Ludwig Rubiner
Politisierung des Theaters

[153] Es wäre zu denken, daß das Theater in unserer Zeit jene Kategorien der bloßen Zweckmäßigkeit, die bis heute unordentlich mit Angelegenheiten der Kunst vermischt waren, reiner und gesonderter erscheinen läßt.

Wie man sich heute darüber klar ist, daß die Kategorie des Theaters, die nur Spannung des Zuschauers bedeuten will, eine in ihren Grenzen durchaus berechtigte Qualität ist, so sollte man ruhig auch allen anderen Funktionen des Theaters, die außerhalb der Kunst liegen, den gleichen Wert als rein soziologischen Qualitäten zusprechen.

Die Vorgänge auf diesem Zweckmäßigkeitstheater hätten ihren Wert nicht in der Konzentration der allgemeinen Bedeutung und Zeitlosigkeit eines Vorganges, sondern in der Konzentration des Moments. Die Franzosen haben allezeit die besonderen Zweckmäßigkeitskategorien des Theaters zu schätzen gewußt. Es war in Paris nie wunderbar, wenn das Publikum rein menschlich gedachte Situationen momentan politisch ausdeutete und beklatschte. Aber die Teilnahme an Vorgängen des reinen Kunsttheaters war freilich stets geringer. Sie wurde in Frankreich ersetzt durch die Teilnahme an den Erscheinungen der Oper, die ja auch nur eine rein soziologische Funktion des Theaters ist.

Daß in Deutschland der »Faust« von der Menge der Zuschauer politisch ausgelegt wird, ist eine Erscheinung, die seit Generationen nicht mehr zu erwarten war. Dieser neue Sinn für die Politisierung des Theaters deutet auf die starke Symbolik der momentanen Lage.

Es wäre nun eine bestimmte Art von Werken fürs Theater denkbar, die auch die Aktualität symbolisch und allgemein bedeutend machten. So etwas, wie es schon Stücke gibt, die die reine Sondererscheinung des phantastischen Einfalles symbolisch deuten lassen. Der Dichter für das Kunsttheater setzt die Gemeinsamkeit des psychischen Erlebnisses beim Zuschauer voraus, und durch die Konzentration der Zeitlosigkeit [153] individualisiert er den Zuschauer. Der Dichter fürs politische Theater setzt gleichartig eine Voraussetzung, aber die der Gemeinsamkeit des äußeren Erlebnisses. Seine Konzentration der Aktualität ist negativ; sie erfolgt gleichsam durch Aussparen gewisser Stellen, in die der Zuschauer individuelle Nuancen der Tagesvorgänge hineindeutet. Der politische Dichter sozialisiert daher den Zuschauer.

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