Peter Rosegger
Waldheimat.
Erzählungen aus der Jugendzeit

Erster Band: Das Waldbauernbübel

Vorwort

Kindheitsheimat! – Das uralte Lied, dem man ewig horcht.

Es ist eine der göttlichen Eigenschaften unserer Seele, daß wir vergangenes Ungemach leichter zu vergessen pflegen, als vergangene Freuden, daß sich in der Erinnerung diese Freuden immer mehr von den Schlacken des Ungemachs reinigen, bis sie dastehen wie ein strahlender Himmelsaltar, auch dem alten Kinde noch. Man nennt sie Träumer, die Menschen, die so gerne ins Vergangene schauen; wir bedenken nicht, daß sie in traumhaftem Glücke einen Schatz bewachen, der unverlierbar und unzerstörbar ist – solange die Seele lebt, in der er ruht.

Kindheitsheimat. Ich habe kein Land gefunden in der weiten Welt, das so schön und glückselig wäre, als meine rauhe Bergeshöh' zwischen Wäldern und Wiesen. Wenn ich nun aber in diesem Buche von Kindheits- und Jugendtagen des Waldbauernbuben erzähle, so muß man diesen Buben nicht allemal gerade auf meine Person beziehen. Man kann es tun, aber mit einiger Vorsicht. Die Erzählungen wollen zu jener Gattung von Wahrheit gehören, welche durch den Poeten ins allgemeine gehoben wird und den ganzen Menschen zeigt.

Grundlage dieser Schriften sind meine Erlebnisse in jenen Bergen, zu jener Zeit von etwa 1848 bis 1870, und [5] auch Erlebnisse anderer, die mit mir und um mich gewesen sind. Es ist wohl schon mancher Kopf darüber geschüttelt worden, wieso ich in meiner Bauernhütte all die Zustände und Sitten und die vielen wunderlichen Kerle kennen gelernt hätte, ob sie denn gleich so von allen Talgründen, Waldwinkeln und Almmatten herbeigekommen wären, um sich von mir beschreiben zu lassen? Nun, Volksstudien habe ich in der Tat gar keine gemacht, ich habe die Leute nicht studiert, ich habe nur mit ihnen gelebt in guten und bösen Tagen. Und zwar nicht bloß in einer Hütte. Siebenundsechzig Bauernhöfe sind zu zählen, in denen ich als Handwerker gelebt, gearbeitet, gelitten und dem Himmel Löcher geschlagen habe vor Freudigkeit. Dann des Jungen flinke Beine, die überall wollten sein, die welt- und himmelgierige Seele des kleinen Guckinsleben, endlich das bißchen Dichterlatein – das alles zusammen gibt am Ende doch etwas, das des Aufschauens wert ist.

Davon nun ist das Buch »Waldheimat« entstanden. Es ist in dieser neuen Ausgabe sehr erweitert worden. Zu den Kindesjahren und Flegeljahren sind die holden Jünglingstage des Schneiderbuben gekommen und die Waldferien des Studenten. Eine eigentliche Lebensbeschreibung ist es nicht geworden (eine solche kurzgefaßte ist in dieser neuen Ausgabe, erster Band, beigegeben:. Es ist nichts anderes, als eine Sammlung von Erlebnissen und Erfahrungen aus dem Jugendleben in der Waldheimat. Die Erzählungen sind in sehr verschiedenen Zeiten entstanden. Sie bleiben stehen wie sie gewachsen sind, doch habe ich ihre Formen und Launen noch einmal scharf unter das Gewissen genommen. Die [6] beabsichtigte chronologische Reihenfolge ließ sich des eigensinnigen Inhaltes wegen vielleicht nicht immer genau durchführen. Auch hat mein schlechtes Gedächtnis am Ende bisweilen Dinge und Namen verwechselt – was in manchen Fällen sogar wohlgetan ist. Soll gelegentlich schon jemand bloßgestellt werden, so will ich's selber sein. Ich bin's gewohnt. – Was war ich doch für ein armer Schlucker, ohne es zu wissen, für ein lustausflatternder Schwärmer, ohne es zu dürfen, und was war ich bisweilen für ein Lausbub, ohne es zu wollen! Ich tat aber, was mir lieb war, ohne viel zu fragen. Weil die ganze schöne Welt anderen gehörte, so schuf ich mir eine eigene,-nun, sie ist auch danach geworden. Der Spaß ward zum Ernst, der Ernst zum Spiel, das Spiel zum Leben und jetzt war es, als wäre ich in allen Waldbauernleuten und alle wären in mir – als wäre ich der einfältige, hundertfältige, der weltüberlegene, ewige Waldbauernbub.

Jene Zeiten sind vorbei, aber das ist nicht vorbeigegangen. Das ist geblieben. Wie das uralte Waldbauernhaus noch steht, verlassen und vergessen mitten in junger Waldwildnis, so stehen die alten Gestalten in den wuchernden Erinnerungen. Mir bringen sie die Jugend zurück. Dem Leser vielleicht ein wenig kühle Waldluft und schuldlose Kindesfroheit.

Von meinen Vorfahren
[7] [9]Von meinen Vorfahren.

Einleitender Blick in die Vorzeiten der Waldheimat


Bauerngeschlechter werden nur in Kirchenbüchern verbucht.

Das Kirchenbuch zu Krieglach, wie es heute vorliegt, beginnt im siebzehnten Jahrhunderte mit dem Jahre 1672. Die früheren Urkunden sind wahrscheinlich bei den Einfällen der Ungarn und Türken zugrunde gegangen. Zu Beginn des Pfarrbuches gab es in der Pfarre schon Leute, die sich Roßegger schreiben ließen. Nach anderen Urkunden waren in jener Gegend schon um 1290 Rossecker vorhanden. Sie waren Bauern. Teils auch Amtmänner und Geistliche. In Kärnten steht noch heute eine Schloßruine, Roßegg oder Rosegg genannt; man könnte also, wenn man hoffärtig sein wollte, sagen, die Roßegger wären ein altes Rittergeschlecht und obiges Schloß sei ihr Stammsitz. Aber diese Hoffart brächte zutage, daß wir herabgekommene Leute wären. – Bei Bruck an der Mur in Steiermark steht ein schöner Berg, der auf seiner Höhe grüne Almen hat und einst viele Sennhütten gehabt haben soll. Dieser Berg heißt das Roßegg. Man könnte also, wenn man bescheiden sein wollte, auch sagen, die Roßegger stammten von diesen Almen, wo sie einst Hirten gewesen, Kühe gemolken und Jodler gesungen hätten. – In der nächsten Nachbarschaft der Krieglacher Berggemeinde Alpel, in der Pfarre Sankt Kathrein am Hauenstein, der Gegend, die einst [9] von Einwanderern aus dem Schwabenlande bevölkert worden sein soll, steht seit unvordenklichen Zeiten ein großer Bauernhof, von jeher insgemein »beim Roßegger« genannt, trotzdem die Besitzer des Hofes nun schon lange anders heißen. Möglich, daß genannter alte Bauernhof das Stammhaus der Roßegger ist. Diese sind ein sehr weitverzweigtes Geschlecht geworden; in Sankt Kathrein, in Alpel, in Krieglach, in Fischbach, in Stanz, in Kindberg, in Langenwang usw. gibt es heute viele Familien Roßegger, deren Verwandtschaft miteinander gar nicht mehr nachweisbar ist. Zumeist sind es einfache Bauersleute. Ein Priester Rupert Roßegger hat große Reisen gemacht, darüber geschrieben und auch schöne Gedichte verfaßt. – Das, was ich von meinen Ahnen weiß, hat mir größtenteils mein Vater erzählt, er hat besonders in seinen alten Tagen gerne davon gesprochen. Was daran Tatsache, was Sage ist, läßt sich schwer bestimmen.

Der Bauernhof in Alpel, zum untern Kluppenegger, in diesem Buche auch der »Waldbauernhof« genannt, gehörte zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts einem Manne, genannt der Anderl (Andreas) im Kluppenegg. Das soll ein wohlhabender Mann gewesen sein und in der Erinnerung der Familie wird er noch heute der »reiche Kluppenegger« geheißen. Er hat ein Pferd besessen, mit welchem er für die Gemeinde Alpel den Saumverkehr mit dem Mürztale (Fahrweg hat es damals noch keinen gegeben) versorgt haben dürfte.

Der Anderl im Kluppenegg war einmal beim »Graßschnatten« vom Baum herabgefallen und hatte einen hinkenden Fuß davongetragen. So soll er des Sonntags auf seinem Rößlein in die Kirche geritten sein, auch beim [10] Wirtshause sich den Krug Wein aufs Rößlein haben reichen lassen und ein großes Ansehen gehabt haben.

Dieser Anderl hat wahrscheinlich auch das stattliche Haus gebaut, welches auf seinem Trambaume die Jahreszahl 1744 führt und dessen Zimmerholz an vielen Stellen heute noch hart wie Stein ist, weil man zu jener Zeit das Bauholz aus reisen Waldungen genommen hat. Der Anderl hatte einen Bruder bei sich in der Einwohne, der Zimmermann war. Zur Zeit gehörten zum Hofe zwei »Gasthäuseln«; in dem einen, das gleich oberhalb des Gehöftes stand, wohnte ein Schneider, in dem andern, das tief unten an der steilen Berglehne war, wohnte ein Schuster; der Anderl selbst verstand die Weberei, die Lodenwalcherei und die Hautgerberei, also hatte er die wichtigsten Gewerbe beisammen und konnte den Nachbarn damit aushelfen. Auch hatte er unten im Graben eine zweiläufige Getreidemühle gebaut und gleich in demselben Gebäude eine Leinölpresse. Der Anderl soll fast Tag und Nacht gearbeitet haben, sich ausgeruht nur auf dem Pferde. Von einem Kluppenegger geht die Sage, daß er eines Tages auf dem Pferde sitzend tot nach Hause gekommen sei; ob das von dem Anderl gilt oder von einem noch älteren, das kann ich nicht berichten.

Der Anderl hat nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter. Die soll viele Freier abgewiesen haben. Da kam der junge Nachbar vom Riegelbauernhof.

Das Riegelbauernhaus ist das zuhöchst gelegene in Alpel und von ihm aus sieht man rings über die Engtäler des Alpels hinweg in der Ferne hohe Berge. Man pflegte in alten Zeiten die Höfe hoch hinauf zu bauen, so hoch, daß man oft nicht einmal einen Brunnen hatte, eben wie [11] auch bei diesem Riegelbauernhofe, wo man jeden Tropfen Wasser unten an der steilen Berglehne holen mußte. Das Gebäude der Riegelbauern ist erst vor kurzem niedergerissen worden. In diesem Hause tauchten jetzt die Roßegger auf. Ihrer sollen zur Zeit viele Buben gewesen sein und einer davon, der Josef, ging zur Kluppeneggertochter herüber 1. Also hat die Kluppeneggertochter vom Riegelbauernhofe her den Josef Roßegger geheiratet, welcher geboren worden war am 16. März 1760.

Der Josef soll ein kleines, rühriges Männlein gewesen sein, an seinen kurzen, rundlichen Beinen niedrige Bundschuhe, grüne Strümpfe und eine Knielederhose getragen haben, auf dem Haupte einen breitkrempigen Filzhut, unter welchem lange graue Locken bis zu den Achseln herabreichten. Ein kleines hageres Gesicht, stets wohlrasiert, graue lebhafte Äuglein und im Munde allzeit ein harmloses Späßlein, so daß es immer zu lachen gab, wo der »Seppel« dabei war.

Der Seppel hat auch die Kunst zu schreiben verstanden. In einem alten Hausarzneibuche steht mit nun freilich verblaßter Tinte schlicht und schlecht geschrieben: »Groß Frauentag, 1790. Ich, Joseph Roßegger, habe am Heutigen den Erstgepornen Suhn Ignatzius bekemen. Empfelche das klein Kind unser Lieben Frau.«

Vom Seppel erzählt man auch, daß er schon in seiner Jugend graue Haare bekommen hätte. Er sei nämlich während eines schweren Nachtgewitters auf einer hohen Tanne von wütenden Wölfen belagert worden und habe Todesangst ausgestanden.

[12] Der Seppel soll eine Alm gepachtet und sich nebst Ackerbau und Holzwirtschaft viel mit Viehzucht befaßt haben. Er hatte zeitweilig acht Knechte und ebensoviele Mägde gehabt, zu denen nachher noch die eigenen Kinder kamen.

Die Söhne hießen Ignatz, Michel, Martin, Simon, Baldhauser, Jakob. Von diesen Brüdern ist die große Verträglichkeit und Einigkeit in der ganzen Gegend sprichwörtlich geworden. In jeder Arbeit halfen sie einander und wo an Sonntagen einer der »Kluppeneggerbuben« war, da sah man die anderen auch. Keiner ließ über die anderen ein böses Wort aufkommen, jeder stand für alle ein. Wenn es um einen Bruder ging, so hob selbst der Friedfertigste, der Ignatz, seinen Arm. Wer einen dieser Burschen überwinden wollte, der mußte alle sechs überwinden und der, für den einer derselben eintrat, hatte sechs gute Kameraden.

Mehrere dieser Brüder kauften sich später Bauerngüter im unteren Mürztale oder erheirateten sich solche. Dadurch entkamen sie der Militärpflicht. Soldat ist nur einer gewesen, derselbe starb zu Preßburg an Heimweh. Der Baldhauser, welcher die Soldatenlänge nicht hatte, brauchte sich um einen Besitz nicht zu bemühen, er blieb im heimatlichen Hofe als Knecht.

Der Josef erreichte ein hohes Alter. Auf einem Besuche bei einem seiner verheirateten Söhne im Mürztale ist er fast plötzlich, über Nacht, gestorben (1815). Bevor er zu jenem Besuche fortging, soll er gebeugt und auf seinen Stock gestützt, hastig dreimal um den Kluppeneggerhof herumgegangen sein und dabei mehrmals gesagt haben: »Nicht geboren, nicht gestorben, und doch gelebt!« Als [13] er hierauf nicht mehr heimgekommen war, hat man das so gedeutet, als hätte er sagen wollen: In diesem Hause bin ich nicht geboren und werde darin nicht sterben, und habe doch darin gelebt.

Zur selben Zeit war schon sein Sohn Ignatz (geboren 1790) Besitzer des Kluppeneggerhoses.

Er heiratete eine Tochter aus dem Peterbauernhofe, namens Magdalena Bruggraber 2. Diese Magdalena hatte auch mehrere Brüder, wovon einer sich das nachbarliche Grabenbauernhaus erwarb; sein Bruder Martin war bei ihm Knecht. Seit jeher waren diese beiden ein paar gute Genossen gewesen zu den Kluppeneggersöhnen; jetzt in Verwandtschaft getreten, standen sie noch fester zu ihnen. Und doch ist es einmal anders geworden, wir werden das später erfahren.

Der Ignatz Roßegger soll ein schöner stattlicher Mann gewesen sein, Sonntags in schmucker Steirertracht, wie sie damals der Erzherzog Johann wieder zu Ehren gebracht hatte, ins Pfarrdorf gekommen sein und gerne gesungen haben. Dem »Natzl in Kluppenegg« seine helle Stimme war in der ganzen Gegend bekannt und keinen Tag gab Gott vom Himmel, ohne daß man den »Natzl« jauchzen hörte auf der Weiden oder in den Wäldern von Alpel. Im Gegensatz zu seinem Vater trug er kurzgeschnittenes Haupthaar, ließ aber seinen blonden Schnurrbart stehen. Die Herrschaft (das Grafenamt Stubenberg) sah es damals nicht gerne, wenn die Leute ihren Bart stehen ließen, das war »neuerisch«, aber den harmlosen [14] lustigen Natzl hat sie deshalb nie zur Verantwortung gezogen.

Den Ignatz soll nie jemand trotzig oder zornig gesehen haben, mit jedermann war er gemütlich und verträglich, die Alpelbauern sagten viel später noch, einen besseren Nachbar kann sich kein Mensch wünschen, als es der Natzl gewesen ist. Weitberufen war er als Kinderfreund und wo ihm auf Wegen und Stegen ein Kind begegnete, da tat er sein rotes Lederbeutelchen auf und schenkte ihm einen Kreuzer. Auch selbst war er mit Kindern reich gesegnet, sieben Söhne, Lorenz, Franziskus, Sebastian, Thomas, Anton, Jakob, noch einmal Franziskus, zwei Töchter, Margareta und Katharina, wurden ihm rasch nacheinander geboren; mehrere starben in früher Kindheit, die übrigen wuchsen auf unter den strengeren Züchten der Mutter Magdalena. Der Ignatz hatte sich aber, wahrscheinlich aus Ursache seiner Leutseligkeit, einen großen Fehler angelebt. Er saß gerne in den Wirtshäusern. Wenn er auch nicht viel trank, so trank er doch wenig, wenn er auch nicht um Hohes Karten spielte, so spielte er doch um Geringes, wenn er auch nicht schweren Tabak rauchte, so rauchte er doch leichten, und wenn er auch nicht Schulden machte, so ward sein kirschroter Geldbeutel zum mindesten immer um Einiges dünner. Die Woche über arbeitete er fleißig, des Sonntags aber, wenn er in die Kirche ging, da kam er nie zum Mittagsessen nach Hause, wie es sonst der Brauch, da setzte er sich in ein Wirtshaus, ließ sich's wohl geschehen, jodelte ein wenig, spielte ein wenig, war stets heiter, und erst wenn es finster wurde, ging er den weiten Weg ruhig nach Hause.

[15] Seine Magdalena muß ein scharfes Weib gewesen sein. So spät er auch kommen mochte, immer hat sie ihn wachend und gerüstet erwartet. Das soll dann stets ein Wetter gewesen sein, daß das ganze Haus erbebt hat, erbebt mitsamt den Kindern, die es nicht begreifen konnten, wie die Mutter wegen seines Nachtheimkommens so herb sein konnte, da er ja doch heimgekommen war. Er soll die heftigsten Vorwürfe ruhig und schweigend über sich ergehen lassen und nur immer die Kinder beschwichtigt haben, die sie durch ihr Lärmen aus dem Schlafe geschreckt.

Manchmal nahm er auch einen oder den andern seiner Knaben mit in die Kirche, was den Kleinen allemal ein Festtag war. Nur der Knabe Lorenz, so lieb er sonst seinen Vater hatte, wollte bald nicht mitgehen, denn der bekam Heimweh, wenn er den ganzen Sonntag nachmittag neben ihm im Wirtshause sitzen mußte. Er durfte bei diesem Sitzen zwar sein grünes Filzhütlein mit der Hahnenfeder aufbehalten, er bekam von der Wirtin sogar Zucker in den gewässerten Wein geworfen, aber trotzdem war es unter den rauchenden, lärmenden Bauern unsäglich öde, und wenn er seinen Vater bat, nach Hause zu gehen, antwortete dieser immer: »Gleich, gleich, Bübel, ich geh' schon, nur mein Lackerl Wein trink' ich früher aus.« Der Knabe durfte ja auch mittrinken, und so richtete er es mehrmals ein, daß er während der Trinkens scheinbar ungeschickterweise den Wein heimlich vergoß, aus Sorge, daß der Vater zuviel trinke. Aber als der Krug leer war, ließ ihn der Ignatz wieder füllen. Da hielt es der kleine Lorenz einmal nicht länger aus, stahl sich heimlich davon, ging durch die finsteren Wälder und [16] engen wasserdurchrauschten Berggräben nach Hause. Zu Hause getraute er sich nicht aufzuzeigen, weil er fürchtete, die Mutter könne den Vater, wenn er nachkäme, noch ärger hernehmen, daß er das Kind so allein hätte fortgehen lassen durch die großen Waldungen, wo man noch dazu von Wölfen hörte.

Der Knabe blieb also im Schachen hinter dem Hause stehen, bis der Vater nachkommen würde. Die Schatten der Schachenbäume wurden länger und vergingen endlich, ein Gewitter stieg auf und ging nieder, vom Riegelbauernwalde war es manchmal wie das Geheul eines wilden Hundes, der Knabe stand im Schachen und wartete auf den Vater. Der Vater begleitete aber an diesem Tage seinen Nachbar und Gevatter Grabler bis zu seinem Hause, kam daher auf einem anderen Wege heim und konnte der Magdalena Frage nach dem Knaben Lorenz nicht beantworten. Der Lorenz war im Wirtshause ja längst vor ihm heimgegangen und war jetzt nicht da. Der Schreck des Ignatz war so groß, daß er zur Stunde ein heiliges Fürnehmen tat, wenn der Knabe glücklich wiedergefunden werde, so betrete er sein Lebtag kein Wirtshaus mehr, außer es sei auf einer Wallfahrt oder sonst auf einer Reise, oder es sei bei seiner goldenen Hochzeit mit der Eheliebsten Magdalena.

Bei der Eheliebsten Magdalena würde zu solcher Stunde diese Wendung nicht viel gefruchtet haben, wenn der Knabe nicht jetzt zur Tür hereingegangen wäre.

Das Gelöbnis soll der Ignatz leidlich gehalten haben, obwohl durch einen seltsamen Zufall eine neue Versuchung herantrat, mit einem guten Kruge sich manchmal gütlich zu tun.

[17] Eines Tages, als sein Kind Jakob gestorben war, und als er, um beim fernen Pfarramte die Leiche anzeigen zu gehen, aus seinem Gewandkasten ein frisches Linnenhemde herausnehmen wollte, wie solche von seiner Mutter noch eigenhändig gesponnen und genäht im Vorrate waren, fiel es ihm auf, daß der Kasten einen so dicken Sohlboden hatte. Durch Klopfen kam er darauf, daß dieser Boden hohl war, durch Umhertasten bemerkte er an der inneren Ecke ein Schnürchen. Er zog an und da hob sich ganz leicht ein Deckel und ließ ihn hineinsehen auf sieben vollgepfropfte Säcklein, die zwischen dem Doppelboden verborgen gewesen waren. Aus alten Hosen getrennte Säcke waren es, mit Schuhriemen zugebunden, und ihr Inhalt Silbergeld, lauteres Silbergeld.

Der Ignatz erzählte von diesem Funde seinem Weibe und seinen Brüdern. Während in der Stube noch das Leichlein lag, setzten sie sich auf dem Küchenherde zusammen und untersuchten das Geld; es war keine landläufige Münze darunter, lauter alte »Taler«, manche gar unregelmäßig, fast eckig in der Form, mit fremdartiger Prägung, teils abgegriffen und schwarz, aber von so hellem Klange, daß die Ohren gellten.

Nun rieten sie hin und her, von wem wohl der Schatz stammen konnte, und da fiel es dem Ignatz ein, daß er von ihrem Großvater, dem Anderl in Kluppenegg herrühren dürfte, der als reich bekannt gewesen, von dem aber nach seinem Tode kein Bargeld gefunden worden war. Die Brüder beschlossen also, das Silbergeld unter sich zu teilen. Jeder soll an siebzig Gulden bekommen haben, der Ignatz um einen Teil mehr, und das war zum Finderlohn. Weiter hatten sie keinem [18] Menschen von dem Funde gesagt, sollen aber ihre liebe Not gehabt haben mit einzelnen der alten, unbekannten Münzen, um sie an den Mann zu bringen. Der Betrag war für die damalige Zeit ein bedeutender, doch keinem der »Kluppeneggerbuben« hatte man es angemerkt, daß sie einen Reichtum besaßen. Der Ignatz mag zu Ehren der alten Schimmeln wohl einmal einen Krug getrunken haben, ohne daß die Magdalena erheblichen Einspruch tat, im ganzen mied er die Wirtshäuser. Vorübergehen konnte er zwar an keinem, und so blieb er ihnen fern, indem er an Sonn- und Feiertagen nur gar selten in die Kirche ging, sondern seinen Rosenkranz zu Hause betete und dann vor dem Hause seine Jodler sang hin über die grünen Höhen, so daß die Magdalena erst jetzt eine Freude hatte an ihrem braven und lustigen Mann.

Da kam jene Kirchweih zu Fischbach. Dieser Ort ist von Alpel durch den Gebirgszug der Fischbacheralpen getrennt. Aber man ging an Festtagen gern über dieses waldige Gebirge, weil es in Fischbach sehr lustige und kecke Leute gab, weil in den dortigen Wirtshäusern damals noch keine ständige Polizei war, wie etwa im Mürztale, und weil es daher dort sehr ungezwungen herging. Besonders die Fischbacher Herbstkirchweih war weitum berüchtigt, und wenn irgendwo Bauernburschen miteinander einen unausgetragenen Handel hatten, so stellten sie sich bei der Kirchweih ein, wo es dann fast allemal zu einem blutigen Raufen kam. Ignatz' Bruder Baldhauser war dem Raufen nicht abgeneigt. Manchmal, wenn er des Morgens die damals übliche, schön geformte und mit weißen Nähten gezierte Lederscheide mit Pfeifenstierer, Gabel und dem großen Messer in [19] den Hosensack schob, soll er gesagt haben: Man weiß nicht, wozu man's brauchen kann. Bei den Weibsbildern scheint der Baldhauser auch nicht blöde gewesen zu sein, denn er wählte sich allemal eine solche aus, die auch anderen Burschen gefiel und so kam es vor, daß das Recht des Stärkeren entschied. Der Baldhauser war ein mehr kleiner, untersetzter Mann, sonst sehr bedächtig und langsam in seinen Bewegungen, beim Ringen aber der flinkeste und abgefeimteste, der seinen Gegner fast allemal so bettete, wie er nicht gebettet sein wollte. Wer es also mit dem »Hausel« zu tun hatte, der trachtete erstens ihm in Abwesenheit seiner Brüder beizukommen, was schon leicht war, da die meisten derselben in eine fremde Gegend fortgeheiratet hatten. Trotzdem pflegte ein Gegner des Baldhauser sich um Genossen zu schauen, und wenn ihrer drei oder vier gegen ihn waren, da geschah es wohl manchmal, aber durchaus nicht immer, daß er wesentliche Merkmale heimbrachte, worauf seine Schwägerin Magdalena freilich allemal die Bemerkung tat: »Allzwei Füß' hätten sie dir abschlagen sollen, das wär' dir gesund, du Raufbär!« Solcher Meinung war der Baldhauser zwar nicht.

Da kam nun wieder einmal die Fischbacher Herbstkirchweih und er hatte wieder einmal eine Liebste, die Heidenbauerndirn, auf welche das Eigentumsrecht aber der Grabenbauer gelegt haben wollte. Dem Grabenbauer hatte er schon früher einmal Post geschickt: »Du! wenn du noch länger gesunde Knochen haben willst, so laß die Dirn!« und trotzdem hörte er nun, der Grabenbauer führe dieselbige zur Kirchweih, habe aber gleichzeitig auch etliche Kameraden bestellt. Da wußte er [20] freilich, der Baldhauser, daß zwischen ihm und den Grabenbauernleuten der Friede gebrochen war und was er zu tun hatte bei dieser Kirchweih zu Fischbach. Sein Bruder, der Ignatz, wußte nichts davon, der Baldhauser sagte ihm auch nichts, lud ihn nur ein, mit ihm über das Gebirge zu gehen nach Fischbach zu dem lustigen Feste, wo getanzt und gesungen würde über die Maßen. Der Ignatz fand sich gern bereit und wollte auch seinen Knaben Lorenz mitnehmen. Dieser war von Natur aus zart und beschaulich angelegt; wo es lärmende Leute gab, da war er nicht gern; die Wirtshäuser waren ihm ja ein Graus und da hatte er gehört, auf Kirchweihen gäbe es noch mehr Wirtshäuser als sonstwo; also bliebe er lieber daheim. Seine Mutter rief: »Der Junge ist gescheiter wie der Alte und weiß, daß Kinder nicht auf Kirchweihen taugen. Bliebest auch du daheim, Natzl, morgen tät's dir gewiß nicht leid sein.«

Der Ignatz zog aber sein schönes Gewand an und ging mit seinem Bruder Baldhauser nach Fischbach. Als sie hinkamen, war der Marktplatz schon voller Buden, Leute und Gesurre; Leutedunst, Tabakrauch, Metgeruch, alles durcheinander, aus den Wirtshäusern fröhlicher Lärm, und der Baldhauser wollte gleich zum Bauernhoferwirt hinein. Der Ignatz sagte, sie täten zuerst doch lieber ein bissel in die Kirche schauen, weil man gerade zum Hochamt läute; und nachher standen sie eine Stunde lang eingekeilt in der Menge und der Baldhauser war sehr ungeduldig und dachte nach, wie er mit dem Grabenbauer zusammenkommen würde.

Nach dem Gottesdienste kauften sie auf dem Markte Schuhnägel, Pfeifenzugehör mit Tabak, und der Ignatz [21] weißbestriemte Lebzeltherzen für die Kinder daheim und ein großes Lebkuchenstück mit Mandeln gefüllt für seine Magdalena. Das band er in ein blaues Sacktuch zusammen und dann gingen sie gleich zum Neuwirt. Dort waren lauter lustige Leute und der Ignatz hub bald an zu singen. Dem Baldhauser ließ es aber keine Ruhe, er meinte, auch den übrigen Wirten müsse man ein Seidel abkaufen, sonst könnte es sie verdrießen, und sie gingen nachher zum Tafernwirt, und zum Krammerwirt und zu anderen. Aber nirgends traf er den Grabenbauer und die Heidenbauerndirn. Beim Krammerwirt war es ihm vorgekommen, als huschten sie zur hinteren Tür hinaus, während er mit seinem Bruder zur vorderen hereinging.

Am Nachmittage wurde es in einzelnen Wirtshäusern schon unheimlich laut und aus dem wirren Geschrei gellte manchmal ein rohes Fluchwort auf. Vor dem Bauernhofer Wirtshause balgten sich ihrer ein halb Dutzend betrunkener Burschen auf der Gasse, mit Fensterrahmen hieben sie auseinander los, die sie drinnen ausgebrochen hatten. Beim Krammerwirt soll zwischen Holzknechten und Schustergesellen ein solches Schlagen losgegangen sein, daß das Blut zu den Türstufen herabtröpfelte. Solange noch gesungen worden, hatte der Ignatz frisch und klingend mitgetan, hatte zu zweien oder dreien den Arm um den Nacken des anderen gelegt und den Kameraden froh in die Augen schauend sinnige oder kecke Lieder angestimmt. Als es nun überall ins Stänkern und Schimpfen und Schreien und Raufen ausartete, wollte er heimgehen. Da es gegen Abend war und der Baldhauser seinen Grabenbauer immer noch nicht gefunden hatte, sagte er zum Bruder: »Das ist eine lausige Kirchweih!« [22] und machte sich mißmutig auf den Heimweg. Der Ignatz ging fröhlich mit ihm.

Nach einer Stunde kamen sie hinauf zu den Almhöhen, wo die Halterhütte stand. Der Weg ging hier oben glatt und eben durch jungen, dichten Lärchenwald, es ward schon dunkel.

»Da gibt's auch noch Leute,« sagte der Ignatz plötzlich, denn auf einem Rasenplatze saßen ihrer etliche Männer und ein Weibsbild. Es waren ja seine zwei Schwäger, der Grabenbauer und dessen Bruder, der Mirtel, und es war ein Riegelbauernknecht und der Holzknecht Kaspar; das Weibsbild war die Heidenbauerndirn.

Der Baldhauser stand einen Augenblick still und stutzte. Dann trat er vor die Dirn und sagte: »Was machst denn du da? Du gehörst da nicht her!«

»Hausel, wenn's dir nicht recht ist!« versetzte der Grabenbauer fast leise, ballte die Fäuste und erhob sich.

»Mit so Wegelagererlumpen nehm' ich's auf,« sagte der Baldhauser trotzig.

»Laß sie gehen, Hausel,« mahnte der Ignatz und suchte den Bruder mit fortzuzerren. Das war schon zu spät, sie gerieten zusammen; zuerst ihrer zwei, der Grabenbauer und der Mirtel waren über den Baldhauser hergefallen; als dieser aber den einen arg nach rückwärts bog, dem andern ein Bein schlug, sprangen auch die beiden anderen bei. Als der Ignatz sah, daß vier starke Männer über seinen Bruder her waren, da griff er auch zu. Die Dirn kreischte und rief alle Heiligen an. Wortlos rangen die Männer in einem Knäuel, sie schnoben, unter ihren Füßen dröhnte der Boden. Der Grabenbauer hatte die Finger der einen Hand an Baldhausers Kehle gesetzt, [23] mit der anderen wollte er sein Messer ziehen; in dem Augenblicke flog er von Ignatz geschleudert auf den Rasen hin. Fast gleichzeitig auch der Ignatz und jetzt sprang ihm der Mirtel mit beiden Füßen auf die Brust. Du der Ignatz unbeweglich liegen blieb, so stieß der Mirtel einen grausigen Fluch aus und versetzte ihm mit schwerem Stiefel noch einen heftigen Fußtritt auf das krachende Brustblatt. – Der Baldhauser riß los, faßte die Dirn und raste mit ihr davon.

Weit unten in der Köhlerhütte verbarg er sie und verbot ihr, einen Laut zu tun; er lugte zum Fensterlein hinaus, wie der Holzknecht Kaspar und der Riegelbauernknecht und endlich auch der Mirtel mit dem Grabenbauer vorbeigingen. Sein Bruder Ignatz aber kam nicht. Als er auf diesen vergebens gewartet hatte, ließ er das Weibsbild im Stich und ging den Weg zurück hinauf bis zur Höhe. Es war schon die Nacht. Der Ignatz saß auf einem Baumstock.

»Was hast denn, daß du nicht nachkommst?« fragte ihn der Baldhauser.

»Der Mirtel hat mich getreten!« antwortete der Ignatz, sonst sagte er nichts.

»Kannst nicht gehen, Bruder? Komm', ich werdedich führen.«

Der Ignatz deutete mit der Hand, der Baldhauser solle nur seines Weges gehen, er werde schon nachkommen.

Das tat der Baldhauser freilich nicht, er blieb bei dem Bruder, er suchte eine Quelle und brachte im Hute Wasser, den Verletzten zu laben. Dann stand der Ignatz [24] auf, stützte sich an den Baldhauser und sie huben an zu gehen.

Ost mußte er rasten unterwegs und da sprach er einmal zum Baldhauser: »Bruder, daheim wollen wir nichts sagen davon, daß wir's mit den Schwägern haben gehabt. Es ist eine Schande.«

Um Mitternacht erst sollen sie nach Hause gekommen sein und der Baldhauser erschrak fast zu Tode, als er nun beim Kienspanlicht sah, wie blaß der Ignatz war, wie matt und stier sein Auge, und wie an den Mundwinkeln Blutkrusten klebten. Er gab ihm wieder Wasser zu trinken, und suchte in dem Küchenkastel nach einem Balsam. – Der Magdalena fiel es schon auf, was sie denn in der Küche herumzutun hatten, sie eilte hinaus und erfuhr es nun, gerauft wäre worden und den Natzl hätt's ein bissel getroffen, aber die anderen hätten auch ihr Teil bekommen!

Als die Magdalena ihren Mann ansah, wie er halb auf die Bank hingesunken dalehnte, sagte sie scheinbar sehr ruhig: »Nau, der hat genug.«

Mit keinem Worte hatte sie gefragt, wie das gekommen war, sie ahnte es gleich, die Ursache wäre der Schwager und bevor sie den Verletzten noch zu Bette brachte, hielt sie Gericht über den Baldhauser. Eine solche Wucht der wildesten Vorwürfe soll in dem Hause nicht erhört worden sein, als die Magdalena jetzt dem Schwager Baldhauser machte, der ihren Mann mit auf die Kirchweih gelockt, um ihn dort von Raufgesellen erschlagen zu lassen. Zuerst hatte der Baldhauser sich verteidigen wollen, sich rechtfertigen und währen, aber ihre Zornes- und Gefühlsausbrüche wurden so gewaltig, [25] daß er schwieg und anhub zu gröhlen. Die Kinder waren aufgewacht und jammerten, der Kettenhund winselte, die Hühner flatterten von ihren Stangen und gackerten, das Gesinde war herbeigekommen und umstand erschrocken die Gruppe, wie die Bäuerin Magdalena rasend vor Wut und Schmerz ihr Gewand zerriß und die Fetzen hinschleuderte auf den Baldhauser, der wimmernd vor ihr auf den Knien lag.

Als endlich in ihrem Gemüte die Erschöpfung und Dumpfheit eingetreten war, wendete sie sich an den Ignatz, der in völliger Ohnmacht dahinlag, brachte ihn auf seine Liegerstatt, flößte ihm warme Milch ein und saß bei ihm die ganze Nacht, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Als die Morgenröte zu dem Fenster hereinkam und die Ofenmauer matt anglühte, schlug der Ignatz einmal die Augen auf und blickte um sich. Die Magdalena legte ihre Hand auf seine feuchte Stirn und sagte mit einem Ton unendlicher Milde: »Ist dir besser, mein Natz?«

Er tastete nach ihrer Hand: »Es wird schon wieder gut, Magdalena, es wird schon wieder gut.«

Der Baldhauser hat noch in derselben Nacht seine Sachen zusammengepackt und ist fortgegangen, höher hinauf ins Gebirge zu den Holzknechten.

Und nun sind die stillen betrübten Tage gekommen. Allerlei Hausmittel hatten sie angewendet, der Kranke mußte Gemswurzeln kauen, Hundsfett essen, sich »ziehende Plaster« auf die Brust legen lassen und sonst allerlei. Er saß wohl in der Stube auf der Ofenbank, oder er ging draußen im Hofe langsam umher, um sich immer wieder irgendwo niederzusetzen. Bei den Kindern war er gerne, sah ihnen zu bei ihren Spielen mit Steinchen und Fichtenzapfen, [26] redete aber wenig mit ihnen, kam allemal bald nur so ins dumpfe Hinschauen und Hinträumen. Einen schweren Atem hatte er und mußte viel husten. Manchmal kam Blut aus der Brust, aber nur in wenigen Tropfen.

So währte es mehrere Monate. Eines Sonntags am Nachmittage, als der Ignatz neben dem warmen Ofen saß und doch fröstelte, kam die Magdalena herein und berichtete, daß ihr Bruder, der Grabenbauermirtel, in der Küche draußen sei und die einfältige Frage getan habe, ob er hereingehen dürfe. Sie habe ihm geantwortet, das stehe doch jedem Bekannten frei, geschweige erst einem Schwager. Der Mirtel habe aber gebeten, sie möchte doch anfragen beim Natz, ob er auf ein Wort zu ihm hereinkommen dürfe.

»Ich weiß es wohl, warum er fragt,« entgegnete der Ignatz; die Magdalena konnte es aber nicht wissen, weil es ihr nicht gesagt worden war, daß gerade der Mirtel ihn so schwer verletzt hatte.

»Er kann schon hereinkommen,« antwortete der Ignatz nun heiser und kurzatmig, »und du mußt so gut sein und noch ein paar Scheiter in den Ofen stecken.« Denn er wollte sie draußen beschäftigen, während der Mirtel bei ihm in der Stube war.

Dieser trat denn ein, schaute beklommen in der dumpfigen Stube umher und sah ihn nicht gleich. Erst als er aus dem Ofenwinkel ein Husten hörte, trat er dorthin, blieb stehen vor dem Kranken und konnte kein Wort sagen. Der Ignatz sagte auch nichts, sondern hob langsam seine rechte Hand und hielt sie ihn hin. Unsicher reichte der Mirtel die seine und sprach: »Natz! Keine [27] ruhige Stund' hab' ich mehr gehabt seit der Kirchweih. Daß mir solches hat müssen aufgesetzt sein. Wo du mir alleweil frei der liebste Kamerad bist gewesen...« Er wendete sich ab und ging einige Schritte gegen ein Fenster, als wolle er hinausschauen. Und mit dem Ärmling fuhr er sich übers Gesicht.

»Mirtel!« sagte der Ignatz leise, »geh' her. Geh' her zu mir. – Dir ist's aufgesetzt gewesen und mir ist's aufgesetzt gewesen. Wer kann dafür. Braucht's auch weiter niemand zu wissen, wie es ist hergegangen. Es wird ja schon besser. Und will auch einmal zum Arzte schicken, daß er ein wenig nachhilft.«

»Und du hast mir nichts für ungut, Natzl?«

Der Ignatz machte mit der flachen Hand eine Bewegung in die Luft hinein, gleichsam als wollte er sagen: Laß es gut sein, Mirtel. Ein sehr heftiger Huftenanfall verhinderte ein weiteres Gespräch. Als der Mirtel wieder in die Küche hinaustrat, sagte er zu der Magdalena: »'s ist wohl ein herzensguter Mensch!«

»Wie findest ihn denn, Bruder?«

Ein Trostwort wollte er sagen, es verschlug ihm die Rede.

»Mir gefällt er halt wohl gar nicht,« meinte sie, »und morgen will ich doch endlich zum Bader schicken nach Strallegg. Sie sagen, für die auszehrende Krankheit wäre der soviel gut.«

Der Mirtel ist davongegangen – halb verloren. Daß es so sollte stehen mit dem Ignatz, hätte er nicht gedacht. Die Magdalena hat ihm von der Tür aus eine Weile nachgeschaut. Das war ihr nicht recht vorgekommen jetzt, mit dem Mirtel! [28] Am nächsten Frühmorgen ging vom Kluppeneggerhofe ein alter Knecht nach Strallegg. Er hatte Geld mitbekommen für den Arzt, gedachte es aber dem Bauer zu ersparen. Wenn er sagt, daß der reiche Bauer krank ist, da wird sich der Arzt hoch lohnen lassen. Als der alte Knecht daher vor dem Arzte stand, tat er sehr erschöpft und kurzatmig und hüstelte und sagte, ihn hätt's arg auf der Brust. Ein böser Stier habe ihn gestoßen vor drei Monaten, und seither nehme er an Fleisch und Kräften ab, er glaube, die Auszehrung werde es sein, er sei ein armer Dienstbot' und täte halt gar schön bitten um einen guten Rat.

Der Arzt sagte: »Mußt halt recht viel Milch trinken und immer einmal ein Stückel Fleisch essen, und wenn dich der Husten anpackt, so trink' eine Schale Kramperlmoostee, aber so heiß, als du's derleiden kannst.«

Was der Rat täte kosten?

Der koste nichts. Also eilte der Knecht heim und sein erstes Wort war, er habe dem Ignatz das Geld erspart und doch einen guten Rat mitgebracht. Fleisch und Milch. Und gegen den Husten Krampelmoostee trinken, so heiß, als er's derleiden kunnt.

Eine Nachbarin hatte den Tee vorrätig, er war zwar sehr bitter zu trinken, aber er wärmte Brust und Magen und der Ignatz schöpfte aus diesem Mittel neue Hoffnung.

Zu Anfang des Adventes war's, wenige Wochen vor Weihnachten, als der Husten mit erneuter Heftigkeit auftrat. Ließ der Ignatz sich wieder einmal den heißen Tee richten, trank ihn rasch aus und wankte dann ins Freie. Nach einer kleinen Weile kam er wieder in die Stube [29] zurück, ganz verändert und taumelnd. »Ich weiß nicht,« sagte er noch, »ich muß zu heiß getrunken haben...« Und sank auch schon zu Boden.

Die Weibsleute, die beim Spinnen waren, sprangen herbei und riefen, was denn das wäre! Er antwortete nicht mehr. Sie legten ihn ins Bett und huben an zu beten, und die Magdalena wurde nicht müde, ihn mit allen Mitteln, die ihr einfielen, wieder zum Bewußtsein zu erwecken. Er holte wohl Atem, manchmal stöhnte er, machte die Augen auf, aber man wußte nicht, ob er jemanden erkannte. Der Lorenz, damals vierzehn Jahre alt, ging noch am stöbernden Abende fort nach Sankt Kathrein, um den Geistlichen zu holen. Er soll, wie später erzählt wurde, den fast drei Stunden langen Weg hin und her in nicht ganz zwei Stunden zurückgelegt haben. Er kam ganz unmenschlich schnaufend zurück, aber ohne Priester. Der Pfarrer von Kathrein war selber krank. So müsse eilends jemand nach Krieglach. Wieder erbot sich der Lorenz, und so schnell wie er bringe den Geistlichen keiner.

Krieglach ist weit, erst gegen Morgen kam der Junge zurück, wieder allein und ganz trostlos; der Pfarrer sei nach Graz gereist und der Kaplan auf einem anderen Versehgange in die hintere Massing, von welchem er erst mittags zurückkehren könne. Dann komme er nach.

»So kann er auch das nicht haben!« jammerten alle. Es hätte sich ja doch nur mehr um die letzte Ölung gehandelt. Der Lorenz fand seinen Vater bewegungslos daliegen und schlummern. Das sei das allerbeste, meinte die Mutter, und er, der Knabe, solle sich auch niederlegen, sonst werde er ebenfalls krank. Denn die Aufregung, [30] die in dem Jungen war um den Vater, konnte ihr nicht verborgen bleiben. Er legte sich in der Küche hin auf die Bank, und schlief ein paar Stunden fest. Eine eigentümliche Unruhe, die sich im Hause erhoben hatte, weckte ihn auf. Hastig, aber leise auftretend, einen Augenblick unter Flüstern beieinander stehen bleibend und dann weiterhuschend, waberten die Leute türaus und ein und in der Stube war ein Murmeln, als ob jemand bete. Der Lorenz sprang auf und fragte nach dem Vater.

»Er ist ein wenig schlechter geworden,« berichtete eine Magd, setzte aber, da der Junge vor Schreck aufstöhnte, bei: »Wird doch wohl wieder besser werden. Er ist gleichwohl noch so jung.«

Als der Lorenz in die Stube kam, knieten sie betend und schluchzend um das Bett herum; der Vater lag ruhig da, zwischen den aneinandergelegten Händen stand eine rote, brennende Kerze.

Es war schon vorbei.


Ignatz Roßegger ist nur neununddreißig Jahre und zehn Monate alt geworden. Er starb am 4. Dezember 1829. Die Trauer um ihn war eine sehr große und allgemeine. Während er aufgebahrt lag, konnte das Haus die Leute kaum fassen, die zu der nächtlichen Leichwache erschienen waren. Auch alle Freunde und Verwandten waren da, vor allem der Baldhauser, der Grabenbauer und der Mirtel. Sie standen zusammen und gelobten, die Witwe Magdalena, auf der nun so große Sorgen lagen, nicht zu verlassen. Die Kinder lagen verweint, im Schlafe noch schluchzend, in ihren Bettlein oder standen und lehnten unter den Leuten so herum, wie arme Waiselein. [31] Der Knabe Lorenz stand fast immer auf einem Flecke neben der Stubentür und sah auf alles, was jetzt war und im Hause vorging, mit großen Augen hin. Er konnte es nicht fassen, was geschehen war, und später in seinem Leben tat er noch oft den Ausspruch: »Dazumal, wie mein Vater gestorben, das ist mein härtester Tag gewesen.«

Die Magdalena trug zur Zeit ein Kind unter dem Herzen. In allem Gewirre stand allein sie aufrecht und ruhig, fast finster da. Sie redete nur mit Wenigen wenige Worte; wenn man weinend sie tröstete, so schwieg sie, hatte ein ganz trockenes Auge und ihr blasses Antlitz zeigte einen herben Ausdruck. Sie versorgte das Haus und tat ihre Verrichtungen wie jeden Tag; manchmal hielt sie inne, als wäre ihr Leib erstarrt, und schaute vor sich hin. Dann arbeitete sie wieder. Als in der letzten Nacht der Leichenwache das Totenmahl aufgetragen wurde und die Leute in der Stube halblaut murmelnd bei den Tischen zusammensaßen unter dem matten Scheine eines Talglichtes; als zur offenen Stubentür vom Vorhause, wo die Bahre stand, das Öllichtlein hereinflimmerte; als drei Männer die Leiche hoben und in den Sarg aus weißem Fichtenholze legten; als die Magdalena hin und her ging, um noch das letzte für den Kirchgang zum Begräbnisse zu ordnen, blieb sie auf einmal vor dem Sarge stehen, schaute auf den Toten und rief mit heller Stimme: »Einzig das möcht' ich wissen, wer ihn erschlagen hat auf der Fischbacheralm!«

Den Leuten ging der Ruf durch Mark und Bein. Der Mirtel legte seinen Löffel weg. – Gar bange still war's in der Stube, allmählich begannen aber einige zu [32] flüstern: »Es werden ihrer heute wohl da sein, die davon wissen.« Weiter sagten sie nichts.

Als der Ignatz begraben war, ging die Magdalena heim auf den einsamen Hof und hub mit ihren Kindern und mit ihrem Gesinde an zu wirtschaften. Ihre Verwandten boten ihr manche Zuhilfe und manchen Rat; wenn aber ihre Brüder kamen, der Grabenbauer, der Mirtel, oder der Schwager Baldhauser, da sagte sie kurz und herb, ich brauche nichts.

Vierzehn Jahre lang hatte sie fest und zielbewußt die Herrschaft geführt auf dem Kluppeneggerhofe, sie war strenge, arbeitsam, sparsam, und hob das Waldbauernhaus zu neuer Wohlhabenheit. Endlich war der Lorenz, der älteste, so weit, daß er sich wagen wollte, der alternden Mutter die Last abzunehmen. Eine junge Dienstmagd war, ein armes Dirndel, dessen Eltern mit Kohlenbrennen den dürftigen Unterhalt erwarben. Das Dirndel hieß Maria.

Diese Dienstmagd sing der Lorenz sachte an, gern zu haben, und es soll in diesem Buche erzählt werden, wie er um sie geworben hat. Die Leute redeten hin und her, daß sie so arm sei, von so geringem Stamme, daß er vermöge seiner Person, seines Hofes und seines Ansehens wohl eine andere Wahl hätte treffen können. Die Mutter Magdalena sagte nichts als das: Wenn sie voneinander nicht lassen könnten, so müsse geheiratet werden! – Und also hat der Lorenz Roßegger die Maria geheiratet. Das war im Jahre 1842, dreizehn Monate vor meiner Geburt.

Der Lorenz war ein Mensch ohne Anmaßung und Hochmut, doch in wirtschaftlichen Dingen hatte er seinen [33] eigenen Kopf. Von der sanftmütigen Maria steht zu vermuten, daß sie der Schwiegermutter die Herrschaft im Hause nicht streitig gemacht hat. Gegen ihre Enkel, deren zwei sie erlebt hat, war die Magdalena voll von einer Zärtlichkeit, der man sie kaum für fähig gehalten hätte.

Nur einmal habe ich das kleine, schon tiefgebückte Weiblein herb und unheimlich gesehen. Das war wenige Monate vor ihrem im Jahre 1847 erfolgten Tode. Ich stand mit ihr vor dem Hause an der alten Torsäule, die an ihrem Scheitel schon rissig und zackig war, und an welcher die weißgrauen Flechten wucherten. Da ging am nahen Wege ein Mann mit grauen Bartstoppeln, in Kniehose und mit einer schwarzen Zipfelmütze vorbei. Ich erkannte ihn und rief: »Ahnl, Ahnl, der Vetter Mirtel!« Da gab die Großmutter mir mit der Faust einen Stoß, daß ich hintaumelte, und sprach klingend hart: »Still sei! Der Mensch geht dich nichts an!«

Diese Worte habe ich erst verstanden viele Jahre später, als ich selber schon reich an Jahren und Erfahrungen war und als mein Vater Lorenz mir eines Tages, unter einem Eschbaume sitzend, die Geschichte von meinem Großvater Ignatz erzählt hatte.

Fußnoten

1 Im »Urgroßvater auf der Tanne« genannt die Waldhütter-Tochter, mit einigen poetischen Freiheiten.

2 In späteren Kapiteln, wo überhaupt manches mit kleinen Umschreibungen und im poetischen Röcklein dargestellt werden wollte, ist die Magdalena »das Heidemädchen« genannt worden. D. Verf.

Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß
[34] Vom Urgroßvater, der auf der Tanne saß.

Eine Rückschau, nach der Erzählung meines Vaters.


An die Felder meines Vaters grenzte der Ebenwald, der sich über Höhen weithin gegen Mitternacht erstreckte und dort mit den Hochwaldungen des Heugrabens und des Teufelsteins zusammenhing. Zu meiner Kindeszeit ragte über die Fichten- und Lärchenwipfel dieses Waldes das Gerippe einer Tanne empor, auf welcher der Sage nach vor mehreren hundert Jahren, als der Türke im Lande war, der Halbmond geprangt haben und unter welcher viel Christenblut geflossen sein soll.

Mich überkam immer ein Schauern, wenn ich von den Feldern und Weiden aus dieses Tannengerippe sah; es ragte so hoch über den Wald und streckte seine langen, dürren, wildverworrenen Äste so wüst gespensterhaft aus, daß es ein unheimlicher Anblick war. Nur an einem einzigen Aste wucherten noch einige dunkelgrüne Nadelballen, über diese ragte der scharfkantige Strunk, auf dem einst der Wipfel gesessen. Den Wipfel mußte der Sturm oder ein Blitzstrahl geknickt haben, niemand erinnerte sich, ihn auf dem Baume gesehen zu haben.

Von der Ferne, wenn ich auf dem Stoppelfelde die Rinder oder die Schafe weidete, sah ich die Tanne gern an; sie stand in der Sonne rötlich beleuchtet über dem frischgrünen Waldessaume, und war klar und rein [35] in die Bläue des Himmels hineingezeichnet. Dagegen stand sie an bewölkten Tagen, oder wenn ein Gewitter heranzog, starr und dunkel da; und wenn im Walde weit und breit alle Äste fächelten und sich die Wipfel tief neigten vor dem Sturme, so stand sie still, ohne Regung und Bewegung.

Wenn sich aber ein Rind in den Wald verlief und ich, es zu suchen, an der Tanne vorüber mußte, so schlich ich gar angstvoll dahin und dachte an den Halbmond, an das Christenblut und an andere entsetzliche Geschichten, die man von diesem Baume erzählte. Ich wunderte mich aber auch über die Riesigkeit des Stammes, der auf der einen Seite kahl und von vielen Spalten durchfurcht, auf der anderen aber mit rauhen, zersprungenen Rinden bedeckt war. Der unterste Teil des Stammes war so dick, daß ihn zwei Männer nicht hätten zu umspannen vermocht. Die ungeheuren Wurzeln, welche zum Teile kahl dalagen, waren ebenso ineinander verschlungen und verknöchert wie das Geäste oben.

Man nannte den Baum die Türkentanne oder auch die graue Tanne. Von einem starrsinnigen oder hochmütigen Menschen sagte man in der Gegend: »Der tut, wie wenn er die Türkentanne als Hutsträußl hätt'!« Und heute, da der Baum schon längst zusammengebrochen und vermodert, ist das Sprüchlein in manchem alten Munde noch lebendig.

In der Kornernte, wenn die Leute meines Vaters, und er voran, der Reihe nach am wogenden Getreide standen und die »Wellen« herausschnitten, mußte ich auf bestimmte Plätze die Garben zusammentragen, wo sie dann zu je zehn in »Deckeln« zum Trocknen aufgeschöbert [36] wurden. Mir war das nach dem steten Viehhüten ein angenehmes Geschäft, um so mehr, als mir der Altknecht oft zurief: »Trag' nur, Bub' und sei fleißig; die Zusammentrager werden reich!« Aus Reichwerden dachte ich nicht, aber das Laufen war lustig. Und so lief ich mit den Garben, bis mein Vater mahnte: »Bub' du rennst ja wie närrisch! Du trittst Halme in den Boden und du beutelst Körner aus. Laß dir Zeit!«

Als es aber gegen Abend und in die Dämmerung hineinging und als sich die Leute immer weiter und weiter in das Feld hineingeschnitten hatten, so daß ich mit meinen Garben weit zurückblieb, begann ich unruhig zu werden. Besonders kam es mir vor, als singen dort die Äste der Türkentanne, die in unsicheren Umrissen in den Abendhimmel hineinstand, sich zu regen an. Ich redete mir zwar ein, es sei nicht so, und wollte nicht hinsehen – da hüpften meine Äuglein schon wieder hinüber.

Endlich, als die Finsternis für das Kornschneiden zu groß wurde, wischten die Leute mit taunassem Grase ihre Sicheln ab und kamen zu mir herüber und halfen mir unter lustigem Sang und Scherz die letzten Garben zusammentragen. Als wir damit fertig waren, gingen die Knechte und Mägde davon, um in Haus und Hof noch die abendlichen Verrichtungen zu tun; ich und mein Vater aber blieben zurück auf dem Kornfelde. Wir schöberten die Garben auf, wobei der Vater diese halmaufwärts aneinanderlehnte und ich sie zusammenhalten mußte, bis er aus einer letzten Garbe den Deckel bog und ihn auf den Schober stülpte.

Dieses Schöbern war mir in meiner Kindheit die[37] liebste Arbeit; ich betrachtete dabei die »Romstraße« am Himmel, die hinschießenden Sternschnuppen und die Johanniswürmchen, die wie Funken um uns herumtanzten, daß ich meinte, die Garben müßten zu brennen anfangen. Dann horchte ich mieder auf das Zirpen der Grillen, und ich fühlte den kühlen Tau, der gleich nach Sonnenuntergang die Halme und Gräser und gar auch ein wenig mein Jöpplein befeuchtete. Ich sprach über all das mit meinem Vater, der mir in seiner ruhigen, gemütlichen Weise Auskunft gab und über alles seine Meinung sagte, wozu er jedoch oft bemerkte, daß ich mich darauf nicht verlassen solle, weil er es nicht gewiß wisse.

So kurz und ernst mein Vater des Tages in der Arbeit gegen mich gewesen, so heiter, liebevoll und gemütlich war er in solchen Abendstunden. Vor allem half er mir immer meine kleine Jacke anziehen, daß mir nicht kühl werde. Wenn ich ihn mahnte, daß auch er sich den Rock zuknöpfen möge, sagte er stets: »Kind, mir ist warm genug.« Ich hatte es oft bemerkt, wie er nach dem langen, schwierigen Tagewerk erschöpft war, wie er sich dann für Augenblicke auf eine Garbe niederließ und die Stirne trocknete. Er war durch eine langwierige Krankheit recht erschöpft worden; er wollte aber nie etwas davon merken lassen. Er dachte nicht an sich, er dachte an unsere Mutter, an uns Kinder und an den durch Unglücksfälle herabgekommenen Bauernhof, den er uns retten wollte.

Wir sprachen beim Schöbern oft von unserem Hofe, wie er zu meines Großvaters Zeiten gar reich und angesehen gewesen und wie er wieder reich und angesehen werden könne, wenn wir Kinder, einst erwachsen, eifrig [38] und fleißig in der Arbeit sein würden, und wenn wir Glück hätten.

In solchen Stunden beim Kornschöbern, das oft spät in die Nacht hinein währte, sprach mein Vater mit mir auch gern von dem lieben Gott. Er war vollständig ungeschult und kannte keine Buchstaben; so mußte denn ich ihm stets erzählen, was ich da und dort von dem lieben Gott schon gehört oder endlich auch gelesen hatte. Besonders wußte ich dem Vater manches zu berichten von der Geburt des Herrn Jesus, wie er in der Krippe eines Stalles lag, wie ihn die Hirten besuchten und mit Lämmern, Böcken, und anderen Dinger beschenkten, wie er dann groß wurde und Wunder wirkte und wie ihn die Juden peinigten und aus Kreuz schlugen. Gern erzählte ich auch von der Schöpfung der Welt, den Patriarchen und Propheten, als wäre ich dabei gewesen. Dann sprach ich auch aus, was ich vernommen von dem jüngsten Tage, von dem Weltgerichte und von den ewigen Freuden, die der liebe Gott für alle armen, kummervollen Menschen in seinem Himmel bereitet hat.

Der Vater war davon oft sehr ergriffen.

Ein anderes Mal erzählte wieder mein Vater. Er wußte wunderbare Dinge aus den Zeiten der Ureltern, wie diese gelebt, was sie erfahren und was sich in diesen Gegenden einst für Sachen zugetragen, die sich in den heutigen Tagen nicht mehr ereignen.

»Hast du noch nie darüber nachgedacht,« sagte mein Vater einmal, »warum die Sterne am Himmel stehen?«

»Nein,« antwortete ich.

»Wir denken nicht daran,« sprach mein Vater weiter, »weil wir das schon so gewöhnt sind.«

[39] »Es wird wohl eine Zeit kommen, Vater,« sagte ich einmal, »in welcher kein Stern mehr am Himmel steht; in jeder Nacht fallen so viele herab.«

»Die da herabfallen, mein Kind,« sprach der Vater, »das sind Menschensterne. Stirbt auf der Erde ein Mensch, so fällt vom Himmel so eine Sternreispe auf die Erden. Siehst du, dort hinter der grauen Tanne ist just wieder eine niedergegangen.«

Ich schwieg nach diesen Worten eine Weile, endlich aber fragte ich: »Warum heißen sie jenen wilden Baum die graue Tanne, Vater?«

Mein Vater bog eben einen Deckel ab, und als er diesen aufgestülpt hatte, sagte er: »Du weißt, daß man ihn auch Türkentanne nennt, weil der schreckbare Türk einmal seine Mondsichel hat draufgehangen. Die graue Tanne heißen sie ihn, weil sein Geäste und sein Moos grau ist, und weil auf diesem Baume dein Urgroßvater die ersten grauen Haare bekommen hat.«

»Mein Urgroßvater? Wie ist das hergegangen?«

»Ja,« sagte er, »wir haben hier noch sechs Deckel aufzusetzen, und ich will dir dieweilen eine Geschichte erzählen, die sehr merkwürdig ist.«

Und dann hub er an: »Es ist schon länger als achtzig Jahre, seitdem dein Urgroßvater meine Großmutter geheiratet hat. Er war sehr reich und ein schöner Mensch und er hätte die Tochter des angesehensten Bauers zum Weib bekommen können. Er nahm aber ein armes Mädchen aus der Waldhütten herab, das gut und sittsam gewesen ist. Von heute in zwei Tagen ist der Vorabend des Festes Mariä Himmelfahrt; das ist der Jahrestag, an welchem dein Urgroßvater zur Werbung [40] in die Waldhütten ging. Es mag wohl auch im Kornschneiden gewesen sein; er machte frühzeitig Feierabend, weil durch den Ebenwald hinein und bis zur Waldhütten hinauf ein weiter Weg ist. Er brachte viel Bewegung mit in die kleine Wohnung. Der alte Waldhütter, der für die Köhler und Holzleute die Schuhe flickte, ihnen zuzeiten die Sägen und die Beile schärfte und nebenbei Fangschlingen für Raubtiere machte – weil es zur selben Zeit in der Gegend noch viele Wölfe gegeben hat – der Waldhütter nun ließ seine Arbeit aus der Hand fallen und sagte zu deinem Urgroßvater: »Aber Josef, das kann doch nicht dein Ernst sein, daß du mein Katherl zum Weib haben willst, das wär' ja gar aus der Weis'!« Dein Urgroßvater sagte: »Ja, deswegen bin ich heraufgegangen, und wenn mich das Katherl mag und es ist ihr und Euer redlicher Willen, daß wir zusammen in den Ehestand treten, so machen wir's heut' richtig und wir gehen morgen zum Richter und zum Pfarrer und ich laß dem Katherl mein Haus und Hof verschreiben, wie's Recht und Brauch ist.« – Das Mädel hatte deinen Urgroßvater lieb und sagte, es wolle seine Hausfrau werden. Dann verzehrten sie zusammen ein kleines Mahl und endlich, als es schon zu dunkeln begann, trat der jung' Bräutigam den Heimweg an.

Er ging über die Wiese, die vor der Waldhütten lag, auf der aber jetzt schon die großen Bäume stehen, er ging über das Geschläge und abwärts durch den Wald und er war freudig. Er achtete nicht darauf, daß es bereits finster geworden war, und er achtete nicht auf Wetterleuchten, das zur Abendzeit nach einem schwülen Sommertag nichts Ungewöhnliches ist. Auf eines aber [41] wurde er aufmerksam, er hörte von den gegenüberliegenden Waldungen ein Gebelle. Er dachte an Wölfe, die nicht selten in größeren Rudeln die Wälder durchzogen und heulten; er faßte seinen Knotenstock fester und nahm einen schnelleren Schritt. Dann hörte er wieder nichts als zeitweilig das Kreischen eines Nachtvogels, und sah nichts, als die dunkeln Stämme, zwischen welche der Fußsteig führte und durch welche von Zeit zu Zeit das Leuchten zuckte. Plötzlich vernahm er wieder das Heulen, aber nun viel näher als das erstemal. Er sing zu laufen an. Er lief, was er konnte; er hörte keinen Vogel mehr, er hörte nur immer das entsetzliche Heulen, das ihm auf dem Fuße folgte. Als er hierauf einmal umsah, bemerkte er hinter sich durch das Geäst funkelnde Lichter. Schon hört er das Schnaufen und Lechzen der Raubtiere, die ihn verfolgen, und denkt: 's mag sein, daß morgen kein Versprechen ist beim Pfarrer! – da kommt er heraus zur Türkentanne. Kein anderes Entkommen mehr möglich – rasch faßt er den Gedanken und durch einen kühnen Sprung schwingt er sich auf einen Ast. Die Bestien sind schon da; einen Augenblick stehen sie bewegungslos und lauern; sie gewahren ihn auf dem Baum, sie schnaufen und mehrere setzen die Pfoten an den Stamm. Dein Urgroßvater klettert weiter hinauf und setzt sich auf einen dicken Ast. Nun ist er wohl sicher. Unten heulen sie und scharren an der Rinde; – es sind ihrer viele, ein ganzes Rudel. Zur Sommerszeit war es doch selten geschehen, daß Wölfe einen Menschen anfielen; sie mußten gereizt oder von irgendeiner anderen Beute verjagt worden sein. Dein Urgroßvater saß lange auf dem Ast; er hoffte, die Tiere würden davonziehen [42] und sich zerstreuen. Aber sie umringten die Tanne und schnürfelten und heulten. Es war längst schon finstere Nacht; gegen Mittag und Morgen hin leuchteten alle Sterne, gegen Abend hin aber war es grau und durch dieses Grau schossen Blitzscheine. Sonst war es still und regte sich im Walde kein Ästchen. Dein Urgroßvater wußte nun wohl, daß er die ganze Nacht so würde zubringen müssen; er besann sich aber doch, ob er nicht Lärm machen und um Hilfe rufen sollte. Er tat es, aber die Bestien ließen sich nicht verscheuchen; kein Mensch war in der Nähe, das Haus zu weit entfernt. Damals hatte die Türkentanne unter dem abgerissenen Wipfelstrunk, wo heute die wenigen Reiserbüschel wachsen, noch eine dichte Krone aus grünenden Nadeln. Da denkt sich dein Urgroßvater: »Wenn ich denn schon einmal hier Nachtherberge nehmen soll, so klimme ich noch weiter hinauf unter die Krone.« Er tat's und ließ sich oben in einer Zweigung nieder, da konnte er sich recht gut an die Äste lehnen.

Unten ist's nach und nach ruhiger, aber das Wetterleuchten wird stärker und an der Abendseite ist ein fernes Donnern zu hören. – Wenn ich einen tüchtigen Ast bräche und hinabstiege und einen wilden Lärm machte und gewaltig um mich schlüge, man meint', ich müßt' den Rabenäsern entkommen! so denkt dein Urgroßvater – tut's aber nicht; er weiß zu viele Geschichten, wie Wölfe trotz alledem Menschen zerrissen haben.

Das Donnern kommt näher, alle Sterne sind verloschen – 's ist finster wie in einem Ofen; nur unten am Fuße des Baumes funkeln die Augensterne der Raubtiere. Wenn es blitzt, steht wieder der ganze Wald da.

[43] Nun beginnt es zu sieden und zu kochen im Gewölke wie in tausend Kesseln. Kommt ein fürchterliches Gewitter, denkt sich dein Urgroßvater und verbirgt sich unter die Krone, so gut er kann. Der Hut ist ihm hinabgefallen und er hört es, wie die Bestien den Filz zersetzen. Jetzt zuckt ein Strahl über den Himmel, es ist einen Augenblick hell, wie zur Mittagsstunde – dann bricht in den Wolken ein Schnalzen und Krachen los, und weithin hallt es im Gewölke.

Jetzt ist es still, still in den Wolken, still auf der Erden – nur um einen gegenüberliegenden Wipfel flattert ein Nachtvogel. Aber bald erhebt sich der Sturm, es rauscht in den Bäumen, es tost durch die Äste, eiskalt ist der Wind. Dein Urgroßvater klammert sich fest an das Geäste. Jetzt wieder ein Blitz, schwefelgrün ist der Wald; alle Wipfel neigen sich, biegen sich tief; die nächststehenden Bäume schlagen, es ist, als fielen sie heran. Aber die Tanne steht starr und ragt über den ganzen Wald. Unten rennen die Raubtiere wild durcheinander und heulen. Plötzlich saust ein Körper durch die Äste wie ein Steinwurf. Da leuchtet es wieder – ein weißer Knollen hüpft auf dem Boden dahin. Dann dichte Nacht. Es braust, siedet, tost, krachend stürzen Wipfel. Ein Ungeheuer mit weitschlagenden Flügeln, im Augenblicke des Blitzes gespenstige Schatten werfend, naht in der Luft, stürzt der Tanne zu und birgt sich gerade über deinem Urgroßvater in die Krone. Ein Habicht, Junge, ein Habicht, der auf der Tanne sein Nest gehabt.«

Mein Vater hatte bei dieser Erzählung keine Garbe angerührt; ich hatte den ruhigen, schlichten Mann bisher auch nie mit solcher Lebhaftigkeit sprechen gehört.

[44] »Wie's weiter gewesen?« fuhr er fort. »Ja, nun brach es erst los; das war Donnerschlag auf Donnerschlag, und beim Leuchten war zu sehen, wie glühenden Wurfspießen gleich Eiskörner auf den Wald niedersausten, an die Stämme prallten, auf den Boden flogen und wieder emporsprangen. So oft ein Hagelknollen an den Stamm der Tanne schlug, gab es im ganzen Baume einen hohlen Schall. Und über dem Heugraben gingen Blitze nieder; plötzlich war eine blendende Glut, ein heißer Luftschlag, ein Schmettern, und es loderte eine Fichte. Und die Türkentanne stand da, und dein Urgroßvater saß unter der Krone im Astwerk.

Die brennende Fichte warf weithin ihren Schein und nun war zu sehen, wie ein rötlicher Schleier lag über dem Walde, wie nach und nach das Gewebe der kreuzenden Eisstücke dünner und dünner wurde, und wie viele Wipfel keine Äste, dafür aber Schrammen hatten, wie endlich der Sturm in einen mäßigen Wind überging und ein dichter Regen rieselte.

Die Donner wurden seltener und dumpfer und zogen sich gegen Mittag dahin; aber die Blitze leuchteten noch ununterbrochen. Am Fuße des Baumes war kein Heulen und kein Augenfunkeln mehr. Die Raubtiere waren durch das Wetter verscheucht worden. Also stieg dein Urgroßvater wieder von Ast zu Ast bis zum Boden. Und er ging heraus durch den Wald über die Felder gegen das Haus.

Es ist schon nach Mitternacht. – Als der Bräutigam zum Hause kommt und kein Licht in der Stube sieht, wundert er sich, daß in einer solchen Nacht die Leute ruhig schlafen können. Haben aber nicht geschlafen,[45] waren zusammen gewesen in der Stube um ein Kerzenlicht. Sie hatten nur die Fenster mit Brettern verlehnt, weil der Hagel alle Scheiben eingeschlagen hatte.

›Bist in der Waldhütten blieben, Sepp?‹ sagte deine Ururgroßmutter. Dein Urgroßvater antwortete: ›Nein, Mutter, in der Waldhütten nicht.‹

Es war an dem darauffolgenden Morgen ein starker Harzduft gewesen im Walde – die Bäume haben geblutet aus vielen Wunden. Und es war ein beschwerliches Gehen gewesen über die Eiskörner und es war eine kalte Luft. Als sie am Frauentag alle über die Verheerung und Zerstörung hin zur Kirche gingen, fanden sie im Walde unter dem herabgeschlagenen Reisig und Moos manchen toten Vogel und anderes Getier; unter einem geknickten Wipfel lag ein toter Wolf.

Dein Urgroßvater ist bei diesem Gange sehr ernst gewesen; da sagt auf einmal das Katherl von der Waldhütten zu ihm: ›O, du himmlisch' Mirakel! Sepp, dir wachst ja schon graues Haar!‹

Später hatte er alles erzählt, und nun nannten die Leute den Baum, auf dem er dieselbige Nacht hat zubringen müssen, die graue Tanne!« –

Das ist die Geschichte, wie sie mir mein Vater eines Abends beim Kornschöbern erzählt hat und wie ich sie später aus meiner Erinnerung niedergeschrieben. Als wir dann nach Hause gingen zur Abendsuppe und zur Nachtruhe, blickte ich noch hin auf den Baum, der hoch über dem Wald in den dunkeln Abendhimmel hineinstand.

[46] Ich war schon erwachsen. Da war es in einer Herbstnacht, daß mich mein Vater aufweckte und sagte: »Wenn du die graue Tanne willst brennen sehen, so geh' vor das Haus!«

Und als ich vor dem Hause stand, da sah ich über dem Walde eine hohe Flamme lodern und aus derselben qualmte Rauch in den Sternenhimmel auf. Wir hörten das Dröhnen der Flammen und wir sahen das Niederstürzen einzelner Äste; dann gingen wir wieder zu Bette. Am Morgen stand über dem Wald ein schwarzer Strunk mit nur wenigen Armen – und hoch am Himmel kreiste ein Geier. Wir wußten nicht, wie sich in der stillen, heiteren Nacht der Baum entzündete, und wir wissen es noch heute nicht. In der Gegend ist vieles über dieses Ereignis gesprochen worden und man hat demselben Wunderliches und Bedeutsames zugrunde gelegt. Noch einige Jahre starrte der schwarze Strunk gegen den Himmel, dann brach er nach und nach zusammen und nun stand nichts mehr empor über dem Wald. Auf dem Stocke und auf den letzten Resten des Baumes, die langsam in die Erde sinken und vermodern, wächst Moos.

Als Großvater freien ging
[47] Als Großvater freien ging.

Eine Rückschau, nach der Erzählung meines Onkels Franz.


Beim Kreuzwirt auf der Höh' saßen sie um den großen Tisch herum: Fuhrleute von oben und unten, Gewerbsleute von Pöllau und Vorau, Holzarbeiter vom Rabenwald und Masenberg, Grenzwächter von der ungarischen Markung.

Mein Großvater, der Waldbauer von Alpel, war auch unter ihnen. Er war damals eigentlich noch lange nicht mein Großvater, und ihm war sie voll und rund, die Welt, die später jedesmal ein Loch bekam, so oft eins der Seinigen nicht bei ihm war. So geht's auf der Welt, man meint in jungen Jahren, man hätte es fertig mit allem und ahnt nicht, welche Herzensgewalten noch in der Zukunft schlummern.

Und daß ich denn erzähle. Mein Großvater – Natz – Natz, wie er eigentlich hieß... nein, da ich einmal da bin, so will ich ihn doch lieber Großvater heißen schon in seiner Jugendzeit – mein Großvater also ging damals gerade »im Heiraten um«. Immer war er auf dem Viehhandel aus, oder im Getreidekauf, oder im Obstmostsuchen, oder im Wallfahrten, oder in diesem und jenem – und keinem Menschen sagte er's, warum er eigentlich wanderte. Der hübschen Mägdlein und jungen Witwen gab es genug im Lande; mancher Bauer sagte, er gebe auch eine gute Aussteuer mit, bevor man [48] noch wußte, daß er eine heiratsfähige Tochter habe. Aber mein Großvater war einer von denen, die nach etwas anderem gucken. Er hatte den Glauben, für jeden Mann gebe es nur ein Weib auf der Welt, und es käme für den Heiratslustigen darauf an, dasselbe aus allen anderen lächelnden und winkenden Weibern herauszufinden. Er hat nach jahrelanger Suche schließlich die rechte und einzige gefunden, aber nicht in der weiten Welt draußen, sondern ganze nahe – zehn Minuten seitab von seinem Vaterhause. Dort war sie eines Sonntags im langen Heidelbeerkraut herumgegangen, um für ihre Mutter Beeren zu sammeln. Das rotwangige Köpfel und vom Busen ein bescheidener Teil ragte hervor, alles andere stak im Kraut.

Mein Großvater lugte ihr durch das Gezweige des Dickichts zu, sprach sie aber nicht an. Und als sie fort war, schlich auch er davon und dachte: Jetzt geh' ich morgen noch einmal in die Pöllauergegend hinab, und wenn mir keine Gescheite (soviel als Passende) unterkommt, so laß ich's gut sein und nimm die da.

So war er nach einmal in der Pöllauergegend gewesen. Und dort hatte er richtig eine ausgetrieben, die reicher und seiner war als das Mädel im Heidekraut; aber gar zu gerngebig. Das freute ihn wohl für den Augenblick, doch ließ er's dabei bewenden; eine Häusliche wollte er haben und er lenkte seine Schritte heimwärts – der Sparsameren zu.

Und da war's unterwegs, daß er beim Kreuzwirt auf der Höh' einkehrte. Er saß anfangs abseits beim Ofenbanktischchen, trank ein Glas Apfelmost und biß ein Stück schwarzes Brot dazu. Seine Gedanken hatte[49] er – wie alle Freiersleute – nicht beisammen; seine Ohren nahmen wohl teil an dem lebhaften Gespräche der gemischten Gesellschaft, die um den großen Tisch herumsaß und Wein trank. Die Grenzwächter hatten draußen in der Holzhauerhütte schwerverpönten ungarischen Tabak gefunden und wollten demnach den Eigner desselben mit sich fort zum Gerichte führen. Da kamen jedoch andere Männer des Waldes herbei und mit Knütteln stellten sie den Grenzwächtern die Wahl, was ihnen lieber wäre: Prügel oder zwei Maß beim Kreuzwirt, denn mit dem Schergengeschäft wär's diesmal nichts. Wollten die Überreiter, wie man die Grenzer nannte, sofort zu ihren Gewehren greifen; diese waren aber schon in den Händen der Holzhauer – sonach wählten sie von den beiden Dingen die zwei Maß Wein beim Kreuzwirt. Nun saßen die Grenzwächter lustig unter den lustigen Zechern, wollten Bruderschaft mit den Waldleuten und Fuhrmännern und stopften schließlich ihre Pfeifen mit jenem Tabak, den sie in der Holzhauerhütte in Beschlag genommen hatten.

