er sie zum ersten und einzigen Mal ergriffen hatte. Und es kam ihn an, sich darauf niederzubeugen und sie zu küssen. Aber er zagte wie damals und sagte nur innig: »Rosi!«
Er sah, wie sie ganz blaß wurde, und fühlte, daß ein leichter Schauer durch ihren Körper ging. Und da rückte er unwillkürlich dicht an sie heran und sah ihr mit den ehrlichen braunen Augen tief in die sanften blauen, in die ein feiner, feuchter Schimmer getreten war. So weilten jetzt die beiden, von einer späten, vielleicht letzten Wallung ihres Blutes ergriffen. Er hörte ihr Herz schlagen, und sie vernahm seine tiefen Atemzüge, die heiß an ihre Wange drangen. »Rosi!« flüsterte er mit bebender Stimme. Sie schloß die Augen. Und da war es, als suchte sein Mund den ihren ...
Plötzlich fuhren sie auseinander; Schritte waren vernehmbar geworden. Und vor ihnen standen in einiger Entfernung der Weißeneder und die Hanstein. Er in einem verschossenen [131] karierten Sommeranzug, sie in einem hochgeschürzten alten Musselinkleid, auf den ungleich gefärbten Haaren einen zerknitterten, mit allerlei buntem Zeug überladenen Strohhut; in der Hand hielt sie einen großen Strauß von Wiesenblumen. Er aber hatte die seine in die Seite gestemmt und betrachtete mit giftigem Behagen das überraschte Paar, während seine Begleiterin hochmütig die schadhaften falschen Zähne fletschte.
»Ah, dahier bleib'n mir net!« sagte endlich Weißeneder mit lauter Stimme. »Kommen S', gehn m'r ins Vorgartl.« Und die beiden wendeten sich mit einem letzten verachtungsvollen Blick und verschwanden.
Der Schirmer aber und die Rosi waren noch immer wie versteinert. Endlich sagte diese mit tonloser Stimme: »Mein Gott, wie sein denn die herkommen?«
»Das weiß der Teufel«, erwiderte er.
»Daß uns grad die haben sehen müssen!« jammerte sie.
»Na, was is' denn weiter!« sagte er, sich gewaltsam fassend.
»Ich scham' mich soviel«, fuhr sie fort und blickte zur Seite.
In Wahrheit schämte er sich auch. Aber er erwiderte: »Was haben wir uns denn zu schamen? Und grad vor denen da! Die zieh n ja immer miteinander herum, die zwei alten Vogelscheuchen.«
»Na ja, aber –«
»Kein ›aber‹, liebe Rosi. Wir sind einig miteinander, und da hat auch kein Mensch mehr was zu sagen.«
»Sie wer'n schon sehn, was die zwei tun wer'n.«
»Was können's denn tun?« brauste er auf. »Und wenn's uns etwa die letzten Tag' in der Versorgung verbittern möchten, so bin ich noch da!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Bei ihm bewährte sich jetzt das Sprichwort, daß Gut Mut gibt.
»Nehmen's Ihnen nur vor dem Weißeneder in acht, das ist ein böser Mensch.«
»Das weiß ich. Ich hab' g'nug von ihm hinunterschlucken müssen. Aber jetzt soll er mir nur kommen.«
[132] Sie machte eine ängstliche Gebärde und wollte etwas sagen, aber es war, als brächte sie es nicht heraus.
In diesem Augenblick erschien der Bursch wieder, um nachzusehen.
»Noch a Flasch'n Bier!« rief ihm Schirmer zu. »Und habt's was z' essen?«
»An Käs und a Salami.«
»Also bringen S' a Salami. Und a paar Brot!« Und als der Bursch abging, wandte er sich an Rosi: »Wissen S', ich hab' ein' Hunger, denn ich hab' den ganzen Tag vor lauter Aufregung kein' Bissen'nunterbracht. Und Sie werden doch auch ein bissel was nehmen!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab' gar kein' Appetit.«
Er faßte wieder ihre Hand. »Aber sein S' doch nicht so niederg'schlagen, Rosi!«
Sie schwieg und seufzte tief auf.