Zum Kartenspielen kam's und Silbergeld kollerte auf dem Tisch herum. Einer der Holzhauer, ein schielendes, weißhaariges Männlein, war nicht glücklich; sein bocklederner Beutel, der manchen schrillenden Fall auf den Tisch getan hatte, der immer tiefer umgestülpt werden mußte, bis die dürren gierigen Finger auf sein silbernes Eingeweide kamen – der Beutel gab endlich nichts mehr herfür. Da zog das Männlein seine Taschenuhr hervor: »Wer kauft mir den Knödel ab?« Die Uhr ging im Kreis herum; es war ein tüchtiges Zeug mit drei schweren Silbergehäusen und einer Schildkrötenschale am Rücken, [50] welche ringsum mit kleinen Silbernieten besetzt war. Ein Spindelwerk mit gewaltigem Zifferblatt, auf welchem der Messingzeiger just die dritte Nachmittagsstunde anzeigte.

Dreißig Gulden verlangte der Mann für die Uhr; man lachte ihm hell ins Gesicht, der Eigentümer aber behauptete: »Was wollt ihr wetten, ehe der Zeiger auf halb vier steht, ist die Uhr verkauft!« Darauf lachten sie noch unbändiger.

Mein Großvater, der hatte von seiner Ofenbank aus die Sache so mitangesehen. Diese verkäufliche Uhr mit dem Schildkrötengehäuse, sie machte ihm die Seele heiß. So eine Uhr war längst sein Plangen gewesen; und wenn er nun als Bräutigam eine könnte im Hofenbusen tragen, oder wenn er sie gar der Braut zur Morgengabe spenden möchte! Eine Uhr! Eine Sackuhr! Eine silberne Sackuhr mit Schildkrötengehäuse! – So weit kam's, daß mein Großvater aufstand, zum großen Tisch hinging und das Wort sprach: »Geh', laß mich das Zeug anschauen!«

»He, du bist ja der Bauer vom Alpel!« rief der Holzhauer, »na, du kannst leicht ausrucken und dir darf ich's unter vierzig Gulden gar nicht geben!«

Mein Großvater hatte aber nicht viel im Sack, darum sagte er: »Steine haben wir dies Jahr mehr im Alpel, als Geld.«

»Was willst denn, Bauer, hast nicht groß Haus und Grund?«

»Im Haus steht der Tisch zum Essen, aber auf dem Grund wächst lauter Heidekraut,« entgegnete mein Großvater.

»Und Korn und Hafer!« rief einer drein.

[51] »Wohl, wohl, ein wenig Hafer,« sagte mein Großvater.

»Hafer tut's auch,« rief der Weißkopf, »weißt, Bauer, wenn du einverstanden bist, ich laß dir die Uhr billig.«

»Damit bin ich schon einverstanden,« antwortete mein Ahn.

»Gut,« und sofort riß ihm der Holzhauer die Uhr wieder aus der Hand, wendete sie um, daß das Schildkrötengehäuse nach oben lag, »siehst du die Silbernieten da am Rand herum?«

»Sind nicht übel,« entgegnete mein Großvater.

»Übel oder nicht,« rief der schielende Weißkopf, »nach diesen Nieten zahlst mir die Uhr. – Für die erste Niete gibst mir ein Haferkorn, für die zweite gibst mir zwei Haferkörner, für die dritte vier, für die vierte acht, und so verdoppelst mir den Hafer bis zur letzten Niete, und die Uhr gehört dein mitsamt der Silberkette und dem Frauentaler, der dran hängt.«

»Gilt schon!« lachte mein Großvater, bei sich bedenkend, daß er für eine solche Uhr eine Handvoll Hafer doch leicht geben könne.

Der Kreuzwirt hatte im selben Augenblick meinen Großvater noch heimlich in die Seite gestoßen, der aber hielt das für lustige Beistimmung und schlug seine Rechte in die des Alten. »Es gilt, und alle Männer, die beim Tisch sitzen, sind Zeugen!«

Er hatte aber keinen Hafer bei sich.

Tat nichts. Sofort brachte der Kreuzwirt ein Schäffel Hafer herbei, um durch Zählen der Körner, wie mein Ahn meinte, die Rechnung zu bestimmen.

Sie setzten sich um den Hafer zusammen, mein Großvater, [52] vom frischen Apfelmost im Kopfe erwärmt, lachte still in sich hinein; des Gewinnes gewiß, freute er sich schon auf die großen Augen, die das Heidelbeermägdlein zur gewichtigen Uhr machen werde.

Zuerst wurden die Nieten gezählt, die um das Schildkrötenblatt herumliefen: es waren deren gerade siebzig. Dann kam's an die Haferkörner; mein Großvater sonderte sie mit den Fingern, der Holzhauer zählte nach, und die anderen überwachten das Geschäft.

Erste Niete: ein Korn; – zweite Niete: zwei Körner; – dritte Niete: vier Körner; – vierte: acht Körner; – fünfte: sechzehn; – sechste: zweiunddreißig; – siebente: vierundsechzig; – achte: hundertachtundzwanzig; – neunte: zweihundertsechsundfünfzig; – zehnte Niete: fünfhundertzwölf Körner. – »Wirtin, den kleinen Schöpflöffel her!« – Das ist gerade ein gestrichener Schöpflöffel voll.

Mein Großvater schob die Körner mit der Hand hin: »Macht's weiter, ich seh's schon, es wird schier ein Metzen herauskommen.«

Und die anderen zählten: Eilfte Niete: zwei Schöpflöffel voll Hafer; – zwölfte Niete: vier Löffel voll; – dreizehnte: acht Löffel; – vierzehnte: sechzehn Löffel voll. Das machte eine Maß. – Fünfzehnte Niete: zwei Maß; – sechzehnte: vier Maß. – Das ist ein Maßl (Schäffel). – Siebzehnte Niete: zwei Maßl; – achtzehnte: vier Maßl; – neunzehnte: acht Maßl; – zwanzigste Niete: sechzehn Maßl, oder ein Wecht. –

Jetzt tat mein Großvater einen hellen Schrei. Die anderen zählten fort und bei der dreißigsten Niete kostete die Uhr über tausend Wecht Hafer. Das war mehr, als die Jahresernte der ganzen Gemeinde Alpel.

[53] »Jetzt hab' ich mein Haus und Grund verspielt,« schrie der Freier.

»Sollen wir noch weiter zählen?« fragten die Männer.

»Wie ihr wollt,« antwortete mein Großvater mit stieren Augen.

Bei der dreiundvierzigsten Niete hatten sie eine Million Wecht Hafer. Bei der fünfzigsten rief mein Großvater, die Hände zusammenschlagend, aus: »O, du himmlischer Herrgott, jetzt hab' ich deinen ganzen Hafer vertan, den du seit der Schöpfung der Welt tust wachsen lassen!«

»Sollen wir weiter zählen?« fragten die Männer.

»Nicht nötig,« antwortete das weißköpfige Männlein gemessen, »das übrige schenk' ich ihm.«

Mein Großvater – er erbarmt mir heute noch – war blaß bis in den Mund hinein. Er hatte es in seiner Kindheit schon gehört, die Weltkugel mit allem was auf ihr, drehe sich im Kreise; jetzt fühlte er's deutlich, daß es so war – ihm schwindelte. – Da geht er ins Heiraten aus und vertut sein ganzes Gütel. – »Alle Rösser auf Erden,« rief er, »fressen nicht so viel Hafer, als die lumpigen paar Nieten da in der Uhr!«

»Steck' sie ein, Bauer, sie gehört ja dein,« sagte der alte Waldmann, »und zahl' den Bettel aus.«

»Ihr Leut'« lachte mein Großvater herb, »ihr habt mich übertölpelt (überlistet).«

»Du bist auch nicht auf den Kopf gefallen,« entgegnete man ihm, »du kannst zählen, wie jeder andere. Wirst jetzt wohl müssen geben, was du hast. – Schau, die ehrenwerten Zeugen!«

[54] »Ja, ja, die ehrenwerten Zeugen,« rief mein Ahn, »lauter Leut', die geschwärzten Tabak rauchen!«

»Sei still, Bauer!« flüsterte ihm der Kreuzwirt zu, »umliegend (ringsum) ist der Wald! Wenn sie dich angehen, ich kann dir nicht helfen.«

Der alte Weißkopf schielte in den wurmstichigen Tisch hinein: er mochte merken, daß für ihn hier eigentlich doch nichts Rechtes herauskam, er sagte daher zu meinem Großvater: »Weißt, Bauer, du könntest jetzt wohlfeil zu einem Körndl (Korn, Getreide) kommen. Ich will Hafer verkaufen. Gib mir dreißig Gulden für den ganzen.«

Abgemacht war's. Leichten Herzens legte mein Großvater dreißig Gulden auf den Spieltisch und eilte davon. Im freien Wald sah er auf die Uhr; der Zeiger stand auf halb vier.

Mein Ahn kehrte heim, warb um das Heidelbeermädchen und verehrte ihm die Uhr zum Brautgeschenk.

»Aber,« sagte er, »mein Schatz, das nehm' ich mir aus, du mußt mir für die erste Silberniete da einen Kuß geben, und bei jeder weiteren Niete die Küsse verdoppeln!«

Das arglose Mädchen ging drauf ein. –

Die Leutchen sind alt, sind meine Großeltern geworden, doch starben sie lange bevor großmutterseits die Uhr bezahlt war. Und wir Nachkommen werden kaum jemals imstande sein, diese ererbte Schuld der Großmutter vollends wettzumachen.

Die ledernen Brautwerber meines Vaters
[55] Die ledernen Brautwerber meines Vaters.

Da nun noch viel von Vater und Mutter die Rede sein wird, so muß vorerst gesagt werden, wie sie es geworden sind.

Also der junge Lenzel.

Niemand ging öfter am Alitschhof vorüber, als der junge Lenzel. Er stieg von seinem Berghause herab ins Tal, diesseits wieder herauf, am Alitschhof vorbei, gegen die Waldhöhe hin. Was er auf der Waldhöhe tat, wußte niemand, man sah ihn nur allemal wieder zurückkehren denselben Weg – am Alitschhof vorbei. Der jungen Weiddirn Mirzel, der Kohlenbrennerstochter, die am Raine Gras mähte oder im Garten Kohlköpfe abschnitt, fiel es zuerst auf, aber sie sagte nichts. Das erstemal, als sie ihn sah, dachte sie auch nichts und schnitt ihr Gras. Das zweitemal dachte sie, der muß auf einem Viehhandel umgehen, jetzt, und schnitt ihr Gras. Das drittemal, als er am Gartenzaun stehenblieb und eine Weile zuschaute, wie sie den Kohl abhieb, dachte sie: Stehen bleibt er! ich tu nix desgleichen – und hieb Kohlköpfe ab.

Der Lenzel war noch vor keiner solange stehengeblieben, obschon nach des Vaters Tod die Mutter gesagt hatte: »Bub, ich kann's nimmer dermachen mit der Wirtschaft, du mußt umschauen! Aber bring' mir keine Dudl ins Haus, die alleweil nur ein schönes Gewand anhaben und nix arbeiten will!«

[56] Nun also. – Die dort im Krautgarten, die arbeitet ja, und Gewand hat's auch kein schönes an. Das Köhlerdirndl. Das gestrickt' Wollenjöppel und das blau' Leinwandkitterl wird's wohl noch klecken. Schuh' hat's eh keine an. – Daß sie mit ihren drallen Barfüßlein dastand auf der schwarzen Erden, wollte ihm gefallen. Aber er sagte nichts und trottete wieder davon. Und dann tat's ihm leid, daß er sie nicht angeredet hatte. Das nächstemal nahm er sich's vor, ging aber wieder unverrichteter Sache vorüber, weil ihm nichts einfiel. Ihm war das Anschauen einstweilen ganz und gar genug; aber daß sie denken konnte: der muß ein Tappel sein, weil er nix zu reden weiß – das war's.

Das nächstemal ging er am Samstag vorbei, zur Feierabendstunde. Und wenn es auch schon finster sein sollte, das macht nix. Einfallen tut einem bei der Nacht leichter was. Da will er's bei ihr mit dem Fensterln probieren. Aber er kam zu früh, es war noch licht. Die Mirzel stand am Brunnen und scheuerte mit dem Strohwisch einen Zuber so heftig, daß das Kitterl lustig hin und wider schlug. Und dann ließ sie das kalte Wasser auf ihre Barfüße rinnen, bis Staub und Erde weggeschwemmt waren und sie feucht und rosig dastanden auf dem Brunnenstein. Und neben ihr stand der Soldat. Der Steinlacher Zenz, der auf Urlaub da heim war. Er hatte blaue Hosen und einen weißen Rock an, und einen schwarzglänzenden Tschako mit dem goldenen Kaiseradler auf, und am schwarzen Lendenriemen das Stilett. An den Ohren zwei gefettete Haarsechser geschwungen und unter der langen Nase zwei falbe Bartspitzen. Mit solch bewaffneter Macht war sie jetzt besetzt, die Dirn, unter [57] drohender Gefahr eines Belagerungszustandes. Der Lenzel stand am Hundskobel und schäkerte mit dem Kettenhund, dem er die Hand in den Rachen hielt, der darob schrecklich knurrte, mit den langen weißen Zähnen nagte und doch nicht dreinbiß. Aber des Burschen Auge war beim Dirndl, wie jetzt der Soldat mit ihm schäkerte. Einen langen Kornhalm hatte er vom Wege aufgelesen, der Kaiserliche, ihn in den Mund genommen und beim Plaudern so hin und her bewegt, daß der Halm ein paarmal in das weiße Rundgesicht des Dirndls schlug. Wie man Fliegen abwehrt, so tat sie mit der Hand und scheuerte wieder an dem Zuber. Jetzt wendete der Soldat den Halm bodenwärts und hub an, damit an ihren Barfüßen herumzugaukeln. Das war nicht mehr auszuhalten. Der Lenzel ließ Hund Hund sein, trat rasch an den Brunnen und sagte: »Laß mich ein wenig trinken, Mirzel?«

Sie lachte ihn freundlich an und meinte, das Wasser würde wohl noch ausreichen.

Er hielt seinen Mund aus sprudelnde Rohr und trank. Der Soldat gab ihm als alten Kameraden die Hand und sprach: »Ich sag' gleich grüß dich Gott und b'hüt' dich Gott auf einmal!« Daß hieß so viel als: Nun kannst schon wieder gehen. Aber der Lenzel blieb stehen; er müsse warten, bis er noch einmal durstig werde. Das sei ganz gescheit, antwortete sie, und ob er sich nicht an den Trogrand niedersetzen wolle? Da merkte der Urlauber, daß er seinen Abschied habe, grüßte kaiserlich und marschierte ab.

Und nun waren sie allein, der Lenzel und die Mirzel.

Es dürfte kaum der Mühe wert sein, das Gespräch[58] zweier blöder Bauernkinder aufzumerken. Solch junge Leute sind ja sonst ganz munter und witzig, doch in einer gewissen Standzeit sind sie äußerst ungeschickt und befangen. Aber die zuckenden Augen und die errötenden Wangen plaudern mehr, als sie sollen und wollen. Und die Lippen haben reichlich zu tun, um durch täppische Herumrederei die Wahrheit zu verleugnen. Und das leidenschaftliche Verneinen ist ein heimliches Bejahen.

Als der Lenzel nachher davonging, soll es keinen Erdboden gegeben haben. Er schwebte.

Drei Wochen später war Allerheiligen. Da kam in den Alitschhof ein mit steifem Zuckerhutpapier eingewickeltes Packel. Der Schickbub sagte: »Für die Weiddirn Mirzel!« und lief davon als ob er gejagt würde.

Die Leute guckten: »Mirzel, dir soll's gehören!«

»Mir soll's gehören?« sagte sie und nahm zagend das Packel in den Arm. Trug es in die Kammer und machte es nicht auf. Sie hatte es aufs Fensterbrett gelegt, stand davor und schaute es an. Und den ganzen Nachmittag dachte sie: Was denn da drin sein könne? Das blutarme Kind war so reich an diesem Tage. Zehnerlei schöne Sachen dachte sie, jede konnte drinnen sein in dem blauen Papier. Hoch hatten ihre Wünsche sich ja nie verstiegen. Ein paar Wecken. Ein Rocken Flachs. Oder sollte der alte Kohlenbrennervetter vom Kreßbach Wollenstrümpfe schicken, die er selbst so schön strickt? Oder gar die Hausteinerin, bei der sie nächst Jahr dienen soll, Zucker und Kaffee? – In Gottesnamen, tun wir halt schauen. Am End' sind's Fichtenzapfen oder eine andere Fopperei. – Im blauen Packel waren ein Paar Schuhe. Ein Paar neuer kohlschwarzer Kalbslederschuhe [59] mit Ochsensohlen, gezähnten Lascheln und Riemen. An den Zehenspitzen hübsch »abgehackt«, wie die Bezeichnung lautet. Man sah unten am Sohlenrand keinen Pechdraht, wie bei den »Grobg'nahten«; die Naht war inwendig versteckt. Bei der Wichtigkeit, die dieses Paar Schuhe für mich hat, habe ich mich neuzeit an einen Schustermeister gewendet, daß er mir die Technik solch versteckter Nähte erkläre; aber der lachte, da könne er nicht dienen; sohlengenähte Schuhe seien längst abgekommen, seit man die »Zwecke« habe. Also wäre mein weiteres Herumfragen zwecklos.

Das Dirndl war sehr vergnügt. Schuhe! Buderlweiche Kalblederschuhe mit Zahnascheln! Und durchg'naht! »Jesseles, die hat mir frei der lieb' Herrgott geschickt! – Flugs an die Füße damit. »Für Strümpfeln sind sie gerichtet. Hab'n ma keine, so tun ma Stroh um die Zehen, ist auch schön warm. Und nix dabei? Kein March und kein Nam'. Wer's mir nur so gut tut meinen? – Du josl maron, was das für saubere Schuh' sein.! Und gut gehen drein!« Wie sie etliche Mal im Zimmer hin und her getrippelt, streift sie die Schuhe wieder ab, beschaut sie noch einmal über und über und wischt mit einem Lappen etwaigen Staub weg. Dann stellt sie sie in ihren Gewandkasten, zieht den Schlüssel ab, was sonst nicht der Brauch ist im Alitschhof, und steckt ein paar klobige Holzschuhe an die Füße.

Etliche Wochen später ist auf dem Hof des Lenzel Brecheltag gewesen. Mit Holzwerkzeugen, Brecheln genannt, wird der Jahresbau des vorher im Dörrofen getrockneten Flachses gebrochen, von Spreu und Agen befreit, so daß das gelbliche weiche Rockenhaar hervorkommt. [60] Zu dieser Zeit pflegt der Bauer Nachbarsleute einzuladen, damit die Arbeit an einem langen Nachmittage vollzogen werden kann. Am Abende darauf große Mahlzeit, Tanz und andere Lustbarkeit. (Siehe »Volksleben in Steiermark«: Das Fest der Hausehre.) Zu diesem Brecheltag lud der Lenzel unter andern auch die Weiddirn vom Alitschhof. Und richtete es so ein, daß ihre beiden Brecheln nebeneinander standen. Vor allem war er auf eins begierig, aber sie hatte – die Holzschuhe an. Sie plauderten nicht viel selbander, sondern schwangen ihre Brechelscheiter über den Flachs. Aber als es Feierabend ward und sie nebeneinander zum Hause hingingen, fragte der Lenzel ruhig: »Tust nit schwer gehen in deinen Holzschuhen?«

»Im Winter sein's halt schön warm, im Sommer trag' ich gar keine,« antwortete sie.

»Im Sommer, meinst. Und tun dich nit immer einmal die Halme stechen?«

»Das ist man schon gewohnt,« sagte sie, verstand es nicht, auf was er angespielt hatte.

Da fragte er endlich zögernd: »Hast nit auch andere Schuh'?«

»Ich hätt' ein Paar schöne Schuh' im Kasten, aber die behalt ich mir für die Feiertäg.«

»Tragst du sie im Winter, da mußt sie dir nageln lassen.«

»Weißt leicht, daß sie nit genagelt sind?«

»Werden eh, werden eh! Wie soll ich das wissen?«

»Die Schuh' sein mir geschickt worden,« sagte sie und lauerte ein wenig.

»So, geschickt worden? Von wem denn?«

[61] »Ja, Lenzel, wenn ich das kunnt' herausbringen! Will sie nit eher tragen, bis ich's weiß.«

»Hast keinen Gedanken?« fragte er.

»Wohl schon gehabt, aber jetzt wieder nit. Herumfragen mag ich nit. Die Hausteinerin, hab' ich einmal gemeint. Die sagt: Nein. Der Kreßbachvetter ist's auch nit.«

»Wirst ja noch mehr Bekannte haben. Vielleicht –«

»Was sagst?«

»Vielleicht der Urlauber Zenz?«

»Uh narrisch! Der ist selber barfuß gegangen, ehvor ihm der Kaiser die Stiefel hat geschenkt.«

Blinzelte der Lenzel ihr mit großem Wohlgefallen ins Gesicht, aber ganz flüchtig. Das Wort hat ihm getaugt.

»Einen Rat tät' ich dir wohl wissen, Mirzel,« sagte er hernach. »Jetzt kommt bald die Thomasnacht. Da wirfst du die Schuh' über den Kopf hinteri, und wie sie nachher auf dem Fletz liegen und nach welcher Seiten ihre Zehenspitzen hinzeigen, von derselben Seiten sind sie hergekommen. Weißt du, geschenkte Schuh' trachten immer zurück.«

Da sagte sie nichts mehr.

Der Thomastag ist der kürzeste Tag des Jahres, und doch konnte das Dirndl den Abend kaum erwarten. Nach dem Mahle erzählte ein alter Knecht Geschichten und die Alitschbäuerin wollte Lieder singen, bei denen die Mirzel ihr sonst mit »zweiter Stimm'« zu helfen pflegte. Heut' aber sagte das Dirndl, es sei nicht ganz richtig, und zog sich bald in ihre Kammer zurück. Nicht [62] ganz richtig! Das deuteten die Hausleute auf Schläfrigkeit. Allein, es war was anderes. Wenn eine immer ein paar Kalblederschuhe mit Ochsensohle im Kopf hat, wie soll sie da singen können? – Als die Tür hinter ihr verschlossen war, zündete sie die rote Ampel an, die sonst nur an hohen Festabenden vor einem Marienstatuettlein brannte. Dann holte sie aus dem Kasten die Schuhe und warf sie rasch hinter sich auf das Fletz. Und schaute, wie sie gefallen waren. Beide hatten ihre Zehenspitzen nach der Seite hin, wo das menschenleere Gebirge stand. Das war sicherlich falsch, von dort konnte kein Schuh kommen. Sie warf ein zweitesmal, da war's noch dümmer, die eine Schuhspitze zeigte nach St. Kathrein, die andere nach dem Mürztal. Sollten zwei Spender aus verschiedenen Richtungen zusammengeschossen haben? Aller guten Dinge sind drei, dachte sie, hub die Schuhe auf und warf sie ein drittesmal über den Kopf nach hinten. Diesmal mit bedachtsamer Vorsicht. Jetzt hatte sie's. Beide Schuhe zeigten einstimmig die Richtung quer über das Hochtal, nach dem Berg, auf dem der Hof des Lenzel stand. Nun warf sie nicht mehr. Nun war's ihr recht. Sie nahm ein Tüchlein, reinigte die Schuhe sorgfältig von jedem Stäubchen und stellte sie mit Zärtlichkeit in den Kasten. Dann legte sie sich nieder und weinte die halbe Nacht.

Vier Tage nachher war Christtag. Der Lenzel legte sein neues graues Lodengewand an mit den grünen Aufschlägen an Kragen und Ärmel und setzte den schwarzen Hasenhärenen auf. Der breite schneeweiße Hemdkragen war von einem roten Seidentuch zusammengehalten. In der Weste hatte er an einem Packfongkettlein hängend [63] jene große Taschenuhr mit Schildkrotgehäuse, die einst – wie wir gesehen haben – der Ahn Josef so teuer hat kaufen müssen. Diese Uhr zog er nun auf dem Weg zur Kirche mehrmals heraus, um ins Glas zu gucken, ob er wohl auch ein so freundliches gutes Gesicht hatte, als er heute haben wollte. Tags zuvor hatte es geschneit. Nun stieg hinter dem Wald die rote Sonnenscheibe groß herauf, daß die weite Schneelandschaft zart erglühte. So kam der Lenzel zur Kirche. Dort drängte er sich mit anderen durch das rückwärtige Tor hinein, das unter dem Turm ist. Ganz flüchtig hatte er bemerkt, daß hinter ihm die Mirzel nachging und daß sie am Tor zurückblieb. Denn sie hatte heute die neuen Schuhe an und da wäre es gerade, als trippelten sie ihm – dem Spender nach. Das durfte nicht so aussehen, so ging sie außen links um die Kirche. Das hatte er bemerkt, kehrte um und ging außen rechts um die Kirche.

Und draußen, just hinter dem Schiffe des Hochaltars, unter einer schneebeschwerten Tanne haben sie sich begegnet.

Nach der ersten Verwunderung darob, daß die neuen Schuhe schnurgerade zum Spender zurückgekehrt waren und nach dem Schreck darüber, daß bei dieser Rückkehr sie selbst in den Schuhen steckte, hat sie aber lachen müssen. Während drinnen schon die Orgel klang, haben sie sich die Hand gegeben – das schweigende Versprechen.

So haben ihm die Schuhe, die er ausgesandt, das Weib zugebracht.

– – – – – – –

Das fahrende Zechen
[64] Das fahrende Zechen.

Zur Zeit, als mein Großvater auf dem Waldbauernhofe saß, saß auf einem der nächsten Nachbarhöfe der Bauer Winfred Isidor Bernhard. Die beiden Höfe lagen sich auf zwei Bergen gegenüber und schauten sich an. Der eine war ernsthaft und stillsam, man sah auf seinen Feldern die Ochsen mit dem Pfluge dahinkriechen oder hörte das dumpfe Geklapper der Dreschkolben auf der Tenne. Der andere Hof lachte und widerhallte stets in heiterem Lärme. Der stille Hof gehörte meinem Großvater, der bei der Arbeit ein ernster Mann war, der laute aber dem Winfred. Der Winfred ging mit seinem runden Bäuchlein und seinem grünen Samtbarettlein wie ein Edelherr nur so um den Hof herum und schaute lachend auf die mageren Wiesen und steinigen Felder hinaus und gab seinem Gesinde lachend die Befehle und wackelte dann wieder in seine Stube und aß was rar war und trank was klar war – heißt das, nicht allzu klar, denn eitel Brunnenwassers wegen schmaust sich der Deutsche keinen Durst an. Oftmals wunderte sich mein Großvater darüber, daß auch bei seinem leichtlebigen Nachbar die Wirtschaft ging und allem Anscheine nach sogar besser als in anderen Höfen, wo man tagsüber arbeiten und nachtsüber sorgen müsse.

»Na, 's ist ja recht,« meinte mein Großvater, »wer das kunnt, dem sei's vergunnt.«

Zu diesem Nachbar Winfred Isidor Bernhard kam[65] eines Tages ein entfernt stehender Vetter auf Besuch. Dieser Vetter war unter den Franzosenkriegen viel in der Welt herumgewirbelt worden, und alle Weine, die mittagwärts der Alpen gekeltert, und alle Biere, die mitternachtswärts gebraut wurden, hatte er verkostet.

Seines Zeichens war er Pferdehändler und so kam er eines Tages auf einem Rappen herangeritten gen den Hof des Winfred.

An diesem Tage hub ein scharfes Zechen an. Es war im Spätherbst, am Tage der heiligen Apostel Simon und Judas. Winfred hatte den Rappen zu gefülltem Troge und den Reiter an den eichenen Tisch geführt, der, von eichener Wandbank zur Hälfte umgeben, unverrückbar schwer dastand. Ein grauer Steinkrug kam herbei, dem standen Tröpflein auf seiner Bauchung, und dem entströmte ein kühlender Wohlduft. Behutsam, aber kundig des Handgriffs, stellte Winfred den Krug auf den Tisch: »Vetter Wolfgang, ich bring' dir's!«

»Ich bring' dir's wieder, Winfred. Wir haben draußen jetzo die Welt umgestülpt und dein Hof, der steht noch fest. So bleib's. Ich bring' dir's.«

Und indem sie nun tranken auf den Bestand des Hofes, singen sie an, denselben zu versaufen.

Draußen im Stalle schlachtete der Knecht einen Schöps; in der Küche buk die Hausfrau Krapfen. Als das Ankunftsmahl in lauter Heiterkeit verzehrt war, begann das große Trinken. Es währte die ganze Nacht. Als der Tag ausging, legte sich der Vetter Wolfgang auf die eine Bank und der Vetter Winfred auf die andere. Und als sie gegen Mittag erwachten, kam ein frischer Krug.

[66] »Auf was trinken wir?« fragte Wolfgang.

»Gestern haben wir auf deine Ankunft getrunken und auf meinen Hof,« antwortete der Bauer, »heute trinken wir auf die Verjagung der Franzen.«

Das war angenommen. Am dritten Tage tranken sie auf des Wolfgang Rappen. Am vierten – das war der einunddreißigste Oktober – tranken sie auf Martin Luther, denn der Vetter Wolfgang hatte früher einen Prozeß mit dem Pfarrer von Langenwang eines schiefen Pferdehandels wegen gehabt und zur Rache dafür war er jetzt stocklutherisch geworden. Am fünften Tage tranken sie den Heiligen Gottes eins zu, am nächsten Tage brachten sie es den Seelen im Fegefeuer.

An einem weiteren Tage – nachdem nun der wildeste Durst gelöscht war – begann das Kartenspielen. Was der Wolfgang gewann, wurde gemeinsam vertrunken.

Da war es am Tage des heiligen Martin, als sich des Pferdehändlers Hosentaschen leer fanden. »So mag's an die Hosen selber gehen.«

Der Winfred spielte keck, sein Weib, das stets den frischen Trunk zu besorgen hatte, konnte ihre Beklommenheit kaum mehr verbergen. Jetzt das letzte Blatt – ihr Mann hatte des Gastes Hosen gewonnen. Er schenkt sie zurück. – Nein, Spielschulden läßt man sich nicht schenken. Wolfgang reißt die Hosen von den Beinen. Da hub der Winfred gewaltig an zu lachen. Mit beiden Zeigefingern deutete er auf den Gast und lachte, daß er schier unter den Tisch kollerte. Was war's? Ein zweites Beinkleid hatte der Rossehändler an! Ja, das war der erste, der die Unterhosen in unsere Gegend gebracht hatte, nachdem seit der Einführung des Beinkleides [67] unter den Germanen mehr als dreizehnhundert Jahre verflossen waren, ohne daßein Paar Hosen nicht genügt hätte. Im Jahre 1860 hat das uralte Männlein noch gelebt und mein Schneidermeister hat einmal mit leuchtenden Augen auf dasselbe gewiesen: »Schau ihn an, Lehrbub, schau ihn gut an, der hat die Unterhosen ins Land gebracht.«

Nun wieder zurück zu unserem Eichentisch. Am Kathrinentage, das ist der 25. November, saßen sie noch an demselben und aßen und tranken und spielten und lachten und beide behaupteten, eine so lustige Zeit, wie diese, sei seit der Welterschaffung noch nicht gewesen. Zu Anfang des Advents, als die beiden Männer einen Tag weniger als fünf Wochen lang gezecht hatten, kam die Hausfrau mit kummervoller Miene zur Tür herein und machte die Mitteilung, daß die Fässer leer seien, daß der Schweinstall leer sei, desgleichen auch die Vorratskammer.

»So,« sagte Winfred, »schon leer?«

»Das macht nichts,« meinte der Vetter Wolfgang, »so werde ich jetzt zum Nachbar gehen.«

»Ich gehe auch mit,« rief der Winfred, »der Waldbauer da drüben auf dem anderen Berg, der so schlau auf uns herüberschaut, der hat auch Sachen, hat zwei Stardin Holzapfelmost im Keller, langt uns bis über Neujahr. Also auf, Kumpan!«

Das Weib des Winfred aber war dem Waldbauer, meinem Großvater, wohlgewogen; daher lief sie jetzt auf kürzestem Wege zu ihm herüber und sprach: »Nachbar, sperr' Tür und Tor zu, ich vermein' dir's gut, sperr' Tür und Tor zu!«

[68] »Rucken Franzosen an?«

»Deutsche rucken an. Zechen wollen sie bei dir.«

»Das ist kein schlechtes Vorhaben,« sagte mein Großvater. »Wieviel sind ihrer?«

»O Waldbauer, diese Zecher zählen nicht nach Personen, sie zählen nach Tagen und Wochen. Sie werden nicht vom Fleck gehen, solang' noch ein Tröpflein in deinem Keller, ein Krümlein in deiner Kammer ist. Zwei sind ihrer, mein Haus haben sie aufgefressen, jetzt heben sie mit deinem an.«.

Sagte mein Großvater: »Wenn das solche sind, dann will ich sie schon begasten. Sie sollen kommen.«

Da ritten sie heran, der Wolfgang auf seinem Rappen, der Winfred auf einem alten Klepper, den er sich zum »in die Kirche fahren« angeschafft hatte. Mein Großvater erhob ein Freudengeschrei über den seltsamen Besuch, dann ließ er die Pferde absatteln und zusammen an einen Schlitten spannen, um mit demselben vom Walde Brennholz heimzuführen. Zu den beiden Ankömmlingen sagte er, daß er wohl verhoffe, sie wären zu keinem anderen Zweck in den Waldbauernhof gekommen, als um ihm die Ehre zu erweisen, eine Jause bei ihm einzunehmen.

»Das versteht sich,« rief der lustige Winfred, »du kennst uns: wir essen was rar ist und trinken was klar ist, so lang bis es gar ist. Nachher kommst auch du mit uns, Waldbauer, und wir gehen um ein Häusel weiter.«

»Nur ist halt jetzt,« sagte der Waldbauer, »da drin in meiner Stuben der Tisch noch nicht gedeckt. Dieweilen das besorgt wird, seid ihr schon so gut und helft [69] mir auf der Tenne die etlichen Schober Korn ausdreschen, auf daß ich nachher fertig bin und mich zu euch setzen kann.«

Dachte der Pferdehändler: Dreschen? Korn ausdreschen? dem Waldbauer Korn ausdreschen? Aber der Winfred Isidor Bernhard sagte: »Es gilt! das Dreschen macht Appetit.«

Und als sie bis zum Abend gedroschen hatten, gingen sie ins Haus und setzten sich zum Nachtmahl. Das bestand aus Milchsuppe, Sauerkraut und Bohnen; es war sehr gut gekocht. Der Waldbauer machte allerlei Schnurren, um seine werten Gäste zu erheitern, und als die Bohnen verzehrt waren, sagte er: »Mit den Krapfen müßt ihr schon gedulden, bis sie fertig sind.«

»Gerne,« antwortete der Pferdehändler, »gerne wollte ich mich gedulden, »wenn ich von der Küche herein nur ein klein Bissel was prasseln tät' hören. Aber in deiner Küche ist es still, wie in einer Totenkammer.«

»Laß nur Zeit,« sagte der Gastgeber, »'s ist halt von der Mühl das Mehl noch nicht da.«

»Wann wird's denn kommen, von der Mühl das Mehl?« fragte der Nachbar Winfred sehr lustig, worauf der Waldbauer noch lustiger zur Antwort gab: »Das Mehl von der Mühl – das ist leicht auszurechnen: Heute haben wir das Korn ausgedroschen, morgen werden wir's sieben, entspreuen, in die Mühl tragen, übermorgen kann's gemahlen werden und am Tage drauf haben wir unsere Krapfen.«

Noch in derselbigen Nacht haben sich die beiden Vettern sein bedankt für die Gastfreundschaft und sind davongeritten.

[70] Wie mein Großvater, so hatte es manch anderer gemacht, um den alten Brauch der fahrenden Zecher abzubringen. Es war das doch eine zu merkwürdige Entartung der altdeutschen Gastlichkeit gewesen. Nach Geburts- oder Hochzeitsfeierlichkeiten wurde das Zechen oftmals so lange ausgedehnt, bis alle Vorräte des Festgebers verpraßt waren, dann zogen die Schlemmer weiter zu einem nächsten Hause, das sie gut oder übel neuerdings bewirten mußte. In der Pfarre Fischbach starb ein alter Feldhäusler. Die Leidtragenden versammelten sich zum üblichen Totenmahle, allein der Verstorbene war ein armer Schlucker gewesen und sie wurden nicht satt. Sie verabredeten sich, in den nächsten Bauernhof zu gehen und eine Mahlzeit zu begehren. Es geschah; und als sie hier gegessen hatten, nahmen sie den Gastgeber mit und brachen in einen nächsten Hof ein und aßen und tranken, was da war; so zogen sie von Haus zu Haus und wuchsen immer mehr an, nicht bloß an Gestalt, sondern auch an Zahl, weil sie stets den Gastgeber mit sich nahmen. Vor Weihnachten hatten sie mit ihrer Fahrt begonnen und als der Winter um war, stand kein Haus in der Pfarre, in welchem sie nicht ihr Totenmahl gehalten hätten. Nun waren einige dabei, die wieder von vorne anfangen wollten, da ließ der Pfarrer Sturm läuten, daß die Rotte erschrocken auseinanderfuhr.

In den alten bösen Zeiten hatte dieses fahrende Zechen und Schwelgen seinen Grund. War heute ein Vorrat im Hause, so holte ihn morgen der Lehensherr, oder eine Räuberbande, oder der fahrende Kriegsmann, oder gar ein Schwarm von Magyaren, Türken oder [71] Welschen – da war's doch besser, man setzte sich heute in guter Kameradschaft zusammen und vertat in Saus und Braus, was zu vertun war. Oft mag es wohl auch beim Fürnehmen geblieben sein, so daß der Brauch mehr als Sage, denn als Tatsache umging. Als hernach die Leute frei und die Zustände geordnet wurden, als das, was von dem Fleißigen erworben worden, sein wahrhaftiges Eigentum war, da kam die Sparsamkeit auf. Die lustigen Käuze und Nichtstuer aber wollten von der alten Art nicht lassen, und so kam es, daß sich Reste von dieser Sitte bis in unsere Zeit erstreckten.

Bei einem der letzten fahrenden Zechen bin ich – um der Entwickelung der Geschehnisse hier vorzugreifen – selbst dabei gewesen. Unser mehrere Bauernbursche kamen von der Rekrutierung zurück. Mit den Wirtshäusern waren wir fertig und auch mit dem Gelde. Jetzt sprachen wir in einem Bauernhause zu und verlangten zu essen. Es waren nur ein paar Weiber daheim und die waren froh, sich mit einer Pfanne Eierkuchen loskaufen zu können. Vor einem nächsten Hause, in welchem wir gutgegorenen Apfelmost wußten, begehrten wir mit lautem Geschrei zu trinken, worauf das Hoftor ausging und uns ein gewaltiger Wasserstrahl ins Gesicht sprang, daß wir nach rückwärts taumelten und pudelnaß davonliefen. Der Bauer hatte mit seiner Hausfeuerspritze uns den Durst gründlich gelöscht; bei mir ist dieser seither nicht mehr in dem Maße angewachsen, daß ich nötig gehabt hätte, zur altehrwürdigen Sitte des fahrenden Zechens meine Zuflucht zu nehmen.

Ums Vaterwort
[72] Ums Vaterwort.

Ich habe im Grunde keine schlechte Erziehung genossen, sondern gar keine. War ich ein braves, frommes, folgsames, anstelliges Kind, so lobten mich meine Eltern; war ich das Gegenteil, so zankten sie mich derb aus. Das Lob tat mir fast allezeit wohl, und ich hatte dabei das Gefühl, als ob ich in die Länge ginge, weil manche Kinder wie Pflanzen sind, die nur bei Sonnenschein schlank wachsen.

Nun war mein Vater aber der Ansicht, daß ich nicht allein in die Länge, sondern auch in die Breite wachsen müsse, und dafür sei der Ernst und die Strenge gut.

Meine Mutter hatte nichts als Liebe. Liebe braucht keine Rechtfertigung, aber die Mutter sagte: wohlgeartete Kinder würden durch Strenge leicht verdorben, die Strenge bestärke den in der Jugend stets vorhandenen Trotz, weil sie ihm fort und fort neue Nahrung gebe. Er schlummere zwar lange, so daß es den Anschein habe, die Strenge wirke günstig, aber sei das Kind nur erst erwachsen, dann tyrannisiere es jene, von denen es in seiner Hilflosigkeit selbst tyrannisiert worden sei. Hingegen lege die liebevolle Behandlung den Widerspruchsgeist schon beizeiten lahm; Kindesherzen seien wie Wachs, ein Stück Wachs lasse sich nur um die Finger wickeln, wenn es erwärmt sei.

[73] Mein Vater war von einer abgrundtiefen Güte, wenn er aber Bosheit witterte oder auch nur Dummheit, da konnte er scharf werden. Es dauerte aber nie lange. Er verstand es nur nicht immer, das rechte Wort zu sagen. Bei all seiner Milde hatte der mit Arbeit und Sorgen beladene Mann ein stilles, ernstes Wesen; seinen reichen Humor ließ er vor mir erst später spielen, als er vermuten konnte, daß ich genug Mensch geworden sei, um denselben aufzunehmen. In den Jahren, da ich das erste Dutzend Hosen zerriß, gab er sich nicht just viel mit mir ab, außer wenn ich etwas Unbraves angestellt hatte. In diesem Falle ließ er seine Strenge walten. Seine Strenge und meine Strafe bestand gewöhnlich darin, daß er vor mich hintrat und mir mit zornigen Worten meinen Fehler vorhielt und die Strafe andeutete, die ich verdient hätte.

Ich hatte mich beim Ausbruche der Erregung allemal vor den Vater hingestellt, war mit niederhängenden Armen wie versteinert vor ihm stehengeblieben und hatte ihm während des heftigen Verweises unverwandt in sein zorniges Angesicht geschaut. Ich bereute in meinem Inneren den Fehler stets, ich hatte das deutliche Gefühl der Schuld, aber ich erinnere mich auch an eine andere Empfindung, die mich bei solchen Strafpredigten überkam: es war ein eigenartiges Zittern in mir, ein Reiz- und Lustgefühl, wenn das Donnerwetter so recht auf mich niederging. Es kamen mir die Tränen in die Augen, sie rieselten mir über die Wangen, aber ich stand wie ein Bäumlein, schaute den Vater an und hatte ein unerklärliches Wohlgefühl, das in dem Maße wuchs, je länger und je ausdrucksvoller mein Vater vor mir wetterte.

Wenn hierauf Wochen vorbeigingen, ohne daß ich[74] etwas heraufbeschwor, und mein Vater immer an mir vorüberschritt, als wäre ich gar nicht vorhanden, und nichts und nichts zu mir sagte, da begann in mir allmählich wieder der Drang zu erwachen und zu reisen, etwas anzustellen, was den Vater in Zorn bringe. Das geschah nicht, um ihn zu ärgern, denn ich hatte ihn überaus lieb; es geschah gewiß nicht aus Bosheit, sondern aus einem anderen Grunde, dessen ich mir damals nicht bewußt gewesen bin.

Da war es einmal am heiligen Christabend. Der Vater hatte den Sommer zuvor in Mariazell ein schwarzes Kruzifixlein gekauft, an welchem ein aus Blei gegossener Christus und die aus demselben Stoffe gebildeten Marterwerkzeuge hingen. Dieses Heiligtum war in Verwahrung geblieben bis auf den Christabend, an welchem es mein Vater aus seinem Gewandkasten hervornahm und auf das Hausaltärchen stellte. Ich nahm die Stunde wahr, da meine Eltern und die übrigen Leute noch draußen in den Wirtschaftsgebäuden und in der Küche zu schaffen hatten, um das hohe Fest vorzubereiten; ich nahm das Kruzifixlein mit Gefahr meiner geraden Glieder von der Wand, hockte mich damit in den Ofenwinkel und begann es zu verderben. Es war mir eine ganz seltsame Lust, als ich mit meinem Taschenfeitel zuerst die Leiter, dann die Zange und den Hammer, hernach den Hahn des Petrus und zuletzt den lieben Christus vom Kreuze löste. Die Teile kamen mir nun getrennt viel interessanter vor als früher im Ganzen; doch jetzt, da ich fertig war, die Dinge wieder zusammensetzen wollte, aber nicht konnte, fühlte ich in der Brust eine Hitze aufsteigen, auch meinte ich, es würde mir der Hals zugebunden. – Wenn's nur beim [75] Ausschelten bleibt diesmal...? – Zwar sagte ich mir: das schwarze Kreuz ist jetzt schöner als früher; in der Hohenwanger Kapelle steht auch ein schwarzes Kreuz, wo nichts dran ist, und gehen doch die Leute hin, zu beten. Und wer braucht zu Weihnachten einen gekreuzigten Herrgott? Da muß er in der Krippe liegen, sagt der Pfarrer. Und das will ich machen.

Ich bog dem bleiernen Christus die Beine krumm und die Arme über die Brust und legte ihn in das Nähkörbchen der Mutter und stellte so mein Kripplein auf den Hausaltar, während ich das Kreuz in dem Stroh des Elternbettes verbarg, nicht bedenkend, daß das Körbchen die Kreuzabnahme verraten müsse.

Das Geschick erfüllte sich bald. Die Mutter bemerkte es zuerst, wie närrisch doch heute der Nähkorb zu den Heiligenbildern hinaufkäme?

»Wem ist denn das Kruzifixlein da oben im Weg gewesen?« fragte gleichzeitig mein Vater.

Ich stand etwas abseits und mir war zumute, wie einem Durstigen, der jetzt starken Myrrhenwein zu trinken kriegen sollte. Indes mahnte mich eine absonderliche Beklemmung, jetzt womöglich noch weiter in den Hintergrund zu treten.

Mein Vater ging auf mich zu und fragte fast bescheidentlich, ob ich nicht wisse, wo das Kreuz hingekommen sei? Da stellte ich mich schon kerzengerade vor ihn hin und schaute ihm ins Gesicht. Er wiederholte seine Frage; ich wies mit der Hand gegen das Bettstroh, es kamen die Tränen, aber ich glaube, daß ich keinen Mundwinkel verzogen habe.

Der Vater suchte das Verborgene hervor und war[76] nicht zornig, nur überrascht, als er die Mißhandlung des Heiligtums sah. Mein Verlangen nach dem Myrrhenwein steigerte sich. Der Vater stellte das kahle Kruzifixlein auf den Tisch. »Nun sehe ich wohl,« sagte er mit aller Gelassenheit und langte seinen Hut vom Nagel. »Nun sehe ich wohl, er muß endlich rechtschaffen gestraft werden. Wenn einmal der Christi-Herrgott nicht sicher geht... Bleib' mir in der Stuben, Bub!« fuhr er mich finster an und ging dann zur Tür hinaus.

»Spring' ihm nach und schau' zum Bitten!« rief mir die Mutter zu, »er geht Birkenruten schneiden.«

Ich war wie an den Boden geschmiedet. Gräßlich klar sah ich, was nun über mich kommen würde, aber ich war außerstande, auch nur einen Schritt zu meiner Abwehr zu machen. Kinder sind in solchen Fällen häufig einer Macht unterworfen, die ich nicht Eigensinn oder Trotz nennen möchte, eher Beharrungszwang; ein Seelenkrampf, der sich am ehesten selbst löst, sobald ihm nichts Anspannendes mehr entgegengestellt wird. Die Mutter ging ihrer Arbeit nach, in der abendlich dunkelnden Stube stand ich allein und vor mir auf dem Tisch das verstümmelte Kruzifix. Heftig erschrak ich vor jedem Geräusch. Im alten Uhrkasten, der dort an der Wand bis zum Fußboden niederging, rasselte das Gewicht der Schwarzwälderuhr, welche die fünfte Stunde schlug. Endlich hörte ich draußen auch das Schneeabklopfen von den Schuhen, es waren des Vaters Tritte. Als er mit dem Birkenzweig in die Stube trat, war ich verschwunden.

Er ging in die Küche und fragte mit wild herausgestoßener Stimme, wo der Bub sei? Es begann im Hause ein Suchen, in der Stube wurden das Bett und[77] die Winkel und das Gesiedel durchstöbert, in der Nebenkammer, im Oberboden hörte ich sie herumgehen; ich hörte die Befehle, man möge in den Ställen die Futterkrippen und in den Scheunen Heu und Stroh durchforschen, man möge auch in den Schachen hinausgehen und den Buben nur stracks vor den Vater bringen. Diesen Christtag solle er sich für sein Lebtag merken! – Aber sie kehrten unverrichteter Dinge zurück. Zwei Knechte wurden nun in die Nachbarschaft geschickt, aber meine Mutter rief, wenn der Bub etwa zu einem Nachbar über Feld und Heide gegangen sei, so müsse er ja erfrieren, es wäre sein Jöpplein und sein Hut in der Stube. Das sei doch ein rechtes Elend mit den Kindern!

Sie gingen davon, das Haus wurde fast leer und in der finsteren Stube sah man nichts mehr als die grauen Vierecke der Fenster. Ich stak im Uhrkasten und konnte durch das herzförmige Loch hervorgucken. Durch das Türchen, welches für das Aufziehen des Uhrwerkes angebracht war, hatte ich mich hineingezwängt und innerhalb des Verschlages hinabgelassen, so daß ich nun im Uhrkasten ganz aufrecht stand.

Was ich in diesem Verstecke für Angst ausgestanden habe! Daß es kein gutes Ende nehmen konnte, sah ich voraus, und daß die von Stunde zu Stunde wachsende Aufregung das Ende von Stunde zu Stunde gefährlicher machen mußte, war mir auch klar. Ich verwünschte den Nähkorb, der mich anfangs verraten hatte, ich verwünschte das Kruzifixlein – meine Dummheit zu verwünschen, das vergaß ich. Es gingen Stunden hin, ich blieb in meinem aufrechtstehenden Sarge und schon saß mir der Eisenzapfen des Uhrgewichtes auf dem Scheitel [78] und ich mußte mich womöglich niederducken, sollte das Stehenbleiben der Uhr nicht Anlaß zum Aufziehen derselben und somit zu meiner Entdeckung geben. Denn endlich waren meine Eltern in die Stube gekommen, hatten Licht gemacht und meinetwegen einen Streit begonnen.

»Ich weiß nirgends mehr zu suchen,« hatte mein Vater gesagt und war erschöpft auf einen Stuhl gesunken.

»Wenn er sich im Wald vergangen hat oder unter dem Schnee liegt!« rief die Mutter und erhob ein lautes Klagen.

»Sei still davon!« sagte der Vater, »ich mag's nicht hören.«

»Du magst es nicht hören und hast ihn mit deiner Herbheit selber vertrieben.«

»Mit diesem Zweiglein hätte ich ihm kein Bein abgeschlagen,« sprach er und ließ die Birkenrute auf den Tisch niederpfeifen. »Aber jetzt, wenn ich ihn erwisch', schlag' ich einen Zaunstecken an ihm entzwei.«

»Tue es, tue es – 'leicht tut's ihm nicht mehr weh,« sagte die Mutter und begann zu schluchzen. »Meinst, du hättest deine Kinder nur zum Zornauslassen? Da hat der lieb' Herrgott ganz recht, wenn er sie beizeiten wieder zu sich nimmt! Kinder muß man liebhaben, wenn etwas aus ihnen werden soll.«

Hierauf er: »Wer sagt denn, daß ich den Buben nicht liebhab'? Ins Herz hinein, Gott weiß es! Aber sagen mag ich ihm's nicht; ich mag's nicht und ich kann's nicht. Ihm selber tut's nicht so weh als mir, wenn ich ihn strafen muß, das weiß ich!«

[79] »Ich geh' noch einmal suchen!« sagte die Mutter.

»Ich will auch nicht dableiben!« sagte er.

»Du mußt mir einen warmen Löffel Suppe essen! 's ist Nachtmahlszeit,« sagte sie.

»Ich mag jetzt nicht essen! Ich weiß mir keinen anderen Rat,« sagte mein Vater, kniete zum Tisch hin und begann still zu beten.

Die Mutter ging in die Küche, um zur neuen Suche meine warmen Kleider zusammenzutragen, für den Fall, als man mich irgendwo halberfroren finde. In der Stube war es wieder still und mir in meinem Uhrkasten war's, als müsse mir vor Leid und Pein das Herz platzen. Plötzlich begann mein Vater aus seinem Gebete krampfhaft aufzuschluchzen. Sein Haupt fiel nieder auf den Arm und die ganze Gestalt bebte.

Ich tat einen lauten Schrei. Nach wenigen Sekunden war ich von Vater und Mutter aus dem Gehäuse befreit, lag zu Füßen des Vaters und umklammerte wimmernd seine Knie.

»Mein Vater, mein Vater!« Das waren die einzigen Worte, die ich stammeln konnte. Er langte mit seinen beiden Armen nieder und hob mich auf zu seiner Brust und mein Haar ward feucht von seinen Zähren. Mir ist in jenem Augenblicke die Erkenntnis ausgegangen.

Ich sah, wie abscheulich es sei, diesen Vater zu reizen. Aber ich fand nun auch, warum ich es getan hatte. Aus Sehnsucht, das Vaterantlitz vor mir zu sehen, ihm ins Auge schauen zu können und seine zu mir sprechende Stimme zu hören. Sollte er schon nicht mit mir heiter sein, so wie es andere Leute waren, so wollte ich wenigstens sein zorniges Auge sehen, sein herbes Wort [80] hören; es durchrieselte mich mit süßer Gewalt, es zog mich zu ihm hin. Es war das Vaterauge, das Vaterwort.

Kein böser Ruf mehr ist in die heilige Christnacht geklungen und von diesem Tage an ist vieles anders geworden. Mein Vater war seiner Liebe zu mir und meiner Anhänglichkeit an ihn inne geworden und hat mir in Spiel, Arbeit und Erholung wohl viele Stunden sein liebes Angesicht, sein treues Wort geschenkt, ohne daß ich noch einmal nötig gehabt hätte, es mit List erschleichen zu müssen.

Was bei den Sternen war
[81] Was bei den Sternen war.

Selbst der Naturforscher gibt es diesmal zu, was der Poet behauptet, daß nämlich im Waldlande die Sterne heller leuchten als sonst wo. Das macht die reine, feuchte Luft, sagt der eine; der andere hingegen meint, der Himmelsglaube der Einschichtbewohner sei Ursache, daß der Sternenhimmel so hell und hold niederfunkte auf den weiten stillen Wald.

Hat doch meine Ahne zu mir gesagt, als wir noch beisammen auf dem Holzbänklein unter der Tanne gesessen:

»Du bist mein liebes Kind. Und jetzt schau zum Himmel hinauf, die Augen Gottes blicken auf uns herab.«

Ei freilich, ich konnte mir's wohl denken, einer, der auf des Menschen Haupt die Haare zählt, muß hunderttausend Augen haben. Nun war es aber schön zu sehen, wie mir der liebe Gott mit seinen Augen zublinzelte, als wollte er mir was zu verstehen geben; – und ich konnte es doch um alles nicht erraten, was er meinte. – Ich nahm mir wohl vor, recht brav zu sein, besonders bei Nacht, wenn Gott da oben seine hunderttausend Augen auftut, und die guten Kinder zählt,[82] und die bösen sucht und recht scharf anschaut, auf daß er sie kennt am Jüngsten Tag.

Ein andermal saß ich auf demselben Holzbänkchen unter der Tanne, an Seite meiner Mutter. Es war bereits späte Abendstunde, und die Mutter sagte zu mir:

»Du bist ein kleiner Mensch, und die kleinen Leute müssen jetzt schon ins Bett gehen; schau, es ist ja die finstere Nacht, und die Engel zünden schon die Lichter an, oben in unseres Herrgotts Haus.«

Mit solchen Worten ein Kind zur Ruhe bringen?

»In unseres Herrgotts Haus die Lichter?« fragte ich, sofort für den Gegenstand eingenommen.

»Freilich,« sagte die Mutter, »jetzt gehen alle Heiligen von der Kirche heim, und im Hause ist eine große Tafel und da setzen sie sich zusammen und essen und trinken was, und die Englein fliegen geschwind herum und zünden alle Lichter an, und den großen Kronleuchter auch, der mitten hängt, und nachher laufen sie zu den Pfeifen und Geigen und machen Musik.«

»Musik?« entgegnete ich, in der Anschauung des Bildes versunken. »Und der Wollzupfermichel, ist der auch dabei?«

Der Wollzupfermichel war ein alter blinder Mann gewesen, der bei uns Waldbauern das Gnadenbrot genossen und dafür zuweilen Schafwolle gezupft und gekraut hatte. Wenige Wochen vor diesem Abendgespräche war er gestorben.

»Ja, du,« versetzte die Mutter auf meine Frage, »der Wollzupfermichel, der sitzt ganz voran bei unserem lieben Herrgott selber, und er ist hoch in Ehren gehalten [83] von allen Heiligen, weil er auf der Welt so arm gewesen und so verachtet und im Elend hat leben müssen, und weil er doch alles so geduldig ertragen hat.«

»Wer gibt ihm denn beim Essen auf den Teller hinaus?« war meine weitere Frage.

»Nu, wer denn?« meinte die Mutter, »das wird schon sein heiliger Schutzengel tun.« Sogleich aber setzte sie bei: »Du Närrisch, der Michel braucht jetzt ja gar keine Behelfer mehr, im Himmel ist er ja nimmer blind; im Himmel sieht er seinen Vater und seine Mutter, die er auf der Welt niemalen hat gesehen. Und er sieht den lieben Herrgott selber und unsere liebe Fraue und alle, und zu uns sieht er auch herab. Ja, freilich, mit dem Michel hat's gar eine glückselige Wendung genommen und hell singen und tanzen wird er bei der himmlischen Musik, weil der heilige David harfenspielen tut.«

»Tanzen?« sagte ich nach und suchte mit meinen Augen das Firmament ab.

»Und jetzt, Bübel, geh' schlafen!« mahnte die Mutter. Wohl machte ich die Einwendung, daß sie im Himmel erst die Lichter angezündet hätten und also gewißlich auch noch nicht schlafen gingen; aber die Mutter versetzte mit entschiedenem Tone, im Himmel könnten sie machen was sie wollten, und wenn ich sein brav wäre und einmal in den Himmel käme, so könnte ich auch machen was ich wollte.

Ging zu Bette und hörte in selbiger Nacht die lieben Englein singen. –

Wieder ein andermal saß ich mit der Ahne auf der hölzernen Bank unter den Tannen.

[84] »Guck', mein Bübel;« sagte sie, gegen das funkelnde Firmament weisend, »dort über das Hausdach hin, das ist dein Stern.«

Ein helles, flimmerndes Sternchen stand oft und und auch heute wieder über dem Giebel des Hauses; aber daß selbes mein Eigentum wäre, hörte ich nun von der Ahne das erstemal.

»Freilich,« belehrte sie weiter, »jeder Mensch hat am Himmel seinen Stern, das ist sein Glücksstern oder sein Unglücksstern. Und wenn ein Mensch stirbt, so fällt sein Stern vom Himmel.«

Todeserschrocken war ich, als gerade in diesem Augenblicke vor unseren Augen eine Sternschnuppe sank.

»Wer ist jetzt gestorben?« fragte ich, während ich sogleich schaute, ob mein Sternchen wohl noch über dem Dachgiebel stehe.

»Kind,« sagte die alte Ahne, »die Welt ist weit, und hätten wir nur Ohren dazu, wir täten Tag und Nacht nichts hören, als Totenglockenklingen.«

»Ahndl,« fragte ich; denn Kinder, die in ihrem Haupte ja soviel Raum für Vorstellungen und Eindrücke haben, sind unermüdlich im Fragen, »Ahndl, wo hast denn du deinen Stern?«

»Mein Kind,« antwortete sie, »der ist schon völlig im Auslöschen, den sieht man nimmer.«

»Und ist das ein Glücksstern gewesen?«

Da zog sie mich an ihre Brust und hauchte: »Wird wohl so sein, du herzlieber Enkel, wird wohl so sein!«

[85] Ein alter Schuhmacher kam zuweilen in unser Haus, der redete wie ein Heide. Wir Menschen, meinte der alte Schuhmacher, kämen nach dem Tode weder in den Himmel noch in die Hölle, sondern auf einen Stern, wo wir so, wie auf dieser Welt wieder geboren würden und je nach Umständen weiter lebten.

Das Närrischste aber sagte schon der Schulmeisterssohn aus Grabenbach, der als Student einmal zu uns kam. Der schwätzte von Bären und Hunden und Wasserschlangen, die da oben am Himmel herumliefen und ein Widder und ein Walfisch sei auch dabei; und gar eine Jungfrau wollte er durch seine Augengläser gesehen haben. Dieser Schulmeisterssohn war schuld daran, daß mich mein Vater nicht studieren lassen wollte.

»Wenn sie solche Narrheiten lernen in der Stadt,« sagte mein Vater, »daß sie auf unseres Herrgotts hohem Firmament lauter wilde Tiere sehen, nachher hab' ich genug. Mein Bub, der bleibt daheim.«

Eine junge Magd hatten wir im Hause; die war gescheit, die hatte einmal was gesagt, was mir heute das Herz noch warm macht. Sie hatte es sicherlich von ihrem alten Ziehvater, der so ein Waldgrübler gewesen war. Der Mann hat etwas Wundersames in seinem Kopfe gehabt; er wäre gern Priester geworden, aber blutarm, wie er war, sind ihm alle Wege dazu verlegt gewesen. Da wurde er Kohlenbrenner. Ich habe den Alten oft heimlich belauscht, wenn er auf seinem Kohlenmeiler stand und Messe las, oder wenn er den Vögeln des Waldes vorpredigte, wie voreinst der heilige Franziskus in der Wüste. Von diesem Manne mag unsere junge Magd das seltsame Wort gehört haben.

[86] »Der Sternenhimmel da oben,« sagte sie einmal, »das ist ein großmächtiger Liebesbrief mit goldenen und silbernen Buchstaben. Fürs erste hat ihn der liebe Herrgott den Menschen geschrieben, daß sie nicht ganz auf ihn vergessen sollten. Fürs zweite schreiben ihn die Menschen füreinander. Das ist so: Wenn zwei Leut', die sich rechtschaffen liebhaben, weit auseinander müssen, so merken sie sich vorher einen hellen Stern, den sie beide von aller Fremde aus sehen können, und auf dem ihre Augen zusammenkommen. – Dasselbig funkelnde Ding dort,« setzte die Magd leise und ein wenig zögernd bei, indem sie auf ein glühend Sternlein deutete, das hoch über dem Waldrande stand, »dasselbig Ding, das schaut zu dieser jetzigen Stund' auch der Hans an, der weit drin im Welschland ist bei den Soldaten. Ich weiß wohl, er wird mich nicht vergessen.«


Eines Tages mußte ich am Waldrande spät abends noch die Rinder weiden, die tagsüber im Joche gegangen waren. Sonst war in solchen Stunden lieb Ahne bei mir, aber die war nun schon seit länger unpaß und mußte zu Hause bleiben. Jedoch hatte sie mir versprochen, oftmals vor das Haus herauszutreten und den Hühnerpfiff zu tun, damit mir in der einschichtigen stillen Nacht nicht zu grauen beginne.

Ich stand zagend neben meinen zwei Rindern, die auf der taunassen Wiese eifrig grasten, aber ich hörte heute keinen jener lustigen Pfiffe, welche meine Ahne mittelst zweier Finger, die sie in den Mund legte, so[87] sein zu machen verstand, gewöhnlich zu dem Zwecke, um die Hühner damit zusammen zu locken.

Das Haus lag still und traurig oben auf dem Berge. Von der tiefen Schlucht herauf hörte ich das Rieseln des Wässerleins, das ich sonst hier noch nie vernommen hatte. Hingegen schwiegen heute die Grillen ganz und gar. Ein Uhu krähte im Walde und erschreckte mich dermaßen, daß ich die Hörner des Rindes erhaschte und dieselben gar nicht mehr loslassen wollte.

Der Sternenhimmel hatte heute einen so tiefen Ernst; mir war, als hörte ich durch die große Stille das Saitenspiel des heiligen Sängers klingen. – Siehe, da löste sich plötzlich ein Stern und fiel in einem scharfen Silberfaden, der gerade über unser Haus niederging, vom Himmel herab. – –

Mir zuckte es heiß durchs Herz, mir blieb der Atem stehen. – »Jetzt ist die Ahne gestorben!« sagte ich endlich laut, »das ist ihr Stern gewesen.« Ich hub an zu schluchzen. Da hörte ich vom Hause her bereits des Vaters Stimme, ich sollte eilends heimzu treiben.

Bald jagte ich in den Hof ein. Das Haus war in allen Fenstern beleuchtet; ein Geräusch und Gepolter war, und Leute eilten hin und her nach allen Ecken und Winkeln.

»Geschwind, Peterle, geh' her!« rief es mir von der Tür aus zu, und es war die Stimme der Ahne. Ich lief in das Haus – was hab' ich gehört? Kleinkindesgeschrei.

»Ein Brüderlein hast kriegt,« rief die Ahne, »das hat ein Engel vom Himmel gebracht!«

[88] So war es. Mutter lag schon im Bette und hielt das winzige Kindlein an der Brust.

Ein Engel vom Himmel! Ja, ich habe ihn fliegen gesehen.

»Ahndl,« sagte ich, »es ist doch nicht so, daß Sterne fallen! Lauter Engel sind es, die mit Kindlein niederfliegen vom Himmel!«

Ich verharre bei diesem Glauben noch heute, da ich vor einer Wiege stehe, in die mir selbst ein liebes himmlisches Wunder gegeben ist.

Als ich das Ofenhuckert gewesen
[89] Als ich das Ofenhuckert gewesen.

Warum es so frostig wird heutzutage? Warum, wir gefroren sind? Weil wir keinen ordentlichen Ofen mehr bauen können. Allen Respekt vor den schwedischen und russischen Öfen, vor den Berliner und Meißner Öfen, gar zierlich sind sie und ein Zimmerschmuck und alles mögliche, aber so recht gemütlich? – So recht gemütlich ist nur der große, breite, behäbige Kachelofen mit seinen grünen oder braunen Augenreihen, mit seinem Holzgeländer und seiner Ofenbank. Die Ofenbank, wo die Kindheit und das Alter hocken, das Enkelein und die Großmutter – und die alten Märchen!

Daheim in meinem Vaterhause, da stand so einer! Ganz hinten in der linken Stubenecke, wo es immer etwas dunkel war. über der breiten Ofenbank, die sich um ihn herumzog, war eine Reihe viereckiger Plattkacheln und darüber in weißen Lehm eingefügt die runden Kacheln mit hervorquellenden Rundungen, in welchen sich die lichten Stubenfenster mit ihren Kreuzen spiegelten. Der Ofen strebte breit auf und wölbte sich oben in Kacheln sachte zusammen. Wenn man fragte, wie alt er sei, so antwortete der Vater: »Dein Ähndl wird ihn haben setzen lassen, oder der Urähndl.« Freilich wurde jeder kleine Schaden an ihm sofort verkleistert und mit weißem Lehm übertüncht, freilich wurden ihm fast alle Samstage die großen Augen gewaschen, so daß er immer [90] jung und frisch in die Stube schaute. Umfriedet war er von dem leiterartigen Geländer, an das die Mutter unsere frischgewaschenen Hemden zum Trocknen hing. Denn warm war es bei diesem Ofen immer, selbst im Sommer, wo sonst der Brunnentrog warm und der Ofen kalt zu sein pflegt. Er wurde überhaupt nie kalt und es mochte sein wie es wollte, es mochte regnen oder schneien oder winden – auf der Ofenbank war's immer gut. Und wenn draußen der Sturm toste in den alten Fichten und der hölzerne Hirsch an der Wand klapperte, und wenn die Blitze bleckten, daß die ganzen Berge über dem Graben drüben grün und gelb waren, und wenn der Donner schmetterte, als breche schon der Dachstuhl nieder mitsamt dem Giebel und seinen Schwalbennestern, da dünkte mich die Ofenbank der sicherste Ort, wohin das Verderben so leicht nicht reichen könne. Kurz, die Ofenbank war mir der trautsamste Mittelpunkt des heimatlichen Nestes. Lange Zeit hatte ich mein Bett auf derselben. Ich lag auf der Ofenbank, als ich so klein war, daß im Munde noch der »Zutzel« und zwischen den Beinen noch die Windel stak; ich lag auf der Ofenbank, als ich so krank war, daß die Mutter mich dem Himmel gelobte, wenn er mich nicht zu zeitlich nähme (das wurde später rückgängig, weil das Geistlichwerden Geld kostete). Ich lag auf der Ofenbank, als ich so schlau war, allmorgentlich die Oberlippe mit Seife einzureiben, damit der Schnurrbart endlich wachse. Ich lag auf der Ofenbank viel später, als der Bruder Jakob mir den Bart wegkratzte, weil er mir zuwider war. Und wenn ich in früheren Zeiten dort so lag, da hörte ich manchmal hinter den Kacheln drin leise das Feuer knistern, wenn die [91] Mutter morgens eingeheizt hatte, es wurde wärmer, aber es wurde nicht schwül um mich. Es wurde nie kalt und es wurde nie heiß, und wenn mir einer so einen alten Kachelofen plump und unförmig schimpft, so stelle ich seinem Leben nach. über den besten Freund unseres Hauses lasse ich nichts kommen.

Er gab uns nicht allein Wärme, er gab uns auch Brot. Alle zwei Wochen einmal war Backtag. Man kennt die Stattlichkeit der Brotlaibe bäuerlicher Abkunft; solcher Laibe ihrer vierzehn hatten nebeneinander Raum auf dem glühheißen Steinboden drinnen.

Am Backtag gab's für mich kleinen Buben allemal eine säuerliche Freude. Denn bevor das Brot in den Ofen kam, mußte ich hinein. Aber zum Glücke nicht nach dem Feuer, sondern vor demselben. Da war's etwas staubig drinnen und rußig und ganz finster. Mit einem Besen aus Tannenreisig hatte ich den Steinboden des Ofens auszufegen, Kohlen, Asche fortzuschaffen und dann die großen Holzscheiter übereinander zu schichten, die mir die Magd zum Ofenloch hineinsteckte. Ich weiß nicht, ob die Spanier im Mittelalter auch so geschichtet haben: zuerst eine Brücke geradeaus, darüber eine Brücke in die Quere, dann wieder eine geradeaus und eine in die Quere usw. So baute ich den Scheiterhaufen und so brennt's am besten. Die Scheiter waren über eine Elle lang und als das Gebäude ausgeführt war bis fast zur Wölbung, da engte es sich arg und da kroch ich ringsherum, zu sehen, oder vielmehr zu tasten, ob es gut war – und dann zum Loch hinaus.

Zum Lohn für solch finstere Taten bekamen wir Kinder jedes ein frischgebackenes Brotstritzlein, welches [92] wir gleich in noch dampfendem Zustande verzehrten. Theoretisch kriegt man vom Genusse frischgebackenen Brotes die Kolik, praktisch bekamen wir drei Stunden darauf nichts als Hunger.

Einigemal lieferte uns der Ofen etwas besonders Gutes. Ein strudelartig breit und dünn ausgewalzter Teig wurde in den heißen Ofen geschossen; nach einiger Zeit kam die Platte heraus, hatte eine bräunliche Farbe und war hart und spröde wie Glas. Schon das war sein zu knuspern. Nun kam aber die Mutter, zerkleinerte mit dem Nudelwalzer knatternd diese Scheibe aus Mehl, tat die Splitter in eine Pfanne, wo sie geschmort und geschmälzt wurden. Das war hernach ein Essen! Scharlbrot wurde es genannt. Ich habe diese ganz eigenartig wohlschmeckende Speise sonst nirgends wieder gefunden, möchte aber gerne ihren und ihres Namens Ursprung wissen.:

Einmal – und das ist's, was ich eigentlich erzählen will – spielte es sich, als sollte in unserem großen Ofen auch Fleisch gebraten werden.

So um Allerheiligen herum war ein junger, schlank gewachsener Vagabund zu uns gekommen. Ich weiß nur noch, daß er sehr lange Beine hatte und im Gesicht eine platte Nase und darunter eine Hasenscharte. Er schien soviel als erwachsen, hatte aber das Stimmlein wie ein Knabe. Und mit diesem Stimmlein fragte er ganz hell und grell meinen Vater, ob er über den Winter dableiben dürfe?

»Das ledige Herumzigeunern ist halt nur im Sommer lustig,« antwortete ihm mein Vater. »Nun, wenn du dreschen willst, so kannst bleiben. Kost und Liegerstatt wirst dir doch verdienen.«

[93] Der Bursche war nicht blöde, tat gleich, als ob er bei uns zu Hause wäre und beim Nachtmahl erzählte er laut, daß er vor kurzem in einer Gegend gewesen sei, wo es ein sehr gutes Essen gab: das Kraut wäre gezuckert gewesen, der Sterz mit Wein geschmalzen und die Knödeln wären durch und durch schwarz gewesen vor lauter Weinbeerln.

Darob wurde der Junge ausgelacht und unser Stallknecht sagte: »Die Sachen wären ja nicht zuwider, aber anders gemischt müßten sie sein: Zum Sterz die Weinbeerln, zum Wein der Zucker und zu den Knödeln das Kraut. Hernach sagte der Kaunigl – so nannte sich der Bursche mit seinem Kinderstimmlein – er habe auch schon Schwabenkäfer in Buttertunke gegessen, die seien sehr gut! worauf ihm mein Vater den Rat gab, er solle stille sein.

Nach dem Essen, als kaum das letzte Kreuz gemacht war, zog der Kaunigl ein Büschel Spielkarten aus der Hosentasche, mischte es kundiger Hand, warf für drei Personen ein Spiel aus und blickte fast erstaunt umher, ob denn keiner mittun wolle? Ich lugte hin nach den leicht geschweiften Karten mit dem geeichelten Rücken und den bunten Figuren, die der Kaunigl so glatt abzulegen und so schön pfauenradförmig in der Hand zu halten wußte. Ich wollte schon anbeißen, da fuhr der Vater drein: »Weg mit den Karten! Morgen ist der Armenseelentag! (Allerseelen.) Denkt's aufs Beten!«

Am nächsten Tage, während der Vater in der Kirche war, saßen wir, der Kaunigl und ich, in der Flachskammer und spielten Karten. Ich mußte erst die Blätter kennen lernen, aber merkwürdigerweise wurde ich mit [94] den zweiunddreißig Kartenfiguren viel leichter vertraut, als ein Jahr vorher mit den vierundzwanzig Buchstaben. Leider kam die Mutter um einen Rocken für ihr Spinnrad, sie verdarb alles. »Aber Buben!« sagte sie, »derbarmen euch die armen Seelen nicht, daß ihr so was treibt am heutigen Tag?!« Wir verzogen uns. Aber der Hasenschartige hatte mir's schon angetan. Er wußte und konnte allzuviele merkwürdige Sachen, die noch dazu verboten waren!

An einem der nächsten Tage hockten wir im Heustadl auf einem Futterhaufen und spielten wieder Karten. Ich hatte solche Fortschritte gemacht, daß mir nicht bloß die Figuren, sondern auch schon sehr viele Spiele bekannt waren. So taten wir »zwicken«, »brandeln«, »mauscheln«, »bettlerstrafen«, »königrufen«, »grün' Buben suchen«, »pechmandeln«, »mariaschen« und anderes. Weil kein Tisch war, so legten wir die Karten aufs Knie, zwickten sie zwischen die Beine und der Kaunigl steckte seine Trümpfe sogar einmal in die Hasenscharte. Keuchte jählings das alte Everl die Leiter heraus. Wir verhielten uns im dunkeln Raum mäuschenstill, aber sie hatte uns doch bemerkt. »Buben!« rief sie, »was tut's denn, Buben?«

»Beten,« gab der Kaunigl zur Antwort.

»Ja, beten! Mit des Teufels Gebetbuch, gelt?« rief das Weiblein. »Wißt's es nit, daß der Vater das Kartenspielen nit leiden mag? Wird euch schön sauber der Schwarze bei den Füßen packen und in die Höll' hinabschleifen.« Somit war's mit dem Spiel wieder aus. In die Höll' hinabschleifen, das wär' so etwas!

Am nächsten Sonntage machte der Kaunigl den Vorschlag, [95] daß ich mit ihm in den Schachen hinausginge, damit wir bei unserer Unterhaltung endlich einmal Ruh' hätten. Aber es regnete und es schneite und es ging ein kalter Wind, also daß ich der Einladung nicht nachkam. Ob ich aus Papier wäre? piepste hierauf der Kaunigl, daß ich fürchten müsse, vom bissel Regen aufgeweicht zu werden und auseinanderzufallen! Im Wassergraben habe er seiner Tage am besten geschlafen, und so wie er schwarze Erde mit Brennesseln esse, wenn er sonst nichts habe, so wolle er sich in Ermanglung eines Bettzeuges nackend in Schnee einwickeln, und ich solle lieber in der Mutter ihren Kittel hineinschliefen. – Aber schon an demselben Nachmittage kam der Kaunigl mit etwas anderem, was ich in der Lage war, anzunehmen. Die Stube war besetzt vom Vater, der an der Wanduhr etwas zu basteln hatte und von den Knechten, die ihre Schuhe nagelten. In den übrigen Winkeln des Hauses war es auch nicht sicher, also in den Ofen hinein! In demselben war ein Holzstößlein geschichtet, wir krochen hinter das Stößlein. Nachdem der Kaunigl den Deckel des Ofenloches zugezogen hatte, zündete er die mitgebrachte Kerze an, tat die Karten hervor und wir huben an. Gemütlicheres gibt's gar nicht auf der Welt, als in einem großen Kachelofen bei Kerzenbeleuchtung »brandeln« oder »zwicken« oder »mariaschen«. Die rötlich gebrannte Mauer, die schwarzen Kachelhöhlen um und über uns bargen und hüteten uns, und nun waren wir doch einmal sicher und konnten »fabeln« oder »mauscheln« oder was wir wollten, bis in die späte Nacht hinein. Durch die Kacheln von der Stube her hörten wir ein Surren; sie taten Rosenkranz beten, der Kaunigl warf die Blätter [96] auf ein »Brandeln«. Wir spielten um Geld. Gewann er, so blieb ich schuldig, gewann ich, so blieb er schuldig. Es soll keine größere Ehrlosigkeit geben, als Spielschulden nicht zahlen. Lieber Leser, so einer bin ich! – Just hatte ich wieder ein schönes Blatt in der Hand: zwei Könige und drei Säue und den Schellschneider, der Trumpf war – da klirrte plötzlich der blecherne Ofentürdeckel. Das Licht war sofort ausgeblasen und wir verhielten uns still, wie zwei tote Maulwürfe. Jetzt geschah etwas Unvorhergesehenes, etwas Schreckliches. Vor dem Ofenloche stand das gedörrte Everl und fuhr mit einer Spanlunte herein in den Holzstoß, der zwischen uns und dem Ausgange war. Die Flammen leckten an den Scheitern hinaus. Ich zwischen durch und mit einem kreischenden Schrei hinaus, daß das alte Everl vor Schreck in den Herdwinkel fiel. Dem Kaunigl ging's nicht so gut, dem spießten sich die langen Beine, er konnte zwischen Wand und Scheiterstoß nicht sofort heraus, der Rauch verschlug den Atem und schon hörte man nichts mehr von ihm.

»Der Kaunigl ist drinnen!« schrie ich wie verzweifelt, da wurde mit dem Sterkrampen der brennende Holzstoß, Scheit um Scheit, herausgerissen auf den Herd und schließlich wurde mit demselben Krampen ein Häuflein Mensch herausgezogen, das ganz zusammengekauert war wie eine versengte Raupe und dessen Kleider bereits an mehreren Stellen rauchten.

Zwei Schöpfpfannen Wasser goß ihm das Everl ins Gesicht, da wurde der Kaunigl wieder lebendig.

Als jetzt auch einige Spielkarten zum Vorschein kamen, kannte sich das Everl gleich aus. »Was hab'[97] ich denn gesagt, Buben!« so redete sie, »hab' ich nicht gesagt, ihr kommt's mit dem verflixten Deuxelszeug in die Höll'? Im Fegfeuer seid's nu schon gewesen.«

Mein Vater wollte den Burschen davonjagen, tat's aber nicht, weil der Bursche nicht darauf gewartet hat. Wo der Kaunigl anders zugesprochen, das weiß ich nicht; jedenfalls konnte er eine neue Erfahrung zum besten geben: Er hatte nicht allein Schwabenkäfer in Buttertunke gegessen, in Wassergräben geschlafen, sich nackend in Schnee gewickelt, er hatte auch im Feuerofen Karten gespielt.

Mir war von diesem Tage an der alte große Ofen auf lange nicht geheuer; mit seinen grünen Augen schaute er mich drohend an: Bübel, wirst noch einmal Karten spielen, während die anderen beten?!

Erst als ich wieder brav geworden war, ganz ordentlich und fleißig, blickte mich der Ofen neuerdings freundlich an und es war wieder so heimlich bei ihm wie früher. Später sind seine guten Augen erblindet, dann ist er in sich zusammengesunken wie ein Urgroßmütterlein, und heute geht's ihm, wie es bald uns allen ergehen wird – nichts mehr übrig, als ein Häuschen Lehm.

Wie ich dem lieben Herrgott mein Sonntagsjöppel schenkte
[98] Wie ich dem lieben Herrgott mein Sonntagsjöppel schenkte.

In der Kirche zu Ratten steht links am Hochaltare eine fast lebensgroße Reiterstatue. Der Reiter auf dem Pferde ist ein stolzer Kriegsmann mit Helm und Busch und einem kohlschwarzen Schnurrbart. Er hat das breite Schwert gezogen und schneidet mit demselben seinen Mantel entzwei. Zu Füßen des sich bäumenden Rosses kauert eine Bettlergestalt in Lumpen.

Als ich noch so ein nichtiger Knirps war, wie er einem ordentlichen Menschen kaum zum Hosensack emporgeht, führte mich meine Mutter gern in diese Kirche. In der Nähe der Kirche steht eine Marienkapelle, die sehr gnadenvoll ist und in welcher meine Mutter gern betete. Als oft kein Mensch sonst mehr in der Kapelle war, und vom Turme schon die Mittagsglocke in den heißen Sommersonntag hinausklang, kniete die Mutter immer noch in einem der Stühle und klagte Marien ihr Anliegen. Die »liebe Frau« saß auf dem Altare, legte die Hand in den Schoß und bewegte weder den Kopf noch die Augen, noch die Hände.

Ich hielt mich lieber in der großen Kirche auf und sah den schönen Reiter an.

Und einmal, als wir auf dem Wege nach Hause waren und mich die Mutter an der Hand führte, und[99] ich immer drei Schritte machen mußte, so oft sie einen tat, warf ich meinen kleinen Kopf auf zu ihrem guten Angesichte und fragte: »Zuweg steht denn der Reiter allfort auf der Wand oben und zuweg reitet er nicht zum Fenster hinaus auf die Gasse?«

Da antwortete die Mutter: »Weil du so kindische Fragen tust und weil es nur ein Bildnis ist, das Bildnis des heiligen Martin, der, ein Soldat, ein sehr guttätiger frommer Mann gewesen und jetzt im Himmel ist.«

»Und ist das Roß auch im Himmel?« fragte ich.

»Sobald wir zu einem rechten Platz kommen, wo wir rasten können, so will ich dir vom heiligen Martin was erzählen,« sagte die Mutter und leitete mich weiter, und ich hüpfte neben ihr her. Da wartete ich schon sehr schwer auf das Rasten und in einemfort rief ich: »Mutter, da ist ein rechter Platz!«

Erst als wir in den Wald hineinkamen, wo ein platter, moosiger Stein lag, fand sie's gut genug, da setzten wir uns nieder. Die Mutter band das Kopftuch fester und war still, als habe sie vergessen, was sie versprochen. Ich starrte ihr auf den Mund, dann guckte ich wieder zwischen den Bäumen hin, und mir war ein paarmal, als hätte ich durch das Gehölz den schönen Reitersmann reiten gesehen.

»Ja, 'leicht wohl, mein Bübel,« begann meine Mutter plötzlich, »allzeit soll man den Armen Hilfe reichen um Gotteswillen. Aber so, wie der Martin gewesen, traben heutzutag' nicht viel Herrenleut' herum auf hohem Roß. – Daß im Spätherbst der eiskalte Wind über unsere Schafheide streicht, das weißt wohl, hast dir ja selber drauf im vorigen Jahr schier dir Tatzelein erfroren.

[100] Siehst du, völlig eine solche Heide ist's auch gewesen, über die der Reitersmann Martinus einmal geritten an einem späten Herbstabend. Steinhart ist der Boden gefroren, und das klingt ordentlich, so oft das Roß seinen Huf in die Erden setzt. Die Schneeflöcklein tänzeln umher, kein einziges vergeht. Schon will die Nacht anbrechen und das Roß trabt über die Heide, und der Reitersmann zieht seinen weiten Mantel zusammen, so eng es halt hat gehen mögen. Bübel, und wie er so hinfährt, da sieht er auf einmal ein Bettelmännlein kauern an einem Stein; das hat nur ein zerrissenes Jöppel an und zittert vor Kälte und hebt sein betrübtes Auge auf zum hohen Roß. Hu, und wie das der Reiter sieht, hält er an sein Tier und ruft zum Bettler nieder: Ja, du lieber armer Mann, was soll ich dir reichen? Gold und Silber hab' ich nicht und mein Schwert kannst du nimmer brauchen. Wie soll ich dir helfen? – Da senkt der Bettelmann sein weißes Haupt nieder gegen die halbentblößte Brust und tut einen Seufzer. Der Reiter aber zieht sein Schwert, zieht seinen Mantel von den Schultern und schneidet ihn mit ten auseinander. Den einen Teil des Kleidungsstückes läßt er hinabfallen zu dem zitternden Greise: Hab' vorlieb damit, mein notleidender Bruder!-Den anderen Teil des Mantels schlingt er, so gut es geht, um seinen eigenen Leib und reitet davon.«

So hatte meine Mutter erzählt und dabei mit ihrem eiskalten Herbstabende den schönen Hochsommertag so frostig gemacht, daß ich mich fast schauernd an ihr lindes Busentuch schmiegte.

»'s ist aber noch nicht ganz aus, mein Kind,« fuhr[101] die Mutter fort, »wenn du es nun gleichwohl weißt, was der Reiter mit dem Bettler in der Kirche bedeutet, so weißt du's noch nicht, was weiter geschehen ist. Wie der Reitersmann nachher in der Nacht daheim auf seinem harten Polster ruhsam schläft, kommt derselbige Bettler von der Heide zu seinem Bett, zeigt ihm den Mantelteil, zeigt ihm die Nägelwunden an den Händen und zeigt ihm sein Angesicht, das nicht mehr alt und kummervoll ist, das strahlet wie die Sonnen. Derselbe Bettelmann auf der Heid' ist der lieb' Heiland selber gewesen. – So, Bübel, und jetzt werden wir wieder anrucken.«

Da erhoben wir uns und stiegen den Bergwald hinan.

Bis wir heim kamen, waren uns zwei Bettelleute begegnet; ich guckte jedem sehr genau in das Gesicht; ich hab' gemeint, es dürfte doch der liebe Heiland dahinterstecken. Gegen Abend desselben Tages, als ich mein Sonntagskleidchen des sparsamen Vaters wegen schon hatte ablegen sollen, und nun wieder in dem vielfarbigen Werktagshöslein herumlief und hüpfte und nur noch das völlig neue graue Jöppel trug, das ich nicht ablegen wollen und mir noch für den Tagesrest erbeten hatte, und als die Mutter auch schon lange wieder bei ihrer häuslichen Arbeit war, eilte ich gegen die Schafheide hinaus. Ich mußte die Schäflein, worunter auch ein weißes Lamm als mein Eigentum war, heim in den Stall führen.

Wie ich aber so hinhüpfe und Steinchen schleudere und damit die goldenen Abendwolken treffen will, sehe ich plötzlich, daß dort am Fels ein alter weißköpfiger, sehr arm gekleideter Mann kauert. Da stehe ich erschrocken still, getraue mir keinen Schritt mehr zu tun [102] und denke bei mir: Jetzt, das ist aber doch ganz gewiß der lieb' Heiland-Herrgott. Ich habe gezittert vor Furcht und Freude, ich habe mir gar nicht zu helfen gewußt.

Wenn es doch der lieb' Herrgott ist, ja, da muß eins ihm wohl was geben. Wenn ich jetzt heimlauf', daß die Mutter komme und gucke und mir sage, wie ich dran bin, so geht er mir dieweilen davon, und es wär' eine Schand' und ein Spott. Ich denk', sein wird er's gewiß, just so hat derselb' auch ausgeschaut, den der Reitersmann gesehen.

Ich schlich einige Schritte nach rückwärts und hub an meinem grauen Jöppel zu zerren an. Es ging nicht leicht, es war so fest über dem grobleinenen Hemde oben, und ich wollte das Schnaufen verhalten, ich meinte, der Bettelmann solle mich früher nicht bemerken.

Einen gelbangestrichenen Taschenseitel hatte ich, nagelneu und just scharf geschliffen. Diesen zog ich aus der Tasche, das Röcklein nahm ich zwischen die Knie und begann es nun mitten auseinanderzutrennen.

Es war bald fertig, ich schlich zum Bettelmann, der halb zu schlummern schien, und legte ihm sein Teil von meinem Rock zu Häupten. – Hab' vorlieb damit, mein notleidender Bruder! Das habe ich ihm still in Gedanken gesagt. Dann nahm ich mein Teil vom Rocke unter den Arm, lugte noch eine Weile dem lieben Gott zu und jagte dann die Schäflein von der Heide.

In der Nacht wird er wohl kommen, dachte ich, und da werden ihn Vater und Mutter sehen, und wir können ihm, wenn er bei uns bleiben will, gleich das hintere Stübel und das Hausaltarl herrichten.

Ich lag im Schiebbettlein neben Vater und Mutter,[103] und ich konnte nicht schlafen. Die Nacht verging, und der, den ich gemeint hatte, kam nicht.

Am frühen Morgen aber, als der Haushahn die Knechte und Mägde aus ihren Nestern hervorgekräht hatte, und als draußen im Hofe schon der laute Werktag anhub, kam ein alter Mann (sie hießen ihn den Schwammveitel) zu meinem Vater, brachte ihm den verschenkten Teil von meinem Rock und erzählte, ich hätte denselben abends zuvor in meinem Mutwillen zerschnitten und ihm das eine Stück an den Kopf geworfen, wie er so ein wenig vom Schwammsuchen ausgeruht habe auf der Schafheide.

Darauf kam der Vater, eine Hand hinter dem Rücken, ganz leicht an mein Bett geschlichen: »Geh', tu' mir's sagen, Bub, wo hast denn du dein neues Sonntagsjöppel?«

Das leise Schleichen und die Hand hinter dem Rücken war mir verdächtig vorgekommen, und jetzt ging mir schon das Gesicht auseinander und weinend rief ich: »Ja, Vater, ich hab' gemeint, dem lieben Herrgott hätt' ich es geben.«

»Bub, du bist aber so ein Halbnarr!« schrie mein Vater; »für die Welt zu dalkert, zum Sterben zu dumm. Dir müßt' man mit einem Besen die Seel' aus der Haut schlagen!«

Es war halb spaßhaft gesagt, aber ich vermutete hinter seinem Rücken die Birkengerte.

Eilte sogleich die Mutter herbei, faßte des Vaters Hand und sagte: »'s Röckel flick' ich 'leicht wieder zusammen, Alter. Geh! jetzt mit, ich muß dir was sagen,«

Sie gingen beide hinaus in die Küche; ich denke, dort [104] haben sie über die Martinigeschichte gesprochen. Sie kamen nach einer Weile wieder in die Stube.

Der Vater sagte: »Sei nur still, es geschieht dir nichts.«

Und die Mutter flüsterte mir zu: »Ist schon recht, wenn du das Röckel dem lieben Herrgott hast wollen geben, aber besser ist's noch, wir geben es dem armen Talmichelbuben. In jedem Armen steckt der liebe Gott. So und jetzt, mein Bübel, hupf' auf und schlüpf' ins Höslein; der Vater ist noch nicht allzuweit mit der birkenen Liesel.«

Wie das Zicklein starb
[105] Wie das Zicklein starb.

Ein andermal drohte die birkene Liesel wieder.

Mein Vater hatte ein schneeweißes Zicklein; mein Vetter Jok hatte einen schneeweißen Kopf. Das Zicklein kaute gern an Halmen oder Erlenzweigen; mein Vetter gern an einem kurzen Pfeifchen. Das Zicklein hatten wir, ich und meine noch jüngeren Geschwister, unsäglich lieb; den Vetter Jok auch. So kamen wir auf den Gedanken; wir sollten das Zicklein und den Vetter zusammentun.

Da war's im Heumonat, daß ich eines sonnenfreudigen Tages alle meine Geschwister hinauslockte auf den Krautacker, und daselbst die Frage an sie tat: »Wer von euch hat einen Hut, der kein Loch hat?«

Sie untersuchten ihre Hüte und Hauben, aber durch alle schien die Sonne. Nur Jackerls Hut war ohne Arg; den nahm ich also in die Hand und sagte: »Der Vetter heißt Jok, und morgen ist der Jokopitag, und jetzt, was geben wir ihm zum Bindband (Angebinde)? Das weiße Zicklein.«

»Das weiße Zicklein gehört dem Vater!« rief das kleine Schwesterchen Plonele, empört über ein so eigenmächtiges Vorhaben.

»Desweg ist es ja, daß ich euch den Hut hinhalte,« sagte ich. »Fallt's euch nicht ein, was wir tun müssen? [106] Du, Jackerl, hast gestern dem Knierutschersepp dein Kinigl (Kaninchen) verkauft; du, Plonele, hast von deinem Göden drei Groschen zum Taufpfennig gekriegt; dir, Mirzerle, hat vor zwei Tagen der Vater ein Haltergeld geschenkt. Schaut, ich leg' meine ersparten fünf Kreuzer hinein, und wir müssen zusammentun, daß wir dem Vater das Zicklein abkaufen mögen; und das schenken wir morgen dem Vetter Jok. Na, jetzt halt' ich schon her!«

Sie guckten eine Weile so drein, dann huben sie in ihren Taschen zu suchen an. Da sagte das Plonele: »Mein Geld hat die Mutter!« und das Mirzerle rief erschrocken: »Das meine weiß ich nicht!« und das Jackerl starrte auf den Boden und murmelte: »Mein Sack hat ein Loch.«

Auf diese Weise war mein Unternehmen gescheitert.

Nichtsdestoweniger haben wir das schneeweiße Zicklein geherzt. Es stieg mit den Vorderfüßchen an unsere Knie empor und guckte uns mit seinen großen, eckigen Augen schelmisch an, als wollte es uns recht spotten, daß wir allmitsammen nicht soviel an Vermögen hatten, um es kaufen zu können. Es kicherte und blökte uns ordentlich aus, und dabei sahen wir die schneeweißen Zähnlein. Es war kaum drei Monate alt und hatte schon einen Bart; und ich und das Jackerl waren über sieben Jahre hinaus und mußten uns aus grauen Baumflechten einen Bart ankleben, wenn wir einen haben wollten. Und selbst den fraß das Zicklein vom Gesichte herab.

Trotzdem hatten wir jedes das Vierfüßchen viel lieber, als uns untereinander. Und ich sann auf weitere Mittel, mit dem Tiere den Vetter zu beglücken.

Als mittags darauf der Vater vom Felde heimfuhr,[107] umschwärmten wir ihn alle und zupften an seinen Kleidern.

»Vater,« sagte ich, »ist es wahr, daß die Morgenstunde Gold im Munde hat?«

Das war ja sein eigen Sprichwort, und so antwortete er rasch: »Freilich ist es wahr.«

»Vater!« riefen wir nun alle vier zugleich, »wie früh müssen wir all' Tag' aufstehen, daß Ihr uns das weiße Zicklein gebt?«

Auf diese geschäftliche Wendung schien der Vater nicht gefaßt gewesen zu sein. Da er aber von unserem Vorhaben, dem Vetter Jok das Zicklein zuzueignen, hörte, so bedingte er, ein halb Stündlein früher aufzustehen jeden Tag, und trat uns das liebe Tier ab.

Das Zicklein gehörte uns. Wir beschlossen einstimmig, schon am nächsten Morgen noch vor des Vetters Aufstehzeit – und das war viel gesagt – aus dem Neste zu kriechen, das Zicklein mit einem roten Halsband zu versehen und es aus Bett des alten Jok zu führen; ehe dieser noch seinen langen, grauen Pelz, den er Winter und Sommer trug, an den Leib brachte.

So unser Vorhaben.

Aber am anderen Tage, als uns die Mutter weckte und wir die Lider aufschlugen, schien uns die Sonne mit solcher Gewalt in die Augen, daß wir dieselben sogleich wieder schließen mußten, bis die Mutter mit ihrem Kopftuch das Fenster verhüllte.

Nun gab es keine Ausflucht mehr. Aber der Vetter war längst schon davon mitsamt dem Pelz. Er hatte die Schafe und die Ziegen auf die Talweide getrieben,[108] wo er sie stets hütete und den ganzen Tag schmunzelnd an seinem Pfeifchen kaute. Und die Tiere schnappten so emsig an den betauten Gräsern und Sträuchern, und hüpften und scherzten so lustig auf der Weide.

Es war auch das Zicklein dabei. Und hat's dem Jok denn niemand gesagt, daß heute sein Namenstag ist? –

Zu jener Zeit, von der ich rede, sind die feuerspeienden Streichhölzer noch nicht erfunden gewesen; dazumal war das liebe Feuer ein rares Ding. Man konnte es nicht so bequem mit im Sacke tragen, wie heute, ohne sich das Beinkleid zu verbrennen. Es mußte mit harten Schlägen aus Steinen herausgetrieben werden; es mußte, kaum geboren, mit Zunder gefüttert werden, und bedurfte langer Zeit, bis es sich in demselben soweit kräftigte, daß es ein gröberes Köder anbiß und flügge wurde. Das Feuer mußte zum Dienste des Menschen jedesmal förmlich erzogen werden.

Das war ein mühsam und heikel Stück Arbeit; beim Feuermachen konnte meine sonst so milde Mutter unwirsch werden.

Die Glut, des Abends noch so sorgsam in der Herdgrube verwahrt, war des Morgens zumeist erloschen. Was sich die Mutter auch mühte, den Funken in der Asche wieder anzublasen – all vergebens, das Feuer war gestorben über Nacht. Nun ging die Schlägerei mit Stein und Stahl an; und wir Kinder waren oft schon recht hungrig, ehvor die Mutter das Feuer zuweg brachte, welches uns die Morgensuppe kochen sollte.

So auch am Morgen von des Vetters Namenstag. Wir hatten draußen in der Küche wohl eine Weile das Pfauchen und Feuerschlagen gehört, dann aber rief die [109] Mutter plötzlich aus: 's ist gar umsonst! 's ist, wie wenn der bös' Feind in die Herdgruben hätt' gespuckt. Und der Stein hat keinen Funken Feuer mehr in sich, und der Schwamm ist feucht, und die Leut' warten auf die Suppen!« Dann kam sie in die Stube und sagte: »Geh', Peterl, ruck', und lauf geschwind zu der Knierutscherin hinüber: ich tät' sie gar schön von Herzen bitten, sie wollt' mir ein Haferl Glut schicken von ihrem Herd. Und trag' ihr dafür da den Brotlaib mit. Geh', Peterl, ruck', daß wir nachher eine Suppen kriegen!«

Ich hatte mein weißes Linnenhöselein gleich an, und wie ich war – barfuß, barhaupt, nahm ich den runden, recht gewichtigen Brotlaib unter den Arm und lief gegen das Knierutscherhaus.

»Du Sonnenschein,« sagte ich unterwegs, »schäm' dich, du kannst nicht einmal eine Suppe kochen. Jetzt muß ich zu der Knierutscherin um Feuer gehen. Aber wart' nur, wird bald lustig sein auf unserem Herd; die Flammen werden aufhüpfen über das Holz, die Mauer wird rot sein, die Töpfe werden brodeln, der Rauch wird unter dem Feuerhut hinaussprudeln und den Rauchfang hinauf und wird dich verdecken. Recht hat er, wenn er dich verdeckt, dann essen wir die Suppen und den Sterz im Schatten, und den Eierkuchen auch, der heut' für den Vetter Jok gebacken wird, und du sollst von allem nichts sehen.«

Als ich nach solchem Gespräche mit der Sonne über die Lehne ging, da stach mich ein wenig der Vorwitz. Mein Brotlaib war so kugelrund und fest, als wäre er aus Lärchenholz gedrechselt worden. Man läßt bei mir daheim das Brot gern altgebacken werden, es langt auf [110] diese Weise doppelt aus, aber es muß zur Essenszeit zuweilen mit Eisenschlegeln zertrümmert werden.

Aber weil denn mein Laib gar so kugelrund war, wie nicht leicht etwas Runderes mehr zu finden ist, so ließ ich ihn los über die Lehne, lief ihm behende vor und sing ihn wieder auf.

War ein lustiges Spiel das, und ich hätte mögen all' meine Geschwister herbeirufen, daß sie es sehen und mitmachen könnten. – Wie ich nun aber so in meiner Freude die Lehne auf und ab hüpfe, spielt mir mein Brotlaib jählings den Streich und huscht mir wie der Wind zwischen den Beinen durch und davon. Er eilt und hüpft hinab, viel schneller wie ein Neh vor dem Jagdhunde – er fährt über den Hang, setzt hoch über den Rain in die Talweide hinab, wo er meinen Augen entschwindet.

Bin dagestanden wie ein Klotz und hab' gemeint, ich müßt' umfallen vor Schreck und auch hinabkugeln gegen das Tal. Ich ging eine Weile hin und her, auf und ab, und da ich den Laib nirgends sah, schlich ich kopfhängerisch davon und ins Haus der Knierutscherin.

Da brannte freilich ein schönes großes Feuer auf dem Herde.

»Was willst denn, Peterl?« fragte die Knierutscherin freundlich.

»Bei uns,« stotterte ich, »ist das Feuer ausgangen, wir mögen uns nichts kochen, und so laßt meine Mutter schön bitten um ein Haferl Glut, und sie tät' es schon fleißig wieder zurückstellen.«

»Ihr Närrlein, ihr, wer wird denn so ein paar [111] Kohlen zurückstellen!« rief die Knierutscherin und schürte mit der Feuerzange Glut in einen alten Topf; »da seh', ich laß deiner Mutter sagen, sie soll nur schön anheizen und dir einen recht guten Sterz kochen. Aber schau, Peterl, daß dir der Wind nicht hineinblast, sonst tragt er die Funken auf das Dach hinaus. So, jetzt geh' nur in Gottesnamen!« So gütig war sie mit mir, und ich hatte ihr den Brotlaib verscherzt. Des drückt mich das Gewissen heute noch hart.

Als ich endlich mit dem Feuertopfe zurück gegen unser Haus kam, war ich höchlich überrascht, denn da sah ich aus dem Rauchfange bereits einen blauen Rauch hervorsteigen.

»Dich soll man um den Tod schicken und nicht um Feuer!« rief die Mutter, als ich eintrat; dabei wirtete sie um das lustige Herdfeuer herum und sah mich gar nicht an. Meine kaum mehr knisternden Kohlen waren armselig gegen dieses Feuer; ich stellte den Topf betrübt in einen Winkel des Herdes und schlich davon. Ich war viel zu lange ausgewesen; da war zum Glück der Vetter Jok von der Talweide heimgekommen, und der hatte ein Brennglas, das er in der Sonne über einen Zunder hielt, bis derselbe glimmte. Und jetzt war mir die verlästerte Sonne doch noch zuvorgekommen mit dem Suppenfeuer. Ich war sehr beschämt und vermag es heute noch nicht, der Wohltäterin offen in das Angesicht zu blicken.

Ich schlich in die Vorlauben. Dort sah ich den Vetter kauern in seinem langen, grauen, rotverblümten Pelz und mit seinem grauen Haupt. Und als ich näher kam, da sah ich, warum er hier so kauerte. Das schneeweiße Zicklein lag vor ihm und streckte seinen Kopf und [112] seine Füße von sich, und der Vetter Jok zog ihm die Haut ab.

Sogleich hub ich laut zu weinen an. Der Vetter erhob sich, nahm mich bei der Hand und sagte:

»Da liegt es und schaut dich an!«

Und das Zicklein starrte mir mit seinen verglasten Augen wirklich schnurgerade in das Gesicht. Und doch war es tot.

»Peterl!« lispelte der Vetter ernsthaft, »die Mutter hat der Knierutscherin einen Brotlaib geschickt.«

»Ja,« schluchzte ich, »und der ist mir davongegangen, hinab über die Lehnten.«

»Weil du's eingestehst, Bübel,« sagte der Vetter Jok, »so will ich die Sach' schon machen, daß dir nichts geschieht. Ich hab' zu der Mutter gesagt, ein Stein oder so was wär' herabgefahren und hätt' das Zicklein erschlagen. Hab' mir's im geheim gleich gedacht: das Peterl steckt dahinter. Dein Brotlaib ist schier in den Lüften dahergekommen nieder über den Rain, an mir vorbei, dem Zicklein zu, hat es just am Kopf getroffen – ist das Dingel hingetorkelt und gleich maustot gewesen. – Aber – fürcht' dich nicht, es bleibt beim Stein. Mit der Knierutscherin werd' ich's auch abmachen, und jetzt sei still, Bübel, und zerr' mir das Gesicht nicht so garstig auseinander. Auf die Nacht essen wir das Tierlein, und die Mutter kocht uns eine Krennsuppe dazu.«

– So ist das Zicklein gestorben. Meine Geschwister erzählten mir, ein böser Stein habe es erschlagen.

Die Mutter hatte mir zuliebe meine Kohlen zum[113] Herdfeuer geschüttet, und bei diesem Feuer wurde das Zicklein gebraten.

Dem Vetter Jok war es vermeint gewesen; nun sollte er davon den Braten haben. Aber er rief uns alle zu Tisch und legte uns die besten Bissen vor. Mir hat der meine nicht gemundet.

Am anderen Morgen bewaffnete sich das Jackerl mit einem Knittel, ging damit dem Vetter nach auf die Talweide und wollte den Stein sehen, der das Zicklein erschlug.

»Kind,« sagte der Vetter Jok und kaute angelegentlich am Pfeifchen, »der ist weiter gekugelt, über den rinnt das Wasser.«

Der gute, alte Mann! Was half dein Plauschen! Mir auf dem Herzen lag der Stein, »der das Zicklein erschlagen«.

Von meiner blinden Führerin
[114] Von meiner blinden Führerin.

Die kleine Jula gehörte zu jenen Kindern, die keinen Vater haben, weil es für sie sündhaft wäre, einen zu haben. Mutter hatte sie gerade so viel, als unerläßlich nötig ist, um geboren werden zu können. Das war in der Gemeinde Pretull. Eine Bauernknechtin hat mit harten Kräften zu tun, sich selbst zu atzen und zu bedecken, so sagte die Magd, kaum sie vom Bette aufgestanden war, zu ihrem Dienstherrn: »Mein Rüsenbauer! Baue dir drei Staffel in den Himmel und nimm mir das Kleine ab!«

Dachte sich der Rüsenbauer: Das wäre nicht dumm. Drei Staffel in den Himmel und nach etlichen Jahren eine brauchbare Halterdirn, und nachher eine eigene Knechtin, die im Haus das Unhandsamste verrichtet und nicht viel kostet. 's täte sich. –

»Ja,« sagte er, »das Kleine nehm' ich dir ab, aber nur der Staffel in den Himmel wegen tue ich's.«

Die Magd schluchzte wohl, als sie in einen anderen Hof zog und sich von dem Kinde trennte; aber der Bauer tröstete sie: »Geh' nur, geh', mach' kein Wasser an, schaust dir doch wieder um ein anderes.«

Die Knechtin ging und sah nicht mehr um und starb nach kurzer Zeit.

[115] Die Jula wuchs heran und war eine brauchbare Halterdirn und wurde eine willige Magd, die im Haus das Unhandsamste mit Geduld verrichtete. In jedem ordentlichen Hof muß ein Hofnarr sein; will der Witzigste sich dazu nicht hergeben, so muß der Einfältigste dran. Die Jula war die gläubige Einfalt, die alles für bare Münze nahm, was klingelte.

Den Sommer ihres neunzehnten Lebensjahres verbrachte sie mit Träumen. Es war sonst nicht ihre Art, tatlos dazustehen und in die leere Luft hineinzustarren, aber in diesem Sommer tat sie's, und im Herbste drauf kam's aus Tageslicht, warum. Es war wieder kein Vater da, aber die junge Mutter preßte ihr Wunder um so stürmischer an die Brust, je eindringlicher man ihr riet, es in fremde Hände zu geben.

Zur selben Zeit traf sie ein Geschick, das ganz unvermittelt dasteht, wie das Ereignis in einer stümperhaften Erzählung, oder wie eine schlechte Laune des Himmels. Zu mir ist nichts davon sonst gekommen, als was die Jula später oft und oft erzählt hat.

Sie zog am Morgen mit ihrem Graskorbe hinaus auf die Wiese und mähte, und rechte das Futter zu einer Schichte. Und als die Sonne ausgeht, bleibt sie ein wenig stehen, stützt sich auf den Rechen, schaut hin und denkt, wie doch die Sonne schön ist! – Wie sie sich wieder zu ihrer Arbeit wendet, sieht sie kein Futter mehr, keine Wiese, sieht den Rechen nicht, den sie in der Hand hält – und schreit auf: »Uh, Halbesel, was ist denn das?« 's ist so ein Nebel vor. Sie reibt sich die Augen, da tanzen rote, grüne und gelbe Sonnen im Nebel herum und si:: sieht ihren Rechen noch immer [116] nicht. Jetzt tastet sie umher und findet den Korb nicht, da ruft sie nach den Leuten.

Dort vor dem Hause steht die Bäuerin, die hört's, kommt etliche Schritte herbei und frägt, was denn das heute für ein Geschrei wäre beim Futtermähen?

»Du, Bäuerin,« sagt die Jula, »ich weiß nicht, was das ist, ich sehe auf einmal nichts.«

»So wirst halt blind geworden sein,« meint die Bäuerin.

»Jesus Maria, doch das nicht!« schreit die Jula und reibt mit Angst und Macht an den Augen, »nein – ich sehe ja alles! Ich sehe ja alles!« Aber sie tastete herum und stolperte endlich siber die Sense, daß sie sich blutig schnitt. Endlich kamen Leute herbei und führten sie und sagten, es hätte schier den Anschein, als wie wenn sie blind geworden wäre.

»Nein,« rief sie, »blind! Was ihr närrisch seid, wie kunnt ich denn blind werden? – Zu meinem Kind führt's mich geschwind!«

Man führte sie in die Kammer. Sie tastete nach dem Knäblein, sie riß es von seinem Nestchen empor und vor ihr Auge, und jetzt tat sie den Schrei: »Blind! stockblind!« und stürzte vor dem Bett aufs Knie.

Nun erst, als sie ihr eigenes Kind nicht mehr sehen konnte, wußte sie es, glaubte sie es.

Sie war blind. Und sie blieb von diesem Tage an blind, und sie lebte augenlos noch dreiundsechzig Jahre lang. – Gesagt mußte was werden, und so sagten die Leute, es wäre halt im Blut gelegen, und schwache Augen hätte sie immer gehabt.

[117] Anfangs mögen die Quacksalber und Kurpfuscher gekommen sein mit ihren Schmieren und Pflastern, Tropfen, Laxieren und allen jenen Übeln, die dem Kranken – nachdem ihm sein Leiden vom Himmel gesandt ist – vom Teufel spendiert werden. Dann mag, ohne daß an einen Arzt, an eine Augenheilanstalt gedacht wurde – das Bestreben zu helfen erlahmt sein und man hatte der Armen gesagt: »Wenn's der lieb' Herrgott so haben will, so ist kein anderes Mittel, als wie geduldig leiden!«

Und zu diesem Mittel hat sich die Jula bequemt. Weniger Geduld hatten andere Leute, welche wohl sehen konnten, aber allzuschwarz sahen. Das waren die vordersten der Gemeinde; diese taten dar, daß sie ohnehin schwer belastet seien, daß die Mutter der Jula nicht in ihrem Bereiche geboren, daß sie aus der Waldgemeinde Alpel gekommen war, und daß die Blinde nun in die Gemeinde Alpel zuständig sei. So wurde sie von ihrem Kinde hinweggeführt und in unsere Waldgemeinde eingelegt. Hier sollte sie als »Einlegerin« von Haus zu Haus wandern und in jedem eine bestimmte Anzahl von Tagen oder Wochen behalten und verpflegt werden.

In mein Vaterhaus kam sie von einem Boten des Nachbars begleitet, die erste Zeit des Jahres zweimal, und wir hatten sie jedesmal zwei Wochen lang zu behalten. Sie hatte einen Buckelkorb, in welchem sich ihre Habseligkeiten befanden, und den sie sich nie vom Boten tragen ließ, sondern auch dann noch selbst schleppte, als sie schon gar alt und mühselig geworden war. Ferner besaß sie einen Handstock, der am Griffknorpel ein Riemlein hatte, den sie außer Haus immer und überall bei [118] sich trug, den sie zur Nachtzeit neben ihrem Bett mit ängstlicher Sorgfalt aufbewahrte, und der ihr wirklich mehr Gutes getan hat, als je ein Mensch auf dieser Erde. Dann hatte sie in ihrem Mieder stecken einen Blechlöffel, bei dem die Verzinnung schon fast weggegessen war und überall die schwarzen Stellen hervorschauten. Was man ihr vorsetzte, das aß sie nur mit diesem Löffel. Endlich besaß sie ein ledernes Geldtäschchen, in welchem sich stets – wenn irgendwo eine Not war – was vorfand. Denn in der ehrwürdigen Kirche zu Krieglach steht der steinerne Opferstock für die Armen, der über kreuz und quer mit Eisen beschlagen ist, nicht umsonst. Etlichemal des Jahres brachte der Richter vom Alpel aus diesem steinernen Behälter Geld mit in die Waldgemeinde und verteilte es dort unter die Armen. Die Jula wurde jedesmal unruhig, wenn es hieß, der Richter komme. Zum öfterenmal freilich war es ganz vergeblich, wie sie sich auch um ihn herum zu schaffen machte. Er fragte wohl stets: »Na, Jula, wie geht's? Halt alleweil fleißig? Brav, brav!« Nur gar selten, »zu allen heiligen Zeiten einmal«, wie die Bauern sagen, setzte der Richter noch bei: »Schau du, ich hab' was für dich, Jula. Da lang' her. So, heb's gut auf!«

Da tat sie denn jedesmal bitten: »Nur keine Sechser nit! Alles Kreuzer sind mir lieber. Recht vergelt's Gott! Will schon fleißig beten.«

Mancher Bettelmann hat es erfahren, warum ihr die Kreuzer lieber waren, als wie das »große Geld«.

Ihr war ums Austeilen zu tun.

Beten sah man die Jula übrigens seltener, als man glaubt, daß ein Mensch, der so ganz auf den Himmel angewiesen [119] ist, sollte. Im Gegenteil, wenn wir uns an Festtagen etwas eingehend mit dem Rosenkranz abgaben, hörte ich sie nicht selten ihren Knieschemel rücken und ein wenig dabei brummen. Einstweilen schien ihr die Erde wichtiger denn der Himmel. Konnte sie die Erde auch nicht sehen, so doch tasten. Und das tat sie denn getreulich, sie arbeitete. In jedem Hause, kaum sie eintrat, wußte sie sich nützlich zu machen, und war sie die Örtlichkeit einmal gewohnt, so waren ihre Verrichtungen von wirklichem Belange. Sie hackte Streu, sie wiegte die Kinder, ja, sie molk sogar die Kühe. Und wenn es ihr gelang, ihre Arbeiten zur Zufriedenheit des Bauers und der Bäuerin zu machen, so wuchs ihr Eifer und ihre Freude, und sie vergaß, daß sie blind war.

Der Stern ihres Auges war grau, sie sah nichts als den blassen Schein des Tages.

Mein Vater behielt sie häufig länger als zwei Wochen, denn er konnte sie gut beschäftigen und sie wollte nicht fort. Und als hernach wir kamen – wir Kinder mit unserem anspruchsvollen Geschrei, die Mutter aber wie vor und eh an ihre Arbeiten in Haus und Feld gebunden, die Großmutter schon auf den Kirchhof getragen worden war, da wurde die blinde Jula unsere Wärterin und Hüterin, ja, gewissermaßen unsere Erzieherin. Eine treue, verläßliche Führerin – die blinde Jula! Dazumal war sie schon hoch in den Vierzigern. Heute weiß ich es, daß ihr Ideenkreis gar klein. ihr Mund nicht beredt war – aber dazumal horchte ich mit Lust und Andacht ihren Worten, ihren Liedern.

Wie sanft schlief sich's ein, wenn sie die Wiege schaukelte und dazu mit weicher Stimme sang:


[120]

»Schlof, mein Büabel süasse,

Die Englein lossn dih grüassn,

Sie lossn dih grüassn, sie lossn dih frogn,

Ob du willst mit eahner in Himmel einfohrn!«


Und was war das für eine Lust, wenn sie uns auf dem Knie hopste:

»Hopp, hopp, hopp.

Reit man in Galopp

So reitn kloani Kindelein,

So lang sie noh kloanwinzi sein;

Wenn sie nacher größer wern,

Reiten's wie die hohen Herrn,

Reiten's wie die Bauern drein:

Hopp, hopp, hopp,

Das wird lustig sein!«


Und mit jedem Wort heftiger wurde das Hopsen, so daß wir kleinen Reiter oft hoch in die Luft flogen und vor lauter Lust ein mächtiges Geschrei erhoben. Ganz grauenvoll aber wurde uns, wenn sie sang:


»Der is a Noor,

Und das is nit guat,

Der sih sei Nosn wegbeißt,

Und steckt sie auf'n Huat!«


So war die Jula Herrin unserer Gefühle und Stimmungen.

Allzulange währte es freilich nicht, so hatten es auch wir Kleinen rein, daß der liebe Gott die Jula nur erschaffen habe, auf daß die Leute ihre Narreteien mit ihr treiben könnten. So hockte ich ihr gerne am Nacken, und was sie auch anfangen, drohen und bitten mochte, sie brachte mich nicht herab; ich sang: »Reiten's [121] wie die Bauern drein: Hopp, hopp, hopp, das wird lustig sein!« und ritt sie zum Erbarmen. War ich endlich herunter und sie erwischte mich beim Rockflügel, und es gelang mir nicht, huschend das Röcklein rechtzeitig im Stiche zu lassen, dann machte sie haarsträubende Anstalten zum Prügeln und rief im entscheidenden Moment: »Für dasmal soll's dir noch geschenkt sein, du Unhold, aber wenn du mir's noch einmal so machst, nachher!«

Ich duckte mich und war stets so dreist zu fragen: »Was denn nachher?«

»Wirst es schon sehen!«

Wie spekulierte sie schlecht! Die Neugierde, was eigentlich »nachher« sein werde, war nicht die letzte Ursache, daß ich ein nächstesmal wieder Schabernack mit ihr trieb.

Da sind mir endlich einmal die Augen geöffnet worden.

Die Jula hielt viel auf hohe Festtage, nicht etwa, weil's da Schmaus gab – diesen religiösen Grund der bäuerlichen Festfreude schien sie nicht zu kennen sondern weil sie sich wirklich in eine weihevolle Stimmung zu versetzen wußte, die ihr wohltat. Besonders das Weihnachtsfest! Wo das Kind mit spielt, da ist das Weib gewonnen, um so mehr, wenn das Kind der leibliche Sohn des himmlischen Vaters ist, der da geboren wird, um die Welt zu erlösen. Sie, die bettelarme, stockblinde Magd, die für sich keine Freude hatte auf Erden und keinen Freund, der man einst das Kind weg von der Mutterbrust nahm, die keine Erinnerung hegen konnte an schöne Jugendzeiten und keine Hoffnung auf einen [122] besseren Tag, sie konnte es fühlen zutiefst, daß die Welt erlöst ist! Sie, die Lichtloseste, war die Dankbarste für das Licht der Welt, und gleichwohl sie in stiller Christnacht nicht zur Kirche gehen konnte, so blieb sie wach und kniete an ihrem Bette und betete. Sonst, wenn ihr die Arbeit im Kopfe lag und in den Händen zuckte, war sie zum Frommsein nicht aufgelegt, aber heute fühlte sie sich ganz glückselig in dem Bewußtsein, dem lieben Jesukindlein in der Krippe durch ihre ungezählten »Vaterunser« eine Freude zu machen.

In einer solchen Christnacht gingen wir zur Kirche nach Sankt Kathrein am Hauenstein. Nur der Knecht Michel und Kathel die Magd, und die Jula blieben daheim, um das Haus zu hüten. Um vier Uhr morgens kamen wir zurück. Alles schlief; wir begaben uns auch zur Ruhe.

Aber schon nach kurzer Zeit wurden wir wieder aufgeschreckt. Der Nachbar Thomas, der zur Zeit Richter war, schlug an die Haustür und schrie, wir sollten ausmachen. Als er vor meinem Vater in der Stube stand, fragte er schneidig: »Nachbar, ich muß dich schon fragen, was mit der Einlegerin geschehen ist!«

»Die Jula meinst?« versetzte mein Vater, »was wird denn mit ihr geschehen sein? Verhoff's, daß sie frisch und gesund in ihrem Bett wird schlafen.«

»So geh' nur, schau nach!«

Mein Vater ging mit dem Licht in die Kammer – und das Bett der Einlegerin war leer.

»Wie kann denn das sein!«

»Gelt!« sagte der Bauer und sah meinen Vater an. »Das möchte man nicht glauben, daß bei dir ein [123] armer Mensch so schlecht aufgehoben wäre. Kannst lange suchen in deinem Haus, wirst sie nicht finden.«

»Du erschreckst mich, Nachbar, wird doch nichts geschehen sein?«

»Was geschehen ist, frage ich dich!« sagte der Nachbar und fuhr fort: »Ich erzähle, was ich weiß. – Wie ich voreh von der Kirche heim gegen mein Haus hinaufgehe, höre ich unten in der Schlucht was schreien. – Schau, denke ich, sollt' im nächsten Jahr b, i mir doch wer hinaussterben, weil die Nachteul' so schreit? Erkenn's aber bald, daß es keine Nachteul' ist, daß wer nach Hilfe ruft. Muß doch schauen gehen, was das zu bedeuten hat, wate im Schnee in die Schlucht hinab und finde mitten im Dickicht und im Eis – wen denn? – Dieselbige, die du da im Bett gesucht hast. Wie sie mich wahrnimmt, hebt sie gottserbärmlich an zu weinen, sagt nur: Zu tausend Gottes Willen, nimm mich in dein Haus! – Sonst habe ich von ihr nichts herausgebracht. Jetzt hockt sie in meiner Stube beim Ofen, sie ist halb erfroren. Und ich möchte nun wissen, Nachbar, was es bei Euch gegeben hat?«

Mein Vater pochte den Knecht Michel wach und fuhr ihn an, was in dieser Nacht, während wir in der Kirche waren, daheim geschehen sei?

»Daheim?« lallte der schlaftrunkene Knecht, »schreist einen so närrisch an, Bauer, was wird denn geschehen sein?«

»Wo ist die Jula?«

»Die Blinde?« fragte der Knecht entgegen und wurde geschmeidiger, »sollte die noch nicht da sein? – Weil der Patsch gar keinen Spaß nit versteht.«

[124] Und weiteres war nicht vom Michel herauszubringen. Die Jula hingegen erzählte unter vielem Schluchzen, daß sie in einem Hause, wo es in der Christnacht so sündhaft hergehe, nicht habe bleiben können. Man möge den Michel und die Kathel nur fragen, was sie für einen sauberen Psalter gebetet hätten? Die zwei würden gemeint haben, eine Blinde sehe nichts; aber sie hätte es gehört; und als sie mit Schrecken die beiden Ohren zugehalten, da hätte ihr's inwendig gestoßen, just, als wie wenn der böse Feind nicht weit weg gewesen wäre. Sie hätte dann den Kopf in ihre Bettdecke graben und beten wollen, aber der Michel wäre gekommen und hätte ihr die Decke über das Haupt geworfen und hätte gesagt, sie wäre in ihrer Jungheit selber nicht besser gewesen. Weil sie darüber hart aufbegehrt habe, und auseinandergesetzt, das Gernhaben und das Schabernacktreiben in der heiligen Nacht, gerade dem Herrgott zum Trutz, sei zweiding! so hätten der Michel und die Magd ihr einen Strohwisch um den Kopf gewunden und sie so lange verhöhnt, bis sie davon sei gegangen in die Winternacht hinaus, und über die Felder hin, und sich dann in die Schlucht arg habe verstiegen.

Mein Vater führte die blinde Jula mit gütigen Worten in unser Haus zurück, und zum Knecht und zur Magd sagte er: »Daß ihr's wißt, in acht Tagen ist das Jahr aus.«

Der Knecht brummte etwas, die Kathel hub zu klagen an, sie, die Fleißige und Arbeitskräftige, würde doch dieser alten, bettelhaften Person wegen nicht den Platz verlieren?

»Du Dirn!« sagte mein Vater gespannt, »zünde[125] mich nicht an! Ich will, daß wir gut auseinanderkommen.«

Die Jula war durch die Erkältung schwer erkrankt. Und als ich an ihrem Bette saß und in das blasse, alternde Antlitz mit den lichtlosen Augen sah, da nahm ich mir vor, wenn sie wieder gesund würde, nicht mehr auf diesem Rößlein zu reiten.

Sie wurde wieder gesund und sie blieb bei uns. Und als wir Kinder ihrer Pflege entwachsen waren, übernahm sie das Stallamt – pflegte die Kühe und Kälber, molk, was zu melken war und versah den Dienst besser und verläßlicher, als ihn je eine Vorgängerin versehen hatte. Mit den Leuten hatte sie nicht viel Gemeinschaft, sie schien sich, das hat sie mir einmal vertraut, zu einfältig dazu. Hingegen verstand sie sich mit den Tieren des Stalles. Abends, wenn sie schon in ihrem Bette lag – das nun im Stalle stand – konnte man sie oft stundenlang sprechen hören. Sie erzählte den Rindern ihre Jugendzeit, teilte ihnen ihre Erfahrungen mit, ihre Ansichten und Bedenken über den Gang der Welt. Und nach dem Erwachen war wohl ihr erstes Wort: »Du Kalberl, bist schon auf? Gelt, gut geschlafen hast auf der frischen Streu?« – Sie war es, die mancher Kuh durch gute Worte und Gebärden mehr Milch aus dem Euter zu schmeicheln wußte, als den anderen gelingen wollte; eine Kuh hatten wir, die niemandem Milch ließ als der blinden Jula, wenn diese beim Melken Jodler sang.

Und wenn bisweilen ein Fremder an unserem Hause vorbeiging und er hörte das fröhliche, hell und weich klingende Singen, so mochte es wohl passieren, daß er [126] durch die Stalltür lugte, was denn da drinnen für ein schönes Kind sei. Und sah dann das alte blinde Weiblein! Da kam aber bisweilen – wenn ein paar Feiertage nebeneinanderstanden, die dem Bediensteten weitere Gänge eigener Wege ermöglichten – ein Mann aus der Pretuller Gemeinde; er war noch jung, aber schon kräftig ausgewachsen und trug ein falbes Schnurrbärtchen im Gesichte und einen weißen Federbusch auf dem Hute. Der belauschte mit Lust die Sängerin und schlich schließlich zu ihr in den Stall. Er blieb mitunter länger drinnen, als das Melken währte, und die Jula redete nicht laut, wie sonst, wenn sie allein war, sondern flüsterte. Und wenn sie dann mit der Milch ins Haus kam, lag ein Himmel von Glückseligkeit in ihrem geröteten Antlitze.

Zweimal des Jahres ging sie zur Beichte. Dazu traf sie jedesmal eine Woche vorher umfassende Vorbereitungen und suchte sich im Hause oder in der Nachbarschaft einen Gefährten aus, der sie in die Kirche führte. Es ließ sich jeder gern herbei, denn nach dem Gottesdienste ging die Blinde mit dem Führer ins Wirtshaus und ließ ihm ein Mittagmahl aufsetzen, dessen sich kein Herrnbauer hätte schämen dürfen. Hatte sie doch ein halbes Jahr lang das ihr zugefallene Armengeld dafür zusammengespart, und außer dem Almosen, das sie mitunter an Bettler verteilte, für sich kaum einen Kreuzer ausgegeben. Und diese Wirtshausstunden, da sie jemanden bewirten konnte mit seinem Speis und Trank, und dabeisitzen und mitfühlen, wie es schmecke – diese Stunden schienen die glorreichsten ihres Lebens zu sein.

Ein paarmal trug es sich zu, daß meine Mutter[127] nicht in die Kirche gehen konnte, weil nicht so viel Geld im Hause war, daß sie sich im Kirchdorf hätte können eine Labnis gönnen. Das nahm die blinde Jula wahr und grollte, daß man ihr die Sache verheimlicht hätte. Geld sei ja doch im Hause! Und sie suchte aus ihrem Bettstroh das bekannte Lederbeutelchen hervor, und die Einlegerin gab der Hausgesessenen Almosen.

In Ruhe habe ich die Jula tagsüber nie gesehen, immer bei einer Arbeit. Und wenn sonst nichts für sie zu tun war, so tappte sie sich mit dem Stock zu einem Steinhaufen hinaus und legte die auseinandergerollten Steine zusammen. Sie wollte nicht die Blinde und die Arme spielen, und wer sie bemitleidete und bedauerte, dem war sie unhold und gab ihm zu bedenken, er möge rechte Leute in Ruhe lassen und zusehen, daß er nicht selbst zu bedauern sein werde!

Sie war die Wachsamste im ganzen Hause und wußte auch in allerlei Dingen Auskunft und Bescheid besser und verläßlicher, wie wir anderen; und nicht selten, wenn wir irgendeine in Verstoß geratene Sache alle miteinander mit offenen Augen vergeblich gesucht hatten, war es die blinde Jula; die sie auffand und herbeibrachte. Sie war die erste, die michan den Schritten erkannte, wenn ich vom Walde heimkehrte; sie war auch die aufmerksamste Zuhörerin, wenn ich manchmal von kleinen Erlebnissen erzählte; sie hatte mich lieb behalten.

Zuweilen in Unglücksfällen, wenn uns der Kopf verloren ging, war sie es, die Rat und Trost wußte. Ich sah sie nie verzagt. Unwirsch war sie oft, aber wenn sie sich ausgebrummt hatte, bat sie alsogleich, daß man es ihr nicht übel nehme.

[128] Ich vermute, die Jula hatte die ganzen dreiundsechzig Jahre nicht ein einziges Wort gesagt, aus welchem zu entnehmen gewesen, daß sie blind war. Die Kühe nannte sie selten bei ihren rechten Namen, die wir ihnen beigelegt hatten, sondern sprach, als unterscheide für sie stets die Farbe, nur von der »Braunen«, der »Scheckigen«, der »Falben«, der »Weißen«.

Für ihr Leben sprach sie nur einen einzigen Wunsch aus; wie alle Menschen, so wollte auch sieempor kommen: Wenn sie eine Schwaigerin kunnt sein auf der Höh'!

Wie oft hörte man sie singen:


»Jo, auf der Olm, do wa mei Glück,

I tauschat mit kana Gräfin nit! –

A Sennerin blieb ih ewiglich,

Und wan ih stirb, wir ih a Schwolbn;

Bis ma da Tod mei Herzerl bricht,

Gang ih nit weg von meiner Olm.«


»Ja,« murmelte sie dann, »schon lang! wenn ich nicht so wäre!«

Dieses »so« war ihre einzige Hindeutung auf ihren Zustand. Übrigens waren ihre anderen Sinne derart ausgebildet, daß man glaubte, sie habe ihre Augen in den Ohren, an der Nase, an den Fingerspitzen. Sonst ist die Seele gewohnt, bei den glänzenden Toren der Augen aus- und einzugehen; aber wo diese Tore verschlossen sind, da tritt sie sich durch die anderen Organe ihren verläßlichen und lieblichen Pfad.

Eines Tages kam einer unserer Nachbarn, zündete sich am Herd die Pfeife an und fragte, wie lange wir denn die Jula noch zu behalten gedächten? Er hätte sie auch [129] zu brauchen. Und das arme Weib, welches man einst nur mit Widerwillen in die Gemeinde genommen hatte, war jetzt in ihren alten Tagen gesucht, umworben und allerorts als eine vorzügliche Arbeitskraft geschätzt.

So weit hatte sie es gebracht. Und wer früher an die Pflicht erinnerte werden mußte, die Jula zu nehmen, der pochte jetzt auf sein Recht, sie zu erhalten.

Und der Mann mit dem salben Schnurrbart kam immer noch zu ihr, und brachte ihr stets ein Handbündelchen mit, voll Semmeln, Obst oder Lebkuchen. Wie war ihr hart, wenn sie ihm nichts spenden konnte, und wie war sie meinem Vater dankbar, wenn er den Mann aus der Pretuller Gemeinde zu Tische lud oder sonst ein freundliches Wort mit ihm sprach. Und wenn sie den Burschen betastete an seiner breiten Brust, an seinen Schultern, an seinem stämmigen Nacken – bis zu den dichten Haaren seines Scheitels vermochte sie kaum emporzulangen – da flüsterte sie wohl: »Wie groß du mir geworden bist, mein Tritzel (Patritz), seit ich dich das letztemal hab' gesehen!«

Freilich, damals, als du ihn das letztemal gesehen hattest, war er ein kleines Kind gewesen, mit roten Wängelchen und himmelblauen Äuglein... O, weine nicht jetzt, du armes, lichtloses Mutterauge! Dusiehst ihn ja; ewig unverdrängt bleibt dir sein Kindesangesicht im Herzen, während andere Mütter, wenn sie vor erwachsenen Söhnen stehen, oft klagen, daß sie kein Kind mehr hätten.

Als ich später in die Welt ging, ließ ich die blinde Jula noch bei meinen Eltern zurück.

Als diese davonzogen – der Vater in das Tal der Mürz, die Mutter in den himmlischen Frieden – [130] da begann die Jula wieder ihr Wanderleben von Haus zu Haus. Aber nirgends soll sie sich mehr so in die Verhältnisse gefunden haben, als bei uns. Ihr Sohn, als armer Bauernknecht im Gebirge, wurde bald von seiner eigenen Arbeitslast gebeugt. Als ich, ins Gebirge zurückgekehrt, die Jula vor einigen Jahren wiedersah, waren ihre Haare grau, und gar gekrümmt stützte sie sich auf den Stock – es war noch derselbe mit dem Riemlein am Griffknorpel. Seither hatte ich mir oft vorgenommen, der vieljährigen Genossin meines Heimatshauses einmal etwas Liebes zu erweisen. Wie es aber zumeist geht, wenn man ein Gutes, das dem Herzen entquillt, nicht gleich am ersten Tage übt – es wurde verschoben bis zu jenem sonnigen Frühlingsmorgen, da der Sarg aus weißen Tannenbrettern vorüberschwankte an meinem Fenster. Ein unendliches Meer von Licht umwogte die Welt; ein sonniger Strom auoll ihr nach ins tiefe Grab.

[131] Einer Weihnacht Lust und Gefahr

In unserer Stube, an der mit grauem Lehm übertünchten Ofenmauer, stand jahraus jahrein ein Schemel aus Ahornholz. Er war immer glatt und rein gescheuert, denn er wurde, wie die anderen Stubengeräte, jeden Samstag mit seinem Bachsande und einem Strohwisch abgerieben. In der Zeit des Frühlings, des Sommers und des Herbstes stand dieser Schemel leer und einsam in seinem Winkel, nur zur Abendzeit zog ihn die Ahne etwas weiter hervor, kniete auf denselben hin und verrichtete ihr Abendgebet.

Als aber der Spätherbst kam mit den langen Abenden, an welchen die Knechte in der Stube aus Kienscheitern Leuchtspäne kloben, und die Mägde, sowie auch meine Mutter und Ahne Wolle und Flachs spannen, und als die Adventszeit kam, in welcher an solchen Span- und Spinnabenden alte Märchen erzählt und geistliche Lieder gesungen wurden, da saß ich beständig auf dem Schemel am Ofen.

Aber die langen Adventnächte waren bei uns immer sehr kurz. Bald nach zwei Uhr begann es im Hause unruhig zu werden. Oben auf dem Dachboden hörte man die Knechte, wie sie sich ankleideten und umhergingen, und in der Küche brachen die Mägde Späne ab und schürten am Herde. Dann gingen sie alle auf die Tenne zum Dreschen.

[132] Auch die Mutter war aufgestanden und hatte in der Stube Licht gemacht; bald darauf erhob sich der Vater und sie zogen Kleider an, die nicht ganz für den Werktag und auch nicht ganz für den Feiertag waren. Dann sprach die Mutter zur Ahne, die im Bette lag, einige Worte, und wenn ich, erweckt durch die Unruhe, auch was sagte, so gab sie mir zur Antwort: »Sei du nur schön still und schlaf!« – Dann zündeten meine Eltern eine Laterne an, löschten das Licht in der Stube aus und gingen aus dem Hause. Ich hörte noch die äußere Türe gehen und ich sah an den Fenstern den Lichtschimmer vorüberflimmern und ich hörte das Ächzen der Tritte im Schnee und ich hörte noch das Rasseln des Kettenhundes. – Dann wurde es ruhig, nur war das dumpfe, gleichmäßige Pochen der Drescher zu vernehmen, dann schlief ich wieder ein.

Der Vater und die Mutter gingen in die mehrere Stunden entfernte Pfarrkirche zur Rorate. Ich träumte ihnen nach, ich hörte die Kirchenglocken, ich hörte den Ton der Orgel und das Adventlied: Maria, sei gegrüßet, du lichter Morgenstern! Und ich sah die Lichter am Hochaltare, und die Engelein, die über demselben standen, breiteten ihre goldenen Flügel aus und flogen in der Kirche umher, und einer, der mit der Posaune über dem Predigtstuhl stand, zog hinaus in die Heiden und in die Wälder und blies es durch die ganze Welt, daß die Ankunft des Heilandes nahe sei.

Als ich erwachte, strahlte die Sonne schon lange zu den Fenstern herein und draußen flimmerte der Schnee, und die Mutter ging wieder in der Stube umher und war in Werktagskleidern und tat häusliche Arbeiten.

[133] Das Bett der Ahne neben de dem meinigen war auch schon geschichtet und die Ahne kam nun von der Küche herein und half mir die Höschen anziehen und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser, daß ich aus Empfindsamkeit zugleich weinte und lachte. Als dieses geschehen war, kniete ich auf meinen Schemel hin und betete mit der Ahne den Morgensegen:


In Gottes Namen aufstehen,

Gegen Gott gehen,

Gegen Gott treten,

Zum himmlischen Vater beten,

Daß er uns verleih'

Lieb' Engelein drei:

Der erste, der uns weist

Der zweite, der uns speist,

Der dritte, der uns behilft' und bewahrt,

Daß uns an Leib und Seel' nichts widerfahrt.


Nach dieser Andacht erhielt ich meine Morgensuppe, und nach derselben kam die Ahne mit einem Kübel Rüben, die wir nun zusammen zu schälen hatten. Ich saß dabei auf meinem Schemel. Aber bei dem Schälen der Rüben konnte ich die Ahne nie vollkommen befriedigen; ich schnitt stets eine zu dicke Schale, ließ sie aber stellenweise doch wieder ganz auf der Rübe. Wenn ich mich dabei gar in den Finger schnitt und gleich zu weinen begann, so sagte die Ahne immer sehr unwirsch: »Mit dir ist wohl ein rechtes Kreuz, man soll dich frei hinauswerfen in den Schnee!« Dabei verband sie mir die Wunde mit unsäglicher Sorgfalt und Liebe.

So vergingen die Tage des Advents, und ich und die Ahne sprachen immer häufiger und häufiger von dem [134] Weihnachtsfeste und von dem Christkinde, das nun bald kommen werde.

Je mehr wir dem Feste nahten, um so unruhiger wurde es im Hause. Die Knechte trieben das Vieh aus dem Stalle und gaben frische Streu hinein und stellten die Barren und Krippen zurecht; der Halterbub striegelte die Ochsen, daß sit ein glattes Aussehen bekamen; der Futterbub mischte mehr Heu in das Stroh als gewöhnlich und bereitete davon einen ganzen Stoß in der Futterkammer. Die Kuhmagd tat das gleiche. Das Dreschen hatte schon einige Tage früher aufgehört, weil man durch den Lärm dienahen Feiertage zu entheiligen glaubte.

Im ganzen Hause wurde gewaschen und gescheuert, selbst in die Stube kamen die Magde mit ihren Wasserkübeln und Strohwischen und Besen hinein. Ich freute mich immer sehr auf dieses Waschen, weil ich es gern hatte, wie alles drunter und drüber gekehrt wurde, und weil die Heiligenbilder im Tischwinkel, die braune Schwarzwälderuhr mit ihrer Metallschelle und andere Dinge, die ich immer sonst nur von der Höhe zu sehen bekam, herabgenommen und mir näher gebracht wurden, so daß ich alles viel genauer betrachten konnte. Freilich war nicht erlaubt, dergleichen Dinge anzurühren, weil ich noch zu ungeschickt und unbesonnen dafür wäre und die Gegenstände leicht beschädigen könne. Aber es gab doch Augenblicke, da man im eifrigen Waschen und Reiben nicht auf mich achtete.

In einem solchen Augenblicke kletterte ich einmal über den Schemel auf die Bank und von der Bank auf den Tisch, der aus seiner gewöhnlichen Stellung gerückt [135] war und auf dem die Schwarzwälderuhr lag. Ich machte mich an die Uhr, von der die Gewichte über den Tisch hingen, sah durch ein offenes Seitentürchen in das messingene, sehr bestaubte Räderwerk hinein, tupfte einigemal an die kleinen Blätter des Windrädchens und legte die Finger endlich selbst an das Rädchen, ob es denn nicht gehe; aber es ging nicht. Zuletzt rückte ich auch ein wenig an einem Holzstäbchen, und als ich das tat, begann es im Werk fürchterlich zu rasseln. Einige Räder gingen langsam, andere schneller und das Windrädchen flog, daß man es kaum sehen konnte. Ich war unbeschreiblich erschrocken, ich kollerte vom Tisch über Bank und Schemel auf den nassen, schmutzigen Boden hinab; da faßte mich schon die Mutter am Röcklein. Das Rasseln in der Uhr wollte var nicht aufhören, und zuletzt nahm mich die Mutter mit beiden Händen und trug mich in das Vorhaus und schob mich durch die Tür hinaus in den Schnee und schlug die Türe hinter mir zu. Ich stand wie vernichtet da, ich hörte von innen noch das Greinen der Mutter. die ich sehr beleidigt haben mußte, und ich hörte das Scheuern und Lachen der Mägde, und noch immer das Rasseln der Uhr.

Als ich eine Weile dagestanden und geschluchzt hatte, und als gar niemand gekommen war, der Mitleid mit mir gehabt hätte, ging ich nach dem Pfade, der in den Schnee getreten war, über den Hausanger und über das Feld dem Walde zu. Ich wußte nicht, wohin ich wollte, dachte auch nicht weiter daran.

Aber ich war noch nicht zu dem Walde gekommen, als ich hinter mir ein grelles Pfeifen hörte. Das war das Pfeifen der Ahne.

[136] »Wo willst du denn hin, du dummes Kind,« rief sie, »wart', wenn du so im Wald herumlaufen willst, so wird dich schon die Mooswaberl abfangen, wart' nur!«

Auf dieses Wort kehrte ich augenblicklich um gegen das Haus, denn die Mooswaberl fürchtete ich sehr.

Ich ging aber immer noch nicht hinein, ich blieb im Hofe stehen, wo der Vater und zwei Knechte gerade ein Schwein aus dem Stalle zogen, um es abzustechen. Über das ohrenzerreißende Schreien des Tieres und über das Blut, das ich nun sah, und da f eine Magd in einen Topf auffing, vergaß ich das Vorgefallene, und als der Vater im Vorhaus das Schwein abhäutete, stand ich schon wieder dabei und hielt die Zipfel der Haut, die er mit einem großen Messer von dem speckigen Fleisch immer mehr und mehr lostrennte. Als später die Eingeweide herausgenommen waren und die Mutter Wasser in das Becken goß, sagte sie zu mir: »Geh' weg da, sonst wirst du ganz angespritzt!«

Aus diesen Worten entnahm ich, daß die Mutter mit mir wieder versöhnt sei, und nun war alles gut, und als ich in die Stube kam, um mich zu erwärmen, stand da alles an seinem gewöhnlichen Platz. Boden und Wände waren noch feucht, aber rein gescheuert, und die Schwarzwälderuhr hing wieder an der Wand und tickte. Und sie tickte viel lauter und heller durch die neu hergestellte Stube, als früher.

Endlich nahm das Waschen und Reiben und Glätten ein Ende, im Hause wurde es ruhiger, fast still, und der heilige Abend war da. Das Mittagsmahl am heiligen Abend wurde nicht in der Stube eingenommen, sondern in der Küche, wo man das Nudelbrett als Tisch [137] eignete und sich um dasselbe herumsetzte und das einfache Fastengericht still, aber mit gehobener Stimmung verzehrte.

Der Tisch in der Stube war mit einem schneeweißen Tuche bedeckt, und vor dem Tische stand mein Schemel, auf welchen sich zum Abend, als die Dämmerung einbrach, die Ahne hinkniete und still betete.

Mägde gingen leise durch das Haus und bereiteten ihre Festtagskleider vor und die Mutter tat in einen großen Topf Fleischstücke, goß Wasser daran und stellte ihn zum Herdfeuer. Ich schlich in der Stube auf den Zehenspitzen herum und hörte nichts, als das lustige Prasseln des Feuers in der Küche. Ich blickte auf meine Sonntagshöschen und auf das Jöppel und auf das schwarze Filzhütlein, das schon an einem Nagel der Wand hing, und dann blickte ich kurch das Fenster in die hereinbrechende Dunkelheit hinaus. Wenn kein ungünstiges Wetter eintrat, so durfte ich in der Nacht mit dem Großknecht in die Kirche gehen. Und das Wetter war ruhig und es würde auch, wie der Vater sagte, nicht allzu kalt werden, weil auf den Bergen Nebel liege.

Unmittelbar vor dem »Rauchengehen«, in welchem Haus und Hof nach alter Sitte mit Weihwasser und Weihrauch besegnet wird, halten der Vater und die Mutter einen kleinen Streit. Die Mooswaberl war da gewesen, hatte glückselige Feiertage gewünscht und die Mutter hatte ihr für den Festtag ein Stück Fleisch geschenkt. Darüber war der Vater etwas ungehalten; er war sonst ein Freund der Armen und gab ihnen nicht selten mehr, als unsere Verhältnisse es erlauben wollten, aber der Mooswaberl sollte man seiner Meinung nach kein Almosen [138] reichen. Die Mooswaberl war ein Weib, das gar nicht in die Gegend gehörte, das unbefugt in den Wäldern umherstrich, Moos und Wurzeln sammelte, in halbverfallenen Köhlerhütten Feuer machte und schlief. Daneben zog sie bettelnd zu den Bauernhöfen, wollte Moos verkaufen, und da sie keine Geschäfte machte, verfluchte sie das Leben. Kinder, die sie ansah, fürchteten sich entsetzlich vor ihr und viele nurden krank; Kühen tat sie an, daß sie rote Milch gaben.

Wer ihr eine Wohltat erwies, den verfolgte sie einige Minuten und sagte ihm: »Tausend und tausend vergelt's Gott bis in den Himmel hinaus.«

Wer sie aber verspottete oder sonst auf irgendeine Art beleidigte, zu dem sagte sie: »Ich bete dich hinab in die unterste Höllen!«

Die Mooswaberl kam oft zu unserem Hause und saß gern vor demselben auf dem grünen Rasen oder auf dem Querbrett der Zaunstiegel, trotz des heftigen Bellens und Rasselns unseres Kettenhundes, der sich gegen dieses Weib besonders unbändig zeigte. Aber die Mooswaberl saß so lange vor dem Hause, bis die Mutter ihr eine Schale Milch, oder ein Stück Brot. oder beides hinaustrug. Meine Mutter hatte es gern, wenn das Weib sie durch ein tausendfaches Vergeltsgott bis in den Himmel hinauf wünschte. Der Vater legte dem Wunsch dieser Person keinen Wert bei, war er ein Segensspruch oder ein Fluch.

Als man draußen in einem Dorfe vor Jahren das Schulhaus baute, war dieses Weib mit dem Manne in die Gegend gekommen und hatte bei dem Baue mitgeholfen, bis er bei einer Steinsprengung getötet wurde.

[139] Seit dieser Zeit arbeitete sie nicht mehr und zog auch nicht fort, sondern trieb sich herum, ohne daß man wußte, was sie tat und was sie wollte. Zum Arbeiten war sie nicht mehr zu bringen; sie schien geisteskrank zu sein.

Der Richter hatte die Mooswaberl schon mehrmals aus der Gemeinde gewiesen, aber sie war immer wieder zurückgekommen. »Sie würde nicht immer zurückgekommen sein,« sagte mein Vater, »wenn sie in dieser Gegend nichts gebettelt bekäme. So wird sie hier verbleiben und wenn sie alt und krank ist, müssen wir sie auch pflegen; das ist ein Kreuz, welches wir uns selbst an den Hals gebunden haben.«

Die Mutter sagte nichts zu solchen Worten, sondern gab der Mooswaberl, wenn sie kam, immer das gewohnte Almosen, und heute noch etwas mehr, zu Ehren des hohen Festes.

Darum also war der kleine Streit zwischen Vater und Mutter gewesen, der aber alsogleich verstummte, als zwei Knechte mit dem Rauch- und Weihwassergefäß in das Haus kamen.

Nach dem Rauchen stellte der Vater ein Kerzenlicht auf den Tisch, Späne durften heute nur in der Küche gebrannt werden. Das Nachtmahl wurde schon wieder in der Stube eingenommen. Der Großknecht erzählte während desselben Weihnachtsgeschichten.

Nach dem Abendmahle sang die Mutter ein Hirtenlied. So wonnevoll ich sonst diesen Liedern lauschte, aber heute dachte ich nur immer an den Kirchgang und wollte durchaus schon das Sonntagskleidchen anziehen. Man sagte, es sei noch später Zeit dazu, aber endlich gab die Ahne meinem Drängen doch nach und zog mich an.

[140] Der Stallknecht kleidete sich sehr sorgsam in seinen Festtagsstaat, weil er nach dem Mitternachtsgottesdienst nicht nach Hause gehen, sondern im Dorfe den Morgen abwarten wollte. Gegen neun Uhr waren auch die anderen Knechte und Mägde bereit und zündeten am Kerzenlicht eine Spanlunte an. Ich hielt mich an den Großknecht, und meine Eltern und meine Großmutter, welche daheim blieben, um das Haus zu hüten, besprengten mich mit Weihwasser und sagten, daß ich nicht fallen und nicht erfrieren möge.

Dann gingen wir.

Es war sehr finster und die Lunte, welche der Stallknecht vorantrug, warf ihr rotes Licht in einer großen Scheibe auf den Schnee und auf den Zaun und auf die Sträucher und Bäume, an denen wir vorüberkamen. Mir kam dieses rote Leuchten, das zudem noch durch die großen Schatten unserer Körper unterbrochen war, grauenhaft vor und ich hielt mich sehr ängstlich an den Großknecht, so daß dieser einmal sagte: »Aber hörst, meine Joppe mußt du mir lassen, was tät' ich denn, wenn du mir sie abrissest?«

Der Pfad war eine Zeitlang sehr schmal, so daß wir hintereinander gehen mußten, wobei ich nur froh war, daß ich nicht der letzte war, denn ich bildete mir ein, daß dieser unbekannten Gefahren ausgesetzt sein müsse.

Eine schneidende Luft ging und die glimmenden Splitter der Lunte flogen weithin, und selbst als sie auf die harte Schneekruste niederfielen, glimmten sie noch eine Weile fort.

Wir waren bisher über Blößen und durch Gesträuche und Wälder abwärts gegangen; jetzt kamen wir zu einem [141] Bache, den ich sehr gut kannte, er floß durch die Wiese, auf welcher wir im Sommer das Heu machten. Im Sommer rauschte dieser Bach schön, aber heute hörte man nichts, weil er überfroren war. Auch an einer Mühle kamen wir vorüber, an welcher ich heftig erschrak, weil einige Funken auf das Dach flogen; aber auf dem Dache lag Schnee und die Funken erloschen. Endlich verließen wir den Bach, und der Weg führte aufwärts durch Wald, in welchem der Schnee seicht lag, aber auch keine feste Kruste hatte.

Dann kamen wir zu einer breiten Straße, wo wir nebeneinander gehen konnten und wo wir dann und wann ein Schlittengeschelle hörten. Dem Stallknecht war die Lunte bereits bis zu der Hand herabgebrannt und er zündete eine neue an, die er vorrätig hatte. Auf der Straße sah man jetzt auch andere Lichter, große rote Fackeln, die heranloderten, als schwämmen sie allein in der schwarzen Luft, und hinter denen nach und nach ein Gesicht und mehrere Gesichter auftauchten, von Kirchengehern, die sich nun auch zu uns gesellten. Und wir sahen Lichter von anderen Bergen und Höhen, die noch so weit entfernt waren, daß wir nicht erkennen konnten, ob sie standen oder sich bewegten.

So gingen wir weiter Der Schnee knirschte unter unseren Füßen, und wo ihr der Wind weggetragen hatte, da war der schwarze nackt: Boden so hart, daß unsere Schuhe an ihm klangen. Die Leute sprachen und lachten viel, aber mir war, als sei das in der heiligen Christnacht nicht recht; ich dachte nur immer schon an die Kirche und wie das doch sein werde, wenn mitten in der Nacht Musik und ein Hochamt ist.

[142] Als wir eine lange Weile auf der Straße fortgegangen und an einzelnen Bäumen und an Häusern vorüber, und dann wieder über Felder und durch Wald gekommen waren, hörte ich auf den Baumwipfeln plötzlich ein Klingen. Als ich horchen wollte, hörte ich es nicht, bald aber wieder und deutlicher als das erstemal. Es war der Ton des kleinen Glöckleins vom Turme der Kirche. Die Lichter, die wir auf den Bergen und im Tale sahen, wurden immer häufiger und alle schwammen der Kirche zu. Auch die ruhigen Sterne der Laternen schwebten heran und auf der Straße wurde es immer lebhafter. Das kleine Glöcklein wurde durch ein größeres abgelöst und das läutete so lange, bis wir fast nahe der Kirche kamen. – Also war es doch wahr, wie die Ahne gesagt hatte: Um Mitternacht fangen die Glocken zu läuten an und läuten so lange, bis aus fernen Tälern der letzte Bewohner der Hütten zur Kirche kommt.