»Aber gehn S', Sie machen mich ja ganz traurig. Und wir sollten doch lustig sein!«
Sie bemühte sich zu lächeln, aber sie vermochte es nicht.
Als jetzt das Angeschaffte gebracht wurde, fragte Schirmer: »Sein die zwei noch im Vorgartl?«
»Grad sein s'weggangen. Sie haben bloß an Kaffee trunken.«
»Gut is. Ich werd' auch gleich zahl'n.« Er tat es und gab sogar ein Trinkgeld, das er von seinem Spielgewinst nahm; im übrigen sah es mit seiner Kasse nicht zum besten aus, denn es war ja schon der zweiten Hälfte des Monats.
Jetzt bat er die Rosi, doch etwas zu nehmen; sonst würd' es ihm, wie er sagte, auch nicht schmecken. Ihr zuliebe nahm sie zwei Schnitten auf den Teller und brach ein Stückchen vom Brot weg. Aber sie mußte sich Gewalt antun, während Schirmer mit Heißhunger zu essen begann.
Die Sonne war inzwischen schon tiefer gesunken und warf von Westen her einen rötlichen Strahl durch die Wipfel, in denen ein paar kleine Vögel zwitscherten.
[133] Als Schirmer fertig war und auch das Bier schon zur Neige ging, sagte Rosi: »Ich glaub', wir gehn jetzt.«
»Naja«, erwiderte er, sein Glas ausschlürfend. »Aber bereden wir gleich alles wegen morgen.«
»Mein Gott, ich hab' schon völlig die Lust verloren –«
»Wär' nicht übel! Das gibt's nicht. Wir haben's uns vorg'nommen und werden uns die Freud' nicht verderben lassen. Kurzum: Wir treffen uns morgen früh um achte bei der Barbara-Kapellen.«
»Um achte noch nicht. Da fangt erst die Mess' an, und die versäum' ich morgen um keinen Preis.«
»Na, also um Neune. Ist auch noch Zeit genug, wenn's da auch schon ein bissel heiß ist. Wir gehn halt recht langsam hinüber.«
Es schien, als wollte sie noch etwas einwenden; da sie aber erkannte, daß er nicht abzubringen war, so stimmte sie schweigend zu. Darauf erhoben sich beide und traten den Heimweg an. Während des kurzen Weges wollte die Rosi immer etwas sagen, aber sie brachte es nicht übers Herz.
So waren sie bei dem Hause angelangt, in das die Rosi gleich hineinging. Er aber kehrte wieder um, gegen die Türkenschanze zu. Denn trotz des Mutes, der ihn angewandelt hatte, war er infolge seiner Natur auch wieder etwas zaghaft geworden und wollte nicht gleich mit dem Weißeneder zusammentreffen. Er ging bis zu dem kleinen erhöhten Rondell, wo unter schmächtigen, spärlich belaubten Ahornbäumchen mehrere Holzbänke angebracht waren. Dort weilte des Abends immer eine Anzahl von Müttern und Kindermägden, kleine Rollwagen vor sich, in denen jüngste Sprößlinge sanft schliefen, während ältere sich lustig auf den umliegenden Sandhaufen tummelten. Auch liebende Paare gab es oft, die hier die frische Abendluft genossen. Er fand noch ein Plätzchen und dachte still darüber nach, was nun alles geschehen würde. Und obgleich es ihm auch nicht mehr ganz leicht ums Herz war, so freute er sich doch auf [134] den morgigen Tag, den er mit der Rosi in Salmannsdorf verbringen würde – noch mehr aber auf die Zukunft. Die Rosi jedoch saß auf ihrem Bett und begann leise zu weinen. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war leer, denn die anderen Weiber, auch die Hofbauer, weilten noch im Garten. In dem anstoßenden kleineren Zimmer aber zankte die Hanstein mit einer hinfälligen, schwindsüchtigen Person, die ihr die Dienste einer Kammerzofe leisten mußte.