Die Kirche steht auf einem mit Birken und Schwarztannen bewachsenen Berglein, und um sie liegt der kleine Friedhof, welcher mit einer niederen Mauer umgeben ist. Die wenigen Häuser stehen in: Tale.

Als die Leute an die Kirche gekommen waren, steckten sie ihre Lunten umgekehrt in den Schnee, daß sie erloschen, nur eine wurde zwischen zwei Steine der Friedhofmauer geklemmt und brennen gelassen.

Jetzt klang auf dem Turme in langsamem, gleichmäßigem Wiegen schon die große Glocke. Aus den schmalen, hohen Kirchenfenstern fiel heller Schein. Ich wollte in die Kirche, aber der Großknecht sagte, es habe noch Zeit, und er blieb stehen und sprach und lachte mit anderen Burschen und stopfte sich eine Pfeife an.

[143] Endlich klangen alle Glocken zusammen, in der Kirche begann die Orgel zu tönen und nun gingen wir hinein.

Das sah ganz anders ins wie an den Sonntagen. Die Lichter, die auf dem Altare brannten, waren hellweiße, funkelnde Sterne, und der vergoldete Tabernakel strahlte herrlich zurück. Die Lampe des ewigen Lichtes war rot. Der obere Raum der Kirche war so dunkel, daß man die schönen Verzierungen des Schiffes kaum sehen konnte. Die dunkeln Gestalten der Menschen saßen in den Stühlen oder standen neben denselben; die Weiber waren sehr in Tücher eingeschlagen und husteten. Viele hatten Kerzen vor sich brennen und sangen aus ihren Büchern mit, als auf dem Chore das Tedeum ertönte. Der Großknecht führte mich durch die zwei Reihen der Stühle gegen einen Nebenaltar, wo schon mehrere Leute standen. Dort hob er mich auf einen Schemel zu einem Glaskasten empor, der, von drei Kerzen beleuchtet, zwischen zwei aufgesteckten Tannenwipfeln stand und den ich früher, wenn ich mit den Eltern in die Kirche kam, nie gesehen hatte. Als mich der Großknecht auf den Schemel gehoben hatte, sagte er mir leite ins Ohr: »So, jetzt kannst das Krippel anschauen.« Dann ließ er mich stehen und ich schaute durch das Glas. Da kam ein Weiblein zu mir herbei und sagte leise: »Ja, Kind, wenn du das anschauen willst, so muß dir's auch jemand auslegen.« Und sie erklärte mir die Dinge, die im Kasten waren.

Außer der Mutter Maria, die über den Kopf ein blaues Tuch geschlagen hatte, das bis zu den Füßen hinabhing, waren alle Gestalten so gekleidet wie ältere Bauern. Der heilige Joseph selbst trug grüne Strümpfe [144] und eine lederne Kniehose. Und in der Krippe lag das nackte Kindlein.

Als das Tedeum zu Ende war, kam der Großknecht wieder, hob mich von dem Schemel und wir setzten uns in einen Stuhl. Dann ging der Kirchenmann herum und zündete alle Kerzen an, die in der Kirche waren, und jeder Mensch, auch der Großknecht, zog nun ein Kerzlein aus dem Sack und zündete es an und klebte es vor sich auf die Bank. Jetzt var es so hell in der Kirche, daß man auch die Verzierungen an der Decke schön sehen konnte.

Auf dem Chore stimmte man Geigen und Trompeten und Pauken, und als an der Sakristeitür das Glöcklein klang und der Pfarrer in strahlendem Meßkleide, begleitet von Ministranten und rotbemäntelten Windlichtträgern, über den purpurnen Fußteppich zum Altare ging, da rauschte die Orgel in ihrem ganzen Vollklang, da wirbelten die Pauken und schmetterten die Trompeten.

Weihrauch stieg auf und hüllte den ganzen lichtstrahlenden Hochaltar in einen Schleier. – So begann das Hochamt und so strahlte und tönte und klang es um Mitternacht. Beim Offertorium waren alle Instrumente still, nur zwei helle Stimmen sangen ein liebliches Hirtenlied und während des Benediktus jodelten eine Klarinette und zwei Flügelhörner langsam und leise den Wiegengesang. Während den letzten Evangeliums hörte man auf dem Chore den Kuckuck und die Nachtigall, wie mitten im sonnigen Frühling.

Tief nahm ich sie auf in meine Seele, die wunderbare Heiligkeit der Christnacht, aber ich jauchzte nicht vor Entzücken, ich blieb ernst, ruhig und fühlte die Weihe.

[145] Und während die Musik tönte, dachte ich an Vater und Mutter und Großmutter daheim. Die knien jetzt um den Tisch bei dem einzigen Kerzenlichtlein und beten, oder sie schlafen und es ist finster in der Stube, und nur die Uhr geht, und es liegt tiefe Ruhe über den waldigen Bergen und die Christnacht ist ausgebreitet über die ganze Welt.

Als das Amt seinem Ende nahte, erloschen nach und nach die Kerzlein in den Stühlen, und der Kirchenmann ging wieder herum und dämpfte mit seinem langgestielten Blechkäppchen an den Wänden und Bildern und Altären, und es duftete das Wachs der ausgelöschten Lichter. Die am Hochaltare brannten noch, als auf dem Chore der letzte freudenreiche Festmarsch erscholl und sich die Leute aus der Kirche drängten.

Als wir in das Freie kamen, war es trotz des dichten Nebels, der sich von den Bergen niedergesenkt hatte, nicht mehr ganz so finster wie vor Mitternacht. Es mußte der Mond aufgegangen sein; man zündete keine Fackeln mehr an. Es schlug ein Uhr, aber der Schulmeister läutete schon die Avemariaglocke zum Christmorgen. Ich warf noch einen Blick auf die Kirchenfenster; aller Festglanz war erloschen, ich sah nur mehr den matten Schimmer des ewigen Lichtes.

Als ich mich dann wieder an den Rock des Großknechtes halten wollte, war dieser nicht mehr da, einige fremde Leute waren um mich, die miteinander sprachen und sich sofort auf den Heimweg machten. Mein Begleiter mußte schon voraus sein; ich eilte ihm nach, lief schnell an mehreren Leuten vorüber, auf daß ich ihn bald einhole. Ich lief, so sehr es meine kleinen Füße [146] konnten, ich kam durch den finsteren Wald und ich kam über Felder, über welche scharfer Wind blies, so daß ich, so warm mir sonst war, von Nase und Ohren fast nichts mehr wahrnahm. Die Leute, die früher noch auf der Straße gegangen waren, verloren sich nach und nach und ich war allein und den Großknecht hatte ich noch immer nicht erreicht. Ich dachte, daß er auch hinter mir sein könne, und beschloß, geradeswegs nach Hause zu eilen. Auf der Straße lagen hier und da schwarze Punkte, Kohlen der Spanfackeln, welche die Leute auf dem Kirchwege abgeschüttelt. Die Gesträuche und Bäumchen, die neben am Wege standen und unheimlich aus dem Nebel emportauchten, beschloß ich gar nicht anzusehen, aber ich sah sie doch an, wendete meine Augen nach allen Seiten, ob nicht irgendwo, in Gespenst auf mich zukomme.

Nun war ich zum Pfad gekommen, der mich von der Straße abwärts durch den Wald und in das jenseitige Tal führen sollte. Ich bog ab und eilte unter den langästigen Bäumen dahin. Die Wipfel rauschten und dann und wann fiel ein Schneeklumpen neben mir nieder. Stellenweise war es auch so finster, daß ich kaum die Stämme sah, wenn ich nicht an dieselben stieß, und daß ich den Pfad verlor. Letzte, es war mir ziemlich gleichgültig, denn der Schnee war sehr seicht, auch war anfangs der Boden hübsch glatt, aber allmählich begann er steil und steiler zu werden und unter dem Schnee war viel Gestrüppe und hohes Heidelkraut. Die Baumstämme standen nicht mehr so regelmäßig, sondern zerstreut, manche schief hängend, manche mit aufgerissenen Wurzeln an anderen lehnend, manche mit wild und wirr aufragenden [147] Ästen auf dem Brden liegend. Das hatte ich nicht gesehen, als wir aufwärts gingen. Ich konnte oft kaum weiter, ich mußte mich durch das Gesträuche und Geäste durchwinden. Oft brach der Schnee ein, die Besen des Heidekrautes reichten mir bis zur Brust heran. Ich sah ein, daß der rechte Weg verloren war, aber wär' ich nur erst im Tale und bei dem Bache, dann ginge ich diesem entlang aufwärts und da müßte ich endlich doch zur Mühle und zu unserer Wiese kommen.

Schneeschollen fielen mir in das Rocksäcklein, Schnee legte sich an die Höschen und Strümpfe, und das Wasser rann mir in die Schuhe hinab. Zuerst war ich durch das Klettern über das Gefälle und das Winden durch das Gesträuche müde geworden, aber nun war auch die Müdigkeit verschwunden; ich achtete nicht den Schnee und ich achtete nicht das Gesträuche, das mir oft rauh über das Gesicht fuhr, sondern ich eilte weiter. Fiel ich zu Boden, so raffte ich mich schnell auf. Auch alle Gespensterfurcht war weg; ich dachte an nichts als an das Tal und an unser Haus. Ich wußte nicht, wie lange ich mich so durch die Wildnis fortwand, aber ich fühlte mich flink, die Angst trieb mich vorwärts.

Plötzlich stand ich vor einem Abgrund. In dem Abgrunde lag grauer Nebel, aus welchem einzelne Baumwipfel emportauchten. Um mich hatte sich der Wald gelichtet, über mir war es heiter und am Himmel stand der Halbmond. Mir gegen über und weiter im Hintergrunde waren fremde, kegelförmige Berge.

Unten in der Tiefe mußte das Tal mit der Mühle sein; mir war, als hörte ich das Tosen des Baches, aber das war das Windrauschen in den jenseitigen Wäldern. [148] Ich ging nach rechts und links und suchte einen Fußsteig, der mich abwärts führe, und ich fand eine Stelle, an welcher ich mich über Gerölle, das vom Schnee befreit dalag, und durch Wacholdergesträuche hinablassen zu können vermeinte. Das gelang mir auch eine Strecke, doch noch zu rechter Zeit hielt ich mich an eine Wurzel, fast wäre ich über eine senkrechte Wand gestürzt. Nun konnte ich nicht mehr vorwärts. Ich ließ mich aus Mattigkeit zu Boden. In der Tiefe lag der Nebel mit den schwarzen Baumwipfeln. Außer dem Rauschen des Windes in den Wäldern hörte ich nichts. Ich wußte nicht, wo ich war. – Wenn jetzt ein Reh käme, ich würde es fragen nach dem Weg, in der Christnacht reden ja Tiere menschliche Sprache!

Ich erhob mich, um wieder aufwärts zu klettern; ich machte das Gerölle locker und kam nicht vorwärts. Mich schmerzten Hände und Füße. Nun stand ich still und rief so laut ich konnte nach dem Großknecht. Meine Stimme fiel von den Wäldern und Wänden langgezogen und undeutlich zurück.

Dann hörte ich wieder nichts, als das Rauschen.

Der Frost schnitt mir in die Glieder.

Nochmals rief ich mit aller Nacht den Namen des Großknechtes. Nichts, als der langgezogene Widerhall. Nun überkam mich eine große Angst. Ich rief schnell hintereinander meine Eltern, me; ne Ahne, alle Knechte und Mägde unseres Hauses. Denn begann ich kläglich zu weinen.

Mein Körper warf einen langen Schatten schräg abwärts über das Gestein. Ich ging an der Wand hin [149] und her, ich betete zum heiligen Christkind, daß es mich erlöse.

Der Mond stand hoch am dunkeln Himmel.

Endlich konnte ich nicht mehr weinen und beten, auch mich kaum mehr bewegen, ich kauerte zitternd an einem Stein und dachte: Nun will ich schlafen, das ist alles nur ein Traum, und wenn ich erwache, bin ich daheim oder im Himmel.

Da hörte ich ein Knistern über mir im Wacholdergesträuche, und bald darauf fühlte ich, wie mich etwas berührte und emporhob. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht, die Stimme war wie eingefroren. Aus Angst hielt ich die Augen fest geschlossen. Auch Hände und Füße waren mir wie gelähmt, ich konnte sie nicht bewegen. Mir kam vor, ale ob sich das ganze Gebirge mit mir wiegte. – –

Als ich zu mir kam und erwachte, war noch Nacht, aber ich hockte an der Tür meines Vaterhauses, und der Kettenhund bellte heftig. Eine Gestalt hatte mich auf den festgetretenen Schnee gleiten lassen, pochte dann mit dem Ellbogen gewaltig an die Tür und eilte davon. Ich hatte diese Gestalt erkannt – es war die Mooswaberl gewesen.

Die Tür ging auf und die Ahne stürzte mit den Worten auf mich zu: »Jesus Christus, da ist er ja!«

Sie trug mich in die warme Stube, aber von dieser schnell wieder zurück in das Vorhaus; dort setzte sie mich auf einen Trog, eilte dann hinaus vor die Tür und machte durchdringliche Pfiffe.

Sie war ganz allein zu Hause. Als der Großknecht von der Kirche zurückgekommen war und mich daheim [150] nicht gefunden hatte, und als auch die anderen Leute kamen und ich bei keinem war, gingen sie alle hinab in den Wald und in das Tal, und jenseits hinauf zur Straße und nach allen Richtungen. Selbst die Mutter war mitgegangen und hatte überall, wo sie ging und stand, meinen Namen gerufen.

Nachdem die Ahne glaubte, daß es mir nicht mehr schädlich sein konnte, trug sie mich wieder in die warme Stube, und als sie mir die Schuhe und Strümpfe auszog, waren diese ganz zusammen- und fest an den Fuß gefroren. Hierauf eilte sie nochmals in das Freie und machte wieder ein paar Pfiffe, und brachte dann in einem Kübel Schnee herein und stellte mich mit bloßen Füßen in diesen Schnee. Als ich in dem Schnee stand, war in den Zehen ein so heftiger Schmerz, daß ich stöhnte, aber die Ahne sagte: »Das ist schon gut, wenn du Schmerz hast, dann sind die Füße nicht erfroren.«

Bald darauf strahlte die Morgenröte durch das Fenster, und nun kamen nach und nach die Leute nach Hause, zuletzt aber der Vater, und zu allerletzt, als schon die rote Sonnenscheibe über der Wechselalpe ausging, und als die Ahne unzähligemal gepfiffen hatte, kam die Mutter. Sie ging an mein Bettlein, in welches ich gebracht worden war und an welchem der Vater saß. Sie war ganz heiser.

Sie sagte, daß ich nun schlafen solle, und verdeckte das Fenster mit einem Tuche, auf daß mir die Sonne nicht in das Gesicht scheine. Aber der Vater meinte, ich solle noch nicht schlafen, er wolle wissen, wie ich mich von dem Knechte entfernt, ohne daß er es merkte, und wo ich herumgelaufen sei. Ich erzählte, [151] wie ich den Pfad verloren hatte, wie ich in die Wildnis kam, und als ich von dem Monde und von den schwarzen Wäldern und von dem Windrauschen und von dem Felsenabgrund erzählte, da sagte der Vater halblaut zu meiner Mutter: »Weib, sagen wir Gott Lob und Dank, daß er da ist, er ist auf der Trollwand gewesen!«

Nach diesen Worten gab mir die Mutter einen Kuß auf die Wange, wie sie nur selten tat, und dann hielt sie ihre Schürze vor das Gesicht und ging davon.

»Ja, du Donnersbub, und wie bist denn heimkommen?« fragte mich der Vater. Darauf meine Antwort, daß ich das nicht wisse, daß ich nach langem Schlafen und Wiegen auf einmal vor der Haustüre gewesen und daß die Mooswaberl neben mir gestanden sei. Der Vater fragte mich noch einmal über diesen Umstand, ich antwortete dasselbe.

Nun sagte der Vater, daß er in die Kirche zum Hochgottesdienst gehe, weil heute der Christtag sei, und daß ich schlafen solle.

Ich mußte darauf viele Stunden geschlafen haben, denn als ich erwachte, war draußen Dämmerung, und in der Stube war es fast finster. Neben meinem Bette saß die Ahne und nickte, von der Küche herein hörte ich das Prasseln des Herdfeuers.

Später, als die Leute beim Abendmahle saßen, war auch die Mooswaberl am Tisch.

Auf dem Kirchhofe, über dem Grabhügel ihres Mannes war sie während des Vormittagsgottesdienstes gekauert, da war nach dem Hochamte mein Vater zu ihr hingetreten und hatte sie mit in unser Haus genommen.

Über die nächtliche Begebenheit brachte man nicht[152] mehr von ihr heraus, als daß sie im Walde das Christkind gesucht habe; dann ging sie einmal zu meinem Bette und sah mich an, und ich fürchtete mich vor ihren Blicken.

In dem hinteren Geschosse unseres Hauses war eine Kammer, in welcher nur altes, unbrauchbares Geräte und viel Spinnengewebe war.

Diese Kammer ließ mein Vater der Mooswaberl zur Wohnung, und stellte ihr einen Ofen und ein Bett und einen Tisch hinein.

Und sie blieb bei uns. Ost strich sie noch in den Wäldern umher und brachte Moos heim, dann ging sie wieder hinaus zur Kirche und saß auf dem Grabhügel ihres Mannes, von dem sie nicht mehr fortzuziehen vermochte in ihre ferne Gegend, in der sie wohl auch einsam und heimatlos gewesen wäre, wie überall. über ihre Verhältnisse war nichts Näheres zu erfahren, wir vermuteten, daß das Weib einst glücklich gewesen sein müsse, und daß der Schmerz über den Verlust des Gatten ihr den Verstand geraubt habe.

Wir gewannen sie alle lieb, weil sie ruhig und mit allem zufrieden lebte und niemandem das geringste Leid zufügte. Nur der Kettenhund wollte sie immer noch nicht sichern, der bellte und zerrte überaus heftig an der Kette, so oft sie über den Anger ging. Aber das war anders von dem Tiere gemeint; als einmal die Kette riß, stürzte der Hund auf die Mooswaberl zu, sprang ihr winselnd an die Brust und leckte ihr die Wangen.

Am Tage, da die Ahne fort war
[153] Am Tage, da die Ahne fort war.

Wenn Jammer ist und es scheint die Sonne drein! Traurigeres weiß ich nicht zu denken.

Die Großen waren alle fort in die Kirche gegangen. Die gute Ahne, die sonst nei uns gewesen, hatten sie fortgetragen. Mir ist davon sonst nichts mehr recht in Erinnerung, als daß wir Kleinen des allzuweiten Weges halber daheim bleiben mußten und so den angstvollen Tag verlebten. Wir hatten uns eingeschlossen ins Haus, schlichen auf den Zehenspitzen umher und fürchteten uns vor Räubern und Mördern. Zu den vergitterten Fenstern blaute der Wald herein und über allem lag das stille Licht der heiligen Pfingstsonne. Da eine ganze Stunde der Einsamkeit vergangen war, ohne daß etwas Unerhörtes geschah, so wurden wir etwas dreister und allmählich kam sogar das Verlangen zur Vormittagsjause, welche uns die Schwester Plonele zu kochen den Auftrag hatte. Da war plötzlich draußen in der Vorlauben ein Gepolter. Wie zum Tode getroffen schraken wir zusammen und krochen zu einem Knäuel ineinander.

»Meine Mutter Gottes steh' mir bei,« betete die Plonele, »ein Schelm (Diek) ist im Haus!«

Wir hörten ein Winseln und Kreischen. Da sprang[154] der Halterbub, der Hansel, auf, ein kecker Junge, armer Leute Sohn, den unser Vater erst vor wenigen Tagen zum Viehhüten ins Haus genommen hatte, er trug schon die Brottasche umgehangen, weil er eben das Vieh auf die Weide treiben wollte. Der sprang auf, erfaßte das spitze Brotmesser und wollte in die Vorlauben. Unsere Schwester hielt ihn zurück, er solle doch um Gottes willen nicht mit dem Messer hinaus, dan koste uns allen das Leben.

»Wenn's ein Rauber ist, so steche ich ihn ab!« knirschte der Hansel, riß sich los und sprang ins Vorhaus.

Da draußen ging's grauenhaft zu, ein paar Spatzen schossen kreischend umher und mitten in der Lauben auf der Erde lag ein zerrissenes Vogelnest. Die Katze war eben daran, mit Vorderpfoten und Schnauze ein Junges aus dem Halmgewebe zu fangen, als der Hansel hinzukam und ihr mit dem Messerstiel einen Schlag versetzte.

Nun waren wir alle dabei. Wir kosten und herzten das hilflose Tierchen; es gibt nichts Armseligeres auf der Welt, als einen Vogel ohne Federn. Den Schnabel tat es auf, da brachte die Plonele schon eine Handvoll Sterz von der Vormittagsjause und der Hansel nahm das Spätzlein geschickt in seine Hand und begann es zu atzen. Es war eine helle Freude. Mittlerweile stand ich schon mit dem alten Vogelbauer daneben, auf daß wir das Ding hineintäten und so auf einmal eine ungeahnte Bereicherung unserer Güter hätten. Aber der Halterbub rief: »Bist ein dummer Bub! Glaubst, es bliebe lebig? Sollst's nur du probieren, wenn du nicht[155] essen und trinken kannst und sie sperren dich von deiner Mutter weg in eine Vogelsteigen! Wird dir nicht taugen. Das Junge gehört zu den Alten.«

Aber das Nest war von der Katze ganz und gar zerstört worden. So lief ich – das Wort des Hansel tief im Herzen – mit dem Vogelbauer wieder davon und kam mit meinem Kopfkissen zurück. Dieses taten wir in eine Mauernische, legten das arme Vöglein drauf; der Schnabel ging stetig auf und zu, und doch wollte es kein Krümchen Sterz mehr schlucken, die kleine Brust wogte arg auf und nieder und das Wesen war schier zu schwach zum Piepsen. So lag es auf dem Kissen, im Grübchen, das ihm du: Plonele mit den Fingern gedrückt hatte. Wir ließen es auf Anordnung des Hansel in Ruhe und hofften, daß nun die Alten kommen und ihr Kleines hegen und pflegen würden.

Aber die Alten flatterten in Angst draußen um die Dachgiebel herum; der tatkräftige Hansel strich mit dem Messer durch Stall und Scheunen. Er suchte die Katze.

Was ich an demselben Vormittag ausgestanden habe! Ich lauerte ruhelos in det Vorlauben herum, strengte meine Zehen an und meinen langen Hals, aber allvergebens, ich war zu klein, um dem jungen Spatzen in sein Bettlein gucken zu können. Ich horchte vergebens, ob ich es nicht etwa piepsen oder atemholen höre. Bruder Jackerl machte den Vorschlag, um den kleinen Vogel zu sehen, so'.le ich ihn, den Jackerl, auf meine Achsel steigen lassen. Er würde mir schon alles sagen, was er sehe. Wir versuchten es, aber das Gerüste war zu schwach, wir kollerten beide auf die Erde.

[156] Endlich um die Mittagszeit war's, als die Schwester mit trauriger Miene berichtete: »Jetzt ist das Vogerl schon hin!«

Es mußte sich im Falle zu arg verletzt haben, oder der Schreck! die Angst! »Jetzt kannst das Vogelhaus bringen,« befahl mir der Hansel. Und im Vogelhause haben wir den kleinen Leichnam aufgebahrt. Er lag auf einem Nestchen aus weißer Wolle, aus einem Stamm Rosmarin und Maßliebchen hatten wir ihm einen Kranz geflochten; ich schlug auch vor, daß man an dieser Bahre ein Öllämpchen anzünde, so wie es bei der Leiche der Ahne gewesen war, aber meine Schwester gab mir einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen und meinte, so was wäre eine Frevelhaftigkeit, der Spatz hätte ja keine Seele gehabt.

Wie schaute ich das Vöglein so traurig an! – Du armes Geschöpf, jetzt hast du gar keine Seele gehabt. Bist unschuldigerweis' von der Katze umgebracht worden und kommst doch nicht in den Himmel. Wenn man dich ins Abendgebet einschließen täte, vielleicht wollt' der lieb' Herrgott mit dir eine Ausnahm' machen.

Am Abende als es dunkel wurde, trugen wir das starre Vöglein hinaus an den Rain, wo die Hagebutten stehen; dort scharrte der Hansel eine Grube und wir legten das Tierchen mitsamt seinem weißen Wollbettlein und seinem Kranze hinein. Und als wir mit unseren kleinen Händen das Gräblein zulegten, flatterte ein Spatz über unseren Häuptern hin und her. Das Herz hätte uns allen mögen brechen, als du: Plonele sagte: »Das ist gewiß vom Vogerl die Mutter!«

Nach dem Begräbnisse schleppte der Hansel noch einen [157] großen Stein herbei und legte ihn auf das Grab, denn die Katze – er hatte sie nicht erwischt.

Der Hansel lebt heute noch. Er hat Haus und Hof und was hineingehört, er ist ein ganzer Mann. Plonele ist sein Weib geworden. Gegenwärtig atzen sie wieder ein Junges, aber mit mehr Glück als dazumal.

Als ich den Himmlischen Altäre gebaut
[158] Als ich den Himmlischen Altäre gebaut.

Wenn wir Kinder die Woche über brav gewesen waren, so durften wir um Sonntag mit den erwachsenen Leuten mitgehen in die Kirche. Wenn wir aber beim lieben Vieh daheim benötigt wurden, oder wenn kein Sonntagsjöppel oder kein guter Schuh vorhanden, so durften wir nicht in die Kirche gehen, auch wenn wir brav gewesen waren. Denn die Schafe und die Rinder bedurften unser wesentlich notwendiger als der liebe Gott, der nachgerade einmal Post schicket: ließ: Leute, seid auf die Tiere gut, das ist mir so lieb wie ein Gottesdienst.

Wir blieben jedoch nur unter der Bedingung zu Hause: »wenn wir einen Altar ausrichten dürfen«. Gewöhnlich wurde uns das erlaubt, und zu hohen Festtagen stellte der Vater das Wachslicht dazu bei. Hatten wir unsere häuslichen Beschäftigungen vollbracht, etwa um neun Uhr vormittags, während in der Kirche das Hochamt war, begann in unserem Waldhause folgendes zu geschehen. Die Haushüterin, war es nun die Mutter oder eine Magd, hub an, am Herde mit Mehl und Schmalz zu schaffen; der Haushüter, war ez nun der Vater oder ein Knecht, holte von der Wand »die Beten« (den Rosenkranz) herab, vom Wandkastel den Wachsstock heraus, aus der Truhe das Gebetbuch her vor; und der kleine Halterbub, war es nun mein Bruder Jackerl oder ich, [159] huben an, die Heiligtümer des Hauses zusammenzuschleppen auf den Tisch. Von der Kirche waren wir weit, keinen Glockenklang hörten wir jahraus und jahrein; also mußten wir uns selber ein Gotteshaus bauen und einen Altar. Das geschah zuhalb aus kindlichem Spielhange und zuhalb aus kindlicher Christgläubigkeit. Und wir – mein Bruder Jackerl oder ich, oder beide zusammen – machten es so: Wir schleppten das alte Leben-Christi-Buch herbei, das Heiligen-Legenden-Buch, die vorfindlichen Gebetbücher, unsere Schulbücher, das Vieharzneibuch und jegliches Papier, das steif gebunden war. Solches gab das Baumaterial. Die Bücher stellten wir auf dem Tische so, daß sie mit dem Längenschnitt auf der Platte standen und ihre Rücken gegen Himmel reckten; wir bildeten daraus ein zusammenhängendes Halbrund, gleichwie der Raum des Presbyteriums. An die Wände dieses Halbrundes lehnten wir hierauf die papierenen buntbemalten Heiligenbildchen, welche in den Büchern zwischen den Blättern aufbewahrt gewesen, zumeist von Verwandten, Patenleuten, Wallfahrten als Angedenken stammten und verschiedene Heilige darstellten. Die Heiligen Florian und Sebastian kamen in der Regel ganz vorne zu stehen, denn der eine war gegen das Feuer, und der andere gegen das Wasser, also gegen die zwei wilden Schrecken, die den Menschen alleweil auf kürzestem Wege den Himmlischen zujagen. An Namenstagen von uns, oder an sonstigen Heiligenfesten erweisen wir aber dem betreffenden Heiligen die Ehre, im Bildchen ganz vorne stehen zu dürfen. Am Osterfeste, am Christtage fand sich bildlich wohl ein Osterlamm mit der Fahne, oder ein holdes Kindlein auf dem Heu. Letzteres wollte [160] einmal am Christfeste mein Bruder nicht anerkennen, weil kein Ochs und kein Esel dabei sei, worauf der alte Knecht sich ganz ruhig zu uns wandte und sprach: »Die müsset halt ihr zwei sein!«

Waren nun die aus Büchern geformten Wände mit solchen Bildlein geschmückt, so kam vom eigentlichen Hausaltare hoch oben in der Wandecke das Kruzifix herab und wurde mitten in das Halbrund gestellt. Das Christikreuz!

Das war der eigentliche Mittelpunkt unseres Heiligtums. Vor dem Kruzifix kam hernach der Wachsstock zu stehen und wir zündeten ihn an. Nicht zu sagen, welche Feierlichkeit, wenn nun das Kreuz und die Heiligenbilder rötlich beleuchtet wurden, denn so ein geweihtes Wachslicht gibt einen ganz anderen Schein, als die klebrige Talgkerze oder der harzige Brennspan, oder gar im Wasserglase das Öllichtlein, »welches bei der Nacht nur so viel scheint, daß man die Finsternis sieht«. Die Sonne, welche draußen leuchtete, wurde abgesperrt, indem wir die Fenster verhüllten mit blauen Sacktüchern, wir wollten den heiligen Schein ganz allein haben in unserem Tempelchen. Wenn nun gar erst Allerseelen war und ein Bildchen mit den armen Seelen im Fegefeuer vor dem Kreuze lag, da gab's eine Stimmung, die zur Andacht zwang. Knieten wir dann um den Tisch herum, so daß unsere Knie auf den Sitzbanken, unsere Ellbögen auf der Platte sich stützten, und beteten laut jene lange Reihe von Vaterunsern und Avemarias mit Ausrufung der »Geheimnisse« aus dem Leben des Herrn, welche der Rosenkranz, oder auch der Psalter genannt wird. Ich wendete während des ganzen Gebetes keinen Blick [161] von den bildlichen Darstellungen. Natürlich sah ich nicht das Papier und nicht die Farben, ich sah die Heiligen leibhaftig, sie waren mir in der Tat anwesend, sie hörten freundlich auf unser Gebet. sie ließen uns hoffen auf ihren Schutz und Beistand in Tagen der Not und Gefahr, sie nahmen gütig die Liebe unserer Herzen an, und also schlossen wir mit ihnen vorweg schon Bekanntschaft für die ewige Gemeinsamkeit im Himmel, der wir ja entgegenstrebten. –

War hernach die And acht zu Ende, so losch der Knecht die Kerze aus und wir hüpften aufs Fletz hinab; bald krochen wir freilich wieder auf den Tisch, um gemächlich den Tempel zu zerstören und seine Teile wieder an Ort und Stelle zu bringen, woher wir sie genommen, denn der Tisch sollte nun Schauplatz anderer Ereignisse werden. In der Küche war aus Mehl und Schmalz eine Pfanne voll Sterz geworden, und diese kam herein, um unsere sonntägige Andacht zu krönen. So war's der Brauch am Sonntag Vormittage von der neunten bis zur zehnten Stunde, während die anderen in der Kirche saßen oder vor derselben sich für das Wirtshaus vorbereiteten. – Solches waret: freilich freundlichere Wandlungen des Tischaltares, als es jene gewesen im Hause des Waldpeter. Hatten die aufsichtslosen Kinder in der Christnacht auf dem Tische aus Büchern und Papierbildchen einen Tempel gebaut, denselben mit einem nach unten halboffenen Buche eingedeckt und eine brennende Kerze in das Heiligtum gestellt. Noch zu rechter Zeit kam der Waldpeter herbei, um die auf dem Tische entstandene Feuersbrunst zu löschen. Darauf soll es keinen Sterz gegeben haben, sondeen Fische.

[162] Noch erinnere ich mich an einen besonderen Tag. Ein gewöhnlicher Wochentag war's im Winter; ich beschäftigte mich in der dunkeln Futterscheune, um mit einem Eisenhaken, dem Heuraffel, Heu aus dem festgetretenen Stoße zu reißen und in die Ställe zu tragen. Da fiel es mir plötzlich ein, ich müsse diese Arbeit bleiben lassen, in die Stube gehen und auf den: Tische einen Altar bauen. Die Mutter war mit meinem jüngsten kranken Schwesterchen beschäftigt, kümmerte sich also nicht um mich und ich stellte aus Büchern und Bildchen den gewohnten Tempel auf, als sollten die Leute nun zusammenkommen wie am Sonntage und beten. Wie ich hernach das hölzerne Kruzifix hineinstellen wollte, tat ich es nicht, sondern ging durch die Stube zu einer Sitzbank hin, über welche ich das Kreuz mit einem Schnürchen an die Wand hing. Und da war es, als ob auch die anderen ähnliche Gedanken hätten mitten im Werktage; der Vater wurde ins Haus gerufen, er holte aus dem Schrank den Wachsstock hervor, zündete ihn an, doch anstatt ihn an meinen Altar zu stellen, ging er damit aus Bettlein, wo das zweijährige Trauderl lag; sie begannen halblaut zu beten und die Mutter netzte mit Essig die Stirn des Schwesterleins. – Plötzlich hielten sie im Gebete ein, da war's still, so grauenhaft still, wie es bisher nie gewesen auf der Welt. Dann hub die Mutter an zu schluchzen, erst leise, hernach heftiger, bis sie, in ein lautes Weinen ausbrechend, sich über das Köpfchen des Kindes niederbeugte und es herzte und küßte. Das Schwesterlein aber tat nichts desgleichen, die hageren Händchen auf der Decke ausgestreckt, im Gesichte kalkweiß, mit halbgeöffnetet Augen lag es da; [163] die flachszarten Locken gingen nach rückwärts und waren noch feucht von dem Essig.

Der Vater trat zu uns übrigen Kindern und sagte leise: »Jetzt hat uns die Trauderl halt schon verlassen.«

»Sie ist ja da!« rief der Bruder Jackerl und streckte seinen Finger aus gegen das Bett.

»Ihre unschuldige Seel hat der liebe Herrgott zu sich genommen, sie ist schon bei den Engelein.«

Wer von uns es nicht wußte, der ahnte nun, unsere kleine Schwester war gestorben.

Wir huben an zu weinen, aber nicht so sehr, weil das Schwesterlein gestorben war, sondern weil die Mutter weinte. In meinem Leben hat mich nichts so sehr aus Herz gestoßen, als wenn ich meine Mutter weinen sah. Das geschah freilich selten, heute vermute ich, daß sie viel öfter geweint hat, als wir es sahen...

Nun kamen die Knecht: und Mägde herein, standen um das Bettlein herum und sagten mit flüsternden Stimmen Liebes und Gutes von dem Kinde. Der Vater kniete zum Tische, wo – siehe da! – der Altar ausgerichtet stand, und begann laut zu beten; er rief das Kreuz und Leiden des Heilandes an, seine heiligen Wunden, seine Todespein und seine Auferstehung. Er sagte den Spruch vom Jüngsten Tage, wie auf des Engels Posaunenschall die Toten aus den Gräbern steigen werden. Ich sah alles vor mir. – Dunkel war's und dämmernd wie im Morgenrote; der Himmel war verhüllt mit Wolken, die einen roten Schein hatten, wie Rauch über dem Feuer. Aus allen Gründen – so weit das Auge reichte-stiegen Menschen aus der Scholle empor. Ich selbst sah mich hervorgehen aus dem Sarge, neben [164] mir die Mutter, den Vater in langen weißen Gewändern, und aus einem Hügel, der mit Rosen bedeckt war, kroch – schier schalkhaft lugend mit hellen Äuglein – das Trauderl und hüpfte zu uns heran....

Während wir beteten, senkte die Nachbarin Katharina das Leichlein in ein Bad, bekleidete es dann mit weißem Hemde und legte es auf ein hartes Bett, auf die Bank zur Bahre. Mit steifer Leinwand ward es zugedeckt; an sein Haupt stellten sie den Wachsstock mit dem Lichte und ein Weihwassergefäß mit dem Tannenzweig. Vom Altare nahmen sie die Heiligenbildchen, um solche als letzte Gabe der kleinen Trauderl an die Brust zu legen. Der Vater hub an, das Kruzifix zu suchen, um es zu Häupten der Bahre hinzustellen, er fand es nicht, bis die Nachbarin Katharina sah, daß es schon an der Wand hing, gerade über dem Leichlein.

Also ist es gewesen, daß eine Stunde vor dem Sterben des Schwesterleins mir Ahnungslosem eine unsichtbare Macht die Weisung gab: gehe in die Stube, denn sie werden bald alle hineingehen; baue den Altar, denn sie werden beten; hänge das Kreuz an die Wand, denn es wird dort ein totes Menschenkind hingelegt werden.

Wir gingen hin und schauten die Trauderl an. Es ist nicht zu beschreiben, wie lieblich sie anzuschauen war, und wie süß sie schlief. Und da dachte ich daran, wie sie noch wenige Tage früher voll schallender Freude, glühend am Wänglein und glühend im Äuglein, mit uns Versteckens gespielt. Sie versteckte sich immer hinter dem Ofen, verriet sich aber allemal selbst, noch bevor wir an sie herankamen, durch ein helles Lachen.

Bald kamen die Nachbarsleute, sie knieten nieder[165] vor der Bahre und beteten still. Im ganzen Hause war eine große Feierlichkeit uno ich – der ich so umherstand und zusah – empfand etwas wie Stolz darüber, daß ich eine Schwester hatte, die gestorben war und solches Aufsehen und solche Weihe brachte.

Nach zwei Tagen am frühen Morgen, da es noch dunkel war, haben sie in einem weißen Trühlein die Trauderl davongetragen. Wir Geschwister konnten sie nicht begleiten, denn wir hatten keine Winterschuhe für den weiten Weg nach dem Pfarrdorfe. Wir blieben daheim. Und als alle laut betend davongezogen waren und das von dem Hause hinwegschwankende Laternlicht noch seinen zuckenden Schein warf durch die Fenster in die Stube herein, stand ich (meine Geschwister schliefen noch ruhsam in ihrer Kammer) eine Weile vor der Bank und schaute auf die Stelle hin, wo das weiße Gestaltlein geruht hatte. Das Weihwassergefäß war noch da, und beim Morgenrot, das matt auf die Wand fiel, sah ich dort das Kreuz hängen mit dem sterbenden Christus, der nun mein einziger Genosse war in der stillen Stube.

Ich nahm ihn von der Wand und begann ihn auszufragen, was die Seele det Trauderl denn wohl mache im himmlischen Reich. – Es ist keine Antwort auf Erden. Ich stellte das Kruzifix wieder auf den Hausaltar, der hoch im Wandwinkel war, und dort stand es in heiliger Ruh', es mochte Kummer sein in der Stube oder Freude, beides war oft und manchmal im raschen Wechsel, wie es schon geht auf dieser Welt.

Nach Jahren, als eines Tages meine ältere Schwester mit niedergeschlagenen Augen in der Stube umging, angetan mit rosenfarbigem Kleide und dem grünen Rosmarinstamm [166] im braunen Haar, und ein schöner junger Mensch unfern von ihr stand, sie heimlich anblickend in Glückseligkeit, hob ich meinen lieben Christus wieder einmal auf den Tisch herab, ob er vielleicht zusehen wolle, was da war und werden sollte.

Da traten die zwei jungen Leute vor den Tisch hin, nahmen sich an der rechten Hand und sagten ganz leise – aber wir hörten es doch alle – »wir wollen treu zusammen leben, bis der Tod uns scheidet.«

Auf meinem Lebenswege bin ich schon an vielen Altären vorübergewandelt. An Altären der Liebe und des Hasses, an Altären des Mammons und des Ruhmes – ich habe jedem geopfert. Aber mein Herz, mein ganzes Herz habe ich nur an jenem einen Altar niedergelegt, der einst in der armen Stube des Waldhauses gestanden. Und wenn ich weltmüde dereinstmalen die Himmelstür suche, wo kann sie zu finden sein, als in dem dämmernden Wandwinkel über dem Tische, wo das kleine hölzerne Kruzifix gestanden Kreuze habe ich gesehen aus Gold und an Ehren reich, Kreuze aus Elfenbein, geschmückt mit Diamanten, Kreuze, an welchen Weihe und Ablaß hing – bei keinem habe ich je Gnade gefunden. Das arme Kreuz in meinem Vaterhause wird mich erlösen.

Dem Anderl sein Tabakgeld
[167] Dem Anderl sein Tabakgeld.

Der Einleger Anderl hatte auf dieser Welt schon mit allem abgewirtschaftet. Er hatte einmal einen großen Bauernhof gehabt, der war verprozessiert worden. Dann hatte er noch eine silberne Uhr gehabt, die war verspielt worden. Hernach hette er sich auf das Bauerndienen verlegt, dabei war er alt geworden. Alt, mühselig und arm. All das Bedürfnis und Glück des einst so herrischen, anspruchsvollen Mannes hatte jetzt in einer Tabakspfeife Platz – so gut hatte ihn das Leben erzogen. Schwerhörig und halbblind, den Krampf in den Händen und die Gicht in den Füßen! Wenn's nur in der Pfeife gloste und er am Rohre sog, so machte er keinen Einwand und war in säuerlich-süßer Laune.

In die Kirche gehen wollte er manchmal, denn der Anderl stellte sich vor, er habe sein Lebtag hübsch christlich gelebt, und so mochte er den guten Brauch in den alten Tagen nicht gerne abkommen lassen. Aber die Gicht, das war ein höllisch gottloser Kamerad, die hinderte ihn an dem Besuche des Amtes und der Predigt, und so wimmerte der Alte manchmal in einer frommen Sehnsucht: Wenn ich nur wenigstens ins Dorf zum Tabakkrämer kannt kommen! Auch das war ihm versagt, und so wendete er sich eines Tages zu mir, der ich ein Knabe war in demselben Hause.

[168] »Heut' ist der heilige Christtag schon wieder,« sagte er. »Gehst du in die Kirchen, Peter, so sei halt barmherzig und trag' mir mein Vermögen mit. Kauf' damit beim Kramer drei Packeln Tabak – ordinären – kriegst acht ganze Kreuzer heraus und bring' mir alles sein und fleißig heim. Nachher bist dafür brav eine ganze Wochen lang.« Damit gab er mir einen Silberzwanziger, den er am heiligen Abend vom Armenvater als seinen Teil des eingegangenen Armengeldes erhalten hatte.

Ich war nämlich gerne bereit, mein Bravsein auf eine ganze Woche lang zu versichern, übernahm den Auftrag und ging in die Kirche, wo ich hübsch noch zum Rosenkranz zurecht kam. Ich war schon zur selben Zeit manchmal sehr andächtig, und schon zur selben Zeit manchmal gegen die unrechte Seite hin.

Als das Hochamt kam, auf dem Chore die Pauken und Trompeten schallten, am kerzenumstrahlten Altare der Pfarrer stand und die Messe las, huben die Leute plötzlich an, in ihren Stühlen aufzustehen, und begannen (nicht bloß die Weiber, auch die Männer) im Gänsemarsch durch die Kirche zu wandeln, um nen Hochaltar herum, und dann wieder zurück in die Stühle. Der Opfergang. An hohen Festtagen pflegten nämlich die Leute während des Amtes einen solchen Rundgang zu machen, um an dem Altare im Angesichte des Pfarrers auf einen dafür bereitstehenden Zinnteller kleine Geldgaben für die Kirche hinzulegen. Ich hatte mich an solchem Opfergange jedesmal beteiligt, um entweder im Auftrage meines Vaters, oder aus eigenem Antriebe einen oder ein paar Kreuzer auf den Teller zu legen. Machte dabei auch allemal eine gute Meinung, sei das Opfer nun zur Erlangung [169] eines fruchtbaren Jahres, oder zur Genesung eines Kranken, oder um Segen für ein anderes, irgend etwas wollte ich für meinen Kreuzer haben; hatte doch der Pfarrer einmal gepredigt: »Es wird alles vergolten. Geschenkt braucht der Herr des Himmels und der Erde nichts von euch.«

Natürlich erhob an diesem Christtage auch ich mich und schloß mich der Reihe an, in welcher jeder und jede unterwegs zum Altar in den Sack griff und aus dem Geldtäschlein die Münze hervornestelte. Auch ich suchte nach meiner Gabe, und nun stellte es sich schreckbar klar heraus, daß nicht ein einziger Kreuzer in der Tasche war. Der Silberzwanziger des Einlegers Anderl war das ganze Um und Auf, sonst nicht ein Pfennig und nicht ein Knopf! – Wieder umkehren zu meinem Stuhl? Sie hätten mich heidenmäßig ausgelacht. Ruhig in der Reihe bleiben und ruhig am Zinnteller vorbeitrotten, als ob er mich nichts anginge? Der Pfarrer stand aber daneben und konnte jedem auf die Finger sehen. Meine Finger unter dem Rock wollten sich bereits an einem Hosenknopfe vergreifen, aber diese Knöpfe waren nicht mehr von Messing, wie einst in der guten, alten Zeit, sondern von schwarzem Hornbein, also für den Teller vollkommen unmöglich. Vor Gott hätte ich mich nicht gefürchtet, einer, der den Willen fürs Werk nimmt, hätte auch einen Hosenknopf für den Groschen genommen – aber der Pfarrer! – In solcher Bedrängnis flüsterte ich dem Nachbar Veitelbrunner zu, der just vor mir ging, ob er mir nicht um Gottes willen einen Kreuzer borgen wollte? – »Ah, du wärest schlau!« flüsterte der Veitelbrunner zurück, »ausgeliehenes Geld opfern! Damit wäre [170] es freilich keine Kunst, sich den Himmel zu kaufen.« Und schaute seitab. – Also kein anderes Mittel mehr, als sich vergreifen an fremdem Gut! Ehe ich mich der Gefahr aussetze, daß der Pfarrer auf mich deutend laut rufen könnte: »Was läufst denn da mit, wenn du nichts gibst!« und die Leute alle ihre Hülfe reckten, um den zu sehen, der mitläuft und nichts gilt – ehevor opfere ich das Tabaksgeld des alten Anderl. Länger zu überlegen war überhaupt nicht mehr Zeit; so himmlisch langsam die Reihe sich auch voranbewegt hatte, endlich war ich doch am Zinnteller. Den Silberzwanziger erkrabbelte ich rasch im Sack und legte ihn drauf. Nachher ging's wieder zurück zu meiner Bank. – Jetzt wartete ich auf ein Wunder. Der Herr hat's gesehen, wohin der Zwanziger gelegt worden ist, er weiß auch, daß der alte Anderl keine Freud' hat auf der Welt, als das bisserl Rauchen, und endlich kann sich's jeder denken, was mir bevorsteht, wenn ich ohne Tabak und ohne Geld heimkomme. Das Wunder braucht ja nicht so groß zu sein, wie etwa die Speisung von fünftausend Mann in der Wüste – nur ein ganz kleines Wunderlein, in der Größe eines Silberzwanzigers! – Nein, nichts. Der Sack war leer und blieb's.

Gut, denke ich, wie das Amt aus ist und wir vor der Kirche so ein Weilchen umherstehen, ohne zu wissen warum: wenn Gott kein Wunder wirken will, so muß der Mensch eins versuchen. Zum Krämer ging ich hinein, hauchte mehrmals recht stark auf die Fingerspitzen, weil sie froren, und als man fragte, was ich wünsche, antwortete ich: »Drei Packeln Tabak – ordinären!« und als ich sie hatte: »Dank' schim, bezahlen werde ich [171] sie am nächsten Sonntag« – und zur Türe hinaus. Der Krämer mochte mir wohl ein wenig verblüfft nachgeschaut haben, weiter war aber nichts, und das Wunder war geschehen: Einem jungen Lecker hatte der Mann drei Packeln Tabak geborgt.

Gut. Als ich nach Hause kam, ward ich schon mit Spannung erwartet vom alten Anderl. »Zu Weihnachten sind ja die Rauchnächte,« keitelte er, »wenn der Mensch nichts zu rauchen hätt', das wär' so was!«

Mit einer ganz niederträchtigen Ruhe gab ich den Tabak ab – das erste Packel – das zweite – und das dritte. Der Alte hielt aber immer noch eine hohle Hand her.

»Drei hast gesagt soll ich bringen, da sind sie.«

»Drei, wohl, wohl, drei,« sagte er, »geht schon aus, drei Packeln. Und was du herauskriegt hast?«

– Jesses, die acht Kreuzer! – Wien ach einem Donnerschlag, so war mir die Zunge gelähmt. Natürlich, wenn man nicht weiß, was zu sagen ist! Eingefallen wär's mir im Augenblick: Teuerer ist er worden, der Tabak! Oder: Einen ordinären haben sie nicht gehabt, da hab' ich einen besseren genommen! Aber – fiel mir noch rechtzeitig bei – mit einer Lüge machst du dein Christopfer nicht wett; die Wahrheit kannst zwar auch nicht sagen, wenn du nicht als ein unerhört dummer Junge dastehen willst. Da laß es lieber auf ein zweites Wunder ankommen.

»Anderl!« sagte ich sehr laut, »die acht Kreuzermöchtest mir wohl schenken zum Botenlohn.«

»Ich werde dir schon einmal was schenken,« antwortete [172] der Alte, »meine Gicht, wenn du magst. Aber die acht Kreuzer brauch' ich selber. Gib sie nur her.«

»Anderl, ich hab' sie nicht, mein Sack hat ein Loch.«

»Ah so, verzettelt hast sie,« sagte der Alte, »na, nachher kannst mir sie freilich nicht geben.« Er klopfte sich die Pfeife aus, und abgetan par's.

Ein Loch hatte mein Sack wohl, sonst könnte man nichts aus- und eintun, aber redlich war's nicht von mir und mein festes Vornehmen war, dem Einleger seine Sach' zu vergüten, sobald als möglich.

Sobald als möglich! Woher denn nehmen? Wie ein Stabsoffizier, so stak ich jetzt mitten in Schulden und der Silberzwanziger lag im Kirchenschatz und rührte sich nicht.

Nach Neujahr hub wieder die Schule an, die ich auf ein paar Wochen besuchen durfte. Allein ich ging nicht auf geradem Wege zu ihr, sondern auf weiten Umschlichen durch die Wildgärten. Der gerade Weg führte nämlich am Krämer vorbei. Dieser stand wohl einmal vor dem Schulhause, als ich eintrat, schaute mich auch so ein wenig krumm an, sagte aber nichts, und ich trachtete, daß ich ihm aus den Augen kam.

Da war es eines Tages nach der Schule, daß mir der Lehrer auftrug, ich sollte in den Pfarrhof gehen, der Hochwürdige hätte etwas mit mir zu sprechen.

– Jetzt! dachte ich, jetzt geschieht das Wunder! – Er gibt das Geld zurück.

Doch der Pfarrer, als ich vor ihm stand, machte nicht jenes Gesicht, wie man es hat, wenn man Geld zurückgeben will. Sehr strenge blickte er mich an, daß ich gleich wie ein armer Sünder meine Augen zu Boden schlug.

[173] »Peter,« sagte er endlich mit einem Gemisch von Ernst und Güte, denn er war mir sonst nicht schlecht gewogen. »Peter, mache jetzt keine Geschichten. Gib die Pfeife her!«

»Die Pfeife?« fragte ich ganz treuherzig.

»Gib sie nur her und leugne nicht! Du rauchst!«

»Nein, Herr Pfarrer!«

»Ich habe einstweilen deinem Vater nichts gesagt. Wenn du das Zeug willig hergibst und mir versprichst, das Laster sein zu lassen, so braucht's das Schlagen nicht.«

»Ich tu' aber nicht rauchen!« rief ich laut.

Da hob er den Finger und sagte: »Aufs erste ein zweites Laster! Mich, deinen alten Katecheten, belügen? – Du bist verraten.«

»Wer hat's gesagt?« begehrte ich auf.

»Ber Krämer selber, bei dem du den Tabak holst und schuldig bleibst.«

Hellauf gelacht habe ich jetzt, und nachher sachte angefangen zu weinen.

»Also, siehst du? Siehst du's jetzt ein?« fragte er fast freundlich.

Nun mußte freilich alles heraus. »Den Tabak beim Krämer habe ich nicht für mich gekauft, sondern für den Einleger Anderl, der hat mir wohl einen Silberzwanziger mitgegeben.«

»Und was hast du damit gemacht?«

Ich wollte etwas erwidern, stotterte aber nur.

»Heraus mit der Farbe!« rief der Pfarrer. »Was hast du mit dem Silberzwanziger gemacht?«

[174] »Am Christtag – auf – auf den Zinnteller geworfen.«

»Auf den Opferteller? Du? Du wärst es gewesen, der den Silberzwanziger hingelegt hat? Und Geld, das nicht dein Eigen war! Was fiel dir denn ein?«

»Weil ich keinen Kreuzer hab' im Sack gehabt. Und soviel geschämt...«

»Flenne nicht, Peter,« sagte nun ruhig der Pfarrer. »Wenn es so ist, ändert sich die Geschichte.«

»Hab' den Tabak müssen schuldig bleiben und bin auch dem Anderl noch schuldig davon,« schluchzte ich, wahrscheinlich mit dem Ärmling über die Augen fahrend, weil so ein Junge selten ein anderes Taschentuch hat.

»Narrl, Narrl!« lachte der Pfarrer. »Dem lieben Herrgott hast du das Geld gegeben. Und er hat dich sitzen lassen.«

»Ja!« deutete ich mit dem Kopf.

»Das scheint nur so, mein Junge,« sagte er und strich mit der Hand mir das Haar aus der Stirn, »der liebe Herrgott läßt keinen sitzen. Besser verzinst keiner als der! Peter, mich hat's nach der Durchsicht der Opfergaben ohnehin gewundert, daß in meiner Gemeinde einer ist, der um einen ganzen Silberzwanziger Vertrauen zum lieben Gott hat. Konnte mir's aber nicht denken, wer.- Jetzt haben wir ihn. – Und da haben wir noch einen!«

Der Pfarrer machte seine Geldtasche auf, nahm mit zwei Fingern zierlich einen Silberzwanziger hervor: »Es ist zwar nicht der nämliche. Dem Herrn wollen wir das Seine lassen, es wächst sich bei ihm auf höhere Zinsen [175] aus, wenn du brav bleibst. Den da, den nimmst von mir und bezahlst deine Schulden. Und wir zwei, die wir heute nähere Bekanntschaft miteinander gemacht haben, wollen gute Freunde bleiben. So, jetzt kannst zum Krämer gehen.«

Der Krämer fand es ganz selbstverständlich, daß ich meine Schuld beglich, nicht so aber der alte Anderl.

»Du willst mir da die acht Kreuzer erstatten!« rief er barsch aus, als ich ihm die Münzen vorhielt. »Lump, kleiner, du wirst es weit bringen, wenn du allemal deine Schulden bezahlen willst! Ja, ja, ich nehm's schon. So was kann ich brauchen. Aber für ein andermal sei gescheiter!«

Schulden habe ich später noch oft gehabt, aber »gescheiter«, wie es der alte Anderl gemeint, bin ich nicht gewesen. Er selber war mir ein zu schlimmes Beispiel von dem Erfolg seiner Grundsätze. Daß ihm nichts war geblieben, als ein bißchen Tabak – und ordinärer!

Die Zerstörung von Paris und andere Missetaten
[176] Die Zerstörung von Paris und andere Missetaten.

Ich habe als Kind mir meine Welt, die von Naturhöllisch klein war, auseinandergedehnt wie mein Vetter Simmerl den Katzenbalg, aus dem er sich einen Tabaksbeutel machen wollte. Und es ist, bigott, ein Sack draus worden, in welchem all die unglaublichen Phantastereien einer ungezogenen Bauernbubenseele vollauf Platz gehabt haben.

Wie ich mir später die Bücher, die ich nicht kaufen konnte, selber machte, so habe ich mir auch die größten Städte der Welt, die ich nicht aufsuchen konnte, selber gebaut.

Die jahrelange Kränklichkeit meines Vaters verschaffte mir das Baumaterial. Die Hustenpulver vom Doktor, der spanische Brusttee vom Kaufmann, die Medizinflaschen vom Bader waren stets in gutes, oft sogar schneeweißes Papier eingeschlagen; aus diesem Papier schnitzte ich mit der Nähscheere meiner Mutter, oder, wenn ich diese schon zerbrochen oder verloren hatte, mit jener der Magd, allerlei Häuser, Kirchen, Paläste, Türme, Brücken, bog sie geschickt zur passenden Form und stellte sie in Reihen und Gruppen auf den Tisch. Das gesuchteste Material hierfür waren wohl die alten Steuerbücheln mit ihren steifen Blättern und kam es freilich [177] vor, daß über der ganzen Hauptfronte eines Herrenpalastes das »Datum der Schuldigkeit« stand oder ein Kirchturm anstatt Fenster und Uhren nichts als lauter Posten der »Abstattung« hatte. Als es aber ruchbar worden war, daß ich mein: Prachtbauten mit den blutigen Steuersummen der Bauern aufführe, da gab's eine kleine Revolution, indem mein Vater einmal mit der flachen Hand mir einige öffentliche Gebäude unter den Tisch hinabwischte.

Eines Tages ging ich einer Hirtenangelegenheit wegen ins Ebenholz hinaus. Ich hatte die Magd ersucht, ob sie mir nicht ihre heilige Monika mit in den Wald leihen möchte.

»Du lieber Närrisch!« hatte die Magd geantwortet, »wenn sie nur ganz wär', aber es ist mir die Maus dazugekommen. Was übrigblieben ist, das magst haben.«

So nahm ich das Büchlein von der heiligen Monika mit in das Ebenholz. Aber als ich in demselben zu lesen begonnen hatte, hub im Sacke die Nähscheere meiner Mutter zu sticheln an: ob ich die Geschichte von dieser Heiligen denn nicht schon längst auswendig wisse? Ob die Maus nicht etwa schon das Beste weggenagt hätte? Ob ich mir für diese grauen und angefressenen Blätter eine bravere Verwendung denken könne, als daraus die schöne Weltstadt Paris zu bauen? – Ich wollte der alten Nähscheere meiner Mutter nicht widersprechen.

Nun stand zur selben Zeit im Ebenholz noch die alte Schlagerhütte, die einst ein Bauernhäuschen gewesen und zwischen dem jungen Fichtenanwuchs verlassen und öde hocken geblieben war. Die Fenster waren ohne Gläser, die Tür war aus den Angeln gehoben und auf [178] der Schwelle wucherten Brennesseln. Die Luft in der Hütte roch ganz moderig und jedes Geräusch widerhallte grell an den Wänden, als wollte das alte Zimmerholz mit dem Eintretenden alsogleich ein Gespräch führen. Mir war dieser Bau unheimlich gewesen bis zu jenem Tage, da mich und unseren Knecht Markus im Wald ein scharfer Wetterregen überraschte und wir uns in die Hütte flüchteten.

Seither war mir die Hütte heimlich. Und nun ging ich ihr zu, setzte mich an den großen, wurmstichigen Tisch und schnitzte aus den Blättern det »heiligen Monika« die große Weltstadt Paris. Ich stellte die geschnitzten und zurechtgebogenen Häuser in langen Gassenreihen auf, und die Gassen und Plätze bevölkerte ich mit blauen Heidelbeeren und roten Preiselbeeren – erstere waren die Männer, letztere die Frauen. Um das Königsschloß postierte ich Reihen von Stachelbeeren, das waren die Soldaten.

Als der Tisch voll geworden war und ich trunkenen Blickes hinschaute auf die vieltürmige Stadt und ihre belebten Gassen, die ich gegründet und wie ein Schutzgeist beschirmte, dachte ich: Die Männlein und Weiblein tun zuviel miteinander um. So soll über diese Stadt einmal eine Straf' Gottes kommen. Ein Sturmwind? – Ich blies drein – hei, purzelten ganze Häuserfronten über und über. Sie wurden wieder erbaut. Da endlich aber der Abend kam und meines Bleibens in der Hütte nicht mehr länger sein konnte, sann ich nach, wie ich die Stadt Paris am großartigsten zugrunde gehen lassen könnte. – Eine Feuersbrunst? – Es waren gerade die Streichhölzer aufgekommen und ich trug ein Päckchen im Säckel.

[179] Das Feuer entstand mitten in der Stadt und nach wenigen Sekunden standen ganze Viertel in Flammen. Die Bevölkerung war starr vor Schreck, das Feuer wogte hin und die Mauern zitterten und die kahlen Ruinen ringelten sich. Da der Königspalast verschont bleiben zu wollen schien, so blies ich die Flamme gegen denselben hin – wehe, da flogen die brennenden Häuser über den Tisch und auf den Fußboden, wo in der Ecke noch ein Bund Bettstroh lag. Jetzt wurde der Spaß Ernst. Das Papier hatte so still gebrannt, das Stroh knisterte schon vernehmlicher und ein greller Schein erhellte die Hütte.

Ich wollte eben davonstürzen, als unser Knecht Markus zur Tür hereinsprang und mit einem buschigen Baumwipfel das Feuer totschlug.

Knecht Markus war verschwiegen, war ein Ehrenmann, aber das sagte er mir, wenn ich mich mit Sengen und Brennen auf den Etzel hinausspielen wolle, so täte er es dem Kaiser schreiben, daß er mich rechtzeitig köpfen lasse.

Von diesem Tage an habe ich keine Stadt mehr gegründet und keine mehr zerstört. Ich ging von der Baukunst zur Musik und Malerei über.

Ich hatte bei herumziehenden Musikanten, die vor unserer Haustür uns das Leben schön machten, allerlei Saiteninstrumente kennen gelernt. Ich hatte einen alten Harfenisten nach Beendigung seines Ständchens sogar einmal angesprochen, ob er es für einen Sechser erlauben könne, daß ich mit ihm zum nächsten Nachbar gehe, um sein Spiel dort noch einmal zu hören; worauf der Künstler antwortete, für einen Sechser bleibe er an unserer Tür stehen und spiele, solange ich wolle. Damals [180] ist mir der ganze Wert unserer legierten Silbersechser zum Bewußtsein gekommen. Nun hatten wir aber an jenem Tage in unserer Stube einen alten, brummigen Schuster und der hatte gerade seinen Kopfwehtag. Als ich denn vor dem spielenden Musiker die Hände in den Hosentaschen dastand, die Zehen in den Sand bohrte, gleichsam, als wollte ich mich einwurzeln, sprang plötzlich der Schuster mit grüngelbem Gesichte zur Tür heraus und ließ einen tollen Fluch fahren über das verteufelte Geklimper.

Mitten in der Herrlichkeit brach der Harfner das Spiel ab. Für einen solchen Baß sei sein Instrument zu sein, meinte er, rückte die Harfe auf den Buckel und ging davon. Seit jenem Tage schreibt sich mein Haß gegen die Schuster, die ihren Kopfwehtag haben.

Die Harfe ging mir nicht aus dem Kopfe. In unserem Rübenkeller stand ein altes säuerludes Fäßchen, das mein Vater beim Stockerwirt allemal für die drei Faschingstage mit Apfelmost füllen ließ. Nun war es längst leer und diese Leere kam mir zustatten. Ich stülpte das Fäßchen auf, zog über den Boden Zwirnsfäden wie Saiten, so daß diese je nach ihrer Länge einen verschiedenen Ton gaben, wenn ich sie mit dem Finger berührte. Da hatte ich ein Saiteninstrument mit dem respektabelsten Resonanzboden. Doch erinnere ich mich nicht mehr, inwiefern ich damit meinen musikalischen Hang ausgebildet habe – ich weiß nur, daß zum nächsten Fasching, als ich unseren tanzlustigen Mägden auf meiner »Harfe« was aufspielen wollte, wieder frischer Most in dem Fäßchen war.

In denselben Jahren hatte ich mit einem jungen [181] Studenten Bekanntschaft gemacht, mit dem Söhnlein eines Nachbars, welches in Graz auf Geistlich studierte, auf die Vakanzen stets nach Hause kam und Reichtümer mitbrachte. Ich erwarb mir des Studenten Gunst, indem ich ihn öfters auf unseren Schwarzkirschbaum lud, wo es zu schnabulieren gab. Der Student riß zwar ein um das andere Ästlein ab, um zur süßen Frucht zu gelangen, aber mein Vater, der sonst solcherlei Verstümmelungen scharf ahndete, war der Meinung, einem angehenden Priester dürfe man nichts verwehren, er würde dereinst den Kirschbaum schon in sein Meßopfer einschließen, daß er gedeihe und immerwährend fruchtbar sei. Der Student war für solche Rücksichten erkenntlich und stellte mir all seine Bücher, Landkarten, Schreib- und Zeichensachen zur Verfügung. Als sich der angehende Theologe mit den Büchern auf sein Hirtenamt vorbereiten sollte, übte ich mit ihnen das meine bereits aus. Doch ließ ich meine Kühe und Ochsen Rinder sein, lag im grünen Grase und las. – O ihr armen Bücherwürmer in den staubigen Bibliotheken, ihr habt gar keine Ahnung davon, was im Waldschatten ein Buch ist.- Viele Bücher würden leicht auch den im Walde Liegenden beunruhigen, verwirren und entmarken; aber ein Buch genießt man dort ganz aus und gedeiht dabei. Ich denke hier an das Lesebuch für die Gymnasialklassen, reich an Gedichten und Aufsätzen von deutschen Dichtern. Ich konnte es nicht einmal ganz verstehen, aber es wirkte tiefer auf mich, als alle spätere Leserei zusammen. – Als die Kirschen alle waren und die Blätter des Baumes gelb wurden, packte der Student seine Bücher zusammen und ging wieder in die »Studie«.

[182] Einmal ließ er mir ein Kästchen mit Wasserfarben zurück. Jetzt schnitt ich mir eine kleine Haarlocke vom Haupte, band sie an ein Stäblein und mit solchem Pinsel begann ich zu malen. Eine große Anzahl der Heiligenbildchen, die heute noch in verschiedenen Gebetbüchern der Gegend zu finden, ist mit meinem Haar gemalt worden. Die Leute haben sich hell verwundert, wenn sie mir zugeschaut und gesehen, wie men mir nichts dir nichts die Muttergottesen macht. Einmal kam der alte Schneiderjackel, Küster von Krieglach, in unser Haus, um den Pfarrerzehent abzuholen; der sah mich malen. »Na,« sagte er fortwährend, »aber da gehört was dazu! Jetzt malt so ein kleiner Schlingel da himmlische Leut'! Und daß es eine Form hat! Ein hellrotes G'wandl, ein schön's! Ein Gesicht – wie er aber das Gesichtel macht! Die ganze Fleischfarb' – und 's Göscherl! Und die Augen, die blauen, wie sie auslugen! – Spitzbub, du! Freilich, den Heiligenglanz auch, na, der darf nicht fehlen. Wär' nit ganz, wenn der fehlen tät'!-Schon eine Menge so Bildln hast da! – Bist aber ein Kreuzköpfel – du mußt schon ein Maler werden! Alles von dir selber hast gelernt? Ist viel! Ist viel das! Schau, das tät's nit, die Bildln muß ich alle mitehmen, 's tät's nit anders, die müssen ihre heilige Weih' kriegen. Dank' dir Gott, Schwarzkünstler, kleiner!«

Vor meinen Augen tat er die Bildchen – es waren deren allerlei und eine große Anzahl – zusammen, schob sie in seinen Sack und ging davon. Mir blieb der Verstand stehen. Aber mir schwoll der Kamm, als ich bald darauf hörte, der Küster hätte bei seiner Wallfahrt mit der Krieglacher Kreuzschar nach Mariazell meine Heiligenbilder [183] am Gnadenaltare weilen lassen und sie hernach an die Wallfahrer verteilt. – Unter anderen ist später auch der alte Riegelberger in den Besitz eines solchen Heiligtums gekommen. Er soll es allemal, so oft er sein Gebetbuch aufschlug, geküßt haben: als er es aber erfuhr, von wem das Bildchen herrühre, ist er schnurgerade in unser Haus gegangen und hat mich zur Rede gestellt, warum ich mit heiligen Dingen Frevel treibe? Ob ich's vielleicht leugnen wolle? geweihte Sachen hätte ich gemalt!

»Ja,« sagte ich, »wenn Ihr das Kalb auf den Kopf stellt, wird es freilich den Schweif in die Höhe recken.«

»Willst mich fean (höhnen), Bub?«

»Die Bilder sind zuerst gemalt und nachher geweiht worden.«

Es hielt schwer, ihm die Sache begreiflich zu machen und er rief immer wieder aus, zerfetzen möchte er das schlechte Zeug, wenn's ihm um die heilige Weih' nicht leid täte.

Ein andermal hatte ich mit demselben Manne eine viel gefährlichere Begegnung. Es waren zur Zeit noch die kleinen Papierzehner im Land. Ein solches Notlein habe ich wundershalber einmal nachgemacht. Dem Knecht Markus kam es zu Augen, der schmunzelte das Streifchen an und ersuchte mich, daß ich es ihm ein wenig leihe. Einen Tag später begegnete ich auf dem Feldwege dem Riegelberger. Er grinste mich schon von weitem an und lächelte mir dann freundlich zu: »Büberl, du wirst aufgehenkt.«

»Ihr meint, weil ich die heilige Magdalena gemalt hab'?«

»O, die laßt keinen henken. Aber die falschen Banknoten! [184] Ja, lieber Freund! Einen hab' ich von dir in der Brieftaschen und geh' gerade, mir jetzt dafür Tabak kaufen.«

Ich denke, daß ich über diese Mitteilung sehr erschrocken bin, aber in demselben Augenblick ist mir ein Gedanke durch den Kopf geflogen, den ich einfing, weil er mir nicht schlecht vorkam.

»Erschrocken bin ich nur, weil Ihr den schrecklichen Frevel begehen wollt.«

»Möcht' wissen, wieso ich – ?«

»Das Papierzehnerl, das Ihr von mir in der Brieftasche habt, ist unter meine Heiligenbilder gekommen. Ist in Zell geweiht worden!«

»Geh', geh', das Geld nimmt keine Weih' an,« versetzte der Riegelberger.

»Das Geld freilich nicht, das weiß ich, aber mein Zehner ist keins. Und Ihr wollt Euch für geweihte Sach' Tabak kaufen? Ist schon recht, probiert es nur! Werdet schon sehen, wie Euch ein solcher Tabak in die Nase beißen wird!«

»Du, Bub!« rief er, »wenn su alleweil nur Leut' foppen willst!«

Er zog die Brieftasche hervor, das Papierstreifchen heraus, auch den Tabaksbeutel, und sagte: »Auf ein Pfeiferl hab' ich noch in der Blader. Was gibst mir zu Lohn, wenn ich mir das Pfeiferl mit deinem neuen Zehner anzünde? Dir zu Gnaden tu' ich 's, und jetzt geh' und arbeit' was, bist schon groß genug dazu. Ich, wenn ich dein Vater wär', wollt' dir deine Fabeleien und Schmierereien schon vertreiben.! Arbeiten, daß die Schwarten krachen, ist gescheiter!«

[185] 's ist doch der beste Rat gewesen, den er mir hätte geben können. Er ist auch gar bald befolgt worden.

Aber in den Feierabendstunden habe ich meine kindischen Spiele und künstlerischen Beschäftigungen getrieben, weit über die Kindesjahre hinaus. Und wenn ich meine heutigen Taten betrachte – 's ist alles nur Versuch und Spiel. Es war ein kleines Kind, es ist ein großes Kind – ich bin damit zufrieden.

Der Ehrentag des Federlschneiders
[186] Der Ehrentag des Federlschneiders.

Am Frauentage im Advent, noch in dunkler Morgenstunde gingen sie in die Kirche zum Engelamt, der Toni, der Seppel, der Festl, der Hansel, die Jula, die alte Kundel und der Schneider. Der Federlschneider genannt, weil er immer wie auf Federn ging und hüpfte, weil er federleicht in den Lüften schwebte und eigentlich nie zur Erde fiel, auch wenn er im Rangeln und Ringen hingeschleudert wurde. Gleich einem losgelösten Federlein schwamm er in allen vier Winden dahin und hängen blieb er nur am Faden seiner Werkstatt und manchmal an den Haarflechten eines rundwangigen Dirndls. Also dieser Federlschneider war auch dabei.

Als sie auf dem eisigen Steg über die Fresen gingen, tat die alte Kundel einen Schrei und pletsch, lag sie auch schon im Wasser. Sofort wollten die Burschen heldenmütig in den Bach springen, um das arme Weiblein zu retten, aber der Toni sagte, das Wasser sei zu kalt, man könne sich leicht eine schwere Krankheit holen. Der Seppel meinte, der Fluß sei zu tief, man sinke gewißlich unter. Der Festl meinte, wenn weiter hin das Eis nicht wäre, aus welchem der etwa unterhalb hineingeratene Christenmensch nicht hervorkönne, so würde er es sehr gerne wagen, die Ertrinkende zu retten. Und der Hansel glaubte, es sei ohnehin schon zu spät. Der Federlschneider sagte: »Na wart', Alte, dich will ich [187] bald haben!« lief das Ufer entlang bis zur Stelle, wo das Weiblein wie eine dunkle Kugel dahinrann, dort stürzte er sich ins Wasser uno bald hatte er seine Beute im Trocknen. Beleuchtet wurde der Hergang vom untergehenden Mond. Der Toni und der Seppel und der Festl und der Hansel trugen die alte Kundel in die warme Stube des Müllers und spielten sich bescheiden als die Retter aus. Nur die Jula wollte wahrhaben, daß es der Schneider gewesen sei!

»Ha, der Federlschneider!« lachten sie, »für den ist's freilich keine Kunst, ins Wasser zu hüpfen, der kann nicht untergehen, den tragt der Wind allemal wieder in die Höhe.« Dieweilen schwepperte der pudelnasse Schneider mit den Zähnen, bis ihn die;Müllerin ins Ehebett legte. Für ihn war's aber keins, und so schlummerte er ein.

Drei Wochen später war beim Stockerwirt ein Fest. Auf der Kanzel war es bekannt gemacht worden: »Am Unschuldigen-Kindertag solle die Gemeinde Gott und einem Menschen zu Ehr' auch einmal eine weltliche Lustbarkeit abhalten. Die Leute möchten zusammenkommen am Nachmittage beim Stockerwirt dort würde gesungen, gegeigt und geblasen werden und der Bezirksvorsteher von Voran würde sich einfinden, um dem braven Justus Alland die von einem Wohltäter gestiftete Rettungsmedaille an die Brust zu heften. »Dem Justus Alland? Wer ist denn der?« fragten du: Leute einander. »Jeseles, das ist ja der Federlschneider Der die alte Kundel aus dem Bach gefischt hat. So, der kriegt einen Stern auf die Brust? Wie der Kaiser Josef einen hat gehabt, wenn er den Mantel auseinandergeschlagen hat! Na, was sie mit so einem Schneider für Geschichten machen! Hätt' [188] unsereins das bissel Weibsbild herausgezogen, da tät' gewiß kein Hund weiter einen Beller machen, deswegen!« Aber ein anderer gab das Wort uns: »Dabei wollen wir doch sein, wenn der Schneider gefoppt wird!« Und so ist am Unschuldigen-Kindertag ein großer Zusammenlauf gewesen beim Stockerwirt am Alpsteig.

Auch von unserem Hause war alles dort, selbst Vater und Mutter, die sonst nie ins Wirtshaus gingen, denn der Vater hatte kein Geld und die Mutter keinen Durst, und bei solchen Zuständen ist's daheim kurzweiliger, als im Wirtshaus. Aber diesmal, so meinte mein Vater, diesmal müsse die Tapferkeit estimiert werden. Wenn man schon den Soldaten ein Ehrenfest gibt, die vom Leutumbringen heimgekommen, so wird man einem Lebensretter auch was Rechtschaffenes antun dürfen. Dazu fügte es sich, daß der Schneider Justus für die nächste Woche bei uns auf die Ster geladen war, da sollte er nicht sagen dürfen, der Waldbauer, dem er das Gewand mache, hätte sich bei seinem Ehrentag nicht blicken lassen. Wir hatten an demselben Tage Besuch erwartet. Der Jagerschwager vom Pusterwald hatte Post schicken lassen, er wolle um die Weihnachtsfeiertage zu uns kommen, um einmal meiner Mutter ihr kleines Kinderwerk anzuschauen und vielleicht auch das Schneiderfest mitzubegehen. Der Jagerschwager kam aber nicht an demselbigen Tage. Die Mutter ging erst gegen Abend zum Stockerwirt, nachdem sie die Haustiere und uns Kinder abgefüttert hatte und Anordnung getroffen, wie wir das Nachtgebet sprechen, dann das Licht auslöschen und hübsch ins Bett gehen sollten. Ich damals schon so groß, daß man zwei Wickelkinder aus mir hätte machen können, wurde daher [189] aufgestellt zum Verwalter über meine drei jüngeren Geschwister. Das gab mir für den Abend unermeßliche Vorteile. Ich durfte nach Herzenslust auf dem Kopfe stehen, was sonst verboten war, seitdem damals mit den Füßen in der Luft ein Fenster in Scherben geschlagen worden war. Ich durfte unbedenklich der Schwester Plonerl einen Husarenschnurrbart unter das Naselein malen und ich durfte die Lebkuchen aufessen, die uns drei Tage vorher das Christkind in alle Hosen- und Rocksäcke gesteckt hatte, während wir geschlafen in der heiligen Nacht. Aber siehe, mein Leser, der Ehrgeiz! Nun stellte ich die Verwaltungswürde höher als die persönlichen Neigungen und blien durchaus anständig. Ich machte meinen Geschwistern sogar den Vorschlag, für diesen Abend auch die schönen und guten Lebkuchen zu schonen, denn sobald der süße Kuchen mit den weißen Mandeln verzehrt sei, hätten die Weihnachten ein Ende. Und darum predigte ich jetz: Entsagung. Meine Geschwister zeigten sich einverstanden, aber nicht leichten Herzens, und die kleine Plonerl hub schon an, den lebzeltenen Reiter mit den weißen Zuckerstriemen abzulecken, woraus die Entwicklung eines intimen Verhältnisses zu befürchten war. Mit nachgerade väterlichem Ernst nahm ich ihr den Reiter aus der Hand und die Kuchen wurden alle in ihre Schüsselchen und Körbchen gelegt und auf den Kasten gestellt.

Hernach forderte ich meine Untergebenen auf, hübsch vor dem Tische niederzuknien und ihre Abendgebete zu beten, ich tat desgleichen und kam mir dabei großartig vor. Bald darauf losch ich vorschriftsmäßig das Licht aus und wir krochen in unsere Bettchen.

[190] Meine Geschwister waren bald daheim beim himmlischen Vater und seinem Christkinde, ich hatte die Augen noch eine Weile offen und betrachtete das blasse Schneelicht, das zu den Fensterchen hereinschimmerte. Dachte auch an den tapferen Schneider, der sein Kreuzlein oder Sternlein oder was weiß ich, schon an der Brust haben werde, zum Andenken, daß er gleichsam einen Menschen wieder erschaffen hat, der schon des Todes gewesen. Allerdings war diese Schöpfung ein altes runzeliges Weiblein, während Gott lauter kleine herzige Kinder erschafft. Aber für den Federlschneider ist schon das viel!

Es knarrte die Haustür. Mein Schrecken war nicht sehr groß, weil ich dachte, daß Vater und Mutter hereintreten würden. Es waren aber nicht die bekannten sicheren Schritte, was jetzt langsam durch das Vorgelaß siffelte, sich manchmal dumpf polternd an den Flachstruhen und Krautkübeln stieß, und es war nicht die Hand des Vaters, die jetzt tastend die Klinke der Stubentür fand. Langsam ging diese an ', aber in der Dunkelheit konnte ich nicht sehen, wer da hereinkam. Es war ein unheimlicher Jemand, der jetz: neben dem Uhrkasten wie lauernd stehenblieb. Dann pochte er mit einem Stock auf den Boden und nun hub eine schauerlich fremde Stimme an zu knurren: »Ist denn da keine Menschenseel' daheim? Oder ist das alte Waldbauernhaus einmal ausgestorben?« Dann lauerte er wieder. Endlich hub er an, mit Stahl und Stein Feuer zu schlagen und beim Blitzen der Funken sah ich ein großes glutrotes Gesicht mit weit auseinander gezogenem Mund und fletschenden Zähnen. Eine Erscheinung, wie ich sie noch mein Lebtag nicht gesehen hatte. Mein erster Gedanke war: Menschenfresser. [191] Die Hammerschläge meines Herzleins hüpften bis in die Schläfe hinauf; zu sterben war ich allenfalls entschlossen, denn ich hatte damals schon von dem Gerüchte gehört, daß alle Menschen sterben müßten; aber aufgefressen zu werden! Das war mir äußerst peinlich. Plötzlich hatte er Licht gemacht und nun stand das Ungetüm in seiner ganzen Wesenheit da. Es war beiläufig so groß wie ein Mensch, hatte auch Füße, die in Wadenstrümpfen und Bundschuhen staken, hatte Hände, deren eine den Stock und deren andere ein Bündel trug. Den Kopf bedeckte ein breitkrempiger hoher Spitzhut mit mächtigem Federstoß.

»Hasasa!« rief der Fremde jetzt, als er sich in die Runde drehte, »da liegen sie ja herum die Kindlein, die unschuldigen, die lieben, die dummen!«

Die unschuldigen Kinder sucht er! Am Ende ist's der böse König Herodes. und es war ja gerade Unschuldig-Kindertag. In der kurzen Lederhose zur Linken stak richtig ein langes Messer.

»Hörst, junge Brut, wo hast denn du deine Vater und Mutter?« fragte der Schreckliche und kam nahe an mein Bett heran. Ich wollte Bescheid geben, brachte aber aus Angst keinen Ton hervor.

»Was schaust denn so g'schreckt?« sagte er lachend. »Fürchten? Tschapperl. Beim Stockerwirt, na, freilich. Ich mag aber nimmer nachgehen, mir sind die Läufeln höllisch steif geworden vom Pusterwald her! Aber Hunger wie ein Wolf, hörst, Buberl?«

Nun hatte ich keine Angst mehr. Es ist der Jagerschwager und kein anderer.

Er setzte sich an den Tiich, zündete mit seiner Lunte [192] das Kerzenstümpflein an und begann sachte umherzuspähen.

»Ist denn gar nichts übriggeblieben vom Nachtmahl?« fragte er laut, »habt ihr denn alles aufgegessen, ihr Siebenfraße! Und an den alten Vetter gar nicht gedacht? Seit Herrgottsfrüh keinen warmen Löffel im Magen. Und keinen kalten auch nicht. Werd'ts doch ein Stück Brot in der Lad' haben!«

Während er die Tischlade auszog, um nachzusehen, schlüpfte ich ins Höslein und in der Hofe stak der Mut. Ich ging hinaus in die Küche, suchte nach Milch, nach Speck oder nach einem Rest von Heidensterz, den wir zu Mittag auf den Tisch bekommen hatten. Nichts. Der Mann bemühte sich mit mir, gab mir gute Worte, nannte mich ein sauberes, gescheites Bübel – aber wir fanden trotzdem nichts als drei Eier im Kasten, die er sofort mit den Zähnen aufschlug und austrank wie Wasser. Die Kerze in der Hand beleuchtete seine Tat. »Aber was wird deine Mutter sagen, wenn sie morgen sieht, daß der Eiermarder ist dagewesen?« So fragte er und schaute mich nachdenklich an. Setzte aber gleich bei: »Weißt du nicht, kleines Vetterlein, hat deine Mutter noch andere Eier? Oder Hühner? Heute verspeise ich sie mitsamt den Federn – meiner Seel'!«

Es wurde mir wieder unheimlicher. – Wenn sie nur endlich heimkommen täten vom Stockerwirt. Der Schneider wird sein Kreuzel ja haben, was tun sie denn noch? Lustbarkeit treiben, dieweilen daheim der schreckliche Jagerschwager eingefallen ist und alles verzehrt, die Eier, die Hühner, die Kälber, die Kinder.

»Hopserl!« schrie der Mensch jählings auf. »Da[193] gibt's ja was!« Er hatte unsere Lebkuchen entdeckt auf dem Kasten. »Das ist gescheit,« sagte er und nahm ein Schüsselchen auf den Tisch herab. »Seid's wohl recht brav, Kinder, daß ihr für den Jagerschwager auch was übrig gelassen habt.« – Ein großes Herz mit lieblicher Zier – ich hätte einen halben Tag lang mit Andacht daran genascht – der Gewalttätige steckte es mit einemmal in den Mund. – »Das süße Zeug...!« murmelte er unwirsch, »aber in der Not frißt der Jager Lebkuchen.« Dann kam ein schönes achteckiges Stück mit Mandeln an die Reihe, dann kam der Plonerl ihr Roß und Reiter dran, und endlich zwei lebkuchene Wickelkinder mit weißgestreiften Fatschen und schwarzen Honigaugen. Jedes Stück ward verschlungen mit einem einzigen Schluck, meine und meiner ahnungslos schlummernden Geschwister teure Weihnachtshabe sah ich rettungslos zugrunde gehen. Als das eine Schüsselchen geleert war, nahm er das zweite vom Kasten. »Schau, du, da ist ja noch was!« rief er freudig und aß zuletzt auch den Inhalt des Körbleins auf.

Und als alles dahin war, wischte er sich mit einem blauen Sacktuche den Mund und die Finger ab und sagte: »So, der erste Hunger wär' gestillt. Jetzt wird ein Schluck gut tun. Wo habt denn ihr euern Schnaps? Sag, Kind Gottes, hat dein Vater keinen Branntwein im Haus? Nicht? Nicht einmal einen Schnaps? Na, hörst du, das ist eine saubere Wirtschaft! Da wird's freilich alleweil kleine Kinder geben, weil sie nicht groß und stark werden können. Ohne Schnaps! Ja, sag' mir doch, Zwerg, wovon lebt ihr denn eigentlich?«

Offen gestanden; das wußte ich selbst nicht. Wir arbeiteten, wir aßen, wir schliefen – und starben nicht.

[194] Wir lebten sogar recht frisch und munter, mit Ausnahme zu dieser Stunde, wo der unerhörte Hunger des Jagerschwagers unsere Existenz mit einemmal zu vernichten drohte. Nachdem lange vergeblich auf die Heimkehr der Eltern gewartet worden war und auch die Kerze schon geendet hatte, so daß wir im Dunkeln saßen, sing der Jagerschwager an, über die Sittenlosigkeit dieses Hauses aufzubegehren. »Da sieht man's! Wär' ein Schnaps im Haus, so brauchten sie nicht ins Wirtshaus zu gehen!« Nachher kam die Frage der Liegerstatt. Ich schlug die Strohkammer vor. Da wäre es ihm zu kalt. Den Kuhstall. Da wäre es ihm zu dunstig. Die Ofenbank. Da wäre es ihm zu hart. Den Herd, da fürchtete er die Schwabenkäfer. Wie glücklich, als (zuletzt Vater und Mutter doch nach Hause kamen. Der Vater nannte den fremden Mann Schwager, die Mutter nannte ihn Bruder und beide fanden es sehr brav, daß er gekommen sei, uns einmal heimzusuchen. Im blauen Bündel hatte er nichts zum Essen mitgebracht, wohl aber etwas zum Kochen, nämlich Kienholz, wie es damals von den Köchinnen als Zunder verwendet wurde. Kienholz brachte er sinnig der Schwester zum Weihnachtsgeschenk. Ob sie es noch an demselben Abend benützt, ob der Jager noch etwas zu essen bekommen hatte, oder welche Liegerstatt ihm eingeräumt worden war, das weiß ich nicht mehr, denn mit meiner Würde habe ich auch die Sorgen zurückgegeben.

Das Ehrenfest des Schneiders beim Stockerwirt war mißlungen. Begonnen hatte es auf die erfreulichste Weise: viele Leute, prächtige Blechmusik, verzuckertes Getränke; der Herr Pfarrer von Kathrein war vorhanden und rauchte seine lange Pfeife, was allemal ein Zeichen seiner [195] besonderen Nachsicht war. Wenn der Pfarrer die lange Pfeife schmauchte, da durfte getanzt werden, da durften die Bursche Schnaderhüpfeln singen, ihre Dirndeln unter den Achseln anfassen und hoch in die Luft heben. Der Pfarrer bastelte an der Pfeife um und tat, als merke er nichts. Einer der Lustigsten war der Federlschneider, der flog heute tatsächlich mehr, als er ging oder saß. Trinken tat er nichts als ein Glas Apfelmost. Wein war ihm unheimlich, Wein var der einzige Gegner, der ihn entschieden zu Boden brachte. Aber das gelang nicht oft, starke Getränke haßte er wie höllisches Feuer. Es war ihm so auch hübsch warm. Tanzen, das war seine Passion und kaum berührte er dabei mit den Zehenspitzen den Boden. Dazu konnte er zierlich pfeifen, machte allerlei Vögelein nach, so daß es war wie mitten im Mai. Die schlanken Burschen vergleichbar mit blühenden Lärchstämmen, die Dirnlein mit Rosenstöcken. – Als der Abend dunkelte, kam der Wagen des Bezirksvorstehers angefahren, das machte den Schneider stutzen. Er hatte geglaubt, das wäre nichts als eine gewöhnliche Tanzunterhaltung. Denn man hatte ihm gesagt, sein Ehrentag wäre verschoben worden auf ein anderesmal. Er hatte nämlich verlauten lassen: Wenn sie mit ihm Geschichten machen wollten, da müßten sie ihn wohl erst mit den Gendarmen ins Wirtshaus holen!

Und als nun die Lichter angezündet waren, die Lustbarkeit etwas gedämpfter wurde und der Bezirksvorsteher an seinem weißgedeckten Tische eine feierliche Würde hervortat, da war der Federlschneider nicht zu finden. War nicht oben und war nicht unten, nicht drinnen und draußen. Sein Hut war auch weg, und wie ein Schreckhauch [196] ging's durch das ganze Haus: »Der Schneider ist durchgegangen!« – Sie haben angefangen, ihn zu suchen, zu suchen im Stockerhause und seiner Umgebung, bei den Nachbarhäusern, im Almbauernhof, wo er sein Wohnzimmer hatte. Aber der Federlschneider, der konnte so zierlich pfeifen... das haben sia gemerkt, aber leider nicht gehört. Die Leute blieben beisammen bis spät in die Nacht, in der Erwartung, daß man endlich doch des Flüchtlings habhaft werden würde, um ihm sein Recht anzutun. Am schlimmsten war der Gemeindevorstand dran, der dicke, ehrenwerte Thomeggel. Der hatte eine große Rede im Leib und die ging ihm im Kopf herum wie ein Rad.

Wenn der Schneider nicht zustande gebracht wurde, so mußte der würdige Mann mit samt seiner Rede ins Bett und es war kein Absehen, wann er sich ihrer entledigen konnte.

Als denn der Schneider nicht eingebracht wurde, hat der Bezirksvorsteher dem Pfarrer ein zartes Paketlein übergeben: Wenn der Schneider einmal die Gnade haben würde, vorhanden zu sein, dann möchten es Seine Hochwürden ihm anhängen. – Die Leute haben sich hernach allmählich verzogen, und so sind auch mein Vater und meine Mutter nach Hause ge kommen, ärgerlich darüber, ihre fünf Groschen für Wein um zwei Semmeln umsonst ausgegeben zu haben.

Am nächsten Morgen kam frühzeitig jemand zu uns ins Waldbauernhaus und wer war es? Der Federlschneider. Er hatte sein Werkzeug bei sich, nahm dem Vater und mir das Hosenmaß und begann am großen Stubentische ruhig zu arbeiten, als ob weiter nichts[197] wäre. Er war im Werktagsgewande, das als solches weit netter und adretter stand, als anderer Sonntagsgewand. Er war ein durchaus niedliches und überaus bewegsames Herrlein, schon ziemlich in jenem Alter, wo der Mensch nicht mehr das Haar von vorne nach rückwärts kämmt, um eine hohe Stirn zu gewinnen, sondern von hinten nach vorn, um einer ungeziemend hoch werdenden Stirn möglichst zu steuern. Im übrigen war er glatt rasiert und kaute an einem Fadenstümpfchen, dessen äußeres Ende munter auf- und niederschlug, während er auf den braunen Loden mit ner Kreide allerlei Striche und Halbkreise zog als eine Wegmarkierung für die nachfolgende Scheere.

Beim Mittagsessen nahmen der Schneider und der Jagerschwager die Ehrenplätze ein. Und während letzterer bei Knödeln und Geselchtem das am Abende zuvor Vermißte reichlich einzubringen suchte, sagte mein Vater plötzlich ganz vorwurfshart: »Na, der Schneider hat uns gestern sauber sitzen lassen beim Stockerwirt.«

»Uh, na freilich,« entgegnete der Angeredete, »ich werd' just der Narr sein und mich eine Weil anfingen lassen.«

»Der Schneider hätt' halt sein Ehrenzeichen bekommen.«

»Mir ist auch so schön warm,« antwortete dieser und aß gar emsig mit der Gabel Krautfasern.

»Mit der Gabel heißt's nichts,« unterbrach der Jagerschwager, den Schneider belehrend, »mit dem Löffel muß man in die Schüssel fahren. sonst zahlt sich's nicht aus. So macht man's!« Und er erhärtete seinen Unterricht mit einem praktischen Beispiel.

[198] Mein Vater aber fuhr fort: »Da meint ihm's der Kaiser so gut, daß er ein Ehrenkreuzel schickt, und der Herr Bezirksvorsteher fahrt so weit her und die Leut' laufen zusammen und alles für die Katz!«

Jetzt hätte aber ein anderer die Gabel weggelegt und hätt' in schönem Ernste folgendes gesagt: »Meine lieben Herren! Wenn ihr glaubt, daß ich die alte Kundel aus dem Wasser gezogen habe, damit ich auf die Brust das Kreuzel krieg, so irrt ihr sehr! Ich hab's getan aus Menschenpflicht, ohne Gedanken auf Lohn oder Ehr', und ich will mich für meine selbstverständliche Tat nicht feiern lassen, dieweil manch anderer mit größeren Verdiensten unbedankt seiner Wege gehen muß. Lasset mich meine bescheidenen Werke der Nächstenliebe im Verborgenen vollbringen und mich jenen schönen Lohn genießen, der im eigenen Gewissen liegt!«

Solche Rede hätte er ganz gut auch vor dem Bezirksvorsteher halten können, nachdem das güldene Ehrenzeichen schon am Rockflügel gehangen wäre, die Leute hätten vor Rührung geweint und dann ausgerufen: »Dieser kleine Schneider hat ein großes Herz. Vivat!« Und am Ende wäre es gar noch in die Zeitung gekommen.

Aber unser Federlschneider hat die schöne Rede dort nicht gehalten und hier nicht. Er hat nichts getan als Kraut gegessen mit der Gabel.

Da schleuderte der Jagerschwager jäh seinen großen Löffel weg, hieb seine Hand schwer auf die zarte Achsel des Schneiders und brüllte: »Mensch, du gefallst mir! Und paß auf, was ich dir jetzt sag': Ich bin der Forstjäger vom Pusterwald und du sollst von mir was bekommen! Gib acht! Was du von mir kriegst, das wird [199] ein bissel was Besseres sein, als ein Kreuzel oder ein Sterndel oder ein Münzel, oder was weiß ich für Tandelmandel. Nicht umsonst sollst du ins kalte Wasser geflogen sein. Du kriegst was von mir!«

Es war ein geradezu erhebender Augenblick. Und die Mutter sagte auch ein Wort: »Wenn ein Mensch so demütig ist, da verdient er erst recht was Schönes.«

Der Jagerschwager nickte noch wiederholt mit dem Kopf, sagte aber nichts mehr, als: »Schneider, du kriegst was von mir!«

Und um Heiligendreikönig kam vom Pusterwald her der Bote gegangen. Er fragte dem Schneidermeister Justus nach, er trug im inneren Sack seines Mantels einen schweren Gegenstand. Als ar denselben niederließ im Almbauernhof vor dem Schneider auf dem Tisch, da war's noch wie eine verhüllte Kunststatue; als aber das blaue Tuch abgenommen ward, da stand ein bauchiger Schnapsplutzer da: »Den schickt der Forstjäger aus dem Pusterwald!«

Der Federlschneider soll ein langes Gesicht gezogen und dann nachgedacht haben, ob er nicht irgendwo auf der Welt einen grimmigen Feind hätte. Er fand aber keinen, dem er den Plutzer hätte versetzen mögen. Hingegen hieß es, daß die alte Kundel sich gar nicht mehr erwärmen könne seit jenem kalten Bad in der Fresen. Dem alten Weiblein schickte der Schneider den Branntwein: »Immer einmal ein kleines Schlüpferl!«

Wie der Meisensepp gestorben ist
[200] Wie der Meisensepp gestorben ist.

In meinem Vaterhause fand sich die »Lebensbeschreibung Jesu Christi, seiner Mutter Mariä und vieler Heiligen Gottes. Ein geistlicher Schatz von Pater Cochem«.

Das war ein altes Buch; die Blätter waren grau, die Kapitelanfänge hatten wunderlich große Buchstaben in schwarzen und roten Farben. Der hölzerne Einbanddeckel war an manchen Stellen schon wurmstichig, und eine der ledernen Klappen hatte die Maus zernagt. Seit vielen, vielen Jahren war im Hause niemand gewesen, der darin hätte lesen können; wan Wunder, wenn die Tierlein Besitz nahmen von Cochems »Leben Christi« und aus dem »geistlichen Schatz« ihre leibliche Nahrung zogen.

Da kam ich, der kleine Junge, verjagte die Würmer aus dem Buche und fraß mich dafür selber hinein. Täglich las ich unseren Hausleuten vor aus dem »Leben Christi«. Den jungen Knechten und Mägden gefiel der neue Brauch just nicht, denn sie durft en dabei nicht scherzen und nicht jodeln; die älteren Hausgenossen aber, die schon etwas gottesfürchtiger waren, hörten mir mit Andacht zu »und das ist,« sagten sie, »als wie wenn der Pfarrer predigen tät'; so bedeut ausführen und so eine laute Stimm'!«

Ich kam in den Ruf eines Vorlesers und wurde ein gesuchter Mann. Wenn irgendwo in der Nachbarschaft [201] jemand krank lag oder zum Sterben, oder wenn er gar schon gestorben war, so daß man an seiner Leiche zur Nacht die Totenwache hielt, so wurde ich von meinem Vater ausgebeten, daß ich hinginge und lese. Da nahm ich das gewichtige »Leben-Christi-Buch« unter den Arm und ging. Es war ein hartes Tragen und ich war dazumal ein kleinwinziger Knirps.

Einmal spät abends, als ich schon in meiner kühlen und frischduftenden Futterkammer schlief, in welcher ich zur Sommerszeit bisweilen das Nachtlager hatte, wurde ich durch ein Zupfen an der Decke von unserem Knecht geweckt. – »Sollst sein geschwind aufstehen, Peter, sollst aufstehen. Der Meisensepp hat seine Tochter geschickt, er laßt bitten, du sollst zu ihm kommen und ihm was vorlesen! er wollt' sterben. Sollst aufstehen, Peter.« –

So stand ich auf und zog mich eilends an. Dann nahm ich das Buch und ging mit dem Mädchen von unserem Hause aufwärts über die Heide und durch die Waldungen. Das Häuschen des Meisensepp stand einsam mitten im Wald.

Der Meisensepp war in seinen jüngeren Jahren Reuter und Waldhüter gewesen; in letzterer Zeit hatte er sich nur mehr mit Sägeschärfen für Holzhauerleute beschäftigt. Und da kam plötzlich die schwere Krank heit.

Wie wir, ich und das Mädchen, in der stillen, sternenhellen Nacht so durch die Ödnis schritten, sagten wir keines ein Wort. Schweigend gingen wir nebeneinander hin. Nur einmal flüsterte das Mädchen: »Laß her, Peter, ich will dir das Buch tragen.«

»Das kannst nicht,« antwortete ich. »du bist ja noch kleiner wie ich.«

[202] Nach einem zweistündigen Gang sagte das Mädchen: »Dort ist schon das Licht.«

Wir sahen einen matten Schein, der aus dem Fenster des Meisenhauses kam. Als wir diesem schon sehr nahe waren, begegnete uns unser Pfarrer, der dem Kranken die heiligen Sakramente gereicht hatte.

»Der Vater – wird er wieder gesund?« fragte das Mädchen kleinlaut.

»Ist noch nicht so alt,« sagte der Priester; »wie Gott will, Kinder, wie Gott will.«

Dann ging er davon. Wir traten in das Haus.

Das war klein und nach der Art der Waldhütten standen die Familienstube und die Schlafkammer gleich in der Küche. Am Herd in einem Eisenhaken stak ein brennender Kienspan, von dem die Stubendecke in einen Rauchschleier gehüllt war. Neben dem Herde auf Stroh lagen zwei kleine Knaben und schlummerten. Sie waren mir bekannt vom Walde her, wo wir oft mitsammen Schwämme und Beeren suchten und dabei unsere Herden verloren; sie waren noch um etliche Jahre jünger als ich. An der Ofenmauer saß das Weib des Sepp, hatte ein Kind an der Brust und sah mit großen Augen in die flackernde Flamme des Kienspans hinein. Und hinter dem Ofen, in der einzigen Bettstatt, die im Hause war, lag der Kranke. Er schlief; sein Gesicht war recht eingefallen, das grauende Haar und der Bart ums Kinn waren kurz geschnitten, so daß mir der ganze Kopf kleiner vorkam als sonst, da ich den Sepp auf dem Kirchweg gesehen hatte. Die Lippen waren halb offen und blaß, durch dieselben zog ein lebhaftes Atmen.

Bei unserem Eintritt erhol sich das Weib leise,[203] sagte eine Entschuldigung, daß sie mich aus dem Bette geplagt habe, und lud ein, daß ich mich an den Tisch setzen und die Eierspeise essen möge, die der Herr Pfarrer übrig gelassen hatte, und die noch auf dem Tische stand.

Bald saß ich auf dem Fleck, und jetzt aß ich mit derselben Gabel, die er hatte in den Mund geführt!

»Jetzt schläft er passabel,« flüsterte das Weib nach dem Kranken deutend. »Vorhin hat er allweg Fäden aus der Decke gezupft.«

Ich wußte, daß man es für ein übles Zeichen auslegt, wenn ein Schwerkranker an der Decke zupft und kratzt; »da kratzt er sich sein Grab«. Ich entgegnete daher: »Ja, das hat mein Vater auch getan, als er im Nervenfieber ist gelegen. Ist wieder gesund worden.«

»Das mein' ich wohl auch,« sagte sie, »und der Herr Pfarrer hat dasselbe gesagt. – Bin doch froh, die Beicht' hat der Seppel recht fleißig verrichten mögen und ich hab' jetzt wieder rechtschaffen Trost, daß er mir noch einmal gesund wird. – Nur,« setzte sie ganz leise bei, »das Spanlicht leckt alleweil so hin und her.«

Wenn in einem Hause las Licht unruhig flackert, so deutet das der Glaube des Volkes: es werde in demselben Hause bald ein Lebenslicht auslöschen. Ich selbst glaubte daran, doch um die Häuslerin zu beruhigen, sagte ich: »Es streicht die Luft alles zuviel durch die Fensterfugen, ich verspür's auch.« Sie legte das schlummernde Kind auf das Stroh; auch das Mädchen, welches mich geholt, war schon zur Ruh' gegangen. Wir verstopften hierauf die Fensterfugen mit Werg.

Dann sagte das Weib: »Gelt, Peter, du bleibst mir da über die heutige Nacht; ich wüßt' mir aus Zeitlang[204] nicht zu helfen. Wenn er munter wird, so liest uns was vor. Gelt, du bist so gut?«

Ich schlug das Buch auf und suchte nach einem geeigneten Lesestück. Allein, Pater Cochem hat nicht viel geschrieben, was armen weltlichen Menschen zum Troste sein könnte. Pater Cochem meint, Gott wäre gerecht und die Leute wären sündig, und die meisten Menschen liefen schnurgerade der Hölle zu.

Es mag ja wohl sein, dachte ich mir, daß es so ist; aber dann darf man's nicht sagen, die Leute täten sich nur grämen und des weiteren blieben sie so sündig wie früher. Wenn sie sich bessern hätten können, so hätten sie's längst schon getan.

Die schreckhaften Gedanken gingen durch das ganze Cochemsche Buch. Fürwitzigen Leuten gegenüber, die mich nur anhörten, der »lauten Predigerstimm'« wegen, donnerte ich die Greuel und Menschenverdammung recht mit Vergnügen heraus; wenn ich aber an Krankenbetten aus dem Buche las, da mußte ich meine Erfindungsgabe oft sehr anstrengen, daß ich während des Lesens die harten Ausdrücke milderte, die schaudererregende Darstellung der vier letzten Dinge mäßigte und den grellen Gedanken des eifernden Paters eine freundlichere Färbung geben konnte.

So plante ich auch heute, wie ich, scheinbar aus dem Buche lesend, dem Meisensepp aus einem anderen Buche her Worte sagen wollte von der Armut, von der Geduld, von der Liebe zu den Seinen und wie darin die wahre Nachfolge Jesu bestehe, die uns – wenn die Stunde schlüge – durch ein sanftes Entschlummern hinüberführe in den Himmel.

[205] Endlich erwachte der Sepp. Er wendete den Kopf, sah sein Weib und seine ruhenden Kinder an; dann er blickte er mich und sagte mit lauter, ganz deutlicher Stimme: »Bist doch gekommen, Peter. So dank' dir Gott, aber zum Vorlesen werden wir heut' wohl keine Zeit haben. Anna, sei so gut und weck' die Kinder auf.«

Das Weib zuckte zusammen, fuhr mit der Hand zu ihrem Herzen, sagte aber dann in ruhigem Tone: »Bist wieder schlechter, Seppel? Hast ja recht gut geschlafen.«

Er merkte es gleich, daß ihre Ruhe nicht echt war.

»Tu dich nicht gar so grämen, Weib,« sprach er, »auf der Welt ist's schon nicht anders. Weck' mir schön die Kinder auf, aber friedsam, daß sie nicht erschrecken.«

Die Häuslerin ging zum Strohlager, rüttelte mit bebender Hand am Schaub, und die Kleinen fuhren halb bewußtlos empor.

»Ich bitt' dich gar schön, Anna, reiß' mir die Kinder nicht so herum,« verwies der Kranke mit schwächerer Stimme, »und die kleine Martha laß schlafen, die versteht noch nichts.«

Ich blieb abseits am Tisch sitzen und mir war heiß in der Brust. Die Angehörigen versammelten sich um den Kranken und schluchzten.

»Seid ihr nur ruhig,« sagte der Sepp zu seinen Kindern, »die Mutter wird euch schon morgen länger schlafen lassen. Josefa, tu' dir das Hemd über die Brust zusammen, sonst wird dir kalt. Und jetzt – seid allweg schön brav und folgt der Mutter, und wenn ihr groß seid, so steht ihr bei und verlaßt sie nicht. – Ich hab' gearbeitet meiner Tag' mit Fleiß und Müh'; gleichwohl kann ich euch weiter nichts hinterlassen, als dieses Haus [206] und den kleinen Garten, und den Reinacker und den Schachen dazu. Wollt' euch's teilen, so tut es brüderlich, aber besser ist's, ihr haltet die Wirtschaft zusammen und tut hausen und bauen. Weiters mach' ich kein Testament, ich hab' euch alle gleich lieb. Tut nicht ganz vergessen auf mich und schickt mir dann und wann ein Vaterunser nach. – Und euch, du: zwei Buben, bitt' ich von Herzen: Hebt mir mit dem Wildern nicht an; das nimmt' kein gutes End'. Gebt mir die Hand darauf. So. – Wenn halt einer von euch das Sägefeilen wollt' lernen; ich hab' mir damit viel Kreuzer dermacht; Werkzeug dazu ist da. Und sonst wißt ihr schon, wenn ihr am Reinacker die Erdäpfel anbaut, so setzt sie erst im Mai ein; 's ist wohl wahr, was mein Vater fort gesagt hat, bei den Erdäpfeln heißt's: baut mich an im April, komm' ich, wann ich will; baut mich an im Mai, komm' ich glei (gleich). – Tut euch so Sprüchlein nur merken. – So, und jetzt geht wieder schlafen, Kinder, daß euch nicht kalt wird, und gebt allzeit Obacht auf eure Gesundheit. Gesundheit und gutes Gewissen, das ist das beste. Geht nur schlafen, Kinder.«

Der Kranke schwieg und zerrte an der Decke.

»Frei zuviel reden tut er mir,« flüsterte das Weib gegen mich gewendet. Eine bei Schwerkranken plötzlich ausbrechende Redseligkeit ist ja auch kein gutes Zeichen.

Nun lag er, wie zusammengebrochen, auf dem Bette. Das Weib zündete die Sterbekerze an.

»Das nicht, Anna, das nicht,« murmelte er, »ein wenig später. Aber einen Schluck Wasser gibst mir, gelt?«

Nach dem Trinken sagte er: »So, das frisch' Wasser [207] ist halt doch wohl gut. Gent mir recht auf den Brunnen Obacht. Ja, und daß ich nicht vergess', die schwarz' Hosen legst mir an, und das blau' Jöppel, weißt, und draußen hinter der Tür, wo die Sägen hängen, lehnt das Hobelbrett, das leg' über den Schleifstock und die Drehbank; für drei Tag' wird's wohl halten. Morgen früh, wenn der Holzjodel kommt, der hilft mich schon hinauslegen. Schau aber sein gut, daß die Katz' nicht dazu kommt; die Katzen gehen los und schmecken's gleich, wenn wo eine Leich' ist. Was unten bei der Pfarrkirche mit mir geschehen soll, das weißt schon selber. Nicht zu lang' bimmeln (läuten); kostet Geld und hilft nicht viel. Meinen braunen Lodenrock und den breiten Hut schenk' den Armen. Dem Peter magst auch was geben, daß er heraufgegangen ist. Vielleicht ist er so gut, und liest morgen beim Leichwachen was vor. Es wird ein schöner Tag sein morgen, aber geh' nicht zu weit fort von heim, es möcht' ein Unglück geschehen, wenn draußen in der Lauben das Licht brennt. – Nachher, Anna, such' da im Bettstroh nach; wirst einen Strumpf finden, sind etlich' Zwanziger drin.«

»Seppel, streng' dich nicht so an im Reden,« schluchzte das Weib.

»Wohl, wohl, Anna – aber aussagen muß ich's doch. Jetzt werden wir wohl nicht mehr lang' beisammen sein. Wir haben uns zwanzig Jahre gehabt, Anna. Mußt nicht weinen, Anna, mußt nicht weinen, du bist mein alles gewesen; kein Mensch kann dir's vergelten, was du mir bist gewesen. Das vergess' ich dir nicht im Tod und nicht im Himmel. Mich gefreut's nur, daß ich in der letzten Stund' noch was mit dir reden kann, und daß ich gleichwohl soviel bei Verstand bin.«

[208] »– Stirb doch nicht gar hart, Seppel,« hauchte das Weib und beugte sich über sein Antlitz.

»Nein,« antwortete er ruhig, »bei mir ist's so, wie bei meinem Vater: leicht gelebt und leicht gestorben. Sei nur auch du so und leg' dir's nicht schwer. Wenn wir nun auch wieder jedes allein ankommen, zusammen gehören wir gleichwohl noch und ich heb' dir schon ein Platzel auf im Himmel, gleim (nahe) an meiner Seit', Anna, gleim an meiner Seit'. Nur das tu' um Gottes willen, die Kinder zieh' gut auf.«

Die Kinder ruhten. Es ward still und mir war, als hörte ich irgendwo in der Stube ein leises Schnurren und Spinnen. –

Plötzlich rief der Sepp: »Anna, jetzt zünd' die Kerzen an!«

Das Weib rannte in der Stube herum und suchte nach Feuerzeug; und es brannte ja doch der Span. – »Jetzt hebt er an zu sterben!« wimmerte sie. Als aber die rote Wachskerze brannte, als sie ihm dieselbe in die Hand gab, als er den Wachsstock mit beiden Händen umfaßte und als sie das Weihwassergefäß vom Gesimse nahm, da wurde sie scheinbar ganz ruhig und betete laut: »Jesus, Maria, steht ihm bet! Ihr Heiligen Gottes, steht ihm bei in der höchsten Not, laßt seine Seele nicht verloren sein! Jesus, ich bete zu deinem allerheiligsten Leiden! Maria, ich rufe deine heiligen sieben Schmerzen an! Du, sein heiliger Schutzengel, wenn seine Seel' vom Leib muß scheiden, führ' sie ein zu den himmlischen Freuden!«

Sie schluchzte und weinte nicht; sie war ganz die ergebene Beterin, die Fürbitterin.

[209] Endlich schwieg sie, beugte sich über das Haupt des Gatten, beobachtete sein schwaches Atemholen und hauchte: »So behüt' dich Gott, Seppel, tu' mir meine Eltern und unsere ganze Freundschaft (Verwandtschaft) grüßen in der Ewigkeit. Behüt' dich Gott, mein lieber Mann! Die heiligen Engel geben dir das Geleit' und der Herr Jesus mit seiner Gnad' wartet schon deiner bei der himmlischen Tür.«

Er hörte es vielleicht nicht mehr. Seine blassen, halboffenen Lippen gaben keine Antwort. Seine Augen sahen starr zur Stubendecke auf. Und aus den gefalteten Händen aufragend brannte die Wachskerze; sie flackerte nicht, still geruhsam und hell, wie eine schneeweiße Blütenknospe stand die Flamme empor – sein Atemzug bewegte sie nicht mehr.

»– Jetzt ist er mir gestorben!« rief das Weib aus, schrill und herzdurchdringend, dann sank sie nieder auf einen Schemel und begann kläglich zu weinen.

Die wieder erwachenden Kinder weinten auch; nur das kleinste lächelte...

Die Stunde lag auf uns wie ein Stein.

Endlich richtete sich die Häuslerin – die Witwe – auf, trocknete ihre Tränen und legte zwei Finger auf die Augen des Toten.

Die Wachskerze brannte, bis die Morgenröte ausging.

Durch den Wald war ein Bote gegangen. Dann kam ein Holzarbeiter. Dir besprengte den Toten mit Weihwasser und murmelte: »So rücken sie ein, einer nach dem anderen.«

Dann taten sie dem Meisensepp festtägige Kleider[210] an, trugen ihn hinaus in die Vorlauben und legten ihn auf das Brett.

Das Buch ließ ich liegen auf dem Tisch für die Leichenwachen der nächsten Nächte, zu denen ich der Häuslerin das Lesen zugesagt hatte. Als ich fortgehen wollte, kam sie mit einem grünen Hut, auf welchem ein weit ausgeborsteter Gemsbart stak.

»Willst den Hut mitnehmen für deinen Vater?« fragte sie, »der Seppel hat deinen Vater gern gehabt. Den Gamsbart magst zum Andenken selber behalten. Bet' einmal ein Vaterunser dafür.«

Ich sagte meinen Dank, ich tat noch einen unsteten Blick gegen die Bahre hin; der Se op lag lang gestreckt und hielt seine Hände über der Brust gefaltet. – Dann ging ich hinaus und abwärts durch den Wald. – Wie war's licht und taufrisch, voll Vogelgesang, voll Blütenduft – voll Leben im Walde!

Und in der Hütte, auf dem Bahrbrett lag ein toter Mensch.

Ich kann die Nacht und den Morgen – das Sterben mitten in dem unendlichen Lebensquell des Waldes nimmermehr vergessen. Auch besitze ich heute noch den Gemsbart zum Andenken an den Meisensepp.

Wenn mich die Gier anpackt nach den Freuden der Welt, oder wenn mich die Zweifel überkommen an der Menschheit Gottesgnadentum, oder wenn mich gar die Angst will quälen vor meinem vielleicht noch fernen, vielleicht schon nahen Hingang – so stecke ich den Gemsbart des Sepp auf den Hut.

Auf der Wacht beim toten Jäger
[211] Auf der Wacht beim toten Jäger.

Mein Vater litt zu jener Zeit an einer langwierigen Krankheit. Es var selten wer um ihn, als sein ältester Bub. Auch der Jäger Wolf saß zuweilen neben auf der Ofenbank und freute sich, wenn dem Kranken der gespendete Wildbraten recht mundete. Und der Wildbraten stellte meinen Vater richtig soweit wieder her, daß dieser eines Tages, es war im August um die Zeit des Maria-Himmelfahrtsfestes, zu mir sagte: »Bub, jetzt werd' ich doch endlich wieder was anfangen müssen. Was meinst, zum Korbflechten wär' ich wohl stark genug?«

Und am nächsten Tage gingen wir schon zur Morgenfrühe aus und gegen die sogenannte Wildwiese hinauf, wo Weiden wuchsen. Die Wildwiese war oben in den hinteren Waldungen. Ost blieb mein Vater unterwegs stehen, stützte sich auf seinen Stock, schöpfte Luft, und dann fragte er mich immer, ob ich ein Schnittchen Brot beißen wolle.

Als wir über die Schafhalde hinausgekommen waren, wo der junge Lärchenanwuchs noch im Morgentaue stand, sahen wir im Dickichte einen Mann dahinhuschen, der ein Stück Hochwild über der Achsel trug und etwas wie ein Schießgewehr hinter sich barg. Er duckte sich so sehr, daß nur ein paar schwarze Haarfetzen von seinem Haupte zu sehen waren.

Als diese Gestalt vorüber war, blieb mein Vater[212] stehen und sagte: »Hast geguckt? Das ist der schwarz' Toni gewesen.«

Der schwarz' Toni war ein Mann, vor dem sie überall die Türen verriegelten.

»Ja, Kind,« sagte der Vater, als wir uns auf den Stamm eines gefallenen Baumes gesetzt hatten, »ist hart für einen Menschen, dem's so geht, wie dem Toni. Der hat sein Lebtag nicht Vater und Mutter gesehen. Als Kind ist er aus dem Findelhause in unsere Gegend gebracht worden. Freilich nicht aus christlicher Barmherzigkeit, sondern des Geldes wegen, das für ihn ausgezahlt worden, hat ihn ein Köhlerweib an Kindesstatt genommen. Halb erwachsen hat sich der Toni im Wald herumgetrieben, kein Mensch hat sich um ihn gekümmert; so ist er verwildert. Wie das Köhlerweib sieht, der Ziehsohn bringe nur Schande, so hat sie gesagt: Toni, du Lump, bei mir bist nimmer daheim! – Wo denn? hat drauf der Toni gefragt, aber überall, wo er angeklopft, ist ihm die Tür verschlossen gewesen. Mögen ihn die Menschen nicht, so gibt er sich mit den Tieren ab – verlegt sich aufs Wildern. Vor einem Jahr hat ihn der Jäger Wolf in das Zuchthaus gebracht; aber jetzt wieder frei, mag ihm kein Mensch gern begegnen, gleichwohl ich nicht glaub', daß er wem was zuleide tät'. Schlecht, sag' ich, ist er nicht, aber verkommen durch und durch; und so, mein Bübl, wird oft ein Mensch hinausgestoßen auf die schiefe Straßen, und so rutscht er ab und kann sich nicht mehr halten.«

Nach diesen Worten schritten wir wieder langsam dahin und nachdem wir durch vie! Wald und schattendunkle Schluchten gegangen waren, kamen wir endlich zur Lichtung der Wildwiese. Teilweise lag sie noch im [213] Schatten des Teufelssteinberges; die Bachweiden aber, die in einer langen Reihe hin standen und sich über ein stillrieselndes Wässerlein wölbten, schimmerten in dem lichten Sonnentag, als ob sia alle silberne Blätter hätten. Die Wiese war bereits gemäht und das Heu fortgebracht; sehr still und verlassen lag die Matte. An den Rändern wuchsen blaue Enzianglocken und es war schon die Zeitlose da.

Wir kamen um die Weidenruten, die am Bache standen. Wir gingen quer über die Wiese bis hin zum Rande, wo wieder die sehr hohen Fichten begannen und wo ein rot angestrichenes Kreuz stand, dessen Dachbrettchen reichlich mit Moos bewachsen waren. Hier wollten wir vor der Arbeit uns ein wenig setzen, auf die Bäume hinausschauen und ein Stück Brot essen.

Aber noch ehe der Vater sich niederließ, sah er lange und unverwandt auf eine Stelle hin.

Am Fuße einer Weißtanne lag ein Mann. Ein Jägersmann mit einem Schießgewehr; die Locken gingen ihm über Stirn und Auge, man wußte nicht, ob er denn wirklich so fest schlafe, als es aussah.

Mein Vater trat endlich hinzu, schob aber mich mit der Hand hinter sich zurück. Dann sahen wir es: Der Mann lag in einer Blutlache; der aus einer Halswunde sprudelnde Quell war bereits gestockt.

Mein Vater legte die Hände ineinander und sagte ganz leise: »Jetzt haben sie da den Jäger Wolf erschlagen!«

Als ich hierauf zu weinen begann, hob mich mein Vater empor zu seiner Brust; und wie ruhig er auch scheinen wollte, ich hab' es doch wahrgenommen, wie ihm war. Dann untersuchte er den Erschlagenen – die[214] Augen waren gebrochen, die Lippen fahl wie trocken Erdreich – das Leben war dahin.

»Mit dem Weidenschneiden ist es heute nichts,« sagte mein Vater, »jetzt muß einer von uns Leute holen, daß sie den Wolfgang wegtragen; und der andere wird dieweilen dableiben müssen. Einen Toten kann man nicht allein lassen, solange er nicht im Grabe ruht. Es könnte auch leicht ein Tier über ihn kommen. Das beste wird sein, ich gehe hinaus in den Brandgraben zu den Holzknechten, und du setzest dich schön still da unter das Kreuz.«

Mir gab's einen Stich. Wie konnte mir mein Vater das antun, mich stundenlang allein lassen im Walde bei einem Toten! Aber ich wußte die Wege nicht und hätte die Holzknechte nicht gefunden.

»Freilich, Büblein, ist das ein trauriges Warten da,« fuhr er fort, »aber wachen, diese christliche Lieb' müssen wir dem Wolf schon erweisen.«

Ich starrte auf den Toten.

Mein Vater zog seine kleine Axt aus dem Gürtel, mit welcher er die Weidenruten hauen wollte, und fällte nun Äste von den Bäumen und hüllte den Jägersmann mit Reisig ein. Dann kniete er nieder vor der grünen Bahre und betete still ein Vaterunser. Und als er sich wieder erhob, sagte er: »Und jetzt, mein Knabe, tu' unserem Mitbruder den Liebesdienst, und wache. Die Axt laß ich dir da, die halt' fest. Fuchsen und Raben können leicht kommen; andere Raubtiere weiß ich in der Gegend nicht. Bis zu den Weiden dort magst hingehen, aber weiter weg nicht. Ich will recht eilen; bis die Schatten anheben zu wachsen, wird schon wer kommen!«

[215] Dann legte er für mich Brot unter ein Bäumchen und ging davon. Er ging hin quer über die Wiese, wie wir hergegangen waren, und er verschwand in dem Dunkel des Waldes.

Nun war ich allein auf der umwaldeten Wiese und das Sonnenlicht war ausgegossen über die einsame Matte, über die glitzernden Weiden und über den stillen Reiserhügel am Waldrande. Ich wollte nicht hin blicken auf die seltsame Bahre; ich schritt gegen das Weidengebüsche, aber mein Auge wendete sich immer wieder zurück zum roten Kreuze und zu dem, was daneben lag.

Der arme Jäger Wolf Ich wußte es noch recht gut, wie er vor wenigen Jahren mit seiner Braut und seinem Hochzeitszuge an unserem Hause vorübergekommen war. Die Waldhörner und die Pöller schallten, daß die Fenster unseres Hauses klirrten. Der Wolf war ein hübscher Bursche gewesen; einen großen Strauß trug er auf dem Hut, und ein rotes Band ging nieder über seinen Nacken, wo jetzt die Blutstrieme war.

Ich ging den Weidenbüschen entlang. Manches Zweiglein regte sich und zitterte fort und fort. Hie und da schnellte ein Heupferdchen. Ich bog die Äste auseinander und blickte in das Wässerlein; das stand still unter dem dichten Flechtwerke und glitzerte kaum. Ein großgefleckter Molch kroch hervor und nahm seine Richtung gegen mich; da floh ich entsetzt davon.

Dann begann ich mit meinen kurzen Schritten die Schatten der Bäume zu messen – bis diese zu wachsen anheben, kommen die Leute. – Noch aber wurden sie kürzer und kürzer. Die Sonne stand hoch über dem Teufelsstein und über dem Talgrunde lag ein bläulicher Duft.

[216] Ich kehrte wieder zum Kreuze zurück und setzte mich auf den Stein, auf welchem sonst andächtige Waldwanderer knien. Das Kreuz war hoch und hatte keinen Heiland. Weit streckte es seine Arme aus, als wollte es den Wald umfangen.

Ich wendete mich von dem Pfahle und von dem Bahrhügel und sah hin gegen den Bergrücken des Teufelsstein. Die Himmelsglocke lag in mattem Blau, kein Vogel und kaum eine Mücke war vernehmbar. Es war ein fast traumhafter Frühherbstmittag, durchklungen von einer ewigen Stille.

Wildschützen haben ihn erschossen. Ich ging über die Wiese und sagte mir, wenn ich zehnmal über die Wiese gegangen sein würde, dann wollte ich wieder den Schatten messen. Aber der Schatten duckte sich noch mehr unter die Bäume als früher.

Dann ging ich hin zu der verhüllten Leiche des Waldmannes und stand lange vo e derselben; ich fühlte kaum ein Schauern mehr. Dann setzte ich mich wieder unter das Kreuz und aß ein Schnittchen Brot. Da hörte ich plötzlich ein Knistern; ein Reh stand und guckte durch das Gestämme.

Zuletzt kam das Tier gar zu dem Reiserhügel heran und schnupperte; vor diesem Jägersmanne fürchtete es sich nicht mehr. Erst als es den Pulvergeruch des Gewehrlaufes gewahrt haben mochte. wendete es sich mit großen Sätzen dem Dickichte zu.

Endlich, als ich wieder den Schatten maß, hatte er sich um ein weniges gedehnt. Ich mußte ja doch schon viele Stunden auf der Wildwiese geweilt haben.

Wie immer, so hatte mein Vater auch diesmal recht.

[217] Ich hörte einen getragenen Schall und Widerhall im Walde. Es nahten Menschen. Doch nicht die Holzknechte waren es, die um den Wolfgang kommen sollten, sondern quer über die Wiese her kan ein junges Weib, das trug einen Korb am Rücken und führte ein etwa dreijähriges Kind am Arm. Sie sangen ein lustiges Kinderlied, und das kleine Mädchen lachte dabei und hüpfte flink über das weiche Gras.

Ich erkannte die Nahenden bald, es war das Weib und das Kind des erschlagenen Jägers Wolf.

Sie kamen heran, und als sie mich sahen, sagte die Jägerin zum Mädchen: »Schau, Agatha, da beim Kreuz sitzt ein Bub', der betet ein Vaterunser; das ist gar ein braver Bub.«

Dann kniete sie hin auf den Stein, legte die Hände zusammen und betete auch. Das Kind tat desgleichen und war gar ernsthaft dabei.

Wie mir wehe war! Wie hätte ich sagen können, was unter dem Reisig lag? Sie wußten von nichts. Ich ging abseits gegen die Weiden.

»So, mein Herz,« sagte das Weib hierauf zur Kleinen, »jetzt geh' ich Enziankraut schneiden, du setz' dich dieweilen da auf das G'reisigbett und brocke dir Zäpfchen ab. Hernach kommt der Vater vom Teufelsstein herab, und hernach setzen wir uns zusammen und essen den Schottenkäs, den ich im Korb hab', und hernach hopsen wir lustig miteinander heimzu.«

Und sie setzte das Kind auf den Reiserhaufen – auf die Bahrstätte des Vaters. Dann ging sie mit dem Korb gegen den Wiesenrain, wo Gebüsche von Enzian standen. Von dort aus rief sie mich an, was ich denn [218] so allein mache auf der Wildwiese, ob ich mich verirrt hätte oder etwa Ziegen suchte?

Ich wußte keine Antwort, deutete auf einen großen schneeweißen Schmetterling und sagte: »Jetzt schau das Tier an, wie's herumfliegt! schau, wie's fliegt!«

»Bist ein Närrisch, du!« versetzte die Jägerin lachend und ging an ihre Arbeit.

Die kleine Agatha spielte auf dem Reiserhügel, sie zupfte an den Zweigen und wühlte in denselben und nestelte etwas hervor. Endlich wurde ihr bang und sie hub an nach der Mutter zu rufen.

Nach einer Weile kam das Weib heran, da hielt ihm das Kind einen Ring entgegen und sagte: »Schau, das hab' ich gefunden, das ist des Vaters!«

Die Jägerin tat einen hellen Ruf: »Kind, wie kommst du zu diesem Ring?«

Die Kleine lächelte vergnügt.

Das Weib hub das Kind auf die Erde, warf einen Blick auf das Gezweige und stieß einen gellenden Schrei aus. Sie sah im Reisig eine Menschenhand.

Wie wütend stürzte sie hin auf die Schichtung und raffte die grünen Zweige auseinander – mit Hast und heißer Angst – dann sank sie zurück und schlug sich die flachen Hände in das Antlitz. Vor ihr lag er im Blute erstarrt.

Zur selben Stunde gingen zwei Holzhauer über die Wiese und brachten eine Tragbahre mit. Zuerst knieten sie vor dem Toten und beteten. dann hoben sie ihn auf die Bahre, legten das Gewehr an seine Seite und trugen ihn davon.

Der Korb blieb stehen bei dem Enziangebüsche, das [219] Weib folgte der Bahre; es sagte kein Wort, es vergoß keine Träne, es trug das spielende Mädchen auf dem Arm. Das starre Angesicht der Gattin, das helläugige Lockenköpfchen des Kindes hinter der Bahre her – das mag ich nimmermehr vergessen.

Ich bin auch hinten dreingegangen. Die Weiden standen in ihrem wässerigen Schimmer; die Schatten der Tannen lagen hingestreckt über die ganze Wiese. Das rote Kreuz ragte regungslos im Dunkel des Waldrandes.

Die Bahre schwankte dem fernen Jägerhause zu. Ich ging gegen unser Gehöfte. Als ich zu demselben hinabkam, führten handfeste Burschen einen Mann herbei. Es war der schwarz' Toni. Da wir ihn am Morgen im Lärchenanwachs gesehen, st hatte mein Vater auf seine Spur gewiesen. Der Richter kam, und unter der großen Esche, die vor unserem Hause stand, wurde das Verhör gehalten. Der Toni war geständig, den Jäger Wolf aus Rache erschossen zu haben. Hierauf wurde der Bursche in Ketten gegen die Stadt geführt, aus der er einst als Wickelkind gekommen war.

Als ich in die Stube kam, saß mein Vater an seinem Bette. Er war sehr bewegt, hub mich zu sich auf das Knie und sagte: »Bübel, das ist ein böser Tag gewesen.«

Wir gingen in jenem Jahr nicht mehr hinauf zur Wildwiese. Seither aber bin ich wohl mehrmals auf derselben gewesen. Die Weiden glitzern, die hohen Fichten stehen noch heute – und ihr Schatten schwindet und wächst, wie das trübe Erdengeschick, und ihr Schatten wächst und schwindet, wie das menschliche Leben.

Dreihundertvierundsechzig und eine Nacht
[220] Dreihundertvierundsechzig und eine Nacht.

Mein Vater hatte vier große Ziegen im Stalle stehen, so wie er vier Kinder hatte, welche zu den ersteren stets in freundschaftlicher Beziehung standen. Jede der Ziegen hatte ihren kleinen Futterbarren, aus dem sie Heu und Klee fraß, während wir sie molken. Keine einzige gab die Milch an. leeren Barren. Die Ziegen hießen Zitzerl, Zutzerl, Zeitzerl und Heitzerl und waren, einer schönen Schenkung zufolge, das Eigentum von uns Kindern. Das Zitzerl und das Zutzerl gehörten meinen zwei Schwesterchen; das Zeitzerl meinem achtjährigen Bruder Jackerl, das Heitzerl war mein!

Jedes von uns pflegte und hütete sein ihm zugeteiltes Gespons in Treue; die Milch aber taten wir zusammen in einen Topf, die Mutter kochte sie, der Vater schenkte uns dazu die Brotschnitten – und Gott der Herr den Hunger.

Und wenn wir so mit den breiten Holzlöffeln, die unser Oheim geschnitzt hatte, und die ihrer Ausdehnung wegen fürs erste kaum in den Mund hinein, fürs zweite kaum aus demselben herauszubringen waren, unser Nachtmahl ausgeschaufelt hatten, so nahmen wir jedes unseren Roßhaarkotzen und legten uns, eins wie's andere, in den Futterbarren der Ziegen. Dos waren eine Zeitlang unsere Betten, und die lieben Tiere befächelten uns mit ihren weichen Bärten die Wangen und beleckten uns die Näschen.

[221] Aber, wie wir Kindlein auch in der Krippe lagen, so kam das Einschlafen auch nicht just immer nach dem ersten Lecken. Ich hatte von unserer Ahne wundersame Geschichten und Märchen im Kopfe.

Die erzählte ich nun in solchen Abendstunden, und meine Geschwister waren darüber glückselig, und die Ziegen hörten auch nicht ungern zu; nur daß diese dann und wann, wenn ihnen das Ding gar zu unglaublich vorkam, so ein wenig vor sich hinmeckerten oder mit den Hörnern ungeduldig an den Barren pufften. Einmal, als ich von der Habergeiß erzählte, die, wenn sie um Mitternacht auf dem Felde schreit, den Haber (Hafer) schwarz macht, und die nichts frißt, als die grauen Bärte alter Kohlenbrenner, da begann mein Heitzerl dermaßen zu meckern, daß die anderen drei auch mit einstimmten, bis meine Geschwister schließlich in ein Gelächter ausbrachen, und ich wie ein überwiesener Aufschneider erbärmlich schweigen mußte.

Von derselben Zeit an erzählte ich meinen Schlafgenossen lange keine Geschichten, und ich nahm mir vor, mit dem Heitzerl mein Lebtag kein Wort mehr zu reden.

Da kam der Sonnwendtag. An diesem Tage kochte uns die Mutter den üblichen Eierkuchen, mein liebstes Essen auf der Welt. In diesem Jahre aber hatte uns der Geier die beste Leghenne geholt, so wollte sich das Eierkörblein nicht mehr füllen und als am Sonnwendtag der Kuchen kam, war er ein gar kleinwinzig Küchlein. Wehmütig lugte ich hin auf den Holzteller.

Mein fünfjährig Schwesterchen guckte mich an, und wie wenn es meine Sehnsucht wahrgenommen hätte, rief es plötzlich: »Du, Peterl, du! wenn du uns ein ganzes [222] Jahr in jeder Nacht eine Geschichte erzählen magst, so schenk' ich dir meinen Teil von dem Kuchen!«

Dieser hochherzigen Entäußerung der Kleinen stimmten seltsamerweise auch die anderen bei, sie patschten in die Hände, und ich ging die Bedingung ein. So stand ich plötzlich am Ziele meiner Wünsche und hatte auch mein Ehrgeiz etwas davon.

Ich nahm meinen Kuchen unter die Jacke hinein und ging damit in die Milchkammer, wo mich niemand sehen und stören konnte. Dort verriegelte ich die Türe, setzte mich auf einen umgestülpten Zuber, und ließ meine zehn Finger und das wohlgeordnete Heer meiner Zähne über den armen kleinen Kuchen los.

Aber nun kamen die Sorgen; daß meine Geschwister strenge auf ihrer Forderung bestehen würden, daran konnte kein Zweifel sein. Ihr Opfer wat groß genug gewesen. Anfangs tat es sich ja, ich hatte noch ein Vorrätchen seltsamer Historien, aber das war bald erschöpft. Dann ging ich auf meinen Hirtenzügen Pecher, Kohlenbrenner, Halter und manches wohlerfahrene Weiblein, wie ich's im Wald und auf der Heide traf, um eine Geschichte an. Es waren ergiebige Quellen, und ich war jedin Abend in der Lage, meiner Schuldigkeit nachzukommen. Mitunter allerdings war's ein Elend, bis ich was Neues auftrieb, und nach einer Zeit geschah es nicht selten, daß das Schwesterlein mich unterbrechend von seinem Barren herüberrief: »Du! die wissen wir, die hast uns schon erzählt!«

Ich sah wohl, daß ich auf neue Wege sinnen mußte, und war daher bemüht, das Lesen besser zu lernen, um aus manchen Geschichtenbüchern, wie sie in den Waldhütten nutzlos auf den rußigen Wandstellen herumlagen, [223] Schätze zu ziehen. Nun hatte ich neue Quellen: die Geschichte von der Pfalzgräfin (das Jackerl sagte immer Schmalzgräfin) Genovefa; die vier Heymonskinder; die schöne Melusina; Wendelin von Höllenstein – ganz wunderbare Dinge. Da sagte mein Bruder wohl oft aus seiner Krippe heraus: »Mein Kuchen reut mich gar nicht! Das ist wohl soviel unmöglich schön. Gelt, Zeitzerl?«

Nun wurden die Abende zu kurz und ich mußte eine solche Geschichte in Fortsetzungen geben, womit aber klein Schwesterchen schier nicht einverstanden sein wollte, denn es behauptete, für jede Nacht eineganze Geschichte! so sei es ausgemacht.

So verging das Jahr. Ich erwarb mir nach und nach eine gewisse Fertigkeit im Erzählen, und tat es sogar hochdeutsch, wie es in den Büchern stand! Ost geschah es auch, daß sich während des Erzählens meine Zuhörer tief in die Kotzen vergruben und vor Schauer über die Räuber- und Geistergeschichten zu stöhnen anhuben; aber aufhören durfte ich doch nicht.

Es war schon wieder der Sonnwendtag nahe, und mit ihm die Lösung meines Vertrages. Doch – ein eigen Geschick! – noch vor dem letzten Abend ging mir gänzlich der Faden aus. Alle meine Erinnerungen, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, alle Männlein und Weiblein, denen ich begegnete, waren erschöpft – alles ausgepumpt – alles hoffnungslose Dürre. Bat ich meine Geschwister: »Morgen ist der letzte Abend – schenkt ihn mir!« War ein Geschrei: »Nein, nein, nichts schenken! Du hast deinen Sonnwendkuchen kriegt!« Wieder die Ziegen meckerten mit.

[224] Am nächsten Morgen ging ich herum, wie ein verlorenes Schaf. Da kam mir plötzlich der Gedanke: Betrüge sie! Dichte was zusammen! Aber alsogleich schrie das Gewissen drein: Was du erzählst, das muß wahrhaftig sein! Du hast den Kuchen nahrhaftig bekommen!

Doch geschah im Laufe dieses Tages ein Ereignis, von dem ich hoffte, daß es im Drange der Aufregung mich meiner Pflicht entbinden würde.

Mein Bruder Jackerl verlor sein Zeitzerl. Er ging in kreuz und krumm über die Heide, er ging in den Wald und suchte klagend und rufend die Ziege. Aber endlich spät am Abend brachte er sie heim. Ruhig aßen wir unsere Suppe, gingen in unseie Krippen und von mir wurde die Geschichte verlangt.

Es war still. Die Zuhörer harrten in Erwartung. Die Ziegen scharrten im Wiederkauen mit den Zähnen.


Nun denn, so sollen sie die Geschichte haben.

Ich sann – – ich begann:

»Es war einmal ein großer, großer Wald gewesen. Und in dem Wald war es allweg finster gewesen. Keine Vöglein haben gesungen; nur der Totenvogel hat geschrien. Mitten in diesem Wald ist eine Heide, wie der Totenacker so still, und wer über dieselbe hingeht und nicht umkehrt, der kommt nicht mehr zurück. über diese Heide sind einmal zwei blutige Knie gegangen.«

»Jesses Ma– !« rief mein älteres Schwesterl aus und alle drei krochen unter die Kotzen.

»Ja, zwei blutige Knie,« fuhr ich fort, »und die sind über die Heide dahingeschwebt gegen den finsteren Wald, wie verlorene Seelen. Aber auf einmal sind die zwei blutigen Knie –«

[225] »Ich schenk' dir mein blaues Hosenband, wenn du still bist!« wimmerte mein Bruder angstvoll und verbarg sich noch tiefer in die Decke.

»– sind die zwei blutigen Knie stillgestanden,« fuhr ich fort, »und auf dem Boden ist ein Stein gelegen, so weiß, wie ein Leichentuch. Dann sind zwei funkelnde Lichtlein gewesen zwischen den Bäumen, und darauf sind vier andere blutige Knie dahergegangen.« –

»Mein neues Paar Schuh' schenk' ich dir, wenn du aufhörst!« hauchte das Jackerle in seinem Trog und zog aus lauter Furcht das Zeitzerl am Barte zu sich.

»Und so sind alle sechs zusammengegangen durch den finsteren Wald, und heraus auf die Heide und über das Haferfeld herab zu unserem Hause – und herein in den Stall –«

Jetzt kreischten alle drei auf, und sie wimmerten vor Angst, und klein Schwesterlein versprach mir mit Zagen seinen Teil von dem auch heuer wieder zu erwartenden, morgigen Sonnwendkuchen, wenn ich aufhöre. Ich aber fuhr fort:

»Jetzt – na, jetzt hab' ich zum Anfang zu sagen vergessen, daß die zwei ersten blutigen Knie unserem Jackerl und die vier letzteren seinem Zeitzerl gehört haben – wie sie heut' im Wald herumgegangen sind, und daß die Knie nicht auswendig, sondern nur inwendig blutig sind gewesen.«

Brach das Gelächter los. »Jeder Mensch hat zwei blutige Knie!« rief Schwesterlein, und die Ziegen meckerten, daß es ein Spott war.

Ich hatte meine Rolle ausgespielt. Dreihundertvierundsechzig Nächte lang hatte ich geglänzt als weiser,[226] wahrhaftiger Geschichtenmann; die dreihundertfünfundsechzigste hatte mich entlarvt als argen Schwätzer.

Das Versprechen in betreff des zweiten Sonnwendkuchens wurde rückgängig gemacht; Schwesterlein erklärte, die Zusage sei nichts als Notwehr gewesen.

Und die Gläubigkeit meiner Zuhörerschaft hatte ich mir verdorben ganz und gar, und wenn sie in Zukunft an irgendeinem Erzählten ihre Zweifel ausdrücken wollte, wollte, so hieß es einstimmig: »Al a, das ist wieder ein blutiges Knie!«

Ob nicht auch die Leser meiner gedruckten Geschichten schon manchmal mit eingestimmt haben?!

Geschichten unter dem wechselnden Mond
[227] Geschichten unter dem wechselnden Mond.

Eine sommerliche Mondnacht im Waldlande! Was kann es auf dieser Erde Lieblicheres geben!

Das Haus steht einsam auf der tannenumgrenzten Au. Alles ruht; der Brunnen aber sprudelt seine ewige Kette. Diese hebt in der Dunkelheit nun auf einmal an zu glühen und zu funkeln. Dort über den scharfgeschnittenen Zacken des Tannenwaldes steigt still und klar der Mond herauf, als hebe er sich empor mitten aus einem geheimnisvollen Urwalde, in dem die wunderbaren Märchen sind. Der höchste Wipfel eines alten Baumes steht noch wie ein schwarzer Punkt in dem leuchtenden Rund. Aber bald löst sich dieses los von den dunkeln Massen des Waldberges und steht frei auf dem Himmelsgrund und wird immer reiner und glänzender; und die Schattengestalten auf der Au heben sich scharf ab vom blassen Boden, und über den Wäldern liegt der strahlendurchwirkte, bläuliche Duft.

Heute noch träume ich in solchen Mondnächten den glückseligen Traum vom Reiche Gottes auf Erden. Und vollends, als ich noch ein Knabe, nicht allein den Glauben an Gott, sondern auch noch den an die Weltheit hegte, da lebte ich in den ahnungsvollen Stunden eine große [228] Seligkeit. Ich war in solchen Mondnächten kaum zu Bette zu bringen. Da stand ich an der Tür vor dem Hause, sah den Mond an und dachte – an das Paradies.

Der Mond – er kam ja vom Paradiese her, sah man doch, wie er mit den Augen zwinkerte und vielsagend lächelte, als wisse er so manches, was er den Menschen wohl leise andeuten, aber nicht erzählen dürfe. Gott hat's verboten. Und so blieb er stumm bis auf den heutigen Tag, er lächelt uns nur von weitem so an, und weise Männer sagen, eines Tages würde der tanzende Alte schwindelig werden, würde einen Sprung machen nieder auf die Erde.

Ob wir dann wohl Näheres erfahren werden?-

Meine Ahne, welche zu jener Zeit, die ich meine, noch immer um mich war, deutete oft mit dem Finger nach dem Mond und rief:

»Du schau, Bübel, schau, der Mannähndl!«

Mannähndl, so heißen die Kinder bei mir daheim den Mond.

Dann setzte die Ahne noch dazu:

»Lug' aber recht, Bübel, dort drin im Mannähndl sitzen Adam und Eva!«

Ja richtig, da sah ich wohl auch selbst die zwei dunkeln Gestalten, unsere ersten Voreltern im Monde sitzen. Sie dürfen des Sündenfalles wegen nicht in den Himmel hinein, sie müssen zur Strafe im Monde verbleiben und niedersehen auf das Elend, das sie angerichtet haben.

Recht liebhaben mögen sich die zwei noch immer, dennoch aber müßt' ihnen schauderlich langweilig werden bei ihrem Sitzen im Monde, täten sie nicht doch zuweilen hiernieden auch was anderes sehen als Elend.

[229] Es gehört dieses nicht ganz in die jungen Jahre des Waldbauernbuben hinein, aber zu leugnen ist's eben nicht: Der Weidknecht liegt auf seinem öden, einsamen Heu und kann nicht schlafen. Eine übermütige Heuschreck' hüpft fortweg über seine Knie und schließlich gar auf sein Gesicht. Der Mond guckt durch das Dachfensterchen herein und blinzelt. Hol' der Kuckuck so ein Liegen da! denkt sich der Bursche und steht auf und geht hinaus in die schöne, wohlige Nacht. Wohin?

Der Mond guckt ihm nach – verrät aber nichts.

Ich auch nicht.

Ich war schon ziemlich erwachsen, als ich merkte, wo Bartel den Most holt. Dann freilich ging ich sofort auch mit meinem Kruge aus. Der Mond hat es gesehen, wie mir's dabei erging. Ich wußte, in der hinteren Zimmerung des Nachbarhofes schlief sie mit dem gelben Haar. Ich krümmte den Zeigefinger und klopfte und flüsterte: »Du!« Da hörte ich, wie sich's drin rührte, pusterte und mit den Zähnen scharrte; endlich hub es an zu meckern. Ich war an den Ziegenstall geraten.

Sofort versuchte ich es bei dem nächsten Fenster.

»Närrisch, du!« sagte sie in der Kammer, »was willst denn jetzt um Mitternacht? Ist ja die Geisterstund'!«

»Ja,« sagte ich, »desweg fürchte ich mich und möcht' gern zu zweien sein.«

»Schau,« entgegnete sie, »bei mir ist das gerade umgekehrt. Ich schlaf' zu einzeln gut und tät' mich zu zweien fürchten.«

»Aber du wirst einsehen, Julie, es ist eine kalte Nacht –«

[230] »Bigott, Bübel!« sagte das Mädchen mit dem gelben Haar, »erkälten darfst du dich nicht; das litte ich auf keine Weis'. Und desweg ist es, daß ich dir treuherzig sag': geh' heim in dein warmes Bett!«

Ich denke über diese soviel närrische Zeit hinweg lieber wieder an die Kindschaft zurück.


Gingen ich und meine Mutter einmal mitten in der Nacht durch den Wald. Es war ein Kohlenbrennermädchen gestorben, und nun gingen wir zur Bahre, um zu beten und den Eltern der Verstorbenen die Leichenwache halten zu helfen. Wir schritten langsam über das Moos dahin, der Wald war finster. Hoch über den Wipfeln aber stand der Vollmond und legte, wo er durch das dichte Geäste dringen konnte, milchweiße Sternchen und Täfelchen vor uns auf den Boden.

Als wir in eine kleine Lichtung kamen, stand meine Mutter still, wendete ihr Gesicht empor, hielt eine Hand über die Augen und sagte:

»Jetzt, da kann man es einmal schön sehen, das Spinnrad unserer lieben Frau.«

Sie meinte den Mond, der ja so zarte Fäden spann hernieder zwischen den Wipfeln und Ästen.

Dann wendete sich die Mutter zu mir:

»Du hast gute Augen, Bub. Lug' in den Mannähndl hinein, dort drin sitzt unsere liebe Frau und tut spinnen. Sie spinnt ein himmlisches Kleid für das Mägdlein, das heute auf der Bahr' liegt. Und guck' noch ein wenig. Deine Urahne sitzt auch daneben!«

[231] Wahrhaftig, da sah ich's, dort im Monde saßen zwei wunderholde Frauen beim Rocken.

Dann gingen wir wieder, und der Mond oben ging mit uns den gleichen Schritt und spann seine himmlischen Seiden nieder in unseren weiten Wald.

Als wir zum Hause kamen, in welchem das Kohlenbrennermädchen lag, stand die Tür weitmächtig offen, und der Mond schien hinein auf die Leiche, und das Angesicht des Mädchens war zart und lieb und mild, wie weißes Wachs.

»Es ist uns das Öl ausgegangen,« sagte der Kohlenbrenner, »wir können keine Ampel herstellen, und so haben wir die Tür ausgemacht, daß der Mondenschein das Totenlicht sollt' sein!«

Da dachte ich wohl gleich an unsere liebe Frau; sie spinnt für das Mägdlein ein himmlisches Kleid.

Wir wachten so lange bei der Leiche, bis das Morgenrot auf den Waldwipfeln begann zu schimmern und der Mond blaß und glanzlos niedersank hinter den fernen Felsen des hohen Schwab.

Dann huben sie das Kind auf und trugen es davon. Und als der Mond wieder kam, fand er auf dem Kirchhof einen neuen Hügel und ein hölzernes Kreuzlein darauf, und darüber senkte er süß und still seinen Strahlenschimmer.

Ein anderes Mal war wieder Leichenwache.

Des Waldjosel kleiner Franz war gestorben, und ich, ein Knabe mit neun Jahren, nahm mein Erbauungsbuch [232] und mein Fernrohr, das ich einem alten Hausierer abgeschachert hatte, und ging zur nächtlichen Leichenfeier.

Wir besaßen im Hause einen hundertjährigen Kalender, der hatte schon vor vielen Jahren für die heutige Nacht eine Mondesfinsternis prophezeit, ohne daß er gewußt haben mochte, daß ich, der Waldbauernbub, um diese Zeit wirklich mit einem Fernrohre gerüstet war. Ich wollte doch gar zu gern sehen, wie das schwarze Ungetüm, das kein Mensch kannte und das auch der Hundertjährige nicht zu beschreiben wußte, den lieben Mond anpacken und sich in denselben hineinfressen würde.

Als ich über die Felder ging, stieg der runde Mond gerade über die Teufelssteinwälder herauf, vollwangig und freundlich lächelnd. Er hatte wohl keine Ahnung, was nach dem Hundertjährigen ihm heute bevorstand. Mein Instrument hielt ich in der inneren Rocktasche verborgen und so kam ich zum Hause, wo der tote Franzel lag. Er lag in der Wohnstube aufgebahrt und daneben stand ein Tisch, um welchen schon mehrere Leute saßen, die Tabak rauchten, dabei über Wirtschaftsdinge sprachen und auf mein Vorlesen warteten. Glaubensgrübler waren dabei, so die alte Riegelbergerin, so der Holzschlager Thomerl; und und das war mir gerade recht, denn ich hatte in meinem Buche ein Kapitel über den Weltuntergang vorbereitet.

Zuerst, als sich die Weiber herangezogen hatten, wurde ein geistliches Lied gesungen:


»Hört, liebe Kinder insgemein,

All' Reiche, Arme, Groß und Klein,

Höret zu mit Traurigkeit,

Der jüngste Tag ist nimmer weit.

[233]

An einem so erschrecklichen Tag

Da fallen die Stern vom Himmel herab;

Sonn' und Mond verfinstern sich,

Die Allmacht Gottes kündet sich.«


Und weiter war im Liede die Rede vom Tale Josaphat, von Posaunengetön, von der Auferstehung der Toten und vom Gerichte.

Somit war das Volk in die rechte Stimmung versetzt. Ich schlug mein Buch auf, um mit den Vorhersagungen eines theologischen Schriftstellers und mit nachdrücklicher Stimme die Wahrheit des Liedes zu beweisen. Die prächtigsten Zeichen und Wunder predigte ich zusammen; die Sterne purzelten vom Himmel wie Hagelkörner und Sonne und Mond verfinsterten sich derart, daß ein alter Bauer, der Brunnmichel, es für nötig hielt, mit den Fingern das Kerzenlicht zu putzen. »Au weh!« sagte er dabei, »auch beim Waldjosel ist das Feuer heiß.«

»Ja, das magst dir merken,« meinte die alte Riegelbergerin, »und kein solcher Übermut sein, du alter Tatel. Bedenk's nur, wenn schon das Feuer beim Waldjosel so heiß ist, wie wird's erst in der Höll' brennen!«

»Bedank' mich sauber für deine Christenlehr',« antwortete der Brunnmichel, »du meinst, weil ich, der siebzig Jahre alte Schippel, aufs Steirischtanzen noch was halt'. Weißt, Riegelbergerin, ich denk' mir halt so:


Seid's lustig, seid's lustig,

Tut's singen und hupfen,

So kann euch der Teuxel

Kein Haar'l ausrupfen!«


[234] »Aber du mein Gott!« rief der Holzschlager Thomerl entrüstet, »jetzt hebt er mit seinen Schelmenliedern an, und neben uns liegt ein Totes!«

»Jesus Maria und Josef!« kreischte ein Weib und riß ihren Kopf vom Fenster zurück, »schaut's hinaus, Leut', der Jüngste Tag! Den Mond schaut's an, ein großmächtiges Stuck ist weg'brochen!«

Alles stürzte zu den Fenstern, zur Tür.

»Das ist gewiß, der höllisch' Drach frißt den Mond am!«

»Und kehr' die Hand um, wird er auch die Sonn' im Rachen haben, nachher, behüt' dich Gott, Taglichten, nachher mögen wir in der Finsternis den Haher schneiden.«

»Ka, wenn einer wachst!«

»Ja, wenn einer anbaut wird! Ich denk', nach dem Haberfeld werden wir nicht viel fragen. Werden bald die Posaunen zu hören kriegen!«

»Wer hätt's gemeint, daß wir das nochsollten erleben!«

»Und von Toten auferstehen sollten, ehvor wir gestorben sind,« sagte der alte Michel, »aber ich fürcht', es ist nur eine Mondesfinsternus.«

In der Erregung war das Licht ausgelöscht; die Ampel an der Leiche glimmte kaum; der Mond schien mit mattem Lichte auf den Fußboden der Stube her ein. Ich tat mein Fernrohr hervor, zog es auseinander und hockte unter den Tisch hinab, damit ich durch das kleine Fenster mit meinem Instrumente dem schon hochstehenden Mond beikommen konnte.

Ich erschrak selber. Der ganze untere Teil, wo[235] sonst Adam und Eva saßen, war weg, und der andere, der noch da war, zitterte, wie das zusammengebrochene Lamm vor dem Wolfe.

Mehrere Weiber waren, wie es bei Finsternissen gebräuchlich, mit Hafendeckeln, Pfannen und Töpfen ins Freie geeilt und huben an zu schellen und zu klirren: vielleicht geläng' es doch noch, dem Ungeheuer die Beute abzujagen.

Mittlerweile war die vorher leuchtende Scheibe schier zu einem Kipfel zusammengeschwunden und ich begann nun zu meinem Erstaunen auch jenen Teil wiederzusehen, der gar nicht da war. Es stand wahrhaftig noch der ganze Mond am Himmel, nur war er fleckig und schwarz geworden, wie im Herbst die kranken Erdäpfel schwarz werden. Und nun dachte ich bei mir: Es sieht nicht aus, als ob ein Ungeheuer den Mond im Rachen hätte, es weist sich vielmehr, als wie eine Krankheit, die den lieben Mond überfällt, daher auch das Fieber, das Zittern, wie ich es durch mein unruhiges Fernrohr beobachten konnte.

Ich war mitten in meinen Forschungen, da rief plötzlich einer: »Was macht denn der da unter dem Tisch? Hat er was Heimliches?«

»Das werden wir gleich sehen, herauf mit dem Waldbauernbuben!«

Sie zogen mich hervor, und jetzt sahen sie mein Instrument, womit ich den Mond betrachtet hatte.

Das war Unheil. Zuerst fuhr die Riegelbergerin auf mich los. Sie hieß mich den Unchrist, der selber nicht glaubt, was er gerade erst aus dem heiligen Buch gelesen hat, der wie die Heiden mit Röhren und Gläsern den [236] Himmel ergründen will, mit Teufelswerkzeugen dem Herrgott gleichsam ins Auge schaut und in den Magen hinein!

Der Holzschlager Thomerl riß mir das Fernrohr aus der Hand und stürzte damit zum Ofen: »Da gehört's hinein!«

Alles war aus Rand und Band und wollte mir böse. Da flüsterte mir der Michel ins Ohr: »Bub, lüg' ihnen geschwind was vor, sonst kratzen sie dir die Augen aus.«

Jetzt rief ich den Leuten zu: »Seid's froh, daß ich mit dem Fernrohr hinaufgeschaut hab', daß ich's euch erzählen kann, wie's jetzt zugeht da oben!«

»Wir wollen's nicht wissen!« schrien einige.

»Ist alles Verblendung!«

»Na!« sagten ein paar Weiber spottweise, »wenn du schon so gescheit bist, so erzähl's halt, was du hast gesehen.«

»Soviel ich hab' sehen können,« sprach ich, »hält der Mond sein Sacktuch vors Gesicht und weint.«

»über was kunnt' er denn weinen,« rief die Riegelbergerin aufgeregt, »als über die Schlechtigkeit der Welt!«

»Oder über die Dummheit der Leute,« ergänzte der Michel.

Ich sah, daß es schief ging und meinte gleichwohl mit etwas Schalkheit, ich wäre in meiner Beobachtung nur zu früh gestört worden und hätt' es nicht so genau gesehen, möglicherweise – und mir habe es sogar so geschienen-hätte der Mond vor lauter Lachen sein Taschentuch vors Gesicht gehalten.

»So hat er wen ausgelacht!« sagte der alte Michel und schielte auf die Riegelbergerin hinüber.

[237] »Weißt du was, Bub!« fuhr mich diese an, »du bist ein Fabelhans und du gehst hinaus! – aber gleich gehst hinaus!« – Sie hob gegen mich ihre zwei mageren Fäuste.

»Oho!« rief der Michel und stellte sich dazwischen, »ist das eine Mode! Beim Leichwachen! Dem Bübel geschieht nichts, und jetzt, Weiberleut', singt's wieder eins, wißt's kein Lustiges, so tut's ein Trauriges, aber sein nach dem Takt, daß einer dabei tanzen kann...«

»Die Finsternis ist schon vorbei,« berichtete der Hausvater, der zur Tür hereinkam. Und siehe, der Mond war wieder licht und rund, er weinte nicht und lachte nicht – in stiller Freundlichkeit blickte er nieder auf den Zimmermann, der über den Anger schritt und auf der Achsel den kleinen weißen Sarg herantrug.

Neben diesem glitt ein schwarzes Ungeheuer daher. Es war der Schatten vom Zimmermann und dem Sarge.

Einmal zur Herbstzeit war ich mit Markus, unserem alten Knechte, spät abends noch auf dem Felde. Wir lehnten Habergarben aneinander; ich hielt die Garben zusammen, und der Markus bog die Hüte darauf.

Ich blickte dabei den ausgehenden Mond an und konnte mein Auge gar nicht wenden, bis der Markus plötzlich rief:

»Jesus Maria, das ist ein Unglück! Jetzt ist mir der Bub mondsichtig geworden!«

Ich erschrak.

Ich kannte einen Mondsüchtigen, der schlafend auf[238] allen Dächern herumstieg und dabei ein Gesicht hatte, so blaß, wie der Mond selber.

Der Markus lachte über meinen Schreck und ich wendete mein Auge von der Mondscheibe ab.

»Ja, ja, magst schon gucken,« sagte der alte Knecht, »jetzt aber werd' ich dir's deuten, wie der Mond da oben aufgekommen ist.«

Das war mir gleich recht, obwohl wenn der Markus was erzählte, man nie wußte, ob er zum Ernste oder zum Spaße rede; sein Gesicht freilich, das war dabei ernsthaft genug, und diesem nach meinte man immer, seine Worte seien der dreizehnte Glaubensartikel ein-für allemal. Aber ein paarmal waren doch Reden von ihm ertappt worden, die keinen Reisepaß durch das Land der Wahrheit mit sich getragen hatten.

»Wie der Mond aufgekommen ist?« fragte ich erstaunt.

»Wie der Mond aufgekommen ist,« versetzte der alte Knecht. »Spitz' die Ohren, Kleiner, aber fürcht' dich nicht, daß ich dich dran fasse; höre, gewesen ist es so: Wie Sankt Michael Adam und Eva aus dem Paradiese vertrieben gehabt hat, kehrt er zurück in den Himmel. – Nu, hast sie ausgejagt, diese Herrgottssakermenter? frägt der Gottvater. – Hätt' der Herr auch einen anderen schicken mögen! brummt Sankt Michael in seinen Bart; – nein du, Bart wird er keinen gehabt haben. Ich hab' mir, sagt er, in dieser Höllenfinsternis da unten das Knie angestoßen, daß schon all des Teufels ist, oder was. Beim Tag geht's noch an, da schupfen die Engel den Sonnenball hin und wieder; aber in der Nacht ist das schon eine stockfinstere Welt übereinand! Kann's der Eva [239] gar nicht für übel halten, wenn sie in der rabenschwarzen Nacht einen unrechten Apfel erwischt hat; wird schon noch öfters so was passieren. Die Leut' müssen einen Mond haben! – Ja? fragt der Gottvater, nu, so steh' ein wenig beiseite, Sankt Michael! ich erschaff' jetzt den Mond! – Richtig, hat's getan! Aber, sagt der Gottvater, auf daß die Leute wissen, daß es nur ein guter Wille ist von mir, und daß sie sich nicht eine Rechtssache daraus machen, so lasse ich den Mond im Monate allemal nur vierzehn Nächte scheinen, die übrigen vierzehn Nächte laß ich's finster sein. – Und deswegen,« setzte der Knecht bei, »haben wir den zunehmenden und den abnehmenden Mond.«

»Ja so, deswegen,« sagte ich sehr zufrieden; nun wußte ich schon mehr als der Pfarrer, der an die Offenbarungen unseres alten Evangelisten Markus nicht immer glauben wollte.

So ging es eine Weile fort, da kam endlich für mich und den guten Mond eine andere Zeit. Ich hatte in Kindberg einen Vetter, der ein gelehrter Mann war. Den besuchte ich einmal, und fand ihn desselben Abends spät auf dem Dache seines Hauses, wo er vor einer erschreckend großen Kanone stand. Die Kanone war schnurgerade auf den armen Mond gerichtet, der über den Giebeln des Ortes mit weinendem Vollgesichte stand und herniederschaute. Der Vetter guckte durch das gewaltige Rohr so hinaus und sagte dann zu mir:

»Jetzt komm', Bursche, stell' dich da her und gucke auch einmal!«

[240] So guckte ich denn auch einmal. – Josef und Jerum, hab' ich aber jetzt meinen Kopf zurückgeworfen! – Was habe ich gesehen? Da drin in der Kanone ist ein mächtig großes helles Schneefeld gewesen; und wie ich länger geschaut, hab' ich Berg und Tal gesehen und ein ganzes Alpenland – und alles wie von purem Eis und Schnee. Ich habe mit meinen Augen alle Höhen und alle Täler und Schluchten abgesucht – aber ich habe Adam und Eva nicht gefunden, und ich habe unsere liebe Frau mit dem Spinnrockennicht gefunden. –

»Ist ein schöner, lieblicher Glaube gewesen,« sagte mein Vetter, »und wenn du dabei bleiben willst, gut, aber gehen wir jetzt schlafen.«

»Nein,« rief ich, »wenn etwas dahinter steckt, so will ich's wissen.«

Dann hat mir der Vetter die Naturgeschichte des Mondes erzählt. – Was hab' ich jetzt? Einen starren, toten, ausgebrannten Himmelskörper ohne Wärme, ohne Lächeln – selbst das Licht ist nicht sein Eigentum.

Die fremden Holzknechte
[241] Die fremden Holzknechte.

Mein Vater verstand sich gut auf das Gerben derHäute, auf die Weberei, auf die Müllerei und auf das Leinölpressen. Bei letzterem war ich als etwa zehnjähriger Knabe ihm oft recht wacker behilflich, indem ich eine Schnitte Weißbrot ins Öl tauchte, das aus der Kluft der Preßbäume rann, und dann mit der gelbglänzenden Schnitte in meinen Mund fuhr.

Während solcher Beschäftigung trat eines Tages der Holzhändler Klemens Zaunreuter in die Preßkammer. Der war einmal Waldmeister bei einem Großgrundbesitzer gewesen, hatte sich aber im Holzhandel so heidenmäßig viel Geld erworben und war bei dieser unerquicklichen Beschäftigung ganz mager geworden, im übrigen aber immer noch leidlich bei Humor. Der Klemens fragte nun, als er in der Holzmulde das Rieseln hörte, ob der Most süß wäre?

Er solle ihn verkosten, lud mein Vater ein; aber als der Klemens die ganze Mulde hob und daraus einen Schluck machte, taumelte er zurück, als ob ihm einer einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hätte, und machte den Schluck auf das lebhafteste wieder ungeschehen.

»Schaden kann's nicht, Klemens,« tröstete der Vater, »es ist reines Leinöl.«

[242] »Waldbauer,« sagte hierauf der Holzhändler, sich wieder in Ordnung stellend, »ich bringe dir viel gute Sach' ins Haus und du tust mir so was an!«

»Du bist mir auch der erste, der den Flachswein nicht mag!« sagte hierauf mein Vater. »Ist ja richtig wie ein Wein, so guldfarbig und klar. Und für die liebe Gesundheit kannst gar nichts Besseres finden. Ich bin den Ärzten ein paar Ochsen schuldig worden, und dennoch tät' ich heut' tief unter der Erden liegen, wenn der himmlisch' Vater das Leinöl nicht hätt' wachsen lassen.«

»Und weil du, gottlob, noch über der Erden stehst, Waldbauer, so wirst halt Geld brauchen,« fädelte der Klemens ein, »schau, mich hat dein Schutzengel hergeführt, ich bring' dir eins.«

»O mein du,« versetzte hierauf der Vater und legte sich mit seiner ganzen Schwere über den Hebel, daß der Leinkuchen in der Presse noch seine letzten Tropfen lassen mußte, die aber in ein besonderes Töpflein kamen, weil solcher Rest nicht ganz so klar und milde war als die erste Abrunne. »O mein du,« sagte er, »das Geld hätt' ich freilich wohl zu brauchen, aber trag's nur wieder fort, ich weiß, was du dafür haben willst. Du willst die sechs alten Fichten haben, die bei meinem Haus stehen. Es geht mir heute um ein groß' Trumm schlechter als vor einem Jahr, wo du dich der Bäume wegen hast angefragt, aber ich hab' dir keine andere Antwort als wie dazumal: die sechs Bäume neben dem Haus, die sind ein Angedenken von alters, und wenn ich Acker und Wiesen verkaufen muß und das Vieh aus dem Stall: die Bäume bleiben stehen, und wenn sie mich ohne Truhen ins Grab legen sollten müssen: die alten Bäume bleiben stehen, bis sie selber fallen.«

[243] Die letzten Worte waren schnaufend gesprochen, und mit denselben war nun auch der letzte Tropfen aus dem Leintreber.

Der Klemens aber sagte: »Waldbauer, du wirst keinen Acker verkaufen und kein Stück Vieh aus dem Stall; du wirst eine Truhen aus weißem Eschenholz kriegen, Gott geb', daß du sie noch lange nicht brauchest! Du wirst auf der Welt noch gute Tage haben. Du wirst nicht die alten Fichten, aber du wirst aus deinem Wald die schlagbaren Lärchen verkaufen, die drinnen stehen. Hast deine Brieftasche bei dir, so halte sie auf!«

Ich erschrak, als ich die Ziffer der Banknote sah, die der Versucher jetzt aus seinem Leder gezogen hatte und mit zwei Fingerspitzen wie ein Fähnlein vor den zuckenden Augen meines Vaters hin- und herflattern ließ. Das Mißgeschick hatte bei uns dem Holzhändler gut vorgearbeitet, wir konnten all das, was wir unser zehn Köpfe und Mägen bedurften, nicht mehr aus den achtzig Jochen Berggrund herausziehen; der Arzt schickte uns Briefe, die ich nicht weich und sanft genug lesen konnte, daß sie dem Vater erträglich wurden: »Der Waldbauer wird hiermit aufgefordert, binnen vierzehn Tagen... widrigenfalls...« »Da meine Geduld endlich gerissen, so habe ich bewußte Angelegenheit dem k. k. Gerichte übergeben, und wird, wenn nicht innerhalb acht Tagen... die Pfändung...« Derlei sind so ziemlich die ersten Sätze gewesen, die ich in unserer lieben, hochdeutschen Sprache zu lesen bekam. Auch das »Steuerbüchel« mit seinem »Datum der Schuldigkeit« und »Datum der Abstattung« ließ mich ahnen, welche Kraft in der Sprache Schillers und Goethes verborgen liegt.

[244] Es war ein leibhaftiger Hunderter, den nun der Holzhändler mit den zwei Fingern an der Ecke hielt. – Ob in demselben Augenblicke nicht ein kaltes Schauern durchs Gewipfel der Lärchen gegangen ist, die draußen einzeln zerstreut im Fichtenwalde standen! Ob nicht ein banges Ahnen durch die kleinen Vogelherzen geweht hat, die in jenen Wipfeln ihre Nester gebaut! – Mein Vater streckte die Hand nicht aus nach dem Gelde, aber er verbarg sie auch nicht im Kleide, er beschäftigte nicht mit dem Hebel, er ließ sie – wie er von der Arbeit erschöpft, so dasaß – halb offen, wie sie die Natur gebogen, auf seinem Schoße ruhen. Der Klemens senkte das seltsame Papier hinein, da krümmten sich die hageren Finger sachte – und hielten es fest.

Die Lärchen waren verkauft.

»Nur muß ich mir noch eine Bedingung machen,« sagte der Holzhändler, da er wußte, der arme Mann lag bereits in der Gewalt des Geldes, »im Spätherbst, wenn der Schnee kommt, lasse ich die Bäume schlagen. Du wirst dich verwundern, Waldbauer, wenn ich dir sage: über deine Lärchenbäume wird der Kaiser fahren! Ja, ja, zum Eisenbahnbau brauchen wir sie. Meine Bedingung ist die, daß meine Holzknechte, solange sie im Walde arbeiten, in deinem Hause kochen und schlafen dürfen.«

»Warum denn nicht!« meinte der Vater, »das ist ja recht brav, wenn's ihnen unter meinem Dach gut genug ist!«

Welch ein Unheil wurde mit diesen gutmütigen Worten über unser Waldhaus heraufbeschworen!

Der Klemens schenkte mir noch ein sehr glänzendes Gröschlein und ging dann munter davon.

[245] Ich erinnere mich noch, daß ich mich darüber wunderte; die Munterkeit war doch offenbar unsere Sache, denn wir hatten das Geld. Der Vater trug das seine in den Dachboden hinauf und verbarg es im Gewandkasten; es wird ja bald wieder auswandern. Dann gingen die Tage hin, wie sonst, und im Walde standen die Lärchen und schaukelten im Winde ihre langen Äste, wie sonst, und wurden im Herbste gelb, wie sonst, und setzten on den Zweigen für ein nächstes Frühjahr an, wie sonst.

»Die wissen's auch nicht, daß sie schon so bald sterben sollen!« sagte mein Vater einmal zu mir, als wir von der Wiese herauf durch den Wald gingen. Ich tröstete mich aber mit der Hoffnung, daß der Holzhändler Klemens, der gar nicht mehr in unsere Gegend kam, dieser Lärchen vergessen würde. Meine Mutter, der ich das heimlich aussprach, rief laut:

»O, Kind, der vergißt auf seine Seel', aber nicht auf die Lärchen!«

Und eines Tages, als der Erdboden schon fest gefroren war, als das Moos unter den Füßen knisterte und brach, da hörten wir im Walde das Rauschen der Säge. Wie wir über die braunen Fichtenwipfel hinschauten, sahen wir aus denselben den gelblichen Spitzkegel eines hohen Lärchenbaumes ragen. Das Rauschen der Säge verstummte, die Keilschläge klangen, da neigte sich sachte der Kegel, tauchte nieder und im Erdboden war ein Zittern.

Am Abende darauf hatten wir die Holzknechte im Haus. Es waren nur zwei, und als wir sie sahen, gefielen sie uns allen. Der eine war schon betagt, hatte einen langen roten Vollbart, eine Glatze und eine scharf krummgebogene Nase. Die Äuglein des Mannes schienen [246] sehr klein, weil die roten Wimpern und Brauen von der Hautfarbe kaum abstachen, aber in den Äuglein war viel Spaß und Schalkheit. Der andere war wohl um zwanzig Jahre jünger, hatte ein braunes Bärtlein; wer seinen strammen Nacken und seine breite Brust beachtete, der wußte es: ein kernfester Holzknecht. Beide hatten steife Schurzfelle um und rochen nach Harz und Holzspänen.

Für uns war bald abgekocht, so überließ ihnen die Mutter den Herd. Und wahrlich, die verstanden ihn zu benützen! Was sie da kochten, war nicht das bekannte Holzknechtwildbret, als Hirschen, Füchsen, Spatzen und dergleichen Nocken, wie man sie aus Mehl und Fett zubereitet: das war wirklich Fleisch und Speck und Braten, und das schmorte und knatterte in den Pfannen, daß unsere Mägen, welche mit einer Brotsuppe und Erdäpfeln abgetan worden, in Aufregung gerieten. Aber der Rote zerriß mit den Fingern ein ganzes Speckstück und wir sollten kosten. Einen mit Stroh umwundenen Zuber hatten sie bei sich, daraus tat einer und der andere tapfere Züge. Der Rote lud meinen Vater ein, ihren Wein zu versuchen. Er tat's und dabei erging's ihm noch schlechter als dem Klemens bei der Leinölmulde: im Zuber war höllischer Branntwein. – Jetzt war's Tag für Tag, daß die Holzhauer in unserem Hause praßten. Uns verging die Lust an unserer täglichen Kost, weil wir den Überfluß und das Wohlleben sahen. Wir wurden unzufrieden, und unser Gesinde, das aus zwei halberwachsenen Dienstmägden und der blinden Einlegerin bestand, tat manchen Seufzer. Doch der Rote wußte uns zu ergötzen. Er erzählte von den Städten und Ländern, denn die beiden Männer waren viel herumgekommen und hatten in großen [247] Fabriken gearbeitet. Dann gab er Schwänke und Schalkheiten zum besten; in den ersten Tagen auch Rätsel und drollige Wortspiele, bei denen die Mädchen viel kicherten, Vater und Mutter stillschwiegen und ich nicht recht wußte, was ich mir denken sollte. Dann kamen Liedchen, in welchen zum inneren Entzücken unseres Gesindes das ländliche Liebesleben in allen seinen Gestalten zu klarem Ausdrucke kam. Für uns Kinder war's da allemal Zeit ins Bett zu gehen, aber unsere Strohschaube befanden sich eben in der Stube, in welcher die lustigen Dinge vorgingen. Wir schlossen wohl die Augen und ich hatte wirklich den festen Willen einzuschlafen, doch die Ohren blieben offen und je fester ich die Augen zudrückte, je mehr sah ich im Geiste.

Der junge Holzknecht war still und ordentlich, blieb des Abends auch nicht so lange in der Stube, sondern suchte stets beizeiten seine Schlafstelle auf, die draußen im Heustadl war. Diesem gesitteten Beispiele konnten doch auch die Mädchen nicht nachstehen, sie ließen den Roten schmatzen und verloren sich. Mein Vater bemerkte einmal zum Roten, daß der Junge gescheiter wäre als der Alte, worauf der Rote fragte, ob dem Bauer etwa die lustigen Liedlein nicht recht wären, dann wolle er fromm sein und beten. Und hub betrunkenerweise an, im Tone des Vaterunsers Spottsprüche herzusagen; stieg auf den Herd und verhöhnte in der Predigermanier eines Kapuziners die heiligen Apostel, Märtyrer und Jungfrauen, so daß meine Mutter mit aufgehobenen Händen vor meinen Vater trat: »Ich bitte dich tausendmal, Lenzel, wenn du mir diesen gottlosen Menschen nicht bei der Türe hinauswirfst, so tu' ich es selber!«

[248] »Weibel, tu's selber!« rief der Rote, sprang vom Herd herab und wollte die Mutter packen und liebkosen.

Das war unerhört. In unserem Hause, wo jahraus jahrein kein unanständiges Wort gesprochen wurde, plötzlich solche Sachen! Mein Vater war schier gelähmt vor Erstaunen, die Mutter aber faßte den frevelhaften Holzknecht am Arm und rief: »Jetzt gehst, Schandmaul! und in mein Haus kommst mir nimmer!«

Nicht einen Zoll ließ sich der Holzhauer vom Fleck rücken.

»Wenn die Waldbauernleut' schon so fromm sind,« sagte er immer noch im Predigerton, »daß sie vergessen, was sie unserem Herrn versprochen haben, so geh' ich deswegen doch nicht aus diesem Dach hinaus. Weiber jagen mich nicht, da zieht's mich noch alleweil näher hin.«

»Vielleicht jagen dich Männer und Ofenscheiter!« sagte jetzt mein Vater und riß mit einer Schnelligkeit und Entschlossenheit, die ich an dem sanftmütigen Manne bisher nicht erlebt, ein Holzscheit von der Asen. Der rote Holzknecht fiel ihm in die Arme, sie rangen. Die Mutter suchte den Vater zu schützen, meine Geschwister in Stroh und Windeln erhoben ein Geschrei, ich sprang im bloßen Hemde zur Türe hinaus und rief die Mägde um Hilf' an, die wohl schon friedsam in ihren Nestern ruhen mußten. Die blinde Jula kam als die erste glücklich über den Hof gehumpelt, während eine der Sehenden über den Schweintrog stolperte. Und die Jungmagd kletterte auf mein Geschrei und den Lärm im Hause, des Schreckens voll, die Sprossenleiter hernieder, die vom Heustadl in den Hof herabführte. Ohne damals die Tragweite dieser letzteren Tatsache zu erwägen, eilte ich wieder ins Haus, [249] wo die beiden Männer im Kampfe schnaufend und ächzend in der Stube von Wand zu Wand fuhren. Der lange Bart des Holzhauers hatte sich in Fetzen um das Haupt meines Vaters geschlungen; dieser schien doch die Oberhand zu gewinnen; da kam der junge Holzknecht, bloß im Hemd und blauer Unterhose zwar, aber mit der ganzen Wucht seines Körpers. Die Weiber taten, was bei solchen Auftritten ihres Amtes ist, sie schlugen die Hände zusammen und jammerten. Meine Mutter nur, als sie sah, es wäre alles verloren, erfaßte auf dem Herd einen lodernden Feuerbrand, rief: »Ich will euch noch hinaustreiben, ihr Raubersleut', das weiß ich gewiß!« und fuhr mit dem Brande an den Bretterverschlag.

»Die Furie will uns verbrennen!« kreischten die Holzknechte und stürzten durch den wirbelnden Rauch zur Tür hinaus.

Wir waren von den unflätigen Gesellen befreit, aber die Flammen züngelten lustig die Wand hinan. Mit Not und Wasserkübeln gelang es noch, die Feuersbrunst zu ersticken.

So ist derselbe Abend in eine stille bange Nacht übergegangen. Die Haustür hatten wir verriegelt und verrammelt, und als wir das Kienspanlicht ausgelöscht, horchte später der Vater an den Fenstern, ob sie etwa noch draußen.

Es blieb still, erst am nächsten Morgen kam der junge Holzknecht, um seine und seines Kameraden Geräte mit sich zu nehmen. Sie haben sich dann im Walde aus Holzschwarten und Baumrinden eine Hütte gebaut, in welcher sie den halben Winter über wohnten, bis die Lärchenstämme verarbeitet waren.

[250] Wir waren jedoch überzeugt, daß sie Böses gegen uns spinnen mußten, worauf aber die Jungmagd einmal ganz klug bemerkte, das beste wäre doch, mit solchen Leuten sich stets in gütlicher Weise zu vertragen.

»Du hast leichter reden, Dirn, du weißt nichts,« entgegnete ihr mein Vater.

Auf ein solches – schwieg sie. Sie wußte viel.

Da hatte ich zur selben Zeit einen neuen Schreck. Aus Begierde, die gottlosen Gesellen doch noch einmal zu sehen und zu beobachten, ob ihnen bei ihrer Holzarbeit nicht etwa der Teufel knechtliche Arbeit leiste, lugte ich eines Tages vom Waldwege aus durch das Dickicht auf ihren Arbeitsplatz hin. Da sah ich, daß sie lange Totentruhen machten.

Ich berichtete das zu Hause und rief damit eine große Erregung hervor.

»Wie ich sag', sie haben noch was im Sinn!« sagte meine Mutter.

Der Vater vermutete: »Bub, du wirst wieder einmal beim hellichten Tag geträumt haben. Nachschauen will ich aber doch gehen.«

Wir gingen in den Wald. Mein Vater guckte durch das Dickicht zu den Holzhauern hin – und da sah ich, wie er blaß wurde. »Uh, Halbnarr!« lachte er ächzend, »die graben uns Bauern von ganz Alpel ein!«

In ganzen Stößen waren die Totensärge aufgeschichtet und noch immer hackten sie mit ihren Beilen an neuen herum. – Wir schossen davon, um alsogleich dem Ortsrichter, der auf dem Berge jenseits des Engtales sein Haus hatte, die Mitteilung zu machen von dem, was wir gesehen. Unterwegs dahin begegnete uns der Zimmermann [251] Michel, dem sagte mein Vater, er möge all seine Hacken und Messer bereit halten, es habe den Anschein auf schlimme Zeiten. Die fremden Männer, die in seinem Walde arbeiteten, täten nichts, als Totentruhen machen.

»Ja,« antwortete der Michel, »ich hab's auch schon gesehen, ein Glück ist nur, daß diese Truhen nicht hohl sind.« Hierauf belehrte uns der erfahrene Mann über die Form der Eisenbahnschwellen, die, gewöhnlich zu zweien aus dem Block gehauen, bevor sie auseinandergeschnitten wurden, mit ihren sechs Ecken einem Sarge glichen. Wir kehrten alsogleich um und als wir auf dem Feldraine hingingen, wo der Rasenweg glatt und hübsch eben war, sagte mein Vater zu mir: »Jetzt hätten wir schön Zeit, daß wir uns selber auslachen kunnten, sonst tun's andere. So geht's, wenn man wem feind ist, des Schlechtesten zeiht man ihn und ist so verblendet, als hätte einem der bös' Feind die Hörner in die Augen gestoßen. Am Ende sind auch die zwei Holzhacker nicht so schlecht, als sie ausschauen. Wie der Will', ich werd' froh sein, wenn sie beim Loch draußen sind. Und das weiß ich: der Klemens kauft mir keine Lärchen mehr ab.«

»Weil Ihr keine mehr habt,« war meine Weisheit drauf. Der Vater schien sie nicht gehört zu haben.

Die Holzknechte waren endlich fortgezogen und mit ihnen die Lärchenschwellen. Die rötlichen Baumstöcke blieben zurück und auf den Poren derselben standen helle Tröpflein des Harzes. »Daß sie keine Christen waren,« bemerkte mein Vater einmal, »zeigt sich schon darin, daß sie nicht in einem einzigen Stock das Kreuzel eingehackt haben.« Im Walde war's nämlich damals noch Sitte, daß die Holzknechte in jeden Stock, sobald der Baum [252] gefallen war, mit dem Beil ein Kreuzlein eingruben. Warum, das habe ich nie recht erfahren können; es wird wohl aus demselben Grunde geschehen sein, aus welchem der Schmied beim Wegziehen des glühenden Eisens mit dem Hammer noch ein paar leere Schläge auf den Amboß tut. Man will mit solchen Dingen dem Teufel, der bekanntlich nie müßig ist und sich in alle Arbeiten der Menschen mischt, das Handwerk legen.

Mein Vater, dessen Leben stets so sehr mit dem Kreuze verwoben war, ging hinterdrein und hieb in die Lärchenstöcke Kreuze ein. Also war's wieder in Ordnung mit dem Walde und voller Frieden, wie es ehedem gewesen.

Und das ist die Geschichte von den fremden Holzern, den Kindern der Welt, die wie ein erster Wellenschlag aus dem hochbewegten Meere des Lebens in unseren entlegenen Waldwinkel gedrungen waren. Wie klein war dieser Wellenschlag, und wieviel Unruhe, Unzufriedenheit und Ärgernis hatte er herangeschwemmt! Nach und nach waren die fremden Elemente wieder vergessen, selbst die Mutter war ihrer Entrüstung endlich Herr geworden. Unsere Jungmagd jedoch träumte bisweilen wachend von einem jungen Holzknecht.

Wie ich mit der Thresel ausging und mit dem Maischel heimkam
[253] Wie ich mit der Thresel ausging und mit dem Maischel heimkam.

Die Kramerthresel, das war eine der acht Seligkeiten meiner Kindheit. Sie war ein altes Weib, und das war ein Glück, denn die jungen Weiber jener Gegend tragen ihre Seligkeiten nicht auf dem Rücken umher, wie das die Kramerthresel tat, und die jungen Weiber bieten ihre Schätze nicht an Knaben unter siebzehn Jahren aus, wie das die Kramerthresel tat. Sie trug eine braune Holzkraxe auf ihrem krummen Rücken, in derselben waren der Schubladen drei oder vier, und obendrauf lag noch ein großes blaues Bündel festgebunden.

Wenn wir Kinder etwas recht Braves, recht unerhört Braves taten, so sprach aus dem Munde unserer guten Mutter der Geist der Verheißung. »Kinder,« sprach er, »wenn einmal die Kramerthresel kommt, so will ich euch was kaufen.«

Da huben wir denn allemal ein Freudengeschrei an und stampften mit den Füßen, bis die Mutter wieder sagte: »Ja, wenn ihr ein solches Getös' macht, da werde ich euch nichts kaufen!«

Alsogleich war's still, daß man ein Mäuschen hätte laufen hören können, wenn eins gelaufen wäre. Aber die Mäuse kamen nur in der Mitternacht hervor – und die Kramerthresel kam gar nicht.

[254] Heißt das, sie kam. Seit urewigen Zeiten kam sie des Jahres ein- oder zweimal in unser Haus, wir selbst hatten das schon erlebt – doch so unbeschreiblich langsam ging die Zeit dahin, daß uns Kindern zwischen Frühjahr und Herbst, und zwischen Herbst und Frühjahr eine blaue Ewigkeit lag, in der die Mythe von der Kramerthresel schwamm und verschwamm, wie eine Lerche im Himmelsblau.

Und einmal mitten im Winter, an einem ganz gewöhnlichen Tage, da der Vater im Stalle die Ochsen striegelte und die Mutter in der Stube spann und meine kleineren Geschwister sich einer zerbrochenen Spule wegen auf dem Flötz herumbalgten und ich Feldrüben in den Schweinstrog schnitt, im Busen den Trieb, mich an dem Kampfe zu beteiligen – ging die Tür auf und sie war da.

Die Kramerthresel. Und als aus ihrer Kraxe die Schubladen mit den Taschenfeiteln und den Mundharmoniken, und den Tabakspfeifen, und den hellrot angemalten Spielkästlein, und den messingenen Hosenknöpfen und Hafteln, und den bunten Zwirnsträhnen und Nähzeug, und den feingeschnitzten Holzlöffeln, und den Stehaufmandeln und allem, allem auf unserem Tische ausgestellt waren, und wir Kinder mit Poltern und Stoßen ringsumher die Bänke besetzten und Augen und Mund auftaten, da sah ist erst ein, was dieser Tag für ein grauenhaftes Loch gehabt hätte, wenn die Kramerthresel nicht gekommen wäre.

Mein Sinn stand nach allem, obzwar ich mir sofort klarstellte: Alles kannst nicht haben, den Himmel kriegst erst, wenn du gestorben bist, aber auf eins setz' dich fest. – Meine Hand zuckte nach einem Rößlein, das auf einem [255] Brett stand, welches vier »Radeln« hatte. Das Rößlein war ziegelrot angestrichen und hatte an den Weichen weiße Blumen.

Und im Sattel saß ein blauer Reiter, der hatte einen großen Schnurrbart im Gesicht und sogar Augen, und einen wirklichen Federbusch auf.

»Laß stehen, Bub, und greif' nicht alles an!« verwies mir die Mutter, aber die Kramerthresel, welche so gütig und geduldig war wie unsere liebe Frau, sagte: »Oh, das macht nichts, tu's nur angreifen, das Zeugl, schau, der Husar reitet dir schon entgegen!« und schupfte das Rößlein, daß es zu mir über den Tisch her rollte.

»Haben ja kein Geld nicht,:« bemerkte die Mutter.

Die Kramerthresel überhörte zum Glück das gefährliche Wort, sie machte einen Deuter auf mich und sagte: »Das ist gewiß das ausbündige Bübel, das lesen und rechnen kann und allerhand austüpfelt, wie's die Leut' verzählen?«

»Ja,« antwortete die Mutter, ohne das Spinnrad auch nur einen Augenblick stehen zu lassen, »austüp feln kann er schon was, wenn er nur nicht so schlimm sein tät!«

»'s selb glaub' ich nicht, daß er schlimm ist,« meinte die Thresel, »weißt was, Waldbäurin, das Bübel kunntst mir leihen. – Ganz ernster Weis, Waldbäuerin. Meine Tochter, die hat bei den Geißen heimbleiben müssen und nu bin ich morgen auf dem Rattner Kirchtag hell allein. Der Kramerstand (die Verkaufsbude) ist nicht klein, Leut' sind viel und ist allemal ein Gedräng ums Standel herum, eins kann nicht genug aufpassen, und hab' ich mir unterwegs noch träumen lassen: wenn ich den Waldbauernbuben kunnt mitkriegen. Ich tät' schon was hergeben.«

[256] So die Thresel, und als jetzt die Mutter das Spinnrad stehen ließ, um Antwort zu geben, war mir, »wie einer armen Seel' beim Jüngsten Gericht«.

Die Mutter sagte: »Ja, wenn die Thresel meint, daß sie ihn brauchen kann, vielleicht friert ihm der Unend (Vorwitz) dabei ein Eichtl aus und Zeit hat er, daß er mitgeht auf den Rattner Kirchtag.«

Ich bin von der Bank geflogen, und ehe noch an den Vater berichtet werden konnte von meiner unglaublichen Standeserhöhung, war ich schon im Sonntagsgewandel.

Meine Geschwister erhielten jedes ein Holzlöffelchen, das glänzend schwarz lackiert war und in der Höhlung ein rotes Blümlein hatte. Sie fuhren also gleich damit in den Mund und bildeten sich ein, sie äßen Kindsbrei.

»Und der Reiter gehört dein,« sprach die Kramerthresel zu mir, »den hebt dir die Mutter auf und morgen, wenn du heimkommst, laßt ihn recht ausreiten.«

Die Mutter riet, ich sollte ein Stück Brot mitnehmen, allein die Thresel sagte, indem sie ihre Warentrage wieder zurecht machte: »Das wär' nicht schlecht! Verköstigen werde ich meinen jungen Kramer schon selber. Verhoff's, daß wir ein gutes Geschäft machen werden auf dem Rattner Kirchtag. Und jetzt werden wir anrucken müssen, Bübel.«

»So geht halt in Gottes Namen!« sagte die Mutter und spann. Meine Geschwister aßen mit ihren neuen Löffeln von der Tischplatte weg noch die leere Luft und wir gingen, wie es die Mutter gesagt.

Ratten ist ein Dörflein zwischen den Waldbergen der [257] Feistritz am Fuße der Rattneralpe. Es hat viele Bauernhäuser auf den Hängen und in den Schluchten zerstreut. Es hat einen ausgiebigen Dorftrost, nämlich ein paar stattliche Wirtshäuser, und es hat eine schöne, geräumige Kirche, in welcher jener heilige Martinus reitet, und in welcher der heilige Nikolaus als Pfarrpatron wohnt. Diesem Patron zu Ehren wird alljährlich zu seinem Namenstag, am 6. Dezember, ein Kirchtag abgehalten, und das war der Kirchtag, zu dem wir gingen.

Wir hatten drei Stunden dahin zu gehen, weil wir unterwegs in einigen Häusern zusprachen, verhoffend, ein paar Kreuzer zu lösen. Die Leute verschoben aber ihre Einkäufe auf den morgigen Kirchtag. »Macht nichts,« meinte die Thresel, »sie kommen uns morgen.« Da im tiefen Schnee der Graben, den wir Pfad nannten, gar schmal war, so schritt voran die Thresel mit ihrer Kraxe, deren angebundener Ballen hoch über ihr Haupt hinausragte; und hintendrein trippelte ich und hatte nur selten einen Blick frei über die Schneemauer hinaus in die weite Welt. Diese weite Welt dehnte sich bis zum Waldhang, der hinter dem vereisten und versulzten Wasser aufstieg und an welchem dort und da ein Häuslein klebte oder eine träge rauchende Kohlenstätte war. Und endlich sah ich über einer Höhung den roten Riesenzwiebel des Kirchturms von Ratten hervorragen. Auf der Straße, in die wir nun einbogen, war es recht lebhaft. Da fuhren Schlitten, mit einem alten Roß oder mit einem alten Weib bespannt, da schleppten andere an hochgeschichteten Rückentragen, Jüdlein darunter mit ihren Bündeln, doch den übrigen vorhaftend; da huschten hinter aufgestülpten Rockkrägen Musikanten mit vereisten Schnurrbärten, da [258] kamen schon Holzknechte und Tagwerker in ihrem Sonntagsstaate daher und trotteten recht langsam, als wenn es gar nicht eile, aber doch auf kürzestem Wege dem schon durch und durch lebendigen Wirtshause zu.

Auf dem Kirchplatz baute das Krämervolk schon an seinen »Ständen«, deren Bretter noch öde und leer lagen, deren Wand- und Dachgerippe noch von keiner Plache überspannt waren.

Als wir mitten auf den Platz gekommen waren, blieb die Thresel stehen, starrte gegen das Kirchhofstor hin und murmelte: »Was ist das?«

War der Standplatz schon verbaut, der an der lebhaftest begangenen Stelle lag, just vom Kirchtore her, und den die Thresel seit altersher besessen hatte. Der Maischel, ein wegen seiner spottbilligen Waren berüchtigter Hausierjude, hatte hier seine Stätte aufgeschlagen.

»Ich pack' nit aus,« sagte die Thresel mit einem schönen Ebenmaß von Entrüstung und Selbstgefühl und tat just so, als wollte sie auf der Stelle umkehren. Stand noch zu rechter Zeit der Taferner da, der Kirchenwirt, der die Standplätze zu vergeben hatte, und der seine Handlung damit entschuldigte, daß er der Thresel zu bedenken gab, der Jude habe doppeltes Standgeld für den Platz am Kirchhofstore geboten.

Für einen solchen Handel, sagte nun die Thresel, sei ein Jude zu wenig, einer müsse sein, der das Gebot mache und ein zweiter, der es annehme.

Der Taferner tat ein süßes Lächeln, als hätte ihm die Thresel eine Schönheit gesagt, dann schlug er ihr den gegenüberliegenden Platz vor, just neben der Bildsäule [259] des heiligen Nikolaus, das wäre eigentlich noch ein viel besserer Platz und für den alten Preis zu haben.

Was blieb uns übrig, als anzunehmen? Nun gingen wir eine warme Suppe essen, dann machten wir uns flink an das Standaufrichten. Die Thresel hatte ihr eigenes Zeug dazu, welches in einem Gelasse der Taferne aufbewahrt war und welches wir nun herbeischleppten. Als wir die Bretter heranschleiften, wußte die Thresel ein paarmal solche Schwenkungen zu machen, daß wir damit scharf an das gegenüberstehende Judenständel anrannten. Dieses wackelte, aber der Maischel stützte es behendig und schmunzelte dabei. Der Jud' Maischel war ein gar schlichtes, aber rührsames Männlein, sein Haar und Bart war kohlschwarz und gekräuselt, wie bei neugeborenen Lämmern die Wolle, in seinem dunkelroten Gesichte lugten zwei Äuglein, die einem nie ins Antlitz schauten, sondern allemal, wenn er sprach, der Gegenperson an den Hals oder an die Achsel guckten. Der Jud' Maischel hatte eine geradezu überchristliche Sanftmut, er war mit nichts zu erzürnen. Tief entrüstet war er einzig nur, wenn man ihm für eine Ware, die er um drei Gulden schätzte, etwa zwölf Groschen anbot. Aber voll tiefer Verachtung schlug er die Ware um dies schmähliche Angebot los und dem Käufer wurde angst und bang.

»Frau Thresel,« sagte ich nun zu meiner etwas schwermütig gewordenen Prinzipalin, »die Rattnerleut' sind Ehrenleut', die kaufen dem Leutanschmierer nichts ab, die Frau Thresel wird's schon sehen.«

»Gott geb's!« seufzte sie auf.

Nun wurde es Abend, und am Abend wurde es lustig. Beim Taferner waren alle Tische besetzt und [260] auf jedem Tisch stand ein Kerzenlicht und darüber war der Wein- und Bratenduft und der blaue Tabakrauch, daß es eine helle Pracht war.

Wir zwei saßen im Ofenwinkel, hatten neben uns auf der Bank ein Glas Obstmost stehen, in das wir – einmal ich und einmal die Thresel – eine Semmel tauchten. Die Wirtin wollte auch uns Licht bringen, indem sie sagte: »Nicht einmal ein Toter mag ohne Licht sein.«

»Das schon,« antwortete die Thresel, »aber mir zwei sind noch lebendig und zum Dasitzen sehen wir häufig genug, und daß wir uns für andere beleuchten lassen wollten, dazu sind wir zu wenig schön.«

In Wahrheit wollte sie nur nicht, daß das übrige Krämervolk, welches in der Wirtsstube hochmütigerweise bei Wein und Schöpsenfleisch schwelgte, unser bescheidenes Nachtmahl sehen sollte. Sie hatte eine Ahnung davon, was bei einem Kaufmann der äußere Schein bedeutet.

Die Gesellschaft wurde immer lauter und unbändiger und etliche Burschen huben an zu singen:


»In Ratten, da ist's lustig,

In Ratten, da ist's lustig,

In Ratten, da ist alles frei,

Da geht ka Polizei!«


»Leider Gottes!« sagte die Kramerthresel vor sich hin, »und jetzt gehen wir schlafen.«

Sie hatte sich eine Kammer bestellt; ich wurde zum Pferdeknecht ins Bett getan. Der Pferdeknecht hatte schon von Natur einen stattlichen Leib, als er aber so neben mir im Bette lag und schlief – er schlief wie ein Pferdeknecht[261] – floß er so sehr auseinander, daß ich an den Rand gedrückt wurde und Gefahr lief, auf den Boden zu fallen. Glücklicherweise war vom Bette etwa nur einen Fuß entfernt die Stallwand, an welcher zwar das Wasser des Stalldunstes niedertropfte, an welche ich mich aber mit dem ausgestreckten Arm dermaßen anstemmen konnte, daß ich dem Drucke meines Bettgenossen die ganze Nacht hindurch glücklich standhielt. Daß man in solcher Lage vom Schlafe nicht belästigt wird, ist selbstverständlich, und so hatte ich denn Zeit, in Gedanken den Pferdeknecht zu entschuldigen, der, müde von des Tages Last und Plage, rechtmäßig ja über das ganze Bett verfügen konnte; und im Gedanken auch Gebete zu verrichten, daß morgen unter meiner Mitwirkung der Kirchtag für meine Prinzipalin doch um Gottes willen gut ausfallen möge. Ich sann mir Reden aus, um die Käufer anzulocken und die Waren zu preisen, und ich sah die Leute herbeiströmen zu unseren köstlichen Sachen. Wir hätten alles verkauft, auch das leere »Standl« noch dazu, wenn ich nicht zu früh von meinem Traume erwacht wäre. Und nun gewahrte ich, daß sich mein Pferdeknecht mitsamt den Pferden fortgemacht hatte – »schon fahrend draußen auf den kalten Straßen«. Jetzt, das war ein Wohlbehagen, wie ich mich nach Gefallen strecken konnte im weiten Bette, und mich einmal gründlich durchwärmen durfte. Ich bedauerte den Pferdeknecht, daß er schon so früh in den Winter hinaus gemußt, aber im Grunde war's mir doch lieber, als wenn er noch im Bett gelegen wäre mit seiner breiten, schlaftrunkenen Wesenheit.

Leider dauerte das nicht lange. Die Thresel tastete sich in den Stall, rief meinen Namen und fragte, ob ich [262] ausgeschlafen hätte. Ich sprang sogleich auf. Als wir bei der Frühsuppe saßen in der wohldurchwärmten Wirtsstube, gab mir die Thresel Weisung, wie ich mich am Standl zu verhalten hätte. Für erste einmal achtgeben, daß nichts »Füße kriegt«, dann, wenn um den Preis von etwas gefragt würde, es ihr – der Thresel – alsogleich mitzuteilen, nach ihrem Ausspruch aber wohl nicht mehr »handeln« zu lassen, weil sie die Sachen nicht überschätze. – Dann gab sie mir zwei Sechser, damit ich wisse, wofür ich mir am Standl Finger und Nase erfrieren lasse, dann nahm sie ihre Kraxe und wir gingen in des lieben Gottes Namen hinaus auf den Kirchplatz.

Es war noch nächtig, aber man hörte schon das Gesurre der Leute und die Kirchenglocken läuteten zu der Rorate. An den »Kramerstandln« war viel Hämmern und Schreien, und auch wir prüften nochmals unsere Bude und legten, während drin in der Kirche die Orgel tönte, unter stillem Einschluß in die heilige Messe, die Ware aus. Und nun trat mir die Größe und Vielfältigkeit der Habe meiner Prinzipalin ganz vor Augen. Sie hatte alles, denn was sie nicht hatte, daran dachte ich nicht, es war Nebensache. Sie hatte Klein-und Lockwaren, wie sie der Bauer braucht, oder wenigstens gerne besäße, wenn er sie kaufen könnte: allerlei Messer und Gabeln und andere Werkzeuge, Geldtäschchen, Brieftaschen, Hosenträger, Uhrschlüssel, Rauchzeug, Sacktücher, Heiligenbildchen, Einschreibebüchlein, Zwirn, Bänder, Kinderspielwaren, Handspiegel, und so weiter über den langen und breiten Tisch hin, und was an den Stangen und Haken hing, und was noch in den Laden der Kraxe und in dem unerschöpflichen Ballen war.

[263] Aber als nun der Tag graute – ein trüber, sachte schneiender Wintertag – da mußte ich sehen, daß der Jude uns gegenüber all dieselben Sachen ausgestellt hatte, aber viel kecker und wirrer ausgestellt, daß sie ordentlich in die Augen schrien. Und an den Dachecken seines Standls prangten zwei rote Fähnlein, wie bei uns zu Kriegszeiten, wenn die Soldaten fortzogen, oder beim Festscheibenschießen am Kaisertag, oder wenn sonst etwas Unerhörtes war. Und hinter den Fähnlein war eine große Tafel: »Gut und billig, da kanst ein!« Und nahm jetzt – wie die Leute aus der Kirche strömten – der Racker eine Mundharmonika zwischen die Zähne und blies darauflos und schrie über die Leute hin, daß er einen Haupttreffer gemacht hätte in der Lotterie, und daher heute alles verschenke. »Das Stück Silberlöffel fünf Kreuzer, das Dutzend noch billiger!« rief er und brachte damit die Leute in Verwirrung. Dann schwang er hellrote Seidentücher über die Köpfe hin, »für Dirndaln!« rief der Maischel, konnte aber nicht einmal die Worte aussprechen, »und wenn eine das tragt um den Hals, laufen ihr alle Buiben nach. Ich geb's aber nicht her!« Und zog es hastig wieder zurück. Solche Sachen trieb er und schrie fortwährend: »Da geht herbei! Da wird gehandelt, geschenkt, noch was draufgegeben, da ist der Glücksberg!« Und immer dichter wurde um das Judenstandl die Menschenmenge, und uns, dem ehrbaren Stande der Thresel, wendeten sie den Rücken zu.

Mir wurden in meinem Zorne alle Schneeflocken grün und gelb vor den Augen und ich stieß die Thresel: sie solle doch auch zu schreien anheben, daß uns die Leute sähen.

[264] »Du bist nicht gescheit,« sagte sie zu mir, »wosolche Leut' lärmen, da ist's ein Schand und Spott, das Maul auszumachen. Da packen wir lieber z'sam'.«

Jetzt hub weiter unten auf dem Platz auch noch ein anderer zu schreien an; das war ein Krainer, wollte aber gescheiter sein als der Jude und rief: »Daher Leutel, daher! Bei mir ist die Schönheitsseife zu haben, die echte, approbierte und privilegierte Schönheitsseife! Werden alle garstigen Dirndln, die sich damit waschen, engelsauber und alle alten Weiber blutjung!«

»Das ist Schwindel vom Krainer!« rief der Maischel, »bei mir zu bekommen die ganz neu erfundene, blütelweiße und rosenrote Schönheitsseife, aber nur für die Jungen und Schönen zu gebrauchen, daß sie nicht werden alt. Echt und billig. Meine Herren und Damen, geht nicht vorbei an eurem Glück!«

Selbstverständlich wählte jede die Seife des Juden.

Nun hub der Maischel an und schellte in einem Sack Nummern und ließ ziehen. Er spielte seine Waren aus; mit einem Groschen Einsatz konnte man goldene Ringe und Uhren, ganze Fläschchen von Liebestränken und die unglaublichsten Schätze gewinnen.

Die Thresel hatte den lärmenden Juden lange beobachtet – Zeit hatte sie dazu – und nun sagte sie kopfschüttelnd: »Der ist vom Teufel besessen.«

Der Markt war schon im vollsten Gange, es wurde gefeilscht und gekauft, es wurden Späße getrieben beim Lebzelter und beim Schnapsschenker und man hörte singen:


»In Ratten, da ist alles frei,

Da gibt's ka Polizei


[265] Weiber gingen umher von Stand zu Stand, und füllten ihre Handbündelchen mit Äpfeln, Nüssen, Lebzelten und Spielwaren, für ihre Kinder zum »Nikolo«. Ich hielt die Hände in den Hosentaschen und zappelte mit den Füßen hin und her und klöpfelte die hartgefrornen Schuhe aneinander. Von den Zehen wußte ich ohnehin nichts mehr, sie gaben kein Lebenszeichen von sich, was übrigens in jenen Zeiten bei mir nichts Neues war – die Zehen hielten ihren Winterschlaf und die Kälte sing mir in ihnen allemal erst an wehe zu tun, wenn es warm wurde. Nun, so trippelte ich an unserem vergessenen Standel und wir hatten immer noch nicht ein Stück verkauft. Mir war zum Verzagen.

»Ich möchte in den Erdboden versinken,« flüsterte ich der Thresel zu.

»Dazu ist er viel zu hart gefroren,« war ihre Antwort, »aber das muß ich schon sagen, ein solcher Kirchtag ist mir was Neues.«

Das Wort hatte mich ins Herz getroffen. Vielleicht war ich die Schuld! Ich hatte keinen Schick, gar keinen, konnte die Sache nicht betreiben, stand da, »wie der Damerl beim Tor« und schaute blitzdumm drein. – Ein solcher Kirchtag ist ihr was Neues!

Jetzt sah ich am Rande unseres Standels einen guten Bekannten von meiner Gegend, es war des Grabenbergers Schafbub, das Natzelein. Das lugte so auf die bleiernen Taschenuhren her, und auf die Ludelpfeifen und auf die blinkenden Federmesserlein und auf mich, wohl erwägend, wieso ich bei diesen Schätzen stehe, die er mit gierigen Augen angriff, nachdem ihm früher die Thresel mit den Worten: »Schau, das gehört nicht dein, [266] das laß stehen!« seine Finger von einem zinnernen Streichholzbüchslein losgelöst hatte. Zu diesem Natzelein strich ich nun hin und ihm heimlich meine zwei Sechser in die Hand drückend, flüsterte ich ihm hastig ins Ohr: »Kauf' was! Kauf' dir was!«

Alsbald stand ich wieder auf meinem Platz und schaute mutiger auf die ergebene Thresel hin, mit Herzklopfen die Herrlichkeit erwartend, da ja jetzt bald ein Käufer anrücken würde.

Das Natzelein lugte in seine hohle Hand und wie es sah, da wären zwei silberne Sechser drin, machte es ein grinsendes Gesicht zu mir herüber, dann drehte es sich langsam um und kaufte drüben beim Juden ein Tabakrauchzeug.

Jetzt vergaß ich meiner Würde, hin schoß ich zwischen den Beinen der Leute, wie ein gereizter Tiger auf das Natzelein zu und warf es zu Boden. Ein Gebalge entstand, daß der Schnee stäubte und die Leute mit hellem Gelächter einen Kreis um uns bildeten. Ich wollte dem Natzelein für seinen Hochverrat die neue Pfeife entwinden und sie zu Scherben machen, aber jetzt war die Rattner Polizei da. Der Gemeindediener! Dieser Mensch faßte mich auf einmal beim Rockkragen an und zog mich hübsch kräftig in die Höhe; und weil alles rief, ich hätte ohne jeden Anlaß den arglosen Jungen überfallen, so war nun vom Gemeindekotter die Rede.

Da kam ich drauf, daß der Ausspruch der Thresel auch auf mich passe: »Ein solcher Kirchtag ist mir was Neues.« Aber ich biß in die Lippen hinein, und wie sie mich auch verhörten: warum ich wäre raufend worden? das wäre sauber, wenn es an Kirchtagen die kleinen [267] Buben den Großen nachmachen wollten – ich sagte kein Wort. Ich konnte keins sagen und wollte auch nicht, weil ich mir dachte, sie könnten dann glauben, das, was geschah, wäre aus Geschäftsneid geschehen.

So wurde ich nun befragt, ob ich der Kramerthresel ihr Sohn sei; da schrie meine Prinzipalin vom Standel her, ich wäre nichts weniger als ihr Sohn, ich wäre der Waldbauernbub, sonst ein gutes Kind, aber ich müsse vor Kälte wahnsinnig geworden sein.

Der Gemeindediener von Ratten konnte nichts Besseres tun, als stark in seinen Schnurrbart hineinzupfauchen und mich dann an der Hand durch die Leute, die ganz grauenhaft bereitwillig uns eine Gasse bildeten, vom Marktplatze wegzuführen. Vom Markte weg und hinaus vor das Dorf, wo er mich mit dem wohlgemeinten Rate, ich sollte schauen, daß ich heimkäme, auf der freien Straße stehen ließ.

Von Rechts wegen hätte ich jetzt wimmern sollen, allein ich konnte nicht, meine Entrüstung war zu groß. Ich beschloß, nicht zu schauen, daß ich heimkäme, sondern auf der Straße zu warten, um über den Grabenberger Buben, wenn er des Weges ginge, ein gerechtes Gericht zu halten, und auch die Kramerthresel abzupassen, um ihr den ganzen Sachverhalt mitzuteilen, wie ich dem Natzelein mein Geld gegeben, daß er ehrenhalber bei uns was für sich kaufe und wie diese Kreatur die Silberlinge zum lärmenden Juden getragen habe.

Spät am Nachmittage, als schon das Volk der ganzen Gegend mit seinen verschiedenen Einkäufen und Räuschen zu Fuß und zu Schlitten vorübergezogen war, kam die Thresel mit ihrer schweren Trage herangeschnauft, und [268] neben ihr watschelte die Kreatur daher mit dem verbundenen Kopf, liebreich von der Alten an der Hand geführt und gezärtelt, als wollte sie es gut machen, was ihr Bursche an diesem Natzelein verbrochen. Unter solchen Umständen verbarg ich mich rasch hinter einen Fichtenstamm und ließ sie vorbeiziehen. Und dann ging ich ihnen langsam nach, voll der tiefsten Betrübnis.

Ich war noch nicht auf halbem Wege, als eine solche Müdigkeit über mich kam, daß ich mich an den Schnee hinlehnte, um zu rasten. Auf diesem Pfade gingen keine Menschen mehr. Es war im Hausteiner Walde, die Häher und Krähen stäubten Schnee herab von den Bäumen. – Und jetzt wiederholte sich etwas, wie es ähnlich schon früher einmal gewesen war – mit der Mooswaberl. Ich mußte im Schnee schon recht gut geschlafen haben, da wurde ich plötzlich aufgerüttelt und vor mir in der Abenddämmerung stand der Hausierer Maischel mit seinem Bündel.

»Was ist's denn mit dir, Würmlein,« sagte er, »das Erfrieren ist ja nicht gesund! Da müssen wir noch beizeiten einheizen!« Er hielt mir ein Holzplützerchen an den Mund, und als ich daraus ein paar Schlucke tat, da wurde mir so warm inwendig, so warm ums Herz, daß es mir zu Sinn kam: der Maischel ist ja eigentlich ganz brav! Da er fand, daß es nicht ratsam sei, mich allein zu lassen, so ging er mit mir bis zum Hause meines Vaters. Also ist es geschehen, daß ich mit der Thresel ausging und mit dem Maischel heimkam.

Als ich auf den Taschenfeitel wartete
[269] Als ich auf den Taschenfeitel wartete.

Bei einer Christenlehre im Waldlande hatte ich mich ausgezeichnet, und da kam nun für mich eine herrliche Zeit. Nimmer war ich das nichtige Waldbauernbüblein, sondern vielmehr der junge Gottesgelehrte, der dem Pfarrer hatte sagen können, was christkatholisch glauben heißt, was zur Seligkeit notwendig ist, worin die christliche Gerechtigkeit besteht und was der heilige Paulus über die Ehe gesagt hat. Die Bauern, in deren Gegenwart solche Fragen beantwortet worden, haben sich nur darüber gewundert, daß der Pfarrer mich nicht auf der Stelle zum Priester geweiht; vielleicht, meinte der Höfelhans, weiß er ihm zuviel, der Peterl, so daß er gleich zum Papst gewählt werden müßte, und dazu wäre der Bub zu jung.

Zehn Jahre war ich alt. Um diese Zeit hat der Mensch noch eine Menge Vettern. Einer von diesen – der Vetter Jakob wird's gewesen sein – tuschelte mir ins Ohr: »Wart', Peterl, bis dein Namenstag kommt, kriegst was von mir – was Schönes! Extra was, weil du's so brav hast gemacht, allen Verwandten eine Ehr'! Einen Taschenfeitel, wenn du magst!« – Ja, Vetter Jakob, den mag ich! jubelte es in mir auf, und von der [270] Stunde an begann ich mich unbändig zu freuen auf den Taschenfeitel. Wenn man so einen hat, da kann man nachher was! Man kann Peitschenstecken abschneiden, man kann aus Kiefernrinden Rösser schnitzeln, man kann aus Spänen Kreuzeln machen und sie aus Haustor heften, man kann Pfeil und Bogen herrichten, man kann auf dem Felde die Rüben ausziehen und sie abschälen und hübsch stückweise in den Mund stecken, man kann den Forellen die Köpfe wegschneiden, bevor man sie in die Bratglut wirst, kurz, man kann alles Mögliche tun, wenn man einen Taschenfeitel hat. Jede Nacht träumte ich vom Taschenfeitel mit dem gedrechselten gelben Hefte, bis der Namenstag endlich herangekommen war. Am Vorabende, als sie mir mit Kübeln, Pfannen, Hafendeckeln und Feuerzangen die übliche Namenstagsmusik gemacht hatten, kehrte ich mich nicht viel drum, mein ganzes Wesen erfüllte der Gedanke: morgen hast du deinen Taschenfeitel.

Am nächsten Frühtage, als die Wände des Hauses im Morgenrote leuchteten, strich ich schon draußen auf dem taufrischen Anger herum und guckte zwischen Bäumen und Sträuchern nach allen Seiten aus, ob nicht der Vetter Jakob dahersteige. In die Stube zurückgekehrt, gab's eine Überraschung. An die Namenstagsstrauben hatte ich gar nicht gedacht. Die Mutter hatte sie mir heuer mit besonders viel Weinbeerlein ausgestattet; ich steckte sie in großen Brocken rasch in den Mund, um die Finger abgeschleckt zu haben und bereit zu sein, wenn der Vetter Jakob mit dem Taschenfeitel käme. Die Stubentür ging auf, der Vater trat herein, ging langsam auf mich zu: »Dem Namenstagbuben muß man doch eine [271] neue Kappen aufsetzen!« und streifte mir eine buntgestreifte Zipfelmütze mit schönem Boschen (Quaste) über die Ohren. Fast wollte er sie in guter Laune mir auch über die Augen ziehen, ich wehrte mit den Händen ab, die Augen müssen freibleiben, wenn der Vetter Jakob kommt!

Jetzt erschienen meine Geschwister. Der Jackerl brachte von seiner Henne, er besaß eine, drei Eier, die Plonele verehrte mir ein Sträußlein aus frischen Nelken und Reseden und einen Kreuzer dazu; die Mirzele schluchzte in ihr Schürzlein, weil sie nichts hatte, worauf ihr meine Mutter eine hölzerne Perlenschnur gab, damit sie mir dieselbe als Angebinde schenken konnte, und ich solle damit nur fleißig rosenkranzbeten. »Der Hund bellt!« rief ich und horchte erwartungsvoll, ob die schweren Schuhe des Vetters Jakob nicht schlürfelten draußen am Antrittstein. Man hörte so was. Die Grableringodel kam daher, ganz schämig kam sie zur Tür herein und stellte auf die Ofenbank einen großen Handkorb. »Für den braven Namenstagbuben,« flüsterte sie und begann auszupacken. Zwei große Krapfen und ein braunglänzendes Honigtöpflein und etliche Kaiserbirnen; irgendwo auf der Welt mußten sie also schon reif sein. Und endlich ein Päcklein mit nagelneuem Herbstgewandel, grünausgeschlagenes Jöpplein, roter Brustfleck, braunseidenes Halstüchlein, schwarzes Lederhöslein; ich fuhr alsogleich mit der Hand in den Hosensack: »Da tu' ich den Taschenfeitel hinein!« Ein paar Schuhe noch und ein Filzhütlein mit Hahnenfeder. »All's z'viel ist's, G'vatterin!« rief meine Mutter aus. »Da kommt der Taschenfeitel hinein!« wiederholte ich immer wieder.

[272] »Wenn er geistlich wird, soll er einmal eine Messe für mich lesen,« antwortete die Godel bescheidentlich.

Während die Mutter der Spenderin eine Eierspeise buk, um sie zu ehren, und ich dann eingeladen wurde, mitzuessen, kamen erst unsere Mägde daher. Auch ein paar aus der Nachbarschaft. Die Kathel brachte mir ein kirschrotes Sacktüchlein, die Traudel ein paar Wollensocken die sie selber gestrickt hatte; die Rosel ein Lebkuchenherz mit Bildchen drauf, wo in einem güldenen Körblein zwischen Rosen ein Liebespaar saß. Der alte Steffel brachte mir ein Kränzlein Zithersaiten; die Zither selber bringe er später, wenn er sie selber erst bekommen hätte. Er habe einen Bruder, und wenn dieser einmal sterbe, dann erbe er die Zither, und dann bekäme sie der Namenstagbub, und dieweilen möge er halt mit den Saiten fürliebnehmen, die ja auch sehr schön wären. Der ganze Tisch war schon voller Sachen, als noch der Stallbub Michel mit einem Napf frisch gepflückter Kirschen daherkam.

»Aber, Bübel!« schrie meine Mutter voller Glück, »dich mauern sie heut' in lauter gut Sach ein! Das ist doch aus der Weis', da mußt jetzt wohl recht zum Bravsein schauen.«

Ich ging von einem Fenster zum andern. Draußen waren die Torsäulen und die Bäume und die Büsche, und auf dem Anger die Schafe, der Vetter Jakob aber – . Endlich wackelte über die Wiese etwas daher. Der dicke Vetter Martin kam und hatte ein hölzernes Trühlein bei sich. Während er es in der Stube säumig auftat, redete er zu mir: »Du, Peterl, wann du etwan doch nit Papst solltest werden, so rat' ich dir, werd' ein [273] Zimmermann, da geht's dir auch gut. Zimmerleut' braucht man alleweil und gibt's Geld und gut Essen. Und deswegen hab' ich gemeint, ich wollt' dir meinen alten Zimmerzeug schenken; ich brauch' ihn nimmer, weil ich mir einen neuen zugelegt hab'. Sollt' der Zeug zu rostig sein und Scharten haben, so tust ihn halt ein wenig schleifen, und ich wünsch' dir, einen glückseligen Namenstag.« Bohrer, Stemmeisen, Hobel, Reifmesser, das war schon was! Jetzt, wenn nur auch der Vetter Jakob mit dem Taschenfeitel tät' kommen!

Statt dessen kam der Firmpate, der gute Simon Miesebner, mit einem weißen Lämmlein, und als er das meckernde Tier vor mir auf die Bank stellte, schlug meine Mutter die Hände über den Kopf zusammen: »Das helle Christkindel kunntst sein, Bub, soviel tragen sie dir zu! Na, geh', das ist zuviel, das bist doch nit wert!«

Ich streichelte das weiche Lämmlein und schielte dabei mit einem Auge zum Fenster hinaus.

Beim Mittagsmahl gab's meine Lieblingsspeisen, ich konnte nichts essen. Ich saß im neuen Herbstgewandel da, steckte meine Hände in die Taschen; allerlei war schon drinnen, nur kein Taschenfeitel.

Nachmittags kam weiterer Besuch. Da gingen ein paar Schulkameraden aus Kathrein herüber. Der eine hatte eine Sammlung von Hosenknöpfen aus Horn und aus Messing und aus Stahl. Von einigen Gattungen, wovon er mehrere hatte, schenkte er mir zum Namenstag. Ein anderer verehrte mir eine Schachtel mit den damals neuen Streichhölzern, warnte mich aber so lange vor dem »Zündeln«, bis mir eins aufzischend an den [274] Fingern brannte, daß ich es entsetzt von mir warf. Der Nachbarn-Thomerlbub schenkte mir ein Handschlittlein mit dem Vorbehalte, ihm selbiges im Winter, so oft Schneebahn wäre, wieder zurückzuleihen. Den Thomerlbuben fragte ich hierauf nur, ob er den Vetter Jakob kenne.

Der alte Schuster Ernest brachte ein Büchlein über Obstbaumzucht; bei uns wuchsen aber nur Wildkirschen und Holzäpfel. Die Nähterin Leni schickte durch ihr Dirndl den »Himmelschlüssel«. Das war ein Gebetbüchlein für die armen Seelen im Fegefeuer. »Den Himmelschlüssel wird der Petrus wohl eh selber haben,« bemerkte der alte Steffel, auf meinen Namensheiligen anspielend, worauf die Magd Kathel scharf zurückgab: »Ja, ja, Steffel, für deine arme Seel' möcht' der Schlüssel auch nit genug sein, die wird wohl auch noch Gebeter brauchen.« »Kann eh sein,« entgegnete der Steffel und pfiff mit der Nase. Mir machte das keinen Spaß, ich dachte nur an den Vetter Jakob. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu arbeiten gebraucht, aber warten ist schwerer als arbeiten!

Gegen Abend kam des Nachbars Hieserl und schenkte mir eine Mundharmonika, an welcher zwar einige Zünglein fehlten, doch blies ich darauf das »Großer Gott wir loben dich!« und dachte dabei: Bis auch der Taschenfeitel da ist, nachher tut sich's!

Es tut sich auch so! mochte die Jungmagd Rosel gemeint haben; das von mir geblasene »Te Deum laudamus« für einen Walzer haltend, packte sie mich um die Mitte und hopste mit mir eins über den Anger.

»Ist das schon die Papsteinweihung?« fragte plötzlich [275] jemand hinter mir, und eine Hand hatte mich am Rockkragen gefaßt. Der Vetter Jakob! – Vor Freudenschreck fiel mir die Mundharmonika von den Lippen in das Gras.

»Wir müssen doch einen Namenstagball haben!« suchte die Rosel das Tänzlein zu rechtfertigen.

»Christi Heustadl!« rief der Vetter lustig aus. »Heut' ist zuletzt gar dem Peterl sein Namenstag! – Wenn das ist, da muß man wohl –« Er bohrte seine Hand in den Sack, zerrte gemächlich ein ledernes Beutelein heraus, bandelte an demselben herum und kletzelte mir ein funkelndes Silbergröschlein hervor. »So, Bübel, das tust in dein Sparbüchsel und bleib' halt schön gesund und brav, daß deine Eltern mit dir eine Freud' haben. Und ich muß wieder anrucken, sonst komm' ich ins Finstere.«

Darauf ist er mit Stock und Füßen weit ausschreitend fortgegangen – !

Am Abend, als in der Stube das Spanlicht aufgesteckt wurde, was war das für ein stolzes Eigen! Mein Gewandtrühlein, mein Winkelkastel, die Wandstellen ringsum voller Sachen. Sie standen, lehnten, lagen, hingen da, teils noch in blaues Papier geschlagen, teils in hellen Farben auf mich herlachend. Und ich? Ich bin in meinem Leben selten so traurig gewesen, als an jenem Namenstagabend. Sachen von zehnfacher Güte und Schöne hatte ich bekommen, sie machten mir kein Vergnügen, denn sie waren nicht erwartet worden, für sie war in dem kindischen Herzlein kein Platz vorgerichtet worden, sie waren mir gleichgültig. Und der eine einzige, der heißbegehrte und sehnsuchtsvoll erwartete, der, an [276] dem schon so viele Vorstellungen und Absichten geknüpft waren, der Taschenfeitel ist nicht gekommen.

So geht es oft auf dieser Welt, auch das wohlwollendste, aus allen Füllhörnern Gaben streuende Glück kann enttäuschen, wenn es blind ist. Nicht darauf kommt es an, daß man ein argloses Menschenkind mit Schätzen überhäuft, als vielmehr einzig nur darauf, daß man seinen oft recht bescheidenen Wunsch erfüllt.

Die Geschichte vom Schlüssel
[277] Die Geschichte vom Schlüssel.

Sind jetzt vor etlichen Jahren Schweizer in die Waldheimat gekommen, haben die Wälder erworben, sind aber, ohne sie auszurotten, wieder verzogen. Doch haben sie ein Denkmal zurückgelassen, das sein ist. Auf einer Anhöhe, die mitten aufragt, ringsum die Waldberge, die Almen, haben diese Schweizer eine Aussichtswarte gebaut. Diese ist so hoch, daß sie einen großen Fernblick bietet und auch einen guten Rückblick in die Vergangenheit. Letzteren freilich nur für mich.

An der Stelle, wo diese Warte steht, in Moos und Heidekraut, muß ich einst den Schlüssel verloren haben. Den Schlüssel zu meinem Schatz.

Diese kindische Geschichte aus der Kindheit muß ich ja erzählen. Auf der Warte rücklings liegend, um mich nichts als Himmel, sehe ich sie deutlich.

In der großen Stube meines Vaterhauses stand ein braunes Winkelkastel, das sich dreieckig in den Wandwinkel schmiegte. Es hatte drei Fächer und ein Lädchen, in denen ich meine Schätze barg. Es waren ganz besondere Sachen, wie sie kein anderer Bewohner des Waldbauernhauses aufzuweisen hatte. Besonders hervor leuchtete ein runder Taschenspiegel aus verzinntem Blech, aber ohne Glas. Eine Mundharmonika, der einige Kläppchen, und ein altes Kartenspiel, dem einige Blätter fehlten.

[278] Ein weißbeschaltes Taschenmesser, an dem die Klingenspitze abgebrochen war, ein stählernes Pfeifenbeschläge ohne Pfeife und ein ganzes Säckchen voll Messingknöpfe ohne Hafteln. Wie man möglicherweise merkt, hatten die Dinge einige Mängel, aber es ist zu bedenken, daß ich gerade diesen Mängeln ihren Besitz verdankte. Es war eine wertvolle Sammlung unbrauchbarer Dinge. Zudem hatten die »Messingdukaten« echten gegenüber den Vorteil, daß einem nicht leid zu sein brauchte, wenn man einmal einen verlor. Wir tat's aber doch leid, ich hätte am liebsten allen meinen Hosenknöpfen die Hafteln abgerissen, um den Dukatenbesitz zu vermehren. Zudem hatte ich in diesem Kastel noch andere Schätze, die den genannten an Wert nicht nachstanden. So etwa die dünnen, mit festem Zwirn zusammengenähten Papierhefte, in welche der kleine Bub schon was hineingedichtet hatte. Sonntags brachte mir der Vater vom Kirchgang manchmal eine Semmel heim, die verwahrte ich sofort in meinem Winkelkastel und behielt sie dort so lange auf, bis sie steinhart war, dann aß ich sie.

Die Tür des Kastels hielt ich natürlich stets zugelehnt und ließ niemanden gern hineinschauen. Die Tür hatte ein Eisenschloß, das ganz gut gesperrt haben würde, wenn es einen Schlüssel gehabt hätte. Aber es hatte keinen Schlüssel. Der mußte verloren worden sein schon vorzeiten, ich hatte ihn nie gesehen. Seit Menschengedenken war das Kastel unversperrbar und ich mußte alle meine wunderschönen Sachen vor aller Welt offen halten. Es war mir zwar nie das mindeste abhanden gekommen, mit Ausnahme von ein paar Dukaten, die ich beim oftmaligen Zählen verloren hatte. Meine jüngeren Geschwister [279] zeigten sich zwar manchmal habgierig gegen manches besondere Glanzstück. Der Jackerl schreckte auch vor Gewalt nicht zurück, wenn es ihm nach der zahnschartigen Mundharmonika gelüstete. Das Gewahrsam des Kastels aber respektierten sie. »Das ist dem Peterl sein Kastel, da darf man nichts herausnehmen.« Hielt es doch auch ich mit ihrem Eigentum so. In gemeinsamer Anwesenheit wurde gerauft um die Sachen, doch hinter dem Rücken des Eigentümers waren sie sicher.

Und dennoch stand mein Denken und Plangen nach einem Schlüssel. Der umgedreht und abgezogen in den Sack gesteckte Schlüssel sollte nicht bloß das unversehrbare Siegel auf mein Besitztum bedeuten, es sollte vielmehr auch noch sein, als ob ich mit dem Schlüssel gleichsam alle meine Schätze in der Tasche mit mir herumtrüge. – So lange betrieb ich die Sache, bis auf Zureden der Mutter eines Tages der Vater das Schloß vom Kasteltürchen löste und es auf seinem Kirchgange mit nach Krieglach nahm, um dort beim Schlosser einen Schlüssel dazu machen zu lassen.

Seit der Taschenfeitelgeschichte war ich nicht mehr in einer so gespannten Erwartung als an jenem Sonntag. Es war Herbst, ich hatte in der Talwiese beim Bache das Vieh zu hüten. Sonst pflegte ich bei diesem Hirtenamte im Wasser den Fischen nachzuspähen, wie sie von Stein zu Stein oder von Uferrasen zu Rasen hin und her glitten, legte mich wohl gar auf den Bauch hin an den Bach und sing mit der Hand manche Forelle unter dem Rasen hervor. Machte dann ein Feldfeuer an, bereitete die Fischlein zu und briet sie an der Glut. Wobei diese Arbeiten weitaus genußreicher waren, als nachher das Essen des [280] halbverbrannten Fischfleisches. An diesem Sonntage aber gab es keinen Bach und keine Forelle und kein Feldfeuer. Gab es nur einen steinigen, wasserdurchwaschenen Fahrweg, der über die Wiese hereinzog und auf welchem mein Vater von Krieglach kommen mußte mit dem Schlüssel. Er kam sehr lange nicht, doch endlich – es war schon Abend – sah ich seine Gestalt zwischen den Erlen herangehen. Aber er hatte keinen Schlüssel. Der Schlosser hatte gesagt, vor acht Tagen könne er ihn nicht machen. Mir ward auf solchen Bescheid übel bis in den Magen hinab. Wie soll jetzt wieder eine Zeit kommen ohne Schlüssel! – Die Ungeduld ist überhaupt oft mein peinigender Gesell' gewesen. Sie hat mich manche harmlos schöne Stunde übersehen, versäumen lassen, weil diese nicht just das brachte, was ich erwartet hatte. Übrigens ist jene Woche ganz glatt vergangen auch ohne den Schlüssel. Am nächsten Sonntag war der Knecht auf dem Kirchgang. Schon am Freitag begann ich, ihm aufzutragen, ja gewiß zum Schlosser hinzugehen; am Samstag gab ich ihm schon die zwei Sechser; soviel ungefähr konnte der neue Schlüssel kosten. Am Sonntag kam der Knecht beizeiten heim. Er setzte sich zu seinem ihm aufbewahrten Mittagsmahl und aß empörend gleichgültig wie jeden Tag und – sagte nichts. Mit zuckendem Atem fragte ich ihn endlich nach Schloß und Schlüssel. Da tat er gelassen sein Ledertäschchen aus dem Sack, kletzelte die zwei Sechser hervor und legte sie auf den Tisch. Auf den Schlosser habe er vergessen. – Mir war hilflos zum Verzweifeln. Totschlagen konnte man diesen Knecht nicht, ja nicht einmal ihn einen Todel schimpfen. Er hatte die Gewohnheit, in Fällen, als der kleine Bub sich ihm [281] gegnerisch zeigte, denselben bei den Ohren zu nehmen und zu schütteln. – Nun verstrichen zwei Wochen, bis wieder jemand aus unserem Hause nach Krieglach ging. Das war diesmal die Weidmagd. Weiberleute sind immer verläßlicher. Ich konnte sicher sein, heute bekam ich den Schlüssel. Ich bereitete schon den Hammer vor und die Eisennägel; deren sechs mußten sein, um das Schloß sofort aus Kastentürlein zu schlagen. Dann den Schlüssel anstecken, umdrehen, abziehen und an der Tür rütteln, um zu sehen, daß sie nicht ausgeht. Es wunderte mich, daß an diesem Tage im Hof alles seinen gewöhnlichen Trott ging und sich nicht schon die ganze Welt auf das Ereignis zuzuspitzen begann. Je tiefer es in den Nachmittag ging, je unbändiger ward mein Herzschlag. Ich konnte nicht mehr stehen und nicht mehr sitzen, nur immer aus und ein gehen nach dem Wiesenwege und berechnen, wo die Weidmagd unterwegs jetzt sein könne. Bei der Holzerreide. Beim Brünndl am Alpsteig. Jetzt beim Höllkogel. Jetzt bei der Zettelbauernbrücke. Jetzt beim Müllner. Jetzt bei der Heidenbauernmühle. Diese Mühle war am Rand unserer Wiese, ich wendete meinen Blick unverwandt hin und siehe – der Weiddirn roter Kittel schimmerte durch die Erlenbüsche. Ich lief ihr entgegen: »Hast den Schlüssel?«

»Na freilich hab' ich ihn.«

Umständlich setzte sie sich auf den Steinhaufen, aber so, daß der rote Kittel hübsch ins Breite gelegt ward, und nestelte aus dem Knopfe ihres Handtüchels den Schlüssel hervor. Er war zierlich und glänzte wie Silber. Mit beiden fiebernden Händen habe ich danach gegriffen – nach dem schönen, kalten, kleinen Schlüsselein.

[282] »Und das Schloß?« fragte ich.

»Jeß Manand Josef!« kreischte die Weidmagd auf, »jetzt hab' ich's Schloß vergessen, daß ich's hätt' eine g'steckt. Das liegt beim Schlosser auf dem Fensterbankel!«

Ich wage es heute noch nicht, die Höllenpein zu berühren. Am liebsten, wenn der Abend nicht schon gedämmert, wäre ich stehenden oder besser laufenden Fußes selber nach Krieglach geeilt, um endlich dieses boshafte Glück persönlich zu zwingen. Aber noch eine Woche lang mußte das Türlein ungeschlüsselt auf und zu gehen, bis am nächsten Sonntag ich selbst zum Schlosser kam. In der Phantasie meiner Erregung erwartete ich beinahe, daß mittlerweile das Schloß in Verlust geraten sein konnte – so weit war ich in der Einsicht auf die tückischen Menschengeschicke bereits geschult. Aber das Schloß hat sich vorgefunden. Ich habe es heimgebracht und noch an demselben Tage angeschlagen.

»Jetzt sollt' just einmal der Schlüssel nit passen!« sagte mein Vater, der mir zusah. Als ich den Schlüssel anstecken wollte, fiel er mir zweimal zu Boden; das letztemal schnellte er so weit unter die Bank hinein, daß wir ihn mit dem Spanlicht suchen mußten. Aber endlich steckte ich ihn an und er – paßte. Wie geschmiert ließ er sich umdrehen, abziehen – und jetzt saß das Türl im Falz und rührte sich nicht. Das Kastel war zugesperrt.

Das war einmal ein Gefühl!

Vor den Augen meiner staunenden Geschwister sperrte ich das Kastel auf und sperrte es zu und eine Luft zu hören, wie allemal der Riegel klapp einschnalzte. Dann [283] hub ich an, auch meine anderen Sachen, die zufällig noch zerstreut gewesen, ins Kastel zusammenzutun; so das neue Paar Socken, das die Mutter erst fertiggestrickt; so das grüne Wollentäschchen mit dem Kresen-(Taufpaten-)geld, das mir bislang der Vater aufbewahrt; so die Kaiserbirne, die mir an jenem Tage eine uns besuchende Muhme geschenkt hatte. Und als das alles im Kastel war und nach einigem Nachdenken auch noch anderes zusammengetragen wurde, damit jegliches Kleinod, so ich auf Erden besaß, in sicherem Horte sei, sperrte ich das Kastel mit einem flotten Schnalzer zu und steckte den Schlüssel in den Hosensack.

Wie das bequem war, überall – auf Wiese und Feld, in Wald und auf der Alm seine Sach' geschlossen bei sich zu haben! Ich ging den Schafen nach, die sich auf den Kogel verlaufen hatten. Eine Weile mußte ich mich mit dem Widder herumhetzen, der über den Zaun auf das Riegelberger Gebiet gesprungen war. Endlich hatte ich die wollige Bande glücklich im Stall und nachher, wie ich wieder zu meinem Winkelkastel gehe, um es aufzusperren und die Kaiserbirne zu verzehren – ist der Schlüssel nicht im Sack...

Tagelang habe ich gesucht in Moos und Heidekraut des Kogels und ringsum, wo das Schafgjaid war – der Schlüssel hat sich nicht gefunden. Mich verlangte, mein Leid in Verse zu bringen, ich konnte nicht zum Papier; mich fror in die Zehen, ich konnte nicht zu den Socken. Alles, was ich Tag für Tag bedurfte, war im Kastel.

Endlich, da nach abgelaubtem Heidekraut die Spätherbstsonne auf den Boden schien und der Schlüssel trotzdem [284] nicht zu finden war, habe ich alle Hoffnung fahren lassen. Mein Vater bog einen Nagel krumm und öffnete das Schloß. Mit Ausnahme der verfaulten Kaiserbirne alles in guter Ordnung. Das Türl ging wieder ungesperrt auf und zu wie früher – und so ist es verblieben.

Jetzt steht auf dem Kogel die Warte. Sollte von einem Besucher derselben der Schlüssel gefunden werden, so möge ihn der redliche Finder behalten. Ich brauch' ihn nicht mehr, mir fehlt jetzt das Kastel dazu.

Als ich -
[285] Als ich –

Einst war in der Waldheimat ein alter Knecht, der einen gloriosen Spitznamen hatte – er hieß der Talerbüchsentoni.

Er besaß nämlich – ob als Erbschaft oder als Fund, das ist nicht ergründet worden – einen kleinen Schatz von alten Silbermünzen, teils mit Bildnissen Maria Theresias, Friedrichs des Großen, teils mit dem Bilde der Mutter Gottes oder mit dem Zeichen von Krummstab und Schwert, von Adlern, Löwen, zweiköpfigen Tigern, von Kreuzen und Ringen, seltsamen Buchstaben oder anderen geheimnisvollen Markungen. Etliche dieser Münzen, die wir, ohne Unterschied des Landes, der Prägung und der Größe, Taler nannten, sollen sogar vom Dreißigjährigen Kriege hergestammt haben. Den Schatz hielt Toni der Knecht eingeschachtelt in einer runden, blutrot angestrichenen Holzbüchse. Wenn nun der Feierabend kam oder eine stille Feiertagsstunde war, holte er aus seiner Kleidertruhe die Büchse hervor, aber nicht etwa, um nach alter Geizhalsart für sich allein darin zu wühlen und zu schwelgen, sondern um die Talerfreude mit seinen Hausgenossen zu teilen, ihnen nach seiner Weise die Geldstücke zu erklären, sie dann auf dem Tische klingen zu lassen, um die Feinheit des Silbers zu bekunden und sich an den gierigen Blicken zu weiden, die auf seine schönen Taler niederstachen.

[286] Sobald jedoch die Leute merkten, es fiele bei dieser wiederholten Silberbeschau weiter nichts für sie aus, wurde ihnen die Sache langweilig und sie sagten: »Geh', laß uns in Ruh', Toni, mit deinen alten blinden Schimmeln, wenn du keinen herschenkst, so wollen wir sie auch nicht sehen.« Derlei undankbare und lieblose Bemerkungen verdrossen den Knecht Toni allemal so tief, daß er in dem betreffenden Hause sofort den Dienst kündigte und in einen anderen Hof zog, wo man die Talersammlung, die den Inhalt seines Knechtelebens ausmachte, wieder besser zu würdigen verstand. – Aber die Bauersleute sind soviel hochsinnig, sie halten nichts aufs Geld, wenn sie es nicht kriegen. Und so kam es, daß der Toni gar häufig seinen Dienst wechselte, trotzdem er sonst ein stiller, zufriedener Mensch und kein schlechter Arbeiter war.

Nun, so war der Talerbüchsentoni auch in unser Waldhaus gekommen. Und weil er an meinem Vater einen Wann fand, der die Geldstücke nicht nach deren Gewicht schätzte, sondern an den Bildnissen der Könige und Kaiser und besonders an der lieben Mutter Gottes seine Freude hatte, und weil er an uns Kindern eine jubelnde Schar von unersättlichen Bewunderern sah, so lebte er in unserem Hause neu auf.

Jeden Abend nach dem Vesperbrot kam er denn von seiner Gewandtruhe, die oben im Dachgelasse stand, zu uns in die Stube, geheimnisvoll, die rote Büchse noch unter dem Rocke bergend, sie dann langsam hervorziehend, stets mit einer Miene, als ob es das allererstemal geschehe und er etwas unerhört Neues aufzuzeigen hätte. Und wenn er dann am sicheren Orte des großen Eichentisches saß und wir in einem festen Wall um ihn herum [287] waren, schraubte er mit einer bedächtigen Fertigkeit die Büchse auf und faßte einen um den andern mit zwei Fingern an, wie der Priester die Hostie, und begann mit seinen Auslegungen. An jedem Stücke war eine besondere Merkwürdigkeit. Da war eine Maria Theresia, die scheinbar ihre Augen verdrehte, wenn man ihr die blinkende Münze Fritz des Großen gegenüberhielt. Ein anderer Taler zeigte noch Rostflecken vom Dreißigjährigen Kriege, von welchem der Knecht bemerkte, man müsse nicht glauben, daß dieser Krieg dreißig Jahre lang ohne alle Unterbrechung gedauert habe; in den meisten Nächten, besonders aber zu den hohen Festtagen, habe man die Schlacht unterbrochen und Freund und Feind in Gemeinschaft sein Gebet verrichtet. – Auf einem anderen Taler war das wahrhaftige Bildnis unserer lieben Frau und ein Ablaß daran für den, der es küßte. Wir durften es auch küssen, alle der Reihe nach, auch jene Dienstboten, die der Knecht gut leiden konnte; zu den anderen sagte er, sie möchten sich ihren Ablaß nur anderswo holen.

Besonders ein halberwachsener Bursche, der Hiasel, war es, welcher durch manch lose Bemerkung über den Toni und seine Büchse des alten Knechtes Unwillen in so hohem Grade erweckt hatte, daß er nicht ein einzigmal zur Talerschau, geschweige zum Kusse zugelassen wurde.

Der Hiasel war kurze Zeit früher als unterstandsloser, etwas verkommener Junge des Weges gestrichen und mein Vater hatte ihn aufgenommen, mit gutem Hanfzeuge bekleidet, auch ordentlich ausgefüttert, denn die ersten Wochen war der heimatlose Bursche schier nicht zu sättigen gewesen. Dafür griff der Hiasel nun auch die [288] Arbeit flink an, war munter und das regelmäßige Leben schien ihm gar nicht übel zu gefallen. Er sah jetzt recht gesund aus, war schlank gewachsen, und weil er auch die Haare kämmte, so wollte er schier ein hübsches Bürschlein werden. Ich, das muß ich wohl gestehen, hatte keine besondere Zuneigung zum Hiasel, nicht allein, weil er mir immer als Beispiel aufgestellt wurde, wenn ich mich nicht waschen und strählen wollte, sondern und vielmehr noch, weil der Hiasel »Peitenstegga« anstatt Peitschenstecken sagte. Er war aus dem Niederösterreich herübergekommen und mir war das »Fremdeln« in der Sprache zuwider und dieses »Peitenstegga« geradezu eine Ungeheuerlichkeit. Der Bursche schnitt mir manchen Peitschenstecken und unterstützte mich bisweilen in meinen Spielen; doch niemals mochte ich ihn gut leiden, da wandte ich mich zehnmal lieber dem alten Toni und seiner Talerbüchse zu.

Des Alten Gesicht anzuschauen war für mich eine Unterhaltung. Dieses platte, runzelige Gesicht mit den großen Wangenknochen, mit den völlig wasserfarbigen Äuglein, die fortwährend hinter den buschigen Brauen Versteckens spielten, wenn die Taler aufmarschierten, dieses Gesicht war ein großer Spaß; und wie der Mann als Zeichen seiner wichtigtuerischen Befriedigung die furchige Stirnhaut auf und nieder riß und selbst die Ohrläppchen bewegte wie ein Eselein – das war doch gar zu possierlich. Und nun kam mir auf einmal der Gedanke: Wenn der Toni schon in seiner Lustigkeit ein so spaßiges Gesicht macht, wie erst, wenn er zornig und wild ist? – Mit diesem Gedanken hebt die Geschichte an.

Eines Tages, als die Leute auf dem Feld waren,[289] stieg ich die Stiege vom Dachgelaß herab und freute mich auf die Stunde, wenn der Toni wieder seine Taler aufzeigen will und sie nicht findet. Das wird eine tolle Geschichte geben! Aber ich lache still und sag' den Spaß erst am anderen Tag.

Es war die genötige Schnittzeit, da wird bis in die späten Abende hinein gearbeitet, da ist's nichts mit dem Talergucken. Ich vergaß auch bald darauf, ich mußte Garben tragen und dem Vater die Kornschöberlein aufspreizen helfen. Auch waren die Kirschen reif, eine Zeit fruchtlosen Plangens für mich, denn ich wagte noch nicht den Stamm emporzuklettern und das Niederziehen der Äste vermittelst Haken war verboten; wenn ein Ast brach, da war mein Vater streng. Das mutwillige Abreißen von Ästen nannte er: Den Nachkommen Kirschen stehlen. Das war freilich ein garstiges Wort und verzichtete ich schließlich doch lieber auf die so hellrot niederleuchtenden Kirschen bis zum Samstagfeierabend, wenn sie mir der Vater regelrecht herabholte oder es der Hiasel tat, der ein arger Kletterer war.

Damals erfuhr ich, was ein Spottwort vermag. Als der Hiasel hoch oben an einem schaukelnden Aste saß und ihm bei jeder Schwenkung des Hauptes die frischen Kirschengabelein förmlich in den Mund hineinhingen, rief er zu mir nieder ins Gras, es wäre eine Schande, daß ich noch auf keinen Kirschbaum könne! und warf mir – der ich die Haube nach Kirschen auftat – ein paar feuchte Körner hinein. Ich sprang ergrimmt an den Baumstamm und in wenigen Augenblicken war ich zu meiner eigenen Überraschung oben beim Hiasel.

Ich wollte eben der Jubelstimmung über meine plötzlich [290] eingetretene Mannhaftigkeit in einem hellen Juchschrei Luft machen, als neben im Hause auf ein mal ein unheimlicher Lärm entstand. Der Toni sprang wie rasend zur Tür heraus, hielt mit beiden Händen seinen grauen Kopf und schrie: »Mein Geld ist weg! Mein Geld ist weg!«

Ihm folgte mein Vater: der Toni solle sich doch nicht den Kopf wegreißen, das Geld würde sich ja finden, er ließe das ganze Haus durchsuchen. Ein paar Dienstmägde zeterten: das wäre ihnen auch auf der Welt noch nicht passiert, daß sie sich aussuchen lassen müßten, wie Schelminnen, aber sie täten es von selber, würfen dem Bauer all ihre Habseligkeiten vor die Füße, Stück für Stück, und solle er schauen, ob die dumme Talerbüchse darunter sei.

»Die dumme Talerbüchse!« stöhnte der alte Knecht, »o Bauer! mein Bauer! Das Herz möcht' mir zerspringen vor lauter Unglück!« und er hub an laut zu gröhlen und ging, immer noch den Kopf zwischen den Händen haltend, ums Haus herum, als müsse die Talerbüchse irgendwo auf dem grünen Rasen liegen.

Jetzt hörte ich auch die Stimme meiner Mutter, welche darüber schalt, daß die Leute an ihren Gewandtruhen die Schlüssel stecken ließen, daß sie damit leicht ein ganzes Haus in Unehr' bringen könnten; sie halte aber dafür, der Toni hätte in seiner verrückten Weise das Geld aufs Kornfeld mitgeschleppt und dort verloren. Seit Wochen sei kein Bettler, kein Handwerksbursch' oder sonst ein Fremder in den Hof gekommen und daß im Haus kein Dieb lebe, dafür lege sie sich ins Herdfeuer.

Mir, der ich auf dem Kirschbaumast hockte, war[291] wunderlich zumute. Wenn ich jetzt nur wieder unten wäre, das Ding geht schief.

Im Hause wurde der Hiasel gerufen.

»Wenn's eins im Haus getan hat – niemand anderer als der Hiasel!«

Als der Junge dieses Wort gehört hatte, sprang er vom Baum mit einem kecken Schwunge über die Äste hinweg auf den Erdboden. Bald war er von den Leuten umringt. Der Toni hatte seine Fassungskraft wieder erlangt, er faßte daher den Hiasel am Arm und fragte, wo er das Geld habe!

Der Bursche war im Gesichte röter als die reifste Kirsche und sagte, er wisse von keinem Gelde.

Das Leugnen würde ihm nichts nützen. Man wisse bestimmt, daß er die Taler genommen habe!

Auf eine solche Anschuldigung ist der Bursche – überhaupt ungewandt im Reden, aber gewohnt, herrischen Aussprüchen sich zu fügen – ganz stumm geworden. Er stand da wie ein Stück Holz und starrte den Ankläger schier seelenlos an.

»Wenn du's willig hergibst, Hiasel, mein Geld,« sprach der Toni in milder, fast bittender Weise, »so geschieht dir nichts; ich lege beim Waldbauer ein Gebitt ein, daß er dich frei laufen laßt. Wenn du aber leugnest, so schlage ich dich tot!«

Und ich? Als ich merkte, welch schreckbare Wendung mein »Spaß« zu nehmen begann, und daß die Sache jetzt gar nicht einmal wie ein Spaß aussah, und als ich eine Geisterstimme hörte: das was du getan, war Diebstahl! – da war wohl mein erster Gedanke: alsogleich [292] sagen, du hast das Geld hinter der Gewandtruhe unter den Holzsparren gesteckt. – Aber sehr rasch rief eine andere Stimme: das wäre zu gefährlich! Siehe, jetzt reißt er schon die Heckenrute ab, die kriegst du, sobald du das Wort sagst! – Denn das Gesicht des alten Knechtes war ganz schreckbar anzusehen, die Wut, die Ratlosigkeit und den Jammer habe ich in meinem Leben nirgends so scharf ausgedrückt gefunden, als damals auf dem Angesichte des Toni. Da gab's nichts zu lachen!

Wohl totenblaß mag ich gewesen sein, als ich mich hinter den Kirschbaumstamm schlich, dann plötzlich kehrt machte, ins Haus eilte, ins Dachgelaß hinauf, die unselige Talerbüchse aus ihrem Versteck holte und in die sperrangelweit offene Gewandtruhe des alten Knechtes warf.

Als ich hernach wieder zum Kirschbaum zurückgekommen war, lagen von der Heckenrute nur mehr die weißen Splitter umher auf dem grünen Rasen; die Leute verzogen sich grollend und scheltend und den Waldweg entlang wankte der Bursche mit zerrauftem Haar.

Der Knecht wimmerte im Hause umher, der Vater trat zu mir und sagte, ich hätte nun gesehen, wohin Unehrlichkeit führe; den Hiasel habe er verjagt und ich solle nun wieder auf den Kirschbaum steigen.

Jetzt sag's! Jetzt sag's! rief es ungestüm in mir. Aber ich habe es nicht gesagt. Mir war, als könnte ich es nicht mehr sagen, als sei schon zuviel geschehen. Ich war ja fürs ganze Haus das fromme, gutmütige Bübl, das schier den ganzen Katechismus auswendig wußte und das heilige Evangelium lesen konnte so schön und kräftig, wie der Pfarrer auf dem Predigtstuhl, ich sollte nun als Dieb und Schuftlein dastehen! Hatte ich nicht [293] die haarsträubende Entrüstung der Leute gesehen, die sich in allen Formen über den armen Hiasel entleert? Über mich mußte es noch ärger kommen, denn ich war ein doppelter Bösewicht. Für einen solchen ist es doppelt unklug, sich zu verraten – und ich habe nichts gesagt.

Hingegen bin ich jetzt fortgegangen, den Waldweg entlang, um den Hiasel zu suchen. Ich bin, wie der Steig führt, in den Schmiedhofgraben hinabgegangen und jenseits wieder emporgestiegen zu den Hochwaldungen des Teufelssteingebirges. Und auf der Höhe, dort wo der weite grüne Anger liegt mitten im Wald und wo das rotangestrichene Christuskreuz steht, dort habe ich ihn gefunden. Er lag unter dem Kreuze und schlief und sein Antlitz war verweint.

Über den schwarzen Baumwipfeln lag die Abendröte, kein Lüftchen und kein Laut war auf dem dämmernden Anger – ich saß neben dem schlafenden Burschen und schluchzte – Kinder weinen oft, aber es wird wohl selten sein, daß eins so bitter bitterlich weint, als ich's damals getan habe, da ich Wache hielt vor dem schlummernden Jungen, dem so grob Unrecht geschehen war.

Wecken wollte ich ihn nicht. Er war ja so müde gehetzt. Daß er unschuldig ist, das weiß er und wird ihm's sein lieber Schutzengel auch im Traum sagen. Er hat nicht Vater und Mutter, er hat nichts Gutes auf der Welt, und wenn ihm jetzt schon fremde Sünden zugeworfen werden, weil ihn kein Mensch in Schutz nimmt, wie erst, wenn er groß ist und es die schlechten Leute inne werden: das ist einer zum Tragen und Büßen...! Er soll schlafen.

Ähnliches mag ich gedacht oder gefühlt haben und[294] ein unendliches Mitleid kam über mich, eine Reue und eine Liebe, und ich wußte mir vor Weinen nicht zu helfen. Als er sich einmal ein klein wenig bewegte, da ging's mir heiß durchs Herz und mir verging der Mut, es ihm zu sagen, daß ich das Schelmenstück getan hätte, wofür er mißhandelt worden. Konnte ihn das nicht gegen mich empören, wütend machen? Konnte er mich nicht auf der Stelle totschlagen in diesem finsteren Wald und mir dabei zuschreien: die Strafe dafür hätte er schon im voraus empfangen?

Aber – und das allein ist's, was aus jenem bösen Tage heute noch milde auf mich herüberschaut – ich blieb neben dem Schlummernden kauern und war entschlossen, nicht eher von ihm zu gehen, als bis ich ihm alles gestanden und abgebeten hätte. Dann wollte ich ihn mitnehmen hinein in mein Vaterhaus, daß er alles dort habe, was ich bisher gehabt, und das so lang', so lang, als die Heckenruten wachsen neben dem Kirschbaum.

Bevor jedoch der Hiasel aus seiner schweren Betäubung erwachte, kam was anderes. Den Waldweg heran knarrte ein Leiterwagen, bespannt mit zwei Ochsen, die ein Mann leitete. Der Stegleitner von Fischbach war's, er fuhr von seinem Walde heim – ich kannte ihn von einem Ochsentausche her, den er etliche Wochen früher mit meinem Vater abgemacht. Trotz der tiefen Dämmerung erkannte ich auch die Ochsen als jene, welche er von uns fortgeführt hatte. Das heimelte mich an. Als der Stegleitner hier unter dem Kreuze einen schlafenden und einen schluchzenden Jungen fand, war er gar erschrocken und fragte, was das zu bedeuten habe.

[295] Und vor den Stegleitner bin ich hierauf hingekniet, als ob er der Bestohlene oder der Mißhandelte gewesen wäre, und habe ihm wohl mit gefalteten Händen alles erzählt.

Ter Stegleitner war ein ruhiger, ernster Mann; als ich fertig war, fragte er nur, ob ich fertig wäre, und da ich schwieg, hat er mir folgendes gesagt: »Mit dem Hiasel hast du und hat dein Vater nichts mehr zu schaffen, der gehört jetzt mein, ich nehme ihn mit mir. Abbitten wirst du ihm's, wenn du größer geworden bist, denn das – mußt du wissen – verjährt nicht. Für jetzt werde ich ihm sagen, was zu sagen ist, daß sein Schutzengel seine Unschuld aus Licht getragen hat. Mehr braucht er nicht zu wissen. Und du, Waldbauernbub, gehst jetzt heim, und was du zu tun hast, das weißt du.«

»Das Geld ist schon zurückgegeben,« berichtete ich gefaßter.

»Das Geld ist Mist,« sagte der Stegleitner, »die Ehre gibst zurück. – Mein Kind!« fuhr er fort und richtete mich mit seiner Hand auf, »schau, dort oben heben jetzt die Sternln an zu leuchten. Sie schauen nieder auf dich, wenn du bei der Tür eintrittst in dein Vaterhaus, sie sehen, was du tun wirst und was lassen – und sie brennen fort, bis zum Jüngsten Gericht t«

Die Worte waren ruhig, fast leise gesprochen, und doch war mir, als bebe vor ihnen der Erdboden unter meinen Füßen.

Der Stegleitner blieb mit seinem Gefährte noch stehen bei dem roten Kreuz; ich tat einen kurzen Blick auf den Schläfer und war mir, als sähe ich das Bild eines Heiligen. Dann ging ich heimwärts; ging und lief und ahnte Gespenster, die mir folgten.

[296] Als ich gegen unser Haus kam, hörte ich schon von weitem die Stimme meiner Mutter, die meinen Namen rief.

»Was das für ein Tag ist!« klagte sie, »Geld und Kinder werden gestohlen, da müssen doch rein Zigeuner im Land sein!«

Aber Geld und Kind hatte sich nun glücklich wieder gefunden und in der Stube kniete der Vater am großen Tische, knieten die anderen Leute an den Wandbänken herum und sie beteten laut und gemeinstimmig den üblichen Samstagsrosenkranz. Mir war wohl und weh. Ich kniete zum alten Knecht, dem Toni – recht nahe an seine Seite hin – und begann laut mitzubeten. Sie wiederholten immer wieder das Vaterunser und das Ave Maria und ich stimmte in den surrenden Ton mit ein und sagte fortwährend: »Lieber Knecht, vergib mir meine Schulden, ich habe dir das Geld gestohlen! Lieber Knecht, vergib mir meine Schulden, ich habe dir das Geld gestohlen! Lieber Knecht, vergib mir meine Schulden, ich habe dir das Geld gestohlen!«

Weil der Toni entweder stark schläfrig war, oder weil er während des Rosenkranzes in Gedanken an die wiedergefundene Talerbüchse schwelgte, so währte es ziemlich lang', bis ihm mein wunderlicher Text auffiel. Endlich hub sich seine Stirnhaut und sein Ohrläppchen an zu bewegen, er wendete sachte sein entsetztes Gesicht und schrie in die Stube hinein, man solle still sein und den kleinen Buben allein weiterbeten lassen.

Und als von solcher Unterbrechung überrascht alles still war, duckte ich mich in den Wandwinkel und wimmerte laut: »Ich habe das Geld genommen!«

[297] Der Rosenkranz war für heute aus. Die Begebenheiten spitzten sich nun rasch und scharf einem herben Ende zu, welches Ende jedoch durch den Umstand, daß der Hiasel geborgen war und von seiner Ehrenrettung bereits durch den Stegleitner Kenntnis haben mußte, bedeutend gemildert worden ist.

Von diesem verhängnisvollen Tage an ist der Talerbüchsentoni nicht mehr lange bei uns geblieben. Aber zum Abschiede nahm er mich an seine Gewandtruhe. Dort öffnete er würdevoll die Büchse und schenkte mir daraus ein funkelndes Tälerlein als – Finderlohn.

Nach Jahren, als der Toni mühselig und krank geworden war, wollte er mit seinem Silberschatze eine »wundertätige Kapelle« stiften, was ihm aber der Pfarrer entschieden mißriet. Hingegen ward ihm nahegelegt, ob er nicht einem braven Bauernburschen, dem dieser Silberlinge wegen einmal unrecht geschehen,: in kleines Angedenken hinterlassen wolle?

Aber der Hiasel war nicht im Lande. Er war lange im Stegleitnerhofe gewesen und man hatte schon davon gemunkelt, daß er dort die hübsche Haustochter heiraten werde – da wurde die Gegend plötzlich geräumt. Alle jungen, kräftigen Männer mußten fort. Es war die Zeit, in welcher nach dem Sprichwort die Weibsleute um jeden Stuhl raufen, auf dem einmal ein Mannsbild gesessen. – Wie die Meereshochflut, die den Damm zerreißt, so wollte der Feind ins Vaterland herein. Der Hiasel kam mit einem durchschossenen Fuß zurück.

»Armer Bursch,« so begrüßte der alte Stegleitner den Heimkehrenden, »jetzt bist ein zweitesmal unschuldigerweis' geschlagen worden.«

[298] »Ich trag's,« antwortete der Hiasel, »mir ist's nurihretwegen hart!«

»Was ihretwegen!« sagte der Bauer, »ihre Ahndl, meine Mutter selig, hat auch einen hinkenden Mann gehabt. Dirndel, geh' her! Schau, der Krumme kann dir nicht so leicht davonlaufen. Der lieb' Herrgott geb' seinen Segen dazu!«

Heute ist der Hiasel angesehener Stegleitner. Ob er das Andenken vom Talerbüchsentoni erhalten hat, weiß ich nicht. Gebührt hätte es ihm.

[299] Die Ankunft des heiligen Geistes

Das war nun wieder einmal was. Die Firmung! Bis der Mensch ins zehnte oder zwölfte Jahr kommt, braucht er schon eine Stärkung im Glauben. Die Kindheit schwindet, die Flegeljahre nahen; wann im Leben ist er gerechtfertigter, der Ruf: Komm', heiliger Geist!

Noch in den letzten Tagen hatte mir der Katechismus harte Mühe gemacht. Das Hauptstück von der Firmung mit allerlei schriftlichen Beisätzen vom Katecheten wollte wörtlich auswendig gelernt sein und kann ich mich erinnern, wie dieser Sache wegen der Nachbar Jochembub mit dem geistlichen Herrn Kaplan Verhandlungen pflegte. Ob er das Hauptstück nicht nach der Firmung lernen dürfe? Es wäre auf solche Weise das Lernen erleichtert, denn da hätte man schon den heiligen Geist. – Auch mir leuchtete dieser Vorteil alsogleich ein, doch der Kaplan war der Meinung, so viel Geist müsse der Mensch aus eigenem aufzubringen wissen, daß er der paar »Bsätzeln« Herr würde; den göttlichen Geist hätte er schon noch zu anderem zu brauchen.

Dann aber der Firmpate! Den Schwarzen wollt' ich haben, den schwarzen Hans, den Kohlenbrenner. Ich hatte meine besondere Ursache, mit ihm in Verwandtschaft zu treten, denn erstens gefiel mir der Name Hans zum Firmnamen, zweitens besaß dieser Hans einen Schatz, der mich unwiderstehlich an ihn zog, nämlich ein altes Büchlein mit der Geschichte von der Pfalzgräfin Genofeva.

[300] Aber der Hans sagte, eines einzigen Tages wegen zahle es sich nicht aus, daß er sich wasche. Er rate mir zu meinem eigenen Besten den Schmiedhofer an.

Der Schmiedhofer war ein wohlangesehener, vermögender Mann und meine Mutter wollte ihn daher nicht; bei dem, sagte sie, käme es gerade heraus, als ob man ihn der Firmgeschenke wegen ausgesucht hätte.

Mein Vater jedoch hatte gehört, daß der Schmiedhofer auch diesmal bereits sechs Firmlinge angenommen hätte und daß er den siebenten nicht zurücktauchen würde.

»Damit er seine sieben Schmerzen beisammen hat,« gab die Mutter drauf. Und an demselben Tage, als es Abend geworden war, und der Schmiedhofer auf seinem Acker den Pflug ausgespannt hatte, ging meine Mutter mit mir hinab in sein Haus. Der Bauer – er war ein großgewachsener Mann, aber mit dem Oberkörper schon stark nach vorne gebeugt, war ältlich und hatte graue Bartstoppeln im ganzen Gesicht – stand just am Strohschneidstock und schnitt für die Zugochsen das Abendfutter.

»Wär' schier Zeit zum Feierabendmachen,« grüßte meine Mutter.

»Eh wahr!« dankte der Bauer und schnitt mit der Sense, die im Hebel lief, drauf los, daß es knarrte. Wir standen da und meinten, er würde aussetzen und uns fragen nach dem Begehr. Endlich als alles Stroh durch den Barren gelaufen und kleingehackt war, ließ er die Arbeit ruhen und murmelte nach gebräuchlicher Weise: »Gott Lob und Dank!«

Die Bauern sind nämlich wunderliche Leute, sie danken dem Herrgott auch für des Tages Arbeit und Mühe.

[301] Was die Waldbäuerin mit ihrem Bübel suche – noch so spät? war jetzt seine Frage.

»Magst dir's leicht denken, Schmiedhofer,« antwortete die Mutter, »denkst dir's nicht, so red' ich mich hart. Kehr' um die Hand ist der Bischof in Birkfeld.«

»Aha,« sagte der Bauer, indem er neben uns aus der Scheuer trat und mit Stein und Schwamm ein Tabaksfeuer machte. Das Ding war wider Erwarten rasch in Ordnung, Luft hatte es auch; steckte er daher seine Hände jetzt in die Taschen und hielt die Pfeife mit den Zähnen; so würde er nicht sprechen können, sollte man meinen, aber er sprach deutlich und vernünftig folgendermaßen: »Ich führ' ihn schon und g'freut's mich, wenn ihm mein Namen recht ist. Der Simon – wie ich heiß – paßt ehselb zum Petrus, sind vorzeit auch beisammen gewesen. Nur muß ich halt wohl das sagen, Waldbäuerin: Verpflichten kann ich mich für nichts, bei den anderen nicht und bei dem nicht. Im ganzen werde ich Stuck ein vierunddreißig haben. Da magst dir's eh denken. Weil's halt gern heißt, wenn's so einem Menschen schlecht geht und daß er was braucht: Geh' zu deinem Firmgöden, dein Firmgöd soll dir helfen. Daß man tut, was man kann, versteht sich. Ist's dir so recht, Petrus?«

»Tu' ihn halt schön bitten, die Händ' zusammenhaben und bitten,« ermahnte mich meine Mutter.

»Ist schon recht, ist schon gut,« wehrte der Bauer ab. »Samstag, als am Vorabend um Stund' zwei mußt in meinem Haus sein. Kommen die anderen auch. Ein G'wandl hast?«

»Wohl, wohl.« Und so war alles in Ordnung.

[302] Der Samstag kam und um zwei Uhr saßen wir in der Stube des Schmiedhofers der Reihe nach auf den Wandbänken herum, alle sein herausgestiefelt, gewaschen und gekämmt und mit weißen Hemdkrägen, bunten Halstüchlein, oder derlei vom Besten, was eben jeder auftrieb. Wir flüsterten zueinander oder saßen auch ganz still da und schämten uns ein wenig, daß wir auf der Welt waren. Jetzt trat der Schmiedhofer zur Tür herein, glatt rasiert und in seinem braunen Tuchgewand, was noch sein Bräutigamsgewand war und nur bei festlichen Gelegenheiten angetan wurde. Da in seinem Hause die Kindstaufen vorüber waren, so konnte der seine Anzug nun schon auch für die Firmungen herhalten. Der liebe Mann blickte uns der Reihe nach an und mehrmals scharf mit dem Kopf neigend sagte er: »Der heurige Trieb ist, gottlob, wieder rechtschaffen stark.«

Es sah nicht aus, als ob er die sieben Firmlinge für sieben Schmerzen hielte.

»Seid's tüchtige Kampeln übereinand,« sagte er, und als hierauf die Schmiedhoferin mit der großen Sterzschüssel kam und mit den Milchtöpfen: »Nu wollen wir einmal sehen, ob auch jeder brav essen kann. Dem heiligen Geist muß man mit Sterz ein Nest bauen. Setzt's euch zusamm'!«

Über unser Nestbauen war keine Klage zu führen. Dann verließen wir das Haus und der Schmiedhofer hatte seinen Stock mit, weil er etwas ungleich auf den Füßen war. Wir gingen durch den Anger hinab, wo die Schafe grasten, schwarze und weiße und graue, und da fragte der Bauer jeden von uns, welche Farbe ihm am besten gefiele? Die meisten waren für das Weiße; [303] ich halte es bei den Lämmern allemal mit den schwarzen; einer, der Rüsselbub, gab seine Meinung dahin ab: er sei in der Sache wie unser Herrgott, schaue nicht aufs Äußere, sondern aufs Innere, ob es auch seist sei. Der Bauer hat sich aber weiter nicht in die Sache eingelassen, sondern uns auf den weiten Weg aufmerksam gemacht, den wir vorhatten.

Derselbe ging anfangs zum Bach hinab, wo sehr hohe Sauerampferblätter und Germen standen, so daß der Firmpate warnte, wir sieben sollten acht haben und keine Forelle tot treten. Hernach ging der Weg durch den Fischbacherwald hinauf, der zuerst leidlich licht war, weil der Schmiedhofer ihn erst vor einigen Tagen geschoren hatte. Der Weg ging sachte die Bergeshöhe hinan und dann sahen wir über die Welt hinaus. Unsere Gegend Alpel war tief eingesunken. Und auf der anderen Seite weitum standen fabelhafte Berge, wovon der allerentfernteste, wie wir glaubten, schon in der Türkei stehen mußte. Seither habe ich jenen »Berg in der Türkei« mehrmals bestiegen – der freundliche Kulm bei Weiz war's.

Nun ging auf der anderen Seite unser Weg abwärts, durch Baumgruppen, Matten und Schläge, und steil bisweilen in den vertrockneten Rinnsalen der Wildbäche. In der neuen Gegend, auf die wir hinabsahen, war es auch wieder stark buckelig, wohl alles grün und mitten drinnen zwischen Halden und Holzzäunen lag ein weißes Dorf mit einem schimmernden Kirchturm. »Das ist Birkfeld?« fragten wir. »Das ist Fischbach, meine lieben Buben,« belehrte der Firmpate, »aber wir werden uns schon trösten.«

Als ob er sich daran erinnert hätte, was die Fisch[304] bacher Bauern für ein Kirchenlied singen: »Mein einziger Trost ist der Wein und der Most.« – Beim Staudenwirt alldort hat uns der Pate soviel Trost gespendet, daß wir des eigentlichen Trösters, den wir doch zu suchen ausgegangen waren, allmiteinander schier vergaßen. Als wir hernach auf der schönen Straße dahintrippelten, die den großen Fischbacherwald durchzieht, waren wir so munter und übermütig, daß wir mit Geschrei und Gelächter uns gegenseitig hin und her zerrten und auch den Schmiedhofer, der bestrebt war, in seiner jungen Schar den Anstand aufrecht zu halten, ins tolle Treiben verstrickten. Der Lustigste war er und zettelte Schabernack an, bis wir zu jenem stillen Waldanger kamen, wo das hohe Christuskreuz steht. »Donnerwettersbuben, da henkt er und wir sind rauschig!« Mit diesem Ausrufe stellte der Bauer die Ordnung her. Denn im Grunde waren wir Firmlinge mehr oder weniger alle in weihevoller Stimmung; bei einigen mochte sie durch den Fischbacher Apfelmost augenblicklich etwas geschädigt worden sein, bei mir ward sie durch ihn nur erhöht.

Recht still, ja fast armselig ging das Würzelein einher. Das war der bausbäckige, aber noch sehr kleine Sohn einer armen Häuslerin, er hieß Franz Wurzel und wir änderten den Namen entsprechend seiner zwergenhaften Gestalt. Das Würzelein trabte meist ganz allein hinten drein, schaute zu Boden, als unterhalte er sich an dem Watscheln seiner Beinchen und sagte fast nie ein Wort, außer dem »Bitt' gar schön!«, wenn es was essen oder trinken wollte und »Vergelt's Gott!«, wenn es damit fertig war. Anfangs wollten wir es zum besten halten und Späße mit ihm treiben, da es aber alles ganz ruhig [305] hinnahm, so kamen wir unter uns überein, das Würzelein wäre sehr dumm! Und ließen es gehen. Aber einer war unter uns, der Rüsselbub, der war viel gescheiter, trieb seine Gescheitheit jedoch sehr arg. Er war weitaus der Größte von uns und doch trug er Kleider, die ihm viel zu weit am Leibe schlotterten. Er war armer Leute Kind, und obwohl die Firmung nicht unerläßlich notwendig ist, so sagte er doch, daß sie allen anderen tausend Sakramenten weit vorzuziehen sei. Ich machte ihn nebenbei aufmerksam, daß eigentlich nur sieben Sakramente wären, er behauptete, sein Vater zähle deren immer tausend und blieb dabei. Daß der Rüsselbub ein ungewaschenes Maul hatte, war mir wohl bekannt, daß er aber fünf Schritte hinter dem Schmiedhofer seinen Genossen zu sagen wagte, er lasse sich die Stirne nicht umsonst mit Chrisam bestreichen (oder wie er das in seiner Mundart ausdrückte), das hat mich empört. Allerdings lieh ich den Knaben nicht ungern mein Ohr, als sie flüsternd nun zu mutmaßen anfingen, was der »Göd« (Pate) wohl für jeden springen lassen werde.

»Wir kriegen was Lebendiges, paßt auf!« sagte der Heidenmaxel.

»Wenn das ist, so soll er mir seine Tochter geben,« sagte der Rüsselbub.

Wir anderen meinten, das wäre zuviel verlangt, denn die Mirzel war eine allzu herzige Dirn.

»Oder soll mir sie leihen!« so der Rüssel. Das war mehr als zuviel verlangt. Hätte der Göd nur darauf geachtet, daß die kleine Gruppe weiter zurückblieb und der Lärm in ein Flüstern übergegangen war, er hätte es ahnen müssen, welche Richtung das Gesprächgenommen [306] hatte. Der Rüsselbub mit seinem schleifenden Gang und mit seiner männlich tiefen, fast gröhlenden Stimme, der sonst seiner Unmanierlichkeit wegen von uns gemieden wurde, war jetzt der Mittelpunkt der Unterhaltung, in der er aber auch ganz unglaublich gewandt seinen Mann stellte. Mit Entrüstung hörte ich zu, aber auch mit Angst, daß es der Göd hören und ihn unterbrechen könnte. Ein Hauptkerl war's, der Rüsselbub! Da hatten wir noch weit hin.

»Was tut euch denn der Rüssel soviel erzählen?« fragte der Göd auf einmal und drehte sich gegen uns um.

»Die Firmung tu' ich ihnen auslegen,« log der Rüsselbub, »weil ja keiner was weiß von der Sach'!«

Ob es der Schmiedhofer geglaubt hat oder nicht, das weiß ich nicht, doch sagte er, er wolle auch was davon hören und mischte sich unter uns. Jetzt war der Unterricht aber gerade aus geworden.

Der Wald hatte endlich aufgehört, die Straße führte über Bauerngründe hinab in eine weite kesselartige Gegend, an deren fernen Bergen weiße Punkte von Dörfern und Kirchtürmen schimmerten. Und draußen in der Niederung auf einem grünen Bühel lag das stattliche Birkfeld. Die Abendsonne schien darauf hin, und da glänzten die Fenster und es funkelte der goldene Turmknauf. Gerade, als wir die Straße gegen den Markt hinangingen, huben alle Glocken zu läuten an, so daß der Göd schmunzelnd sagte: »Ob das nicht etwan uns zu Ehren geschieht, Buben?«

»Freilich,« lachten etliche, »sie läuten, weil der Rüsselbub kommt!«

Während wir an der einen Seite des Berges hinangingen, [307] zog an der anderen Seite der Bischof heraus. Und oben auf dem Marktplatz, wo an dem Kirchentor die Statuen der Apostel Petrus und Paulus stehen, trafen wir zusammen. Die Schar der Geistlichen und der Bischof unter dem roten Thronhimmel zogen feierlich in die Kirche und wir tappten hinten nach. In der kühlen großen Kirche strahlten alle Kerzen im Abenddämmern. Von dem Schiff, wo goldene Sterne funkelten, hingen in weiten Bogen Tannenkränze nieder, und die festlichen Fahnen und das helle Klingen der Orgel und der vor dem mit Glanz und Rosen geschmückten Hochaltar aufwogende Weihrauch – alles das erweckte in mir eine unbeschreibliche Feierstimmung. Leider saß im Kirchenstuhl hart neben mir der Rüsselbub. Als der Reigen der Kranzjungfrauen, die morgen auch gefirmt werden sollten, an uns vorbeizog, stieß mich der Rüssel mit dem Ellbogen und zischelte: »Bei der dort, die ihre Augen so niederschlägt und den Wachsstock so fest auf die Brust drückt, bei der möchte ich Bischof sein.«

Er solle beten und nicht schwatzen, war mein Verweis. Aber er hat mit seinem ungebührlichen Ohrenblasen nicht nachgelassen, bis meine ganze Andacht zerstört war und bis er uns alle übrigen Sechse so sehr aus Rand und Band gebracht, daß uns das verhaltene Lachen inwendig wie ein Bock stieß, bis es aus einem und dem andern meckernd hervorbrach. Weil ich mir wohl die meiste Mühe gab, das Auflachen zu verwinden, so wurde bei mir die Spannung auch am größten; während mir schon der Angstschweiß auf der Stirne stand und ich alle Heiligen anrief, daß sie mir beistehen möchten gegen die schrecklichen Späße des Rüsselbuben, platzte ich plötzlich aus.

[308] Der Göd stürzte zu meinem Sitz, riß mich am Arme weg und zerrte mich rasch aus der Kirche hinaus. Er machte mir nur sanfte Vorwürfe, aber unter dem blühenden Holunderstrauch der Kirchhofsmauer, bei einem Häuflein von Knochen und Totenschädeln, ward ich weinend.

»Dieser Rüssel wird's noch kriegen von mir,« sagte der Schmiedhofer und es zitterte in seiner Hand der Stock, »aber was hat er denn gesagt?«

»Weil eine Jungfrau so das Licht vor ihr Gesicht hat gehalten,« erzählte ich, »so hat er gesagt: Du schau, Betschwester, daß deine lange Nasen nit brennend wird!« Dabei stieß es mich wieder so gewaltig, halb im Lachen, halb im Schluchzen, wie ja meine Mutter immer gesagt hat, ich hätte Weinen und Lachen in einem Sack beisammen.

»Steh' auf, Peterl, und laß Zeit,« tröstete der Göd, »ich will vor der Firmung keinen Unfried anheben, aber morgen auf dem Heimweg, da werde ich dem Rüsselbuben meine Meinung zu wissen tun. Und du sei gescheit jetzt und denk', 's Lachen ist Sünd' und 's Röhren (Weinen) eine Schand'.«

So ist dieselbige Vesper, die so feierlich begonnen, zwischen Sünd' und Schand' zu Ende gegangen. Aber das Gericht war nahe.

Nach dem Gottesdienst scharten wir sieben uns um den Göden und er zog mit uns Markt auf, Markt ab und suchte eine Nachtherberge. Alle Wirtshäuser waren schon vollgepfropft von Fuhr- und Krämersleuten, Wallfahrern, Firmlingen und Paten. Es war in der Gegend lange keine Firmung mehr gewesen, daher sammelte und staute es sich nun, und wir trippelten noch am späten Abend [309] umher und suchten eine Ruhestatt für die müden Glieder. Abendbrot hatte uns jeder Wirt angetragen. »Schafbradel«, »Speckfleck«, »Eingemachtes«, »Schöberl« oder was zu trinken!

Unser Pate aber erklärte überall: »Habt's uns keine Liegerstatt, so laß ich euch gar kein Geld da.«

Wir zogen aus dem Markt hinaus. Am Himmel flimmerten die Sterne, auf den tauenden Feldern fangen die Grillen und auf der Straße gröhlte der Rüsselbub herum. Wir verloren ihn zeitweilig, und auf einmal war er doch wieder da. Er kaute an etwas.

»Bei der Firmung Krautblotschen fressen,« knurrte er, »das ist mir auch noch nicht passiert.«

Endlich hatten wir eine alte Scheune gefunden, in deren unterem Gelaß Schweine grunzten, deren Überboden aber Heu und Stroh barg. Der Göd erteilte folgenden Unterricht: »Meine lieben Buben! Einwendig braucht der Mensch nichts, wenn er liegt, aber auswendig braucht er was, sonst kann er nicht liegen. Er braucht unter sich was, daß er nicht durchfallt, und er braucht über sich was, daß nichts auf ihn drauffallt. Und du gibt's nicht leicht was Besseres als so einen Stadl. Schlupft's hinauf, Buben.«

Es war für den, der's genau nahm, noch eine Jauche zu umgehen, ein Gestrüpp zu zerteilen, das Loch war fast schwer zu finden. Wie Katzen krochen wir einer über den anderen hinauf; das Würzelein blieb der letzte und hatte tüchtig zu schnaufen, bis es sich auf den Heuboden wand, wo wir uns alle miteinander heimisch machten. Der Göd ermahnte uns noch, den heiligen Geist anzurufen; erinnerte an die Bedeutung des morgigen [310] Tages, als an dem wir vor dem Hochgottesdienste das heilige Sakrament empfangen würden. Derlei Rede beförderte den Schlummer. Anders aber das, was der Heidenmaxl sagte: »Wenn heut' nacht in diesem Stadl Feuer auskommt, sind wir hin.«

»Das ist wohl gut, daß dieselbige mit der brennenden Nasen nicht bei uns ist,« flüsterte ein Nachbar. »Wenn Feuer ist, ich spring' beim Dachtürl hinaus,« tat ein anderer kund. Das wäre noch das beste, meinten wir. Mittlerweile trieb der Rüssel heimlich allerlei Allotria.

»Wem gehört die Hand da?« rief der Knittlernatz, »es ist eine fremde da, wem gehört sie?«

Keiner meldete sich. Der Natz hielt sie fest. »Will's bald sehen, wem sie gehört,« sagte er und biß hinein. Da tat der Rüsselbub einen Schrei.

»Du Großer!« sagte nun der Firmgöd, sonst sagte er nichts, aber es war mit einer unheimlichen Betonung gesprochen.

Die Turmuhr schlug schon späte Stunde. Der Nachtwächter rief seinen Spruch aus. Ich war davor erschrocken, denn ich hatte früher den nächtlichen Ruf noch niemals gehört. Ich dachte an das Unheil, das den Menschen immerfort umlauert; ich dachte auch an die Toten in ihren Gräbern, die nicht aufwachen, wenn der Wächter schreit; die nicht aufwachen, wenn die Feuersbrunst wütet; die nur aufwachen werden, wenn die Posaune ruft.

Wenn die Toten nicht erwachen wollen, so sollen auch die Lebendigen einschlafen in Gottesnamen.

Mitten in der Ruh' erscholl draußen ein Horn.

Durch die Dachfugen herein drang ein Schein.

[311] Wir fuhren empor, wir schrien durcheinander; einige jammerten, der Göd ermahnte zur Besonnenheit; einer setzte über unsere Glieder hin, tastete sich zum Dachtürl, riß es auf und sprang hinaus. Wir hörten ein Geplätscher, wie wenn einer in den Tümpel fällt, wir hörten ein Sprudeln und Abschütteln, wie wenn das langwollige Schaf dem Waschbottich entspringt.

»Was ist denn alles das gewesen?« rief der Göd, »man hört nichts mehr. Das Posthorn hat vorbeigeblasen, der Mond ist ausgegangen. Aber welcher von diesen Sackermentsbuben ist denn hinausgesprungen?«

Alle waren da – bis auf den Rüssel. Jetzt, da er auf unser Rufen nicht zum Vorschein kam, kletterten mehrere von uns hinab und gingen ihn suchen.

Es war erbärmlich, er wälzte sich im Grase und sprudelte aus dem Mund und suchte sich zu reinigen. Er war gerade in die Jauche hineingesprungen. Endlich riß er die Kleider von sich herab und wollte sich im Strauchwerk abscheuern; das Strauchwerk bestand aus Nesseln und Dornhecken und so ging der Jammer an.

Das war keine Nacht zum Schlafen und als der Morgen kam, mußte der Rüsselbub bei den Bewohnern des unteren Gelasses Zuflucht suchen, um sich zu erwärmen. Und im Zustande seiner Kleider konnte an diesem Tage bei ihm von der Firmung keine Rede sein. Der Schmiedhofer wollte Mittel finden, indem er in den Häusern herumging, bittend, man möge ein Christenwerk tun und seinem verunglückten Firmling für den Vormittag ein Gewand borgen.

»Ja recht gern, warum denn nicht, versteht sich!« den Wachshofer hießen sie ihn, der's so freundlich zusagte. [312] Er brachte Kleider von seinem Söhnlein. Und als diese zu klein waren, rief er: »O Narr! Ist denn der Lümmel so groß? – Den sollt' ich schier kennen. Bist du nicht der Augustin Rüssel? Und du willst dich heut' zur Firmung führen lassen? Lump, schlechter!«

»Was habt's denn mit ihm?« legte sich der Göd drein.

»Und den wollt's Ihr heut' firmen lassen?« fragte der Wachshofer und tat seine vierschrötige Gestalt auseinander und schlug ein Gelächter auf. »Der Kerl ist ja schon gefirmt. Vor zwei Jahren oder drei, wie diese Leut' noch in der dasigen Pfarr' sind umhergestromert, hab' ich ihn selber geführt.«

Eilends hat sich der Rüsselbub davon gemacht und es war auch hohe Zeit dazu gewesen, denn die beiden Firmpaten hätten ihm ein Angebinde versetzt, das er gewiß nimmer vergessen haben würde.

Jetzt, da der Bock dahin war, schien auf die sechs Schäflein der Segen zurückzukehren. Wir wuschen uns am eiskalten Bächlein, das aus dem Waldgraben hervorkam. Der Göd hatte einen Kamm bei sich, mit dem glättete er nun der Reihe nach unser Haarwerk, tat mancherlei am Anzug in Ordnung und als wir leidlich beisammen waren, führte er uns ins Wirtshaus, und es wird damals bei mir das erstemal gewesen sein, daß ich Kaffee gegessen habe.

Als wir hernach durch das festliche Gewühl der Menge in die Kirche gingen, wurde manchem von uns bange. Es war viel die Rede gewesen von einem Backenstreich, den der Bischof dem Firmling versetze. »Aber totgeschlagen hätte er noch keinen.«

[313] Als wir uns hernach in der Kirche allen anderen Firmlingen anreihten und vom Hochaltare her das Strahlen des silbernen Kreuzes, des goldenen Bischofstabes sahen, wie das immer näher heranschwankte und endlich die weiße Bischofsmütze sichtbar wurde, während einer auf der Kanzel fortwährend das Vaterunser betete, bereiteten wir uns klopfenden Herzens vor. Wir steckten die Firmkarten, die uns daheim der Kaplan als Befähigungszeugnis ausgestellt hatte, zwischen die Finger der gefalteten Hände. Der Göd stand hinter uns und strich jedem der Seinen das Haar aus der Stirne. So warteten wir, bis sie herankamen.

Sie kamen heran, die Priester in Chorröcken, jeder mit dem Zeichen seiner Würde. Der erste trug das Kreuz, der zweite salbte mir die Stirne mit Chrisam, der dritte nahm die Firmkarte aus den Fingern und nannte den Firmnamen: »Simon«; dann war er selber da, der Bischof! Er legte die Hände auf das Haupt, berührte mit zwei Fingern die Wange und war vorüber. Nun folgte einer mit einem Zinnteller, worauf Brotstücke mit Salz lagen, damit rieb er mir das Chrisam wieder von der Stirne; ein weiterer fuhr noch mit einem Tüchlein drüber und der letzte gab mir den gedruckten Firmschein in die Hand, dann waren sie alle vorbei.

Das ganze dauerte nicht eine Minute und das war alles, das war die Firmung gewesen. Die anderen atmeten auf, ich aber erschrak. Wo war die Weihe, die innere Glückseligkeit, die ich erhofft hatte? Angsterfüllt betete ich dem Priester das Glaubensbekenntnis nach, es war aber wie immer, ich sagte die Formel wie immer, ohne dabei zu denken, daß man glauben oder nicht glauben [314] könne, und empfand nichts. Während alle anderen muntere Gesichter machten und sich des heiligen Geistes freuten, war ich tief unbefriedigt und fühlte Traurigkeit. Und ich war doch auch mit frommem Herzen gekommen und hatte Sehnsucht gehabt nach dem heiligen Geiste. Was hatte ich denn getan?

Aber so ist es mir ja immer ergangen in der Welt, wo ich am sehnlichsten gehofft, bin ich am tiefsten enttäuscht worden. Es mag meine Phantasie der Möglichkeit ja um ein Stück voraus sein, aber daß sie selbst den heiligen Geist überflügeln sollte – ?

Ich habe es später meinem Katecheten gestanden, daß mir nach der Firmung so bange geworden wäre, und der sagte, das eben sei die Gnade des heiligen Geistes, daß ich mich nach dem heiligen Geist sehne...

Beim Mittagsmahl ließ sich unser Göd nicht spotten und er schaute zufrieden auf die stattliche Reihe seiner Firmlinge, während andere deren bloß einen oder zwei bei sich hatten. Seine Firmlinge waren ihm ja wie eine öffentliche Auszeichnung; es tut immer wohl, wenn die Leute sehen, daß man der Erwählte von vielen ist. Der Heimweg war genau so weit als der Ausweg, aber äußerst lustig, und so oft wir an einem Wirtshause vorbeikamen, fand es der Schmiedhofer für nötig, die heilige Taube trinken zu lassen.

So kamen wir in der Tat einigermaßen begeistert zu Hause an. Bevor uns der Firmgöd entließ, erhielt jeder von uns einen Silberzwanziger zum Andenken. »Vielleicht,« sagte der Göd, »kommt auch einmal was anderes nach.«

Es vergingen kaum vier Wochen, so brachte der Jung [315] knecht des Schmiedhofers ein kohlschwarzes Lämmlein in unser Haus, und das Lämmlein gehöre mir, der Firmgöd ließe mich grüßen.

Auch die anderen hatten ein jeder ein Lamm bekommen, und mehreren von ihnen ist selbes zur Stammmutter eines fruchtbaren Geschlechts geworden. Mir hat man von der Wolle des meinen nur ein einziges Paar Socken machen können; im zweiten Jahre habe ich mir beim Köhlerhaus für das Schäflein das Buch der heiligen Pfalzgräfin Genovefa eingetauscht. Dieser Handel soll den Köhler überaus befriedigt haben, und das freute mich, denn ich hielt dafür, daß ich ihn weit übervorteilt hätte. Das Buch hat mich gefreut und nichts zu fressen gebraucht.

Was den Rüsselbuben anbelangt, so sage ich nur einiges. Weil er ein fleißiger Arbeiter geworden, so ist er bei unseren Bauern verblieben. Wie er für die Firmung noch Kleider am Leibe gehabt hatte, die ihm zu groß und weit gewesen, so trug er später deren so enge, wie ein Reitknecht. Sein Bauer ließ ihm eine blaue Schürze machen, die er aber wie einen Strick um seinen Leib wand. Er hatte ein so freches, widerliches Ansehen, daß man ihm am liebsten auswich. Und doch fand er seine Genossen; solchen, die eine schamlose Seele haben und keinen rechten Ausdruck für sie finden, war er der rechte. Alles Züchtige, Schöne, Erhabene wußte er nachgerade zündend lächerlich zu machen, zu verhöhnen, zu beschmutzen, er hatte hierin eine ganz eigentümliche Fertigkeit. Er kauerte in der Kirche stets im dunkelsten Winkel, wo er seinen Hut oder die Zipfelmütze gern auf das Haupt eines Heiligen stülpte, die Formeln des Geistlichen gerne nach seiner Weise zurichtete und sich Stellungen gab, die [316] mit keinem Kultus der Welt in Einklang zu bringen gewesen wären. Er war bei Hochzeiten als Pöllerabbrenner tätig, bei Begräbnissen der Totengräber. Gebrauchen ließ er sich zu allem, nahm auch keine Belohnung dafür, außer Wein oder Most im Wirtshause. Drastische Namen erfand er für Dinge, die keinen brauchen. Zudem hatte er den Drang, derlei zu verewigen, und da er nicht schreiben konnte, so hielt er sich aus Zeichnen und Grabeln. Viele Torsäulen, Kreuzpfähle und Türpfosten haben müssen verhobelt und verstümmelt werden, um die Illustrationen des Augustin Rüssel zu vertilgen. Selbst wenn er ernst war, konnte er endlich gar nicht mehr wie ein gewöhnlicher Mensch sprechen, alles, was er sagte, kam roh, wild und schamlos aus ihm hervor. Daß er ein Dirndl gehabt hätte wie andere Bursche, ich wüßte es nicht und ich glaube es nicht. Die Weiber wichen ihm von weitem aus. Dieser Mensch verdarb im Alter von dreißig Jahren in einer Strohscheune.

Nur das Würzelein, das nun aber eine tüchtige Wurzel geworden war und braver Oberknecht bei unserem Großbauer, erinnerte sich daran, daß er ja mit dem Rüsselbuben kameradschaftlich dazumal zur Firmung gegangen sei und daß man ihn in der Not doch nicht ganz verlassen dürfe. Er suchte den Augustin auf; der lag auf schlechtem Stroh und seine weit offenen, starren Augen hatten kein Leben mehr. Der Oberknecht drückte sie zu und betete für seinen Frieden.

So hat sich von uns sechsen – die wir einstmals mit Chrisam gesalbt worden sind – nur beim Würzelein der heilige Geist augenscheinlich gezeigt.

Als ich Bettelbub gewesen
[317] Als ich Bettelbub gewesen.

Die schmale Straße, die durch den Wald ging, hatte weißen Sand und dunkles Moos, war zur sonnigen Zeit nicht staubig und in Regentagen nicht lehmig. Sie zog nicht in der Schlucht, sie zog auf der sanften Bergeshöhe hin, wo das kurze, grüne Heidelkraut und in dünner Anzahl die alten, verknöcherten Fichtenbäumchen standen. Stellenweise ging der Weg über eitel grünen Rasen, und ein Wagengeleise war gedrückt; strebsame Ameisenvölker trieben auf dieser Straße ihren Handel und Wandel.

Und doch erstreckte sich der Weg aus weitem her und war von Menschen getreten. Hie und da stand etwas, wie ein Wegzeiger, eine hölzerne, wettergraue Hand wies geradeaus oder seitab und sagte nicht, wohin. An anderen Stellen wieder, wo ein alter, flechtenbewachsener Baumstamm hart am Wege ragte, prangte daran ein rotangestrichenes Holzkästchen mit einem Liebfrauenbildnis oder mit einem »Martertaferl«, erzählend vom Unglücksfalle, der sich an der Stelle zugetragen, bittend um ein christlich Gebet.

Ich habe in der weiten Welt keinen Weg mehr gefunden, der mir so grauenhaft heilig erschienen wäre, als diese Straße, die durch unseren Wald strich und von der wir Kinder nicht wußten, woher sie kam und wohin sie [318] ging. Erfahrene Leute sagten es zwar, sie käm' aus dem fernen Ungarlande und führe nach Mariazell. – 's ist ein ewiges Wandern von Sonnenaufgang her. Auch die wilden Türken vor drei- und mehr hundert Jahren sollen diesen stillen Weg herangewütet haben; auch kleine Zigeunerbanden trippelten zuweilen auf demselben daher, und dann einmal ein Handwerksbursche oder ein Bettelmann oder ein Schwärzer kam des Weges und verneigte sich vor den Bildnissen.

Im ganzen jedoch war der Weg sterbens einsam und die wenigen Häuser standen fernab im Tale oder auf entlegenen Bergen.

Doch war es alle Jahre einmal, zur Zeit der Bitttage, in jener Maienwoche, in welcher unsere Religion das Fest der Himmelfahrt des Herrn feiert, daß auf diesem Waldwege eine förmliche Völkerwanderung ausbrach. Seltsame Menschen mit fremden Kleidern, Gebärden und Sprachen wallten scharenweise heran. Sie hatten braune Gesichter, knochige Glieder und struppige Haare. Sie hatten scharfe Augen, weiße Zähne, lange, kühn aufgeworfene Nasen und fremdartige Züge um die Mundwinkel. Die Männer trugen weiße, flatternde, unten befranste Linnenhosen, die so weit waren, daß sie aussahen wie Kittel, und dunkelblaue Übermäntel mit breit zurückgeschlagenen Krägen, und kleine Filzhütchen mit schmalen, aufgeringelten Krempen. Auch hatten sie blaue Westen an, besetzt mit einer Reihe von großen Silberknöpfen. Andere trugen wieder so enge weiße Beinkleider, als wären selbige über und über an die Glieder gewachsen, und anstatt mit Stiefeln hatten sie die Waden und den Fuß in kreuz und krumm mit Binden umwunden. Auch [319] hatten manche der Männer schwere Übermäntel aus weißem Filze an ihren Achseln hängen, und diese Mäntel, sowie auch ihre Beinkleider waren ausgeziert mit roten oder blauen Rändern, und allerlei Geschnüre schnörkelte sich um die Wämser.

Die Weiber trugen blauschwarze oder weiße Kittelchen, die kaum ein bißchen übers Knie hinabgingen und bei jedem Schritt keck hin und her schlugen. Bei anderen wieder waren die Kittel so eng und die schwarzen faltenlosen Schürzen so breit, daß bei jedem Schritte die Rundungen der Gestalt hervortraten. Ferner trugen sie hohe und schwere Stiefel, daß unter denselben der Sand knarrte, oder sie gingen gar barfuß und hatten Staubkrusten an den Zehen. Weiters staken die Weiber in kurzen schwarzen Spenserchen oder sie hatten gar nur ein weites Hemd über Arm und Busen flattern. Die Köpfe hatten sie turbanartig mit einem Tuche umschlungen, unter dem schwarze Lockensträhne hervorquollen.

So wogten sie lärmend und heulend heran, und jede Gestalt hatte ein weißes Bündel auf den Rücken gebunden und trug in der Hand einen glattgeschälten Stock. Diese Stöcke waren meist frisch in unseren Wäldern geschnitten, es waren Lärchenstäbe; auch an den Hüten trugen die Männer frischgeschnittene Lärchenzweige und Lärchenkränze; dieser herrliche Baum mit seinem weichen Genadel, wie er mit dem vielgestaltigen Marbelwerk der Rinde seines Schaftes in der Form einer hellgrünen Pyramide unsere Alpenwälder schmückt, war ihnen seltsam, er ist in jenen fernen, flachen Gegenden, aus denen die Scharen kamen, nimmer zu finden.

Die fremden Gestalten, welche in kleineren Rotten[320] und großen Haufen einen ganzen Nachmittag lang heranströmten, kamen aus dem Ungarland und waren Magyaren und Slowaken. Es waren die bigotten Massen, die alljährlich einmal aus ihren Heimatsgemeinden davonwandern, um den weiten Weg von sechs bis acht Tagen bis zu dem weltberühmten Wallfahrtsorte Mariazell zu wallen. Ungarische Herren und slawische Fürsten hatten einst viel zum Ruhme und zur Verherrlichung der Gnadenstätte zu Zell getan, und so wogt heute noch der Strom jener Völker dem berufenen Alpentale zu und macht einen Hauptteil der gesamten Wallfahrer aus, die alljährlich in Zell erscheinen.

Es waren also fromme Wallfahrerscharen, die betend und singend unseren stillen Wald durchzogen. Jedes Häuflein trug eine lange rote Stange mit sich, auf welcher ein Kreuz mit bunten Bändern oder ein wallendes Fähnlein war. Vor jedem Bildnisse, wie sie am Wege standen, verneigten sie tief diese Stange; und wenn sie zu jener Höhung herangestiegen waren, auf welcher dem Wanderer das erstemal die zackige Hochkette des Schwabengebirges und der gewaltige Felsrücken der Hohen Veitsch sichtbar wird, standen sie still und senkten dreimal fast bis zur Erde ihren Fahnenstab. Begrüßten die Menschen aus dem Flachland die wilderhabene Alpennatur? Nein. In der Felsenkrone jener hohen Berge lag ihr heiliges Ziel, und das begrüßten sie mit Herz und Gebärden.

An diesem Punkte waren sie nur noch eine starke Tagreise entfernt von Zell; manche empfanden in solchem Gedanken zum Wandern neue Kraft, anderen sank der Mut im Anblicke der blauenden Alpenwände, die zu übersteigen waren. Bisweilen schleppten die Fremdlinge [321] einen Genossen mit sich, der unterwegs erkrankt war. Einmal trugen sie auf frischer Lärchbaumtrage die Leiche eines auf der Straße verstorbenen Kameraden, um sie im nächsten Friedhofe zu bestatten.

So hallten am ersten Tage der Bittwoche die grellstimmigen Gebete der Ungarn und die melancholischen Lieder der Slawen durch unsere Gegend. Die Leute traten aus fernen Häusern und horchten den seltsamen Stimmen; wir Kinder aber pflegten eine andere Sitte. Wir zogen unsere zerfahrensten Kleider an und mit fliegenden Lumpen hüpften wir der Straße zu. Dort knieten wir auf den Sand, aber so, daß wir auf unsere eigenen Fersen zu hocken kamen, und wenn eine der Kreuzscharen nahte, so rissen wir die Hauben vom Kopf, stellten dieselben als Gefäß vor uns hin und schlugen zuerst mit zagender, bald mit kecker Stimme zahlreiche Vaterunser los.

Die Früchte blieben nicht aus. Die Männer schossen Kreuzer in unsere Hauben, Weiber warfen uns Brot und Kuchen zu, welche, wie die Spuren ihrer Zähne daran gar oft bewiesen, sie ihrem eigenen Munde entzogen hatten. Andere hielten gar an, und öffneten ihre Bündel und kramten drin herum, und reichten uns Backwerk, und manch alt' Mütterlein, das unsertweg auf ein paar Minuten zurückgeblieben war, konnte die Schar wohl oft lange nicht mehr erreichen.

Manchmal stellten die Fremden Worte an uns, die wir nur mit glotzenden Augen zu beantworten wußten. Je seltsamer ihr Wesen und ihre Sprache war, je seiner und liebreicher zeigte sich die Gabe. Je brauner die Gesichter, je weißer war das Brot – wir hatten die Erfahrung bald gemacht. Vielleicht dachten die Geber [322] an ihre Angehörigen in ferner Heimat, denen die Liebe galt, die uns fremden Kindern erwiesen wurde.

Bisweilen wurden wir auch in deutscher Sprache angeredet: wie wir hießen, wem wir zugehörten, wieviel unser Vater Ochsen hätte und ob wir auch Kornfelder besäßen. Des Grabenbergers Natzelein war unter uns, das gab stets die Antwort und log fürchterlich dabei: Wir gehörten armen Holzhauerleuten an, der Vater wäre vom Baum gefallen und die Mutter läge krank schon seit Jahr und Tag; Ochsen hätten wir nicht, aber zwei Ziegen hätten wir gehabt und die hätte der Wolf gefressen. Mit einem Kornacker wär's schon gar nichts, aber Pilze äßen wir und die wären heuer nicht gewachsen. – Ich bohrte vor heimlicher Wut über derlei Darstellungen die Zehen hinter mir in die Erde hinein. Ja, das Natzelein verfing sich derart in das Lügen, daß es schließlich selbst unsere ehrenhaften Taufnamen falsch angab.

Die guten Ungarn schlugen hell ihre Hände zusammen über so arme Würmer, dann blickten sie in die Waldgegend hinaus und meinten, es wäre leicht zu glauben, es wäre eine elende Gegend; gar der Schnee lag noch hie und in den Gruben, zu einer Zeit, da auf den weiten Ebenen draußen längst das Korn in Ähren stand. Sie griffen dann in den Sack.

Das Natzelein war mir schon von jenem Rattner Kirchtag her verleidet, aber ich getraute mich vor den Fremden kein Wort zu sagen; und wenn sie mich zuweilen doch dahin brachten, daß ich den Mund aus machte, so ward das Wort so ängstlich und leise hervorgemurmelt, daß sie mich nicht verstanden. Die anderen, besonders das Natzelein, kriegten daher immer mehr in ihre Hauben [323] als ich; nur dann und wann ein mildherziges Weiblein legte mir, dem »Hascherl«, was bei.

Einmal – ich und des Grabenbergers Natzelein waren allein – gerade vor dem Herannahen einer größeren Schar, nahm ich eine Stellung ein, die vorteilhafter war als der Platz, auf welchem das Natzelein hockte. Das Natzelein war darüber erbost, und als die Gaben wirklich in größerer Menge mir zuflogen, rief es aus: »Der da ist eh reich, sein Vater hat vier Ochsen und einen großen Grund! Vater unser, der du bist, usw.«

Auf der Stelle wendete sich das Glück und alles Brot und Geld wäre in den Hut des Natzelein geflogen, da erhob ein Mann, der mitten unter den Wallfahrern stand, das Wort: »Schaut einmal den neidischen Schlingel an! Ihr seid beide nicht so arm, als daß ihr ohne unser Brot verhungern müßtet und auch nicht so reich, als daß wir euch die kleinen Gaben versagen wollten. Ihr seid Waldbauernkinder, aber ich gebe meinen Sechser diemal dem, dessen Vater vier Ochsen hat!«

Mein Lebtag vergeß ich's nimmer, wie jetzt die Batzen in mein Häublein klangen – hell zu Dutzenden, und ich konnte nachgerade nicht schnell genug die »Vergelt's Gott!« sagen, daß auf jeden eins kam. Und da dieser wundersame Hagel, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, gar nicht wollte aufhören, konnte ich die Lust in meinem Herzen nimmer verhalten, in ein helles Wiehern und Lachen brach ich aus; das Natzelein aber schleuderte seine fast leer gebliebene Haube mitten in die Straße und schoß wütend in den Wald hinein.

Mit Gelächter zog die Kreuzschar ab. Und ich hub an, meine Schätze zu zählen; in der Kappe und um[324] dieselbe, im Sand und auf dem Moos und im Heidelkraute lagen die Kreuzer und Sechser zerstreut. Und als ich sie alle versammelt hatte, wollte ich wohl verzichten auf alle weiteren Wallfahrertruppen, die heute noch kommen konnten, wollte schnurstracks heim zu meinen Eltern laufen, um ihnen das Glück zu verkünden. Da bin ich angepackt von rückwärts, zu Boden geworfen und auf meiner Brust reitet das Natzelein. Mit seinen strammen Händen preßt es meine Arme tief in das Heidelkraut hinein und so grinst es mir ins Gesicht.

Stärker bin ich nicht, wie er, dachte ich bei mir, wenn ich auch gescheiter nicht bin, so ist's um mich gefehlt.

»Du!« murmelte das Bürschlein zwischen den Zähnen hervor, »gib mir die Hälfte vom Geld!«

»Nein,« sagte ich trocken.

»So nehm' ich mir's selber.«

»Dann spring' ich auf.«

»Aber ich laß dich nicht los!«

»Dann kannst du das Geld nicht nehmen.«

»Ich setz' dir meine Knie auf die Gurgel!«

»Ich laß mich umbringen, nachher wirst du gehenkt.«

Der Gesang einer neuen Schar unterbrach die Verhandlung. Wir beide sprangen auf, stürzten zur Straße hin und lallten unser Gebet.

Das von den vielen Abenteuern an der Straße nur als Stücklein.

Und wenn das Tagwerk vorbei, so versammelten wir Kinder uns auf der Au, wo die Schafe noch grasten, und tauschten unsere Gaben um, wie sie jedem entsprachen. Geld war stets der gesuchteste Artikel; nur die Kinder [325] armer Kleinhäusler und Köhlersleute gaben seine Leckerbissen und Kreuzerchen für ein Stück schwarzes Brot, wenn es nur groß war.

Am fünften Tage kehrten dieselben Scharen stets auf demselben Wege wieder zurück. Und jeder von den Wallfahrern hatte an seiner Brust einen oder mehrere Rosenkränze hängen oder Amulette, Frauenbildchen und funkelnde Kreuzlein und Herzen. Die Mädchen trugen rote und grüne Krönlein von Wachs auf ihrem Haupte. Die Bündel auf den Rücken hatten sich sehr bedeutend verkleinert und die Brote, die wir bekamen, waren hart und Geldstücke sprangen spärlich hervor aus den Taschen.

Doch lohnte es sich des Hockens immer noch und die Erwartung der Gabe war mindestens so anziehend, als die Gabe selbst.

Einmal, ich war schon an die elf Jahre alt geworden, kniete ich ganz allein am Stamme eines Bildnisses, und recht zungenfertig im Vaterunserhersagen, wie ich endlich geworden war, kehrte ich alle Vorteile des Absammlers heraus und hoffte reichlichen Gewinn. Da kam eine Kreuzschar; ein paar Brötchen wurden mir zugeworfen, und sie war vorüber.

Nur ein schon betagter, gutmütig aussehender Mann war zurückgeblieben, schritt ganz nahe an mich heran, neigte ein wenig sein Haupt zu mir nieder und sagte: »Bettelbub'!« Dann ging er den anderen nach.

Mir war das halbe Vaterunser im Mund steckengeblieben. Ich glotzte eine Weile um mich, dann stand ich langsam auf und schlich von dannen.

Das war mein letztes Hocken gewesen an unserer Waldstraße.

[326] – Bettelbub! – Das Wort hat mich aufgeweckt. Ein junger gesunder Bursche, der mit seinem neuen grünen Hut Sonntags schon etlichemal gleich den Knechten ins Wirtshaus gegangen ist, der es demnächst mit dem Tabakrauchen probieren wird und der nicht allzuselten ins Fensterglas guckt, wie es mit dem Bart steht – ein solcher Bursche betteln!

Auch das Natzelein tut's nimmer. Das Natzelein ist ein reicher Bauer geworden und es gibt, wenn man ihm glauben darf, jeden Tag erklecklich Almosen an wahrhaft dürftige Bettelleute.

Und die Magyaren und Slowaken kommen noch heute jenen einsamen Waldweg gezogen, immer an Kinder, die am Weg kauern, Gaben spendend, in ihrem Beten und Flehen selbst Bettelleute vor der Gnadenmutter zu Zell.

Weg nach Mariazell
[327] Weg nach Mariazell.

Mein Vater hatte elf Saatfelder, die wir »Kornweiten« nannten und wovon wir alljährlich im Herbste ein neues für den Winterroggenbau umackerten, so daß binnen elf Jahren jeder Acker einmal an die Reihe kam. Ein solcher Jahresbau lieferte beiläufig dreißig Metzen Roggen; für die nächsten drei Jahre wurde dann das Feld für Hafersaat benützt und die sieben weiteren Jahre lag es brach, diente als Wiese oder Weide.

Unser vier – ich, mein Vater und die zwei Zugochsen – bestellten im Herbste das Roggenfeld. Hatten wir den Pflug, so führte mein Vater hinten die Pflug-und ich vorn die Ochsenhörner. Hatten wir die Egge mit ihren sechsunddreißig wühlenden Eisenzähnen, so leitete der Vater die Zugtiere und ich –

Ja, das war ein absonderlich Geschäft. Ich hockte mitten auf der Egge oben und ließ mich über den Acker hin und her vornehm spazieren fahren. Fuhr spazieren und verdiente dabei mein Brot. Der Acker hatte nämlich stellenweise so zähes und filziges Erdreich, daß die Egge nicht eingreifen wollte, sondern nur so ein wenig obenhin kratzte. Trotzdem durfte die Egge nicht zu schwer sein, schon um der Ochsen willen und auch nicht, weil an anderen Stellen doch wie der eine mürbe Erdschichte lag, in welcher tiefgehende Zähne mehr geschadet als genützt hätten.

[328] So mußte denn stellenweise die Egge beschwert werden, und zwar durch ein lebendiges Gewicht, das zu rechter Zeit aufhocken und zu rechter Zeit abspringen konnte. Und dazu waren meine vierzig Pfunde mit den behendigen Füßlein gerade recht. Gefiel mir baß, wenn die Ochsen gut beim Zeug waren und die Egge hübsch emsig dahinkraute und auf und nieder wuppte, so daß mir der Vater zurief: »Halt' dich fest, Bub, sonst fliegst abi!«

Da hat sich eines Tages das große Glück zugetragen.

Es war morgens vorher mein zweiter Bruder geboren worden – ein Junge, daß es eine Freude war. Als wir hierauf das steile Schachenfeld umeggten, war mein Vater etwas übermütig und knallte stark mit der Peitsche. Fuhr- und Ackersleute, die keine Stimme haben zum Jauchzen oder Fluchen, lassen die Peitsche knattern und schmettern, daß es hinhallt in das Gebäume und zu anderen Menschen, die, wenn sie wollen und können, mitjauchzen oder mitfluchen mögen. Wir fuhren gerade an einem mit Büschen bewachsenen Steinhaufen vorüber, als meinem Vater – sicherlich des kleinen Jungen wegen – wieder die helle Luft aufschoß, die Peitsche schwang er und knallte eins herab. In demselben Augenblick rauschte erschreckt eine ganze Familie von Haselhühnern aus dem Gebüsche auf – davor machten unsere Ochsen einen Sprung und schossen wild mit der Egge und mit mir, der darauf saß, quer über das steile Feld hinab. Mein Vater war beiseite geschleudert worden und konnte nun nachsehen, was mit seinem Gespann geschah. Die Rinder raseten dahin, die Egge hüpfte hoch empor und im nächsten Augenblicke war ich unter den Zähnen derselben und wurde hingeschleift.

[329] Mein Vater soll die Augen zugemacht und sich gedacht haben: Jesses, kaum ist der Kleine da, ist der Große schon hin. – Dann schlug er die Hände zusammen und rief es zu den Wolken empor: »Unsere liebe Frau Mariazell!«

Mittlerweile waren Ochsen und Egge über den Feldrücken hinüber und nicht mehr zu sehen. Dort unten aber auf dem braunen Streifen, den das Fuhrwerk über den Acker hingezogen hatte, lag ein Häuflein und bewegte sich nicht.

Mein Vater lief hinzu und riß es von der Erde auf – da hob es auch schon ketzermäßig an zu schreien. Der ganze Bub voll Erde über und über; ein Ärmel des Linnenröckleins war in Fetzen gerissen, über die linke Wade hinab rann Blut – sonst nichts geschehen. Hinter dem Feldsattel standen unversehrt auch die Ochsen. Mich nahm mein Vater jetzt auf den Arm. Ich hätte zehnmal besser laufen können als er, aber er bildete sich ein, ich müsse getragen sein, aus Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ich noch lebe und aus Angst, ich möchte mich etwa jetzt erst verletzen. Als ich hörte, daß ich eigentlich in Todesgefahr gewesen war und von Rechts wegen jetzt in Stücke zerrissen nach Hause getragen werden sollte, hub ich erst recht an zu zetern. – Und so kamen wir heim, und wenn die alte Grabentraudel nicht vor der Tür die Antrittsteine sauber kehrt – weil die Godel kommen soll – und sie uns solchergestalt nicht den Eingang zur Wöchnerin verwehrt, so geschieht erst jetzt das Unglück: die Mutter springt vor Schreck aus dem Bett, kriegt das Fieber und stirbt.

Auch das hat die liebe Frau Mariazell verhindern[330] müssen und hat es durch ihre Fürbitte erwirkt, daß es der Grabentraudel eingefallen ist, es wäre draußen der Antrittstein nicht ganz sauber und die Godel könnte leichtlich daran ein Ärgernis nehmen.

Später hat das mein Vater alles erwogen und ist hierauf zum Entschluß gekommen, mit mir zur Danksagung eine Wallfahrt nach Mariazell zu machen.

Ich war glückselig, denn eine Kirchfahrt nach dem eine starke Tagreise von uns entfernten Wallfahrtsort war mein Verlangen gewesen, seit ich das erstemal die Zeller Bildchen im Gebetbuche meiner Mutter sah. Mariazell schien mir damals nicht allein als der Mittelpunkt aller Herrlichkeit der Erde, sondern auch als der Mittelpunkt des Gnadenreiches unserer lieben Frau. Und so oft wir nun nach jenem Gelöbnisse auf dem Felde oder im Walde arbeiteten, mußte mir mein Vater all das von Zell erzählen, was er wußte, und auch all das, was er nicht wußte. Und so entstand in mir eine Welt voll Sonnenglanz und goldener Zier, voll heiliger Bischöfe, Priester und Jungfrauen, voll musizierender Engel, und inmitten unter ewig lebendigen Rosen die Himmelskönigin Maria. Und diese Welt nannte ich – Mariazell; sie steht heute noch voll zauberhafter Dämmerung in einem Abgrunde meines Herzens.

Und eines Tages denn, es war am Tage des heiligen Michael, haben wir vormittags um zehn Uhr Feierabend gemacht.

Wir zogen die Sonntagskleider an und rieben unsere Füße wit Unschlitt ein. Der Vater aß, was uns die Mutter vorgesetzt – ich hatte den Magen voll Freude. Ich ging ruhelos in der Stube auf und ab, so sehr man[331] mir riet, ich solle rasten, ich würde noch müde genug werden.

Endlich luden wir unsere Reisekost auf und gingen davon, nachdem wir versprochen hatten, für alle daheim, und für jedes insbesondere bei der »Zellermutter« zu beten.

Ich wüßte nicht, daß meine Füße den Erdboden berührt hätten, so wonnig war mir. Die Sonne hatte ihren Sonntagsschein, und es war doch mitten in der Woche. Mein Vater hatte einen Pilgerstock aus Haselholz, ich auch einen solchen; so wanderten wir aus unserem Alpel davon. Mein Vater trug außer den Nahrungsmitteln etwas in seinem rückwärtigen Rocksack, das, in graues Papier eingewickelt, ich ihn zu Hause einstecken gesehen hatte. Er war damit gar heimlich verfahren, aber jetzt beschwerte es den Säckel derart, daß dieser bei jedem Schritte dem guten Vater eins auf den Rücken versetzte. Ich konnte mir nicht denken, was das für ein Ding sein mochte.

Wir kamen ins schöne Tal der Mürz und in das große Dorf Krieglach, wo einige Tage zuvor mitten im Dorfe einige Häuser niedergebrannt waren. Ich hatte in meinem Leben noch keine Brandstätte gesehen. Ich schloß die Augen und ließ es noch einmal nach Herzenslust brennen, so daß mich mein Vater gar nicht von der Stelle brachte. Eine Frau sah uns zu und sagte endlich: »Mein, 's ist halt armselig mit so einem Kind – wenn es ein Hascherl ist.«

Ich erschrak. Sie hatte mich gemeint und ich kannte die Ausdrucksweise der Leute gut genug, um zu verstehen, daß sie mich – wie ich so dastand mit offenem [332] Mund und geschlossenen Augen – für ein Trottelchen hielt.

Ich war daher froh, als wir weiter kamen. Nun gingen wir schon fremde Wege. Hinter dem Orte Krieglach steht ein Kreuz mit einem Marienbilde und mit einer hölzernen Hand, auf welcher die Worte sind:

»Weg nach Mariazell.«

Wir knieten vor dem Kreuze nieder, beteten ein Vaterunser um Schutz und Schirm für unsere Wanderschaft. »Bas greift mich frei an,« sagte mein Vater plötzlich und richtete sein feuchtes Auge auf das Bild, »sie schaut soviel freundlich auf uns herab.« Dann küßte er den Stamm des Kreuzes und ich tat's auch und dann gingen wir wieder.

Als wir in das Engtal der Veitsch einbogen, begann es schon zu dunkeln. Rechts hatten wir den Bergwald, links rauschte der Bach, und ich fühlte ein Grauen vor der Majestät und Heiligkeit dieses Zeller Weges. Wir kamen zu einem einschichtigen Wirtshaus, wie solche in den Wäldern der Räubergeschichten stehen – doch über der Tür war trotz der Dämmerung noch der Spruch zu lesen: »Herr, bleib' bei uns, denn es will Abend werden!« – Aber wir gingen vorüber.

Endlich sahen wir vor uns im Tale mehrere Lichter. »Dort ist schon die Veitsch,« sagte mein Vater, aber wir gingen nicht so weit, sondern bogen links ab und den Bauernhäusern zu, bei welchen es in der Niederaigen heißt. Und wir schritten in eines dieser Häuser und mein Vater sagte zur Bäuerin:

»Gelobt sei Jesu Christi, und wir zwei täten halt[333] von Herzen schön bitten um eine Nachtherberg'; mit einem Löffel warmer Suppen sind wir rechtschaffen zufrieden und schlafen täten wir schon auf dem Heu.«

Ich hatte gar nicht gewußt, daß mein Vater so schön betteln konnte. Aber ich hatte auch nicht gewußt, daß er auf Wallfahrtswegen nur ungern in ein Wirtshaus einkehrte, sondern sich Gott zur Ehr' freiwillig zum Bettelmann erniedrigte. Das war ein gutes Werk und schonte auch den Geldbeutel.

Die Leute behielten uns willig und luden uns zu Tische, daß wir aßen von allem, was sie selber hatten. Dann fragte uns der Bauer, ob wir Feuerzeug bei uns hätten, und als mein Vater versicherte, er wäre kein Raucher und er hätte sein Lebtag keine Pfeife im Munde gehabt, führten sie uns in den Stadl hinaus auf frisches Stroh.

Wir lagen gut und draußen rauschte das Wasser. Das mutete seltsam an, denn daheim auf dem Berge hörten wir kein Wasser rauschen.

»Im Gottesnamen,« seufzte mein Vater auf, »morgen um solch' Zeit sind wir in Mariazell.« Dann war er eingeschlafen.

Am anderen Morgen, als wir aufstanden, leuchtete auf den Bergen schon die Sonne, aber im Schatten des Tales lag der Reis. Von der Veitscher Kirche nahmen wir eine stille Messe mit; und als wir durch das lange Engtal hineinwanderten, an Wiesen und Waldhängen, Sträuchern und Eschenbäumen hin, über Brücken und Stege, an Wegkreuzen und Bauernhäusern, Mühlen, Brettersägen und Zeugschmieden vorbei, trugen wir jeder [334] den Hut und die Rosenkranzschnur in der Hand und beteten laut einen Psalter. Des schämte ich mich anfangs vor den Vorübergehenden, aber sie lachten uns nicht aus; an den Zeller Straßen ist's nichts Neues, daß laut betende Leute daherwandern. Mein Vater betete überhaupt gern mit mir; er wird gewiß immer sehr andächtig dabei gewesen sein, aber mir kamen im Gebete stets so verschiedene und absonderliche Gedanken, die mir sonst sicherlich nicht eingefallen wären. War ich im Beten, so kümmerte ich mich für alles, woran wir vorüberkamen, und wenn sonst schon gar nichts da war, so zählte ich die Zaunstecken oder die Wegplanken.

Heute gab mir vor allem das Ding zu sinnen, das mein Vater in seinem Sacke hatte und das im Rockschoß gerade so hin und her schlug, wie gestern. – Für einen Wecken ist's viel schwer. Für eine Wurst ist's viel groß. –

Ich war noch in meinen Erwägungen, da blieb mein Vater jählings stehen und das Gebet unterbrechend, rief er aus: »Du verhöllte Sau!«

Ich erschrak, denn das war meines Vaters Leibfluch. Er hatte sich ihn selbst erdichtet, weil die anderen ja alle sündhaft sind. »Jetzt kann ich schnurgerade zurückgehen auf die Niederaigen,« sagte er.

»Habt Ihr denn was vergessen?«

»Das wär' mir ein sauberes Kirchfahrtengehen,« fuhr er fort, »wenn man unterwegs die Leut' anluigt! – Hast es ja gehört, wie ich gestern erzählt hab', ich hätt' mein Lebtag keine Pfeifen im Maul g'habt. Jetzt beim Beten ist's mir eingefallen, wie ich dort den Holzapfelbaum seh', daß wir daheim auch einen alten Holzapfelbaum [335] gehabt haben und daß ich unter dem Holzapfelbaum einmal 'glaubt hab', 's ist mein letztes End'. Totenübel ist mir gewesen, weil ich mit dem Riegelberger Peter das Tabakrauchen hab' wollen lernen. – Das ist mir gestern nicht eingefallen und so hab' ich unserm Herbergvater eine breite Lug' geschenkt und desweg will ich jetzt frei wieder zurückgehen und die Sach' in Richtigkeit bringen.«

»Nein, zurückgehen tun wir nicht,« sagte ich und in meinen Augen wird Wasser zu sehen gewesen sein.

»Ja,« rief der Vater, »was wir st denn sagen, wenn du unsere liebe Frau bist und einer kommt weit her zu dir, daß er dich verehren möcht' und bringt dir eine großmächtige Lug' mit?!«

»Gar so groß wird sie wohl nicht sein,« meinte ich und sann auf Mittel, das Gewissen meines Vaters zu beruhigen. Da fiel mir was ein und ich sagte folgendes: »Ihr habt erzählt, daß Ihr Euer Lebtag keine Pfeife im Mund gehabt hättet. Das kann ja wohl wahr sein. Ihr habt bloß das Rohr und von dem nur die Spitz' im Mund gehabt.«

Darauf schwieg er eine Zeitlang und dann sagte er: »Du bist ein verdankt hinterlistiger Kampel. Aber verstehst, das Redenverdrehen laß ich dir nicht gelten, und auf dem Kirchfahrtweg schon gar nicht. Ich hab's so gemeint, wie ich's gesagt hab', und der Bauer hat's so verstanden.«

»So müsset es halt gleich beichten, wenn wir nach Zell kommen,« riet ich und darauf ging er ein und wir zogen und beteten weiter.

[336] Beim Rotwirt hielten wir an, mußten uns stärken. Wir hatten nun die Rotsohl zu übersteigen, den Sattel der Veitschalpe, die mit ihren Wänden schon lange auf uns hergestarrt hatte. Die Wirtin schlug die Hände zusammen, als sie den kleinwinzigen Wallfahrer vor sich sah und meinte, der Vater werde mich wohl müssen auf den Buckel fassen und über den Berg tragen, wenn ich nicht brav Wein trinke und Semmel esse.

Hinter dem Wirtshause zeigte eine Hand schnurgerade den steilen Berg hinan: »Weg nach Mariazell.« Aber ein paar hundert Schritte weiter oben im Waldschachen stand ein Kruzifix mit der Inschrift: »Hundert Tage Ablaß, wer das Kruzifix mit Andacht küsset, und fünfhundert Tage vollkommenen Ablaß, wer Gelobt sei Jesus Christus sagt.«

Auf der Stelle erwarben wir uns sechshundert Tage Ablaß.

Dann gingen wir weiter, durch Wald, über Blößen und Geschläge, bald auf steinigen Fahrwegen, bald auf glatten Fußsteigen, nach einer Stunde waren wir oben.

Wir setzten uns auf den weichen Rasen und blickten zurück in das Waldland, über die grünen Berge hin bis in die fernen blauen. Und zwischen den blauen heraus erkannte mein Vater jenen, auf welchem unser Haus stand. Dort ist die Mutter mit dem kleinen Brüderlein, dort sind sie alle, die uns nachdenken nach Zell. Wie müssen die Leute jetzt klein sein, wenn schon der Berg so klein ist wie ein Ameisenhaufen! –

Es war die Mittagsstunde. Wir vermeinten vom Veitschtale herauf das Klingen der Glocke zu hören.

»Ja,« sagte dann mein Vater, »wenn man's betrachtet, [337] die Leut' sind wohl recht klein gegen die große Welt. Aber schau, mein Bübel, wenn schon die Welt so groß und schön ist, wie muß es erst im Himmel sein?«

Wir erhoben uns und gingen den ebenen Weg, der hoch auf dem Berge dahinführt, und ich sah schaudernd zum schroffen Gewände der Veitsch empor, das drohend, als wollte es niederstürzen, auf uns herabstarrte. Endlich standen wir vor einem gemauerten Kreuze, in dessen vergitterter Nische ein lieber, guter Bekannter stand. Der heilige Nikolaus, der alljährlich zu seinem Namenstage mich mit Nüssen, Äpfeln und Lebzelten beschenkte, anstatt daß ich ihm es tat. Und von diesem Kreuze sahen wir auf die Zeller Seite hinab. Doch wir sahen noch lange nicht Zell; wohl aber ein so wildes, steinernes Gebirge, wie ich es früher meiner Tage nicht gesehen hatte. Ein Gebet beim Nikolo, und wir stiegen hinab in die fremde, schauerliche Gegend.

Wir kamen durch einen finsteren Wald, der so hoch und dicht war, daß kein Gräslein wuchs zwischen seinen Stämmen. Mein Vater erzählte mir Raub- und Mordgeschichten, welche sich hier zugetragen haben sollen, und ein paar Tafeln an den Bäumen bestätigten die Erzählungen. Ich war daher recht froh, als wir in das Tal kamen, wo wieder Wiesen und Felder lagen und an der Straße wieder Häuser standen.

Wir waren bald in der Wegscheide, wo sich zwei Wege teilen, der eine geht nach Seewiesen und den anderen weist eine Hand: »Weg nach Mariazell.«

»Wenn du nach Zell gehst, so wirst du die größte Kirche und die kleinste Kirche sehen,« sagte mein Vater, »die größte finden wir heut' auf den Abend, zur kleinsten [338] kommen wir jetzt. Schau; dort unter der Steinwand ist schon das rote Türml.«

Das Wirtshaus war freilich viel größer als die Kirche; in demselben stärkten wir uns für den noch dreistündigen Marsch, der vor uns lag.

Dann kamen wir an der gezackten Felswand vor über, die hoch oben auf dem Berge steht und »die Spieler« genannt wird. Drei Männlein sitzen dort oben, die einst in der Christnacht hinaufgestiegen waren, um Karten zu spielen. Zur Strafe sind sie in Stein verwandelt worden und spielen heute noch.

Die Straße ist hin und hin bestanden mit Wegkreuzen und Marienbildern; wir verrichteten vor jedem unsere Andacht und dann schritten wir wieder vorwärts, wohl etwas schwerfälliger als gestern, und im Rockschoße meines Vaters schlug fort und fort das unbekannte Ding hin und her.

Neben uns rauschte ein großer Bach, der aus verschiedenen Schluchten, zwischen hohen Bergen herausgekommen war. Die Berge waren hier gar erschrecklich hoch und hatten auch Gemsen.

»Jetzt rinnt das Wasser noch mit uns hinaus,« sagte mein Vater, »paß auf, wenn es gegen uns rinnt, nachher haben wir nicht mehr weit nach Zell.«

Wir kamen nach Gußwerk. Das hatte wunderprächtige Hauser, die waren schön ausgemeißelt um Türen und Fenster herum, als ob sich die Steine schnitzen ließen, wie Lindenholz. – Und da waren ungeheure Schmieden, aus deren Innern viel Lärm und Feuerschein herausdrang. Wir eilten hastig vorbei und nur bei der damals [339] neuen Kirche kehrten wir zu. Das war wunderlich mit dieser Kirche – nur ein einzig Christusbild war drin, und sonst gar nichts, nicht einmal unsere liebe Frau. Und so nahe bei Mariazell! Die Lutherischen sollen es gerade so haben. – Wir gingen bald davon.

Und als wir hinter das letzte Hammerwerk hinaus waren und sich die Waldschlucht engte, daß kaum Straße und Wasser nebeneinander laufen konnten – siehe, da war das Wasser so klar und still, daß man in der Tiefe die braunen Kieselsteine sah und die Forellen – und das Wasser rann gegen uns.

»Jetzt, mein Bübel, jetzt werden wir bald beim Urlaubkreuz sein,« sagte der Vater, »bei demselben siehst du den zellerischen Turm.«

Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir sahen die Kapelle, die gerade vor uns auf dem Berge stand und die Sigmundskirche heißt. Da oben hat vor lange ein Einsiedler gelebt, der sich nicht für würdig gehalten, bei der Mutter Gottes in Zell zu sein, und der doch ihr heiliges Haus hat sehen wollen jede Stund'. Ein Vöglein hätte ich mögen sein, daß ich hätte hinauffliegen können zum Kirchlein und von dort aus Zell etliche Minuten früher schauen, als von der Straße.

An der Wegbiegung sah ich an einem Baumstamm ein Heiligenbild.

»Ist das schon das Urlaubkreuz?«

»Das kleine,« sagte mein Vater, »das ist erst zum Urlaubkreuz das Urlaubkreuz. Schau, dort steht es.«

Auf einem roten Pfahl ragte ein roter Kasten, der hatte ein grünangestrichenes Eisengitter, hinter welchem ein Bildnis war. Wir eilten ihm zu; ich hätte laufen [340] mögen, aber mein Vater war ernsthaft. Als wir vor dem roten Bildstock standen, zog er seinen Hut vom Kopfe, sah aber nicht auf das Bild; sondern in das neu hervorgetretene Tal hin und sagte mit halblauter Stimme: »Gott grüß' dich, Maria!«

Ich folgte seinem Auge und sah nun durch die Talenge her und durch die Scharte der Bäume eine schwarzglänzende Nadel aufragen, an welcher kleine Zacken und ein goldener Knauf funkelten.

»Das ist der zellerische Turm.«

Mit stiller Ehrfurcht haben wir hingeschaut. Dann gingen wir wieder – ein paar Schritte vorgetreten und wir haben den Turm nicht mehr gesehen. Wir sollten ja bald an seinem Fuße sein...

Noch eine Wegbiegung und wir waren im »Alten Markt« und hinter diesen Häusern stiegen wir die letzte Höhe hinan und hatten auf einmal den großen Marktflecken vor uns liegen, und inmitten, hoch über alles ragend und von der abendlichen Sonne beschienen, die Wallfahrtskirche.

Die Stimmung, welche zu jener Stunde in meiner Kindesseele lag, könnte ich nicht schildern. So wie mir damals, muß den Auserwählten zumute sein, wenn sie eingehen in den Himmel.

Wir taten, wie alle anderen auch – auf den Knien rutschten wir in die weite Kirche und hin zum lichterreichen Gnadenbilde, und ich wunderte mich nur darüber, daß der Mensch auf den Knien so gut gehen kann, ohne daß er es gelernt hat.

Wir besahen an demselben Abende noch die Kirche [341] und auch die Schatzkammer. An den gold- und silberstrotzenden Schreinen hatte ich lange nicht die Freude, wie an den unzähligen Opferbildern, welche draußen in den langen Gängen hingen. Da gab es Feuersbrünste, Überschwemmungen, Blitzschläge, Türkenmetzeleien, daß es ein Schreck war. Es ist kaum eine Not, ein menschliches Unglück denkbar, das in diesen Dank- und Denkbildern nicht zur Darstellung gekommen wäre. Wer hat diesen Volksbildersälen je eine nähere Betrachtung gewidmet?

Wir stiegen auch auf den Turm; das war unerhört weit hinauf zwischen den finsteren Mauern, wie oft mochte der Rockschoß meines Vaters hin und her geschlagen haben, bis wir da oben waren! Und endlich standen wir in einer großen Stube, in welcher zwischen schweren Holzgerüsten riesige Glocken hingen. Ich ging zu einem Fenster und blickte hinaus – was war das für ein Ungeheuer? Die Kuppel eines der Nebentürme hatte ich vor Augen. Und du heiliger Josef! wo waren die Hausdächer? Die lagen unten auf dem Erdboden. – Dort auf dem weißen Streifen krabbelte eine Kreuzschar heran. Als der Türmer dieselbe gewahrte, hub er und noch ein zweiter an, den Riemen einer Glocke zu ziehen. Diese kam langsam in Bewegung, der Schwengel desgleichen und als derselbe den Reisen berührte, da gab es einen so schmetternden Schall, daß ich meinte, mein Kopf springe mitten auseinander. Ich verbarg mich wimmernd unter meinen Vater hinein, der war so gut und hielt mir die Ohren zu, bis die Kreuzschar einzog und das Läuten zu Ende war. Nun sah ich, wie die beiden Männer vergebens an den Riemen zurückhielten, um die Glocke zum Stillstand zu bringen; hilfebereit sprang ich herbei, um solches auch an einem [342] dritten niederschlängelnden Riemen zu tun – da wurde ich schier bis zu dem Gebälke emporgerissen.

»Festhalten, festhalten!« rief mir der Türmer zu. Und endlich, als die Glocke in Ruhe und ich wieder auf dem Boden war, sagte er: »Kleiner, kannst wohl von Glück sagen, daß du nicht beim Fenster hinausgeflogen bist!«

»Ja,« meinte mein Vater, »kunnt denn da in der Zellerkirchen auch ein Unglück sein?«

Abends waren wir noch spät in der Kirche; und selbst als sich die meisten Wallfahrer schon verloren hatten und es auch an dem Gnadenaltare dunkel war bis auf die drei ewigen Lampen, wollte mein Vater nicht weichen. Gar seltsam aber war's, wie er sich endlich von seinen Knien erhob und in die Gnadenkapelle hineinschlich. Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den Altar.

Jetzt sah ich was es war – ein Eisenzahn von unserer Egge war es. –

Und am anderen Tage gegen Abend, als wir meinten, unsere Kirchfahrt so verrichtet zu haben, daß Maria und unser Gewissen zufrieden sein konnten, gingen wir wieder davon. Beim Urlaubkreuz blickten wir noch einmal zurück auf die schwarze, funkelnde Nadel, die zwischen zwei Bäumen hervorglänzte.

»Behüt' dich Gott, Mariazell,« sagte mein Vater, »und wenn Gottes Willen, so möchten wir noch einmal kommen, ehvor wir sterben.« –

Dann gingen wir bis Wegscheid', dort hielten wir nächtliche Rast. Und am nächsten Tage überstiegen wir [343] wieder den Berg und durchwanderten das Veitschtal. Als wir zu den Bauernhäusern der Niederaigen kamen, sprach mein Vater dort zu, wo wir auf dem Vorweg zur Nacht geschlafen hatten, machte das Einbekenntnis wegen der Pfeife und überreichte der Bäuerin ein schön bemaltes Bildchen von Mariazell.

Als wir am Abende desselben Tages heimgekommen waren und uns zur Suppe gesetzt hatten, soll ich, den Löffel in der Hand, eingeschlafen sein.

Als ich zur Drachenbinderin ritt
[344] Als ich zur Drachenbinderin ritt.

Wenn mein Vater am Sonnabend beim Rasieren saß, da mußte ich unter den Tisch kriechen, weil es über dem Tisch gefährlich war.

Wenn mein Vater beim Rasieren saß, wenn er seine Backen und Lippen dick und schneeweiß eingeseift hatte, daß er aussah wie der Stallbub, welcher der Kuhmagd über den Milchrahm gekommen; wenn er dann das glasglänzende Messer schliff an seinem braunledernen Hosenträger und hierauf langsam damit gegen die Backen fuhr, da hub er an, den Mund und die Wangen und die Nase und das ganze Antlitz derart zu verzerren, daß seine lieben, guten Züge schier gar nicht mehr zu erkennen waren. Da zog er seine beiden Lippen tief in den Mund hinein, daß er aussah wie des Nachbars alter Veit, der keine Zähne mehr hatte; oder er dehnte den Mund nach links oder rechts in die Quere, wie die Köhlersani tat, wenn sie mit den Hühnern keifte; oder er drückte ein Auge zu und blies eine Wange an, daß er war, wie der Schneider Tinili, wenn ihn sein Weib gestreichelt hatte.

Die spaßhaftesten Gesichter der ganzen Nachbarschaft fielen mir ein, wenn der Vater beim Rasieren saß. Und da kam mir das Lachen.

[345] Darauf hatte mein Vater stets liebevoll gesagt: »Gib Ruh', Bübel.« Aber kaum die Worte gesprochen waren, wuchs wieder ein so wunderliches Gesicht, daß ich erst recht herausplatzte. Er guckte in den kleinen Spiegel und schon meinte ich, sein schiefes Antlitz werde in ein Lächeln auseinanderfließen. Da rief er plötzlich: »Wenn du keine Ruh' gibst, Bub, so hau' ich dir den Seifenpinsel hinüber!«

Kroch ich denn unter den Tisch und das Kichern schüttelte mich, wie die Nässe den Pudel. Der Vater aber konnte sich ruhig rasieren und war nicht mehr in Gefahr, über seine und meine Grimassen selbst in ein unzeitiges Lachen auszubrechen.

So war's einmal an einem Winterabend, daß der Vater beim Seifenschüsselchen saß und ich unter dem Tisch, als sich draußen in der Vorlauben jemand den Schnee von den Schuhen strampfte. Gleich darauf ging die Tür auf und ein großer Mann trat herein, dessen dichter roter Schnurrbart Eiszapfen trug, wie draußen unser Bretterdach. Er setzte sich gleich nieder auf eine Bank, zog eine bauchige Tabakspfeife aus dem Lodenmantel, faßte sie mit den Vorderzähnen und während er Feuer schlug, sagte er: »Tust dich balbieren, Waldbauer?«

»Ja, ich tu' mich ein wenig balbieren,« antwortete mein Vater, und kratzte mit dem Schermesser und schnitt ein Gesicht.

»Na, ist recht,« sagte der fremde Mann.

Und später, als er schon von Wolken umhüllt war und die Eiszapfen bereits niedertröpfelten von seinem[346] Barte, tat er folgende Rede: »Ich weiß nicht, Waldbauer, wirst mich kennen oder nicht? Ich bin vor fünf Jahren einmal an deinem Hause vorbeigegangen und hab' beim Brunnen einen Trunk Wasser genommen. Ich bin von der Stanz, bin der Drachenbinderin ihr Knecht. Ich bin da um deinen größeren Buben.«

Mir unter dem Tisch schoß es bei diesen Worten heiß bis in die Zehen hinaus. Mein Vater hatte nur einen einzigen größeren Buben und der war ich. Ich duckte mich in den finstersten Winkel hinein.

»Um meinen Buben bist da?« entgegnete mein Vater, »den magst wohl haben, den werden wir leicht entraten; halt ja, er ist gar so viel schlimm.«

Bauersleute reden gern so herum, um ihre vorwitzigen Kinder zu necken und einzuschüchtern. Allein der Fremde sagte: »Nicht so, Bauer, gescheiterweis'! Die Drachenbinderin will was aufschreiben lassen, ein Testament oder so was, und sie weiß weit und breit keinen zu kriegen, der das Schreiben tät' verstehen. Jetzt, da hat sie gehört, der Waldbauer im Alpel hätt' so ein ausbündig Bübel, dem solch Ding im kleinen Finger stecken tät'; und so schickt sie mich her und laßt dich bitten, Bauer, du sollst die Freundschaft haben und ihr deinen Buben auf einen Tag hinüberleihen; sie wollt' ihn schon wieder fleißig zurückschicken und ihm was geben zum Lohn.«

Wie ich das gehört hatte, klopfte ich mit den Schuhspitzen schon ein wenig an den Tischschragen – das täte mir gleich nicht übel gefallen.

»Geh',« sagte mein Vater, da er auf einem Backen[347] bereits glatt gekratzt war, »wie könnt' denn mein kleiner Bub' jetzt im tiefen Winter in die Stanz gehen, ist ja völlig vier Stunden hinüber!«

»Freilich wohl;« versetzte der große Mann, »deswegen bin ich da. Er steigt mir auf den Buckel hinaus.«

»Versteh's schon,« drauf mein Vater, »Buckelkraxentragen.«

»Nu, und nachher wird's wohl gehen, Waldbauer, und wenn der Sonntagabend kommt, trag' ich dir ihn wieder ins Haus.«

»Je nu, dasselb' weiß ich wohl, daß du mir ihn wieder redlich zurückstellst,« sagte mein Vater, »und wenn die Drachenbinderin was will schreiben lassen und wenn du der Drachenbinderin ihr Knecht bist, und wenn mein Bübel mit dir will – meinetwegen hat's keinen Anstand.«

Die Worte hatte er bereits mit glattem, verjüngtem Gesichte gesprochen.

Eine kleine Weile nachher stak ich in meinem Sonntagsgewand; glückselig über die Bedeutung, ging ich in der Stube auf und ab.

»Du ewiger Jud', du,« sagte mein Vater, »hast mehr kein Sitzfleisch?«

Aber mir ließ es keine Ruhe mehr. Am liebsten hätte ich mich sogleich auf das breite Genick des großen Mannes niedergelassen und wäre davongeritten. Da kam erst die Mutter mit dem Sterz und sagte: »Esset ihn, ihr zwei, ehe ihr fortgeht!«

Umsonst hatte sie es nicht gesagt; ich habe unseren breitesten hölzernen Löffel nie noch so hochgeschichtet gesehen, als zur selbigen Stunde, da ihn der fremde große [348] Mann von dem Sterztrog unter seinen Schnurrbart führte. Ich aber ging in der Stube auf und ab und dachte, wie ich nun der Drachenbinderin ihr Schreiber sein werde.

Als hierauf die Sache insoweit geschlichtet war, daß die Mutter den Sterztrog über den Herd stülpen konnte, ohne daß auch nur ein Brosamchen herausfiel, da hüpfte ich auf das Genick des Mannes, hielt mich am Barte fest und ritt denn in Gottes Namen davon.

Schon ging die Sonne unter; in den Tälern lagen Schatten; die fernen Schneehöhen der Almen hatten einen mattroten Schein.

Als mein Gaul über die kahlen Weiden aufwärts trabte, da trug ihn der Schnee, aber als er in die Gegend des jungen. Lärchenwuchses und des Fichtenwaldes kam, da wurde die Bodenkruste trügerisch und brach ein. Jedoch darauf war er vorgesehen. Als wir zu einem alten, hohlen Lärchenbaum kamen, der sein Geäste recht keck in die Luft hinausreckte, hielt er an, langte mit einer Hand in die schwarze Höhlung und zog ein paar aus Weiden geflochtene Fußscheiben hervor, die er an die Schuhsohlen band. Mit diesen breiten Sohlen begann er die Wanderung von neuem; es ging langsam, denn er mußte die Füße sehr weit auseinanderbiegen, um die Scheiben füreinander zu bringen, aber mit solchen Entenfüßen brach er nicht mehr durch.

Auf einmal, es war schon finster und die Sterne leuchteten klar, hub mein Gaul an, mir die Schuhe loszulösen, zog sie zuletzt gar von den Füßen und tat sie in seine aufgebundene Schürze. Dann sagte er: »Jetzt, Bübel, steck' deine Pfötelein da in meine Jackentaschen, [349] daß die Zehen nicht herabfrieren.« Meine vorgereckten Hände nahm er in die seinen und hauchte sie mit dem warmen Atem an – was anstatt der Handschuhe war.

An meinen Wangen kratzte die Kälte, der Schnee winselte unter den Scheiben – so ritt ich einsam fort durch den Wald und über die Höhen. Ich ritt über den ganzen langen Grat des Hochbürstling, wo ich nicht einmal zur Sommerszeit noch gewesen war! Ich preßte zuweilen, wenn es schon ganz langsam ging, meine Knie in die Weichen, und mein Gaul ertrug es willig und ging, wie er konnte, und er wußte den Weg. Ich ritt an einem Pfahle vorbei, auf welchem Winter und Sommer der heilige Viehpatron Erhardi stand. Ich kannte den heiligen Erhardi von daheim; ich und er hatten zusammen die Aussicht über meines Vaters Herden; er war immer viel angesehener als ich, ging ein Rind zugrunde, so hatte ich, der Halterbub, die Schuld; gediehen die anderen recht, so hatte er das Lob. – Nun tat's mir wohl, daß er sah, wie ich es zum Rittersmann gebracht.

Endlich wendete sich der Lauf, ich ritt abwärts über Stock und Stein, und immer niederwärts, einem Lichtlein zu, das unten in der Tiefe flimmerte. Und als so alle Bäume und Gegenden an mir vorübergegangen waren und ich vor mir den dunkeln Klumpen mit der kleinen Tafel des Lichtscheines hatte, stand mein guter Christof still und sagte: »Du liebes Waldbauernbübel! Da du mir fremdem Menschen so unbesonnen gefolgt bist – wohl könnte es sein, daß ich schon jahrelang einen Groll hätt' gegen deinen Vater, und daß ich dich jetzt in eine Räuberhöhle führte.«

Horchte ich einen Augenblick so hin.

[350] Weil er zu seinen Worten nichts mehr beisetzte, so sagte ich in demselben Tone: »Da mein Vater mich der Drachenbinderin ihrem Knechte so anvertraut hat, und da ich so unbesonnen gefolgt hin, so wird der Drachenbinderin ihr Knecht keinen Groll haben können und mich nicht in eine Räuberhöhle führen.«

Der Mann hat nach diesen meinen Worten in seinen Bart gepfustert. Bald darauf hub er mich auf einen Strunk an der Wand und sagte: »Jetzt sind wir bei der Drachenbinderin ihrem Hause.« Er machte an dem dunkeln Klumpen eine Tür auf und trug mich hinein.

In der kleinen Stube war ein Herd, auf dem das Häuschen Glut lag, ein Kienspan, der brannte, und ein Strohlager, auf dem ein Kind schlief. Daneben stand ein Weib, das schon sehr alt und gebückt war und das im Gesicht schier so blaß und faltenreich aussah, wie das grobe Nachtkleid, in das es gehüllt stand.

Dieses Weib stieß, als wir eintraten, jauchzende Töne aus, hub dann heftig zu lachen an und verbarg sich hinter dem Herde.

»Das ist die Drachenbinderin,« sagte mein Begleiter, »sie wird gleich zu dir reden, setze dich hieweilen auf den Schemel da neben dem Bett und tu' deine Schuh' wieder an.«

Ich tat es und er setzte sich daneben auf einen Holzblock.

Als das Weib still geworden war, trippelte es am Herde herum und brachte uns in einer Tonschüssel eine graue dampfende Mehlsuppe und zwei beinerne Löffel dazu. Der Knecht aß würdevoll und beharrlich, mir [351] wollte es nicht schmecken. Zuletzt stand der Knecht auf und sagte leise zu mir: »Schlaf' wohl, du Waldbauernbub!« und ging davon.

Und als ich in der schwülen Stube allein war mit dem schlummernden Kinde und dem alten Weibe, da hub es mir an, unheimlich zu werden. Doch nun trat die Drachenbinderin heran, legte ihre leichte, hagere Hand an meine Wange und sagte: »Dank' dir Gott unser lieber Herr, daß du zu mir gekommen bist! – Es währet kein halbes Jährlein noch, seit mir meine Tochter ist gestorben. Das da« – sie deutete auf das Kind – »ist mein junger Zweig, ist ein gar armer Wurm, wird mein Erbe sein. Und jetzt hör' ich schon wieder den Tod anklopfen an meiner Tür; ich bin alt schon an die achtzig Jahr'. Mein Leblang hab' ich gespart – mein Sargbett will ich mir wohl erbetteln von guten Leuten. Mein Mann ist früh gestorben und hat mir das Drachenbinderhäusel, wie es genannt wird, zurückgelassen. Meine Krankheiten haben mir das Häusel wieder gekostet – sind's aber nicht wert gewesen. Was ich hinterlaß, ist meinem Enkelkind zu eigen. In sein Köpfel geht's heut noch nicht hinein und in die Hand geben kann ich's keinem Menschen. So will ich's schreiben lassen, daß es bewahrt ist. Durch den Schulmeister in der Stanz will ich's nicht tun und der Doktor kann's ohne Stempelgeld vielleicht nicht machen. So haben die Leut' vom Waldbauernbuben erzählt, der wär' so hoch gelehrt, daß er einen letzten Willen wüßt' zu schreiben. Und hab' ich dich von weiten Wegen bringen lassen. Morgen tu' mir die Lieb', und heute geh' zur friedsamen Ruh'.«

Sie geleitete mich mit dem brennenden Span in eine [352] Nebenkammer; die war nur aus Brettern geschlagen. Ein Lager von Heu und eine Decke aus dem dicken Sonntagskleide des Weibes war da, und in einem Winkel stand aus wurmstichigem Holz ein winziges Kirchlein mit zwei Türmen, in welchen Glöcklein schrillten, so oft wir auf den schwankenden Fußboden traten. Die Drachenbinderin steckte den Span in ein Turmfenster, segnete mich mit einem Daumenkreuze und bald darauf war ich allein in der Kammer.

Es war kalt, ich fröstelte vor dem Winter und vor dem Weibe, das meine Gastfrau war; aber noch ehe ich mich ins Nest verkroch, machte ich mit Neugierde die Tür des Kirchleins auf. Eine Maus huschte heraus, die hatte wohl eben an dem goldpapiernen Altare und der pappenen Hand des heiligen Josef ihr Nachtmahl gehalten. Es waren Heilige und Engel da, und bunte Fähnlein und Kränzlein – ein lieblich Spiel. Ich meinte, das sei gewiß der alten Drachenbinderin ihre Pfarrkirche, weil das Weib doch schon viel zu mühselig, um nach Stanz zum Gottesdienst zu wandern. Ich betete vor dem Kirchlein mein Abendgebet, worin ich den lieben Herrgott bat, mich in dieser Nacht recht zu beschützen; dann löschte ich den Span aus, daß er nicht zu den Turmfenstern hineinbrennen konnte und legte mich auf das Heu. – Mir kam es vor, als wäre ich losgerissen von mir selber und ein gelehrter Schreiber in einem fernen kalten Hause, während der wahrhaftige Waldbauernbub daheim in dem warmen Nestlein schlummere. Als ich endlich im Einschlafen war, hörte ich drinnen in der Stube wieder das kurz ausgestoßene Jauchzen und bald darauf das heftige Lachen.

[353] Was ergötzt sie denn so sehr und wen lacht sie aus? –

Ich sann auf Flucht.

Ein Wandbrett wäre doch leicht ausgehoben – aber der Schnee!

Erst gegen Morgen schlief ich ein und träumte von einer roten Maus, die allen Heiligen der Kirche die rechte Hand abgebissen hatte. Und zum Turmfenster sah mein Vater mit den eingeseiften schiefen Backen heraus, und er hielt einen brennenden Span im Mund; ich schluchzte und kicherte zugleich.

Als ich endlich erwacht war, spielte es, als wäre die Kammer ein Käfig mit silbernen Spangen, so strahlte das weiße Tageslicht durch die aufrechten Bretterfugen. Und als ich hinausging vor die Tür, da staunte ich, wie eng die Schlucht, und wie fremd und hoch und winterlich die Berge waren.

Im Hause schrie das Kind und jauchzte wieder die Drachenbinderin.

Bei der Frühsuppe war auch mein Gaul wieder da; aber er sagte schier kein Wort, er sah nur auf sein Essen und als dieses um war, stand er auf, setzte seinen großmächtigen Hut auf und ging gegen Stanz hinaus zur Kirche.

Als das Weib das Kind beruhigt, die Hühner gefüttert und andere Dinge des Hauses getan hatte, schob es den Holzriegel vor die äußere Tür, ging in die Kammer und hub mit den kleinen Glocken des Kirchleins zu läuten an.

Dann entzündete sie zwei Kerzen, die am Altare[354] standen und dann tat sie ein Gebet, wie ich meiner Tage keines gehört habe.

Sie kniete vor dem Kirchlein, streckte die Hände aus und murmelte:

»Von wegen der Marterwunden deiner rechten Hand, du kreuzsterbender Heiland; tu' meine verstorbenen Eltern erretten; wenn sie noch in der Pein sind. Schon der Jahre ein halbes Hundert sind sie in der Erden, und heut' noch hör' ich meinen Vater rufen um Hilf' mitten in der Nacht. – Von wegen der Marterwunden deiner linken Hand laß dir empfohlen sein meiner Tochter Seel'. Sie hat kaum mögen die Welt anschauen, und wie sie dem Gatten das Kindlein in die Hand will legen, da kommt der bittere Tod und tut sie uns begraben. – Von wegen der Marterwunden deines rechten Fußes will ich dich bitten wohl im Herzen für meinen Mann und für meine Blutsfreund' und Guttäter und daß du den Waldbauernbuben nicht wolltest vergessen. – Von wegen der Marterwunden deines linken Fußes, du kreuzsterbender Heiland; sei auch eingedenk in Lieb' und Gnaden all' meiner Feinde, die mich mit Händen haben geschlagen und mit Füßen haben getreten. – Von wegen der Marterwunden deines heiligen Herzens sei zu tausend- und tausendmal angerufen: Du gekreuzigter Gott, schließe mein Enkelkind in dein göttliches Herz. Sein Vater ist bei den Soldaten in weitem Feld, ich hab' leicht kein langes Verbleiben, du mußt dem Kind ein Vormund sein, ich bitte dich! Amen!«

So hatte sie gebetet. Die roten Kerzen brannten fromm. – Ich hab' gemeint zur selben Stund': wenn ich der lieb' Herrgott wäre, ich stiege herab vom Himmel [355] und tät' das Kind nehmen in meine Händ' und tät' sagen: Auf daß du's siehst, Drachenbinderin, ich halt's an meinem Herzen warm und will sein Vormund sein! –

Aber ich bin der lieb' Herrgott nicht gewesen.

Nach einer Weile sagte das Weib: »Jetzt heben wir zu schreiben an.« – Aber wie wir wollten zu schreiben anheben, da war keine Tinte, keine Feder und kein Papier. Allmiteinander hatten wir falsch gedacht; sie, daß ich das Zeug mitbringen, ich, daß sie es im Haus haben würde. »Ach,« sagte sie, »das ist ein Kreuz!«

Ich hatte einmal das Geschichtchen gehört von jenem Doktor, der in Ermanglung der Dinge sein Rezept an die Stubentür geschrieben. – 's war hier der Nachahmung wert; fand sich aber keine Kreide im Haus. Ich wußte mir keinen Rat und ich schämte mich unsagbar, daß ich ein Schreiber ohne Feder war.

»Waldbauernbub,« sagte das Weib, »leicht hast du's auch mit Kohlen gelernt?«

Ja, ja, mit Kohlen, wie sie auf dem Herde lagen, das war ein Mittel.

»Und das ist in Gottes Namen mein Papierblatt,« sprach sie, und hob die Decke eines alten Schrankes empor, der hinter dem Ofen stand. In dem Schranke waren Lodenschnitzel, ein Stück Linnen und ein rostiger Spaten. Als die Drachenbinderin bemerkte, daß ich auf den Spaten blicke, wurde sie völlig verlegen, deckte ihr altes Gesicht mit der blauen Schürze und murmelte: »'s ist wohl eine Schande!«

Mir fuhr's ins Herz; ich hielt das für einen Vorwurf, daß ich kein Schreibzeug bei mir habe.

[356] »Wirst mich rechtschaffen auslachen, Waldbauernbub, daß er gar so rostig ist,« lispelte die Alte, »aber tu' ja nichts Schlechtes von mir denken; ich kann halt nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich bin schon gar soviel ein mühseliger Mensch.«

Jetzt verstand ich vielleicht, das arme Weib schämte sich, daß es den Spaten nicht mehr handhaben konnte und daß dieser so rostig geworden.

Ich suchte mir am Herd ein spitzes Stück Kohle – die Kiefer ist so gut und leiht mir die Feder, daß ich das Testament, oder was es sein wird, der alten Drachenbinderin vermag aufzuschreiben.

Als also der falbfarbige Schrank offen stand und ich bereit war, auf die Worte des Weibes zu hören und sie zu verzeichnen, daß sie nach vielen Jahren dem Enkel eine Botschaft seien – da tat die Alte neben mir plötzlich ein helles Aufjauchzen. Eilig wendete sie sich seitab, jauchzte zwei- und dreimal und brach zuletzt in ein heiseres Lachen aus.

Ich zerrieb in der Angst fast die Kohle zwischen meinen Fingern und schielte nach der Tür.

Als das Weib eine Weile gelacht hatte, war es still, tat einen tiefen Atemzug, trocknete sich den Schweiß, wendete sich zu mir und sagte: »So schreib'. Hoch werden wir nicht zählen, sang' aber doch an im oberen Eck'.«

Ich legte die Hand auf die oberste Ecke des Deckbrettes.

Hierauf sprach das Weib folgende Worte: »Eins und eins ist Gott allein. – Das, du Kind meines Kindes, ist dein eigen.«

[357] Ich schrieb die Worte auf das Holz.

»Zwei und zwei,« fuhr sie fort, »zwei und zwei ist Mann und Weib. Drei und drei das Kind dabei. Vier und fünf bis acht und neun, weil die Sorgen zahllos sein. – Bet', als hättest keine Hand; arbeit', als wär' kein Gott bekannt. Trage Holz und denk' dabei: Kochen wird mir Gott den Brei.« – –

Als ich diese Worte schlecht und recht geschrieben hatte, senkte sie den Deckel auf den Schrank, versperrte ihn sorgsam und sagte zu mir: »Jetzt hast du mir eine große Guttat erwiesen, jetzt ist mir ein schwermächtiger Stein vom Herzen. Diese Truhen da ist das Vermächtnis für mein Enkelkind. – Und jetzt kannst du sagen, was ich dir geben soll für deinen Dienst.«

Ich schüttelte den Kopf, wollte nichts verlangen, als daß ich das Sprüchel auswendig lernen und mit heimtragen dürfe.

»So gut schreiben und so weit herreisen und eine ganze Nacht Kälte leiden und zuletzt nichts dafür nehmen wollen, das wär' sauber!« rief sie, »Waldbauernbub, das kunnt ich nicht angehen lassen.«

Ich blinzelte durch die offene Tür ein wenig in die Kammer hinein, wo das Kirchlein stand. – Da roch sie's gleich. »Mein Hausaltar liegt dir im Sinn,« sagte sie, »Gotteswegen, so magst du ihn haben. Man kann's nicht versperren wie die Truhen, das liebe Kirchel, und die Leut' täten mir's doch nur verschleppen, wenn ich nicht mehr bin. Bei dir ist's in Ehren und du denkst wohl an die alte Drachenbinderin zur heiligen Stund', wenn du betest.«

Das ganze Kirchlein hat sie mir geschenkt. Und das [358] war jetzt vielleicht die größte Seligkeit meiner ganzen Kindschaft.

Gleich wollte ich es auf die Achsel nehmen und forttragen über die Alpe zu meinem Hause. Aber das Weib sagte: »Du lieber Närrisch, das kunnt wohl auf alle Mittel und Weis' nicht sein. Kommt erst der Knecht heim, der wird einen Rat schon wissen.«

Und als der Knecht heimgekommen war und mit uns das Mittagsbrot gegessen hatte, da wußte er einen Rat. Er band mir das Kirchlein mit einem Strick auf den Rücken, dann ließ er sich nieder vor dem Holzblock und sagte: »Jetzt, Bübel, reit' wieder auf!«

Saß ich denn das zweitemal auf seinem Nacken, steckte die Füße in seine Jackentaschen wie in Steigbügeln und umschlang mit den Händen seinen Hals. Die Alte hielt mir das erwachende Kind noch vor, daß es mir das Händchen hinhalte, sagte noch gute Worte des Dankes, huschte hinter den Ofen und jauchzte.

Ich aber ritt davon, und an meinem Rücken klöpfelten die Heiligen in der Kirche, und in den Türmen schrillten bei jeder Bewegung die Glöcklein.

Als der Mann mit mir emporgestiegen war bis zu den Höhen des Bürstling und sich dort wieder die Schneescheiben festband, da fragte ich ihn, warum denn die Drachenbinderin allfort so jauchze und lache.

»Das ist kein Jauchzen und Lachen, liebes Waldbauernbüblein,« antwortete mir der Mann, »die Drachenbinderin hat eine Krankheit zu tragen. Sie hat jahrelang so ein Schlucksen gehabt und ist nach und nach, wie der Bader sagt, das Krampfschreien und das Krampflachen daraus geworden. Jetzt ballt sich ihr Eingeweide zusammen, [359] und wenn sie in der Erregung ist, so hat sie die Anfälle. Sie kann auch keine Speisen mehr vertragen und sieht den Tod vor Augen.«

Ich entgegnete kein Wort, blickte auf die schneeweißen Höhen, auf den dämmerigen Wald, und sah, wie wir an dem reinen Sonntagsnachmittag sachte abwärts stiegen gegen mein Heimatshaus. Ich dachte, wie ich die Kirche, die ich zum Vermächtnis bekommen, nun aufstellen wolle in der Stube und darin Gottesdienst halten, auch für das arme Weib, das vor lauter Kranksein jauchzen muß. Etliche Wochen drauf sind die Glöcklein zur Trauer geläutet worden...

Als ich mir die Welt am Himmel baute
[360] Als ich mir die Welt am Himmel baute.

Nach solchen Erfahrungen wird einem das wiedergekehrte Alltagsleben zwischen den Wäldern langweilig. Man will immer was Neues haben.

Ich war damals ein Bursche in den Jahren, wo man mit dem Knaben nicht mehr viel anzufangen weiß, den Junggesellen aber lange noch nicht im Jöppel hat. Trug eine ungebleichte Leinwandhose, eine Jacke aus grauem Wilfling und eine buntgestreifte Zipfelmütze. War barfuß und ungeschickt im Gehen und Laufen, jeden Tag trug ich eine andere Zehe in der Binde. Die Haare hatte ich mit den fünf Fingern vorn herabgekämmt, mit den Zähnen kaute ich an einem Strohhalm. Es war mit mir bisweilen nichts anzufangen; wenn man mich auf das Feld stellte, so stolperte ich über den Pflug und den Spaten und wenn man mich in den Wald schickte, so hieb ich die Axt anstatt in das Holz in einen Stein und bald war die Schneide des Werkzeuges so stumpf, daß man darauf hätte reiten können. Und dann stand ich da und hielt die zehn Finger in den Händen und glotzte zum Himmel auf.

Unsere Waldwege waren mir schon gar so lästig geworden, das ewige Dunkelgrün und das ewige Vögelzwitschern und Windrauschen war nicht mehr auszuhalten. Es war einerlei, immer einerlei. Und ich sann, träumte anderem nach. Da eines Tages – ich weidete unsere [361] Herde auf der Hochöde, wie wir ein hochgelegenes Brachfeld, auf dem schon die Eriken und Wacholder wuchsen, nannten – entdeckte ich – den Himmel, den wunderbaren Wolkenhimmel. Ich war nun plötzlich entzückt über die Formen und Gestaltungen in allen Lichtarten. Ich wunderte mich nur, daß mir dieser Himmel nicht schon längst aufgefallen war. So stand ich nun da und sah empor zu der neuen Welt, zu den Ebenen und Bergen und Schluchten, zu den ungeheuerlichen Tieren, die bewegungslos dastanden und dennoch dahinkrochen und sich reckten und dehnten und Arme und Beine ausstreckten, die sich wieder in Wedel und Rümpfe und Flügel verwandelten. Und ich glotzte die Luftschlösser an, die sich vor mir aufbauten.

Von nun an war auf der Heide meine Freude und gerne weidete ich die Herde, weidete ich dabei doch auch die lockigen Lämmer des Himmels.

In demselben Jahre war ein heißer Sommer, da ging's am Himmel wohl auch oft ein wenig einförmig zu, aber des Morgens und des Abends gab's doch immer was zu sehen. Ich war eine Zeitlang wie vernarrt in das Firmament. Mein Vater wunderte sich, daß ich oft gar der erste aus dem Bette war, daß ich die Morgensuppe stehen ließ und die Rinder mit einer fast ängstlichen Behendigkeit auf die Hochöde jagte. Er wußte nicht, warum. Ich aber setzte mich in der Hochöde auf einen Stein, über welchen das Moos ein zartes, gelblich-grünes Samtpelzchen gelegt hatte, und während die Kühe und die Kälber emsig im Heidekraut grasten und dabei mit ihren Schellen lustig glöckelten, biß ich allfort an einem dünnen Federgrashalm und blickte hin gegen Sonnenaufgang. Da war zuerst über dem fernen Gebirgszug des Wechsels [362] eine dunkle mattrote Bank; sie dehnte sich weit, weit hin und verlor sich, man wußte nicht wo. Mit einemmal zogen sich goldene Fäden durch und die ganze Wolkenbank wurde durchbrochen von Licht und sah nun aus wie ein ungeheurer rotglühender Eisenklumpen.

Da waren alle meine Kühe rot und das Heidekraut war rot, das sie grasten, und die Steine waren rot, und die Stämme am Waldrande waren rot und meine Leinwandhose war rot. Jetzt flammte am Rande der Wechselalpe plötzlich ein kleines Feuer, wie es Hirtenjungen gern anzünden, wenn sie sich Erdäpfel braten wollen. Aber das Feuer dehnte sich aus nach rechts und links und ging in die Höhe; das war ja ein Brand, zuletzt brannten dort alle Almhütten? Aber in einer wunderbaren Regelmäßigkeit hob sich der Brand empor und eine großmächtige Glutscheibe tauchte auf – die Sonne. Da hatten meine Kühe und die Steine und ich auf einmal lange Schatten hin über die Heide. Mein Schatten war so lang, daß, wenn er vom Boden aufgeständen wäre, er mit seinen Fingern in den weißgelblichen Wolkenballen des Himmel hätte Wolle zupfen können. Die Nebelbank über dem Gebirgszuge wurde schmächtiger, es ging ihr aus Herz, noch streckte sie einen glühenden Speer aus, der ging mitten durch die Sonne, aber er schmolz und die Sonne wurde kleiner und funkelnder und bald war die Wolkenbank, waren die roten Fäden am Gesichtskreise verschwunden.

Hie und da in der weiten Himmelsrunde hing es wohl noch wie weiße Wolle und dort und dort schwamm ein Federchen hin, aber bald gingen auch die Federchen verloren und die Wolle wurde unmerklich langsam auseinandergezupft [363] in leichten Locken und dünnen Fädchen und auf einmal war gar nichts mehr da als der tiefblaue Himmel und der blitzende Sonnenstern.

Es lag fast wie Dunkelheit über den Waldbergen, so unsäglich klar und leer war der Himmel, es war, als ob die Sonne zu klein werden wollte für die unendliche Weite. Und doch konnte ich das Auge kaum auftun vor lauter Licht.

Gegen die Mittagszeit ging die Bläue etwas in das Graulichte über, da sah es noch sonniger aus und es war sehr heiß. Meine Herde hatte schon kühles, schattiges Dickicht aufgesucht, um sich die stechenden Fliegen abzuhalten; ich saß noch auf dem Stein und sah den Himmel an und dachte, wie schön das sein müßte, wenn die Himmelsrunde ein Spiegel wäre und wenn das Bild der Erde drin läge mit aller großen Herrlichkeit; vielleicht hätte ich dann von meiner Hochöde aus fremde Länder und große Städte sehen können.

Nach der neunten Stunde, die ich an dem Schatten einer aufrechtstehenden Stange bestimmte, hob sich gewöhnlich ein Lüftchen, das ein paar Stunden fächelte und leise in den Bäumen säuselte. Das war zum Einschlummern süß zu hören. Mir fiel gar der Grashalm aus dem Munde. Die Ameisen konnten innerhalb meines Höschens emporkrabbeln, wie sie wollten, ich gewahrte sie nicht. Ja, ich gewahrte es nicht einmal und wußte nicht, wie es kam, aber plötzlich waren zu allen Seiten des Gesichtskreises, sowohl über den schwarzbläulichen Waldbergen der Mittagsseite als über der Wechselalpe und über den Matten der Mitternachtshöhen, hinter welchen die kahle, wettergraue Rax aufragte, und über [364] der fernen Felsenkette der Abendseite – schneeweiße Wolken. Sie waren in halbrunden Haufen, sie waren wie dicht aufqualmender Reisigrauch, der plötzlich versteinert wird zu weißem Marmor.

Die Ränder waren so scharf, wie mit einer Schere aus Papier geschnitten. Ganz unbeweglich schienen die Wolken und doch änderten sie sich in jedem Augenblicke und bauten sich auf, eine über die andere und schoben sich von unten nach, dichter und dichter, grauer und grauer, oder es war jählings ein Riß, eine Lücke hinaus in die Bläue.

Und hoch oben über meinem Scheitel standen auch Wolkenschichten, grau, stellenweise ganz dunkel, aber mit lichten, federartigen Rändern.

Da blickte man hin und sah das Verwandeln nicht und sah die Verwandlung. Wie war das wunderbar! Ist es möglich, daß das jeden Tag geschieht, und die Menschen achten es nicht, bemerken es nicht einmal und wundern sich mehr über ein Taschenspielchen, als über den allherrlichen Wolkenhimmel?

Die Schichten über der fernen Felsenkette waren niedlicher und gegliederter als die näheren Ballen; sie waren zum Teile bläulich wie der Himmel und wären von diesem oft kaum zu unterscheiden gewesen, wenn die Ränder nicht milchweiß geglänzt hätten.

Ich tat die Füße auseinander, bückte mich und guckte zwischen den Beinen hindurch auf die fernen Wolkenschichten hin, um durch diese ungewohnte Lage des Blickes ein möglichst abenteuerliches Bild zu schauen. Da sah ich unerhörte Bergriesen mit den schwindelndsten Kuppen und schauerlichsten Abgründen, und da ragten die Felshörner; [365] und da glänzten die Gletscher in unermeßlichen Höhen. Wenn dann vor diesen Gebilden ein dunkles Wölkchen dahinschwamm, so hielt ich das für einen riesigen Steinadler oder gar für den Vogel Greis. Das war mein Tirol, von dem ich schon gehört hatte, und ich guckte so lange zwischen den Beinen darauf hin, bis ich schwindelig wurde und in das Gras purzelte.

Auch lächerliche Riesen mit goldigem Mantelsaum, mit verknorrten Gliedern und gewaltigen Köpfen standen am Himmel und schwangen ihre Arme und streckten ihre Finger nach der Sonne aus. Die Sonne hatte sich lange sehr geschickt zwischen diesen Ungeheuern durchgewunden, aber endlich ging sie doch ins Netz. Da lag dann ein dunkler Flecken über dem Waldlande oder über den reisenden Feldern im Tale und es lagen mehrere Flecken und zogen sich langsam hin auf den Flächen und krochen wachsend empor an Hängen und verschwanden endlich wieder.

Je mehr die Sonne niedersank, je schöner wurde ihr Strahl. Die dichten Wolken schwanden, gingen in Federn und Fransen aus und gegen Abend weideten am Firmamente, wo früher die Ungeheuer gestanden, milde, weiße Lämmchen.

Nur die Bilder über der fernen Felsenkette blieben am längsten. Aber auch dort waren großartige Veränderungen; das Hochgebirge war zu einer leuchtenden Stadt mit goldenen Türmen und Kuppeln und Zinnen geworden. Das war meine Himmelsstadt, ich blickte wieder zwischen den Beinen darauf hin.

Aber wie wenn das ganze Reich von Butter gewesen wäre, so zerging es nun, als die Sonne nahe kam, und es dehnte sich eine weite Ebene aus über die Felsenkette; [366] eine rötliche, unabsehbare Ebene mit Licht-und Schattenfäden und darüber hin der Himmel. Das war mir das Meer und ich guckte wieder durch mein dreieckiges Fernrohr.

Die Sonne durchbrach diese Ebene und tauchte als große rote Scheibe hinter den Kanten der Felsen hinab. Da lagen rote Linien und glühende Nadeln darüberhin, die noch lange leuchteten und erst zur späten Stunde erloschen, als über unserem Gehöfte schon die Stille der Nacht war und am Himmel die Sterne sichtbar wurden, oder das Mondlicht liebliche Schleier wob.

So waren die Tage des Juli und August. Die Kornfelder im Tale nahten langsam der Reise, sie wurden sorgfältig bewacht, sie machten für den Winter die einzige Hoffnung aus. Die Früchte an den Berghängen aber waren im Verdorren, denn es rieselte wochenlang kein Regen. Da blickten auch andere Leute zuweilen aufwärts zu den Wolken oder hin gegen die Rax, die aber stets klar war und an der nie die Nebelflocke klebte; eine Nebelflocke an der Rax wäre das sichere Anzeichen eines nahen Regens gewesen.

Ich saß täglich auf meiner Hochöde und sah den Himmel an. Ich wußte nicht warum, ich dachte mir es oft auch kaum, was ich sah, ich fühlte es nur.

Einmal gegen die Abendstunde hin saß über der Felsenkette ein ungeheures Eichhörnchen. Es setzte seine Vorderfüßchen gerade auf, es hatte ein deutliches Schnäuzchen und spitzte die Ohren und der buschige, sanft wollige Schweif ging weithin gegen die Neubergeralpen. Es war ein launiges Wolkengebilde, gar ein Äuglein hatte das Tier, ein blaues Äuglein, durch welches der klare [367] Himmel guckte; aber auf einmal wurde es licht und funkelnd in diesem Auge und es warf einen mächtigen Strahl quer über den Himmel hin. Hinter der Wolke die Sonne! Endlich erlosch das Auge wieder, ich wußte nicht, hatte ein Wölklein das Lid zugedrückt oder war die Lichtscheibe dahinter gesunken; ich wartete, bis die Sonne unterhalb am Halse herauskommen würde und freute mich schon auf das goldige Halsgehänge, das mein Eichhörnchen bekommen sollte. Aber siehe, während ich so wartete und mich freute, war das Tier zu einer formlosen Masse geworden, nur der buschige, sanft wollige Schweif ging noch weit hin in das Österreicherland.

Einmal war der Himmel mit einer leichten gleichmäßigen Nebelschichte umzogen, auf welcher tieferliegende Wolken verschiedene Figuren bildeten. So kroch eine Kreuzspinne dahin und der Sonne zu. Die Kreuzspinne war riesig groß und meine Phantasie sah acht oder zehn Füße. Sie kam der ohnehin matt scheinenden Sonne immer näher und sie fraß sie auf, so daß Schatten lag über dem Waldlande. Als ich wieder hinaufsah, war das Gebilde verschwommen und eine plumpe Wolkenmasse verhüllte die Sonne.

Wieder zu anderen Tagen war es wirklich lebendig am Himmel. Von der Felsenkette über unsere Waldberge und gegen Morgen und Mittag hin zog ein endloses Heer von Wolken. Stellenweise wanderten sie einzeln, stellenweise wieder in großen Gruppen und Massen, licht und dunkelgrau und »wollig« und »lämmelig« und sie duckten sich untereinander und sie ritten übereinander und es war eine wüste Flucht. In den Wäldern rauschte unwirtlich der Wind.

[368] Das war eine wahre Völkerwanderung am Himmel, tagelang. Ich fragte die Wolken, woher sie kämen, wohin sie zögen? Sie hatten nur Schatten für mich und keine Antwort.

Nach den Tagen des Windes blieb der Himmel eine Zeitlang gleichmäßig trüb und es strich eine kühle, oft fast frostige Luft. Sie Leute meinten, nun werde der ersehnte Vegen kommen. Aber das Wolkengewölbe wurde lichter und durchsichtiger und endlich sah man durch dasselbe wieder den Sonnenstern schimmern.

Ich vergaß auf die welkenden, verdorrenden Pflanzen der Erde, die bereits fahl oder rot verbrannt waren; ich vergaß auf die Waldvöglein, die nicht mehr singen wollten, weil sie schier vertrocknete Kehlen haben mochten; ich freute mich, daß sich der Himmel wieder erheiterte. Die Wölklein waren nun so zart und leicht und milchweiß und leichte Fäden zogen hin, als ob in den weiten Lüften eine unsichtbare Spinnerin wäre oder ein Webstuhl stünde in der hohen Himmelsrunde.

Und aus all den wunderbaren Geweben fügten sich Nester mit Eiern und schneeweißen Tauben; dann machten diese Tierchen hohe Krägen und schnäbelten miteinander und da dachte ich mir: zuweilen trifft es doch zu, daß der Himmel ein Spiegel der Erde ist. Ich hatte zu derselben Zeit mehrmals von einem Müllerstöchterlein geträumt, das Maria hieß und ein weißes Hemdchen trug.

Die Himmelsgebilde waren an diesen Tagen gar zu lieblich und dazu hauchte eine labende Kühle von der fernen Felsenkette her. Die Leute aber waren mißmutig, man hörte kein Singen und Jauchzen, das sonst den Wald [369] so lebendig macht. Es war eine große Trägheit im Walde.

Endlich, eines Morgens – sonst tiefblauer Himmel – klebte an dem Gewände der Rax ein Nebelchen. Die Leute jubelten; ich betrachtete gedankenlos die Flocke an der Felswand, die fast den ganzen Vormittag in derselben Stellung blieb. Es zog ein beinahe frostiger Alpenhauch, zur Mittagsstunde aber wurde es empfindlich schwül.

Am Gesichtskreise stiegen wieder die vielgestaltigen Wolkenhaufen auf. Die Sonne verzog sich für kurze Zeit; an der Mitternachtsseite gingen mattgraue Streifen nieder und man hörte mehrmals ein fernes Donnern. Das Gewitter verging, ohne daß auf unsere Gegend ein Regentröpfchen fiel. Das Wölkchen an der Rax war verschwunden. Doch es war jetzt die Sonne nicht.

Das Waldland lag im Schatten, kein Vogel war zu hören, nur vernahm man zuweilen den Pfiff eines Geiers. Ich wäre noch gern auf der Hochöde geblieben und hätte die so ruhsamen Dinge betrachtet, aber meine Herde graste talab und gegen unser Haus, ehe es noch Abend wurde.

Als ich zum Hause kam, stand die Mutter am Gartenrain und betete aus einem Buche halblaut das Evangelium des heiligen Johannes und machte mit dem hölzernen Kruzifix unseres Hausaltares Kreuze nach allen Himmelsrichtungen.

Es war noch die Sonne nicht untergegangen, aber es war schon ganz dunkel. Das Bächlein unten in der Schlucht war so klein, daß es nur sickerte, und doch war ein seltsames Brausen wie von einem mächtigen Wasserfalle. [370] Der Hof lag wie träumend da, die Tannen daneben regten sich nicht. Ein großer glitzernder Habicht schwamm von der Hochöde hernieder und über den Hof hin. Im Gewölke hallte ein halbersticktes Donnern, das sich mit Mühe weiterzudrängen schien und plötzlich abzuckte.

An der Mitternachtsseite des Hauses wurden die Fensterbalken geschlossen; einzelne Schwalben flatterten verwirrt unter dem Dache umher. Der Brunnen vor dem Hause spritzte zuweilen unregelmäßig über den Trog hinaus und doch merkte man sonst kein Lüftchen. Mein Vater ging vor der Haustüre auf und ab und hielt die Hände über den Rücken.

Plötzlich begann es in den Tannen zu rauschen und mehrere bereits vergilbte Ahornblätter hüpften vom Walde heran. Regentropfen schlugen nieder und spritzten von der Erde wieder auf. Jetzt war es wie ein schwaches Aufleuchten durch die Abenddämmerung, dann tanzten wieder lose Blätter über den Anger. In den Wolken rauschte es wie das Rollen wuchtiger Sandballen.

Nun brach es los. Die Bäume wurden lebendig und es krachten die Strünke. Vom Dache der Scheune rissen sich ganze Fetzen los und tanzten in den Lüften.

In demselben Augenblicke sauste das erste Schloßenkorn nieder; hoch sprang es wieder auf und kollerte hüpfend über den Boden hin. Das Schloßenkorn war so groß wie ein Hühnerei.

Die Leute sahen es und mit einem leisen: »Jesus Maria!« eilten sie ins Haus. Ich blieb so lange im Freien, bis mir ein Eisklumpen auf die Zehen fiel, dann huschte ich unter das Dach.

Nun war eine Weile lang nichts als ein fürchterliches [371] Geknatter. Die Leute beteten den Wettersegen, aber man verstand kein einziges Wort.

Zuletzt klirrten die Fenster der Morgenseite, auf den Dächern knatterte es und zackige Schloßen kollerten in die Stube und der Wind wogte herein und blies die Wetterkerze aus und sachte das Herdfeuer an zu einem wilden Sprühen und wir glaubten schon, es käme uns das Feuer zum Rauchfang hinaus. Erst als ein Donnerschlag krachte und ein zweiter, legte sich das wüste Getöse und es zog nur noch ein eiskalter Luftzug durch die Fenster und es rieselte der Regen. Endlich legte sich auch dieser. Es war Nacht geworden; draußen lag eine Winterlandschaft.

Wir nahmen kein Nachtmahl, wir gingen nicht zur Ruhe. Ich legte Strohschuhe an und ging mit meinem Vater hinaus auf das hohe knisternde Eis. Wortlos schritten wir um das Gehöfte. An den Gebäuden lagen Hansen von Schloßen und Dachsplittern, unter den Tannen waren hohe Schichten von Reisig und die schönen Stämme hatten nur kahles oder zerzaustes Geäste. Auf dem Kornfeld und auf dem Kohlgarten lag die gleichmäßige Eisschicht; kein einzig Hälmlein. kein einzig Häuptchen ragte hervor.

Mein Vater stand still, hielt die Hände über das Gesicht und seine Atemstöße zitterten.

Von der Mittagsseite war noch das ferne Murren des Gewitters zu hören. über dem Wechsel ging zwischen zerrissenen Wolken der Mond auf und aus dem dunkeln Grunde der Wälder erhoben sich weiße Nebelgebilde. Am Himmel standen zarte Flocken mit silberigen Rändern.

[372][373][3]

Zweiter Band: Der Guckinsleben

Als ich Christtagsfreude holen ging
Als ich Christtagsfreude holen ging.

In meinem zwölften Lebensjahre wird es gewesen sein, als am Frühmorgen des Christabends mein Vater mich an der Schulter rüttelte: ich solle aufwachen und zur Besinnung kommen, er habe mir was zu sagen. Die Augen waren bald offen, aber die Besinnung! Als ich unter Mithilfe der Mutter angezogen war und bei der Frühsuppe saß, verlor sich die Schlaftrunkenheit allmählich, und nun sprach mein Vater: »Peter, jetzt höre, was ich dir sage. Da nimm einen leeren Sack, denn du wirst was heimtragen. Da nimm meinen Stecken, denn es ist viel Schnee, und da nimm eine Laterne, denn der Pfad ist schlecht und die Stege sind vereist. Du mußt hinabgehen nach Langenwang. Den Holzhändler Spreitzegger zu Langenwang, den kennst du, der ist mir noch immer das Geld schuldig, zwei Gulden und sechsunddreißig Kreuzer für den Lärchbaum. Ich laß ihn bitten drum; schön höflich anklopfen und den Hut abnehmen, wenn du in sein Zimmer trittst. Mit dem Geld gehest nachher zum Kaufmann Doppelreiter und kaufest zwei Maßel Semmelmehl und zwei Pfund Rindschmalz, und um zwei Groschen Salz, und das tragst heim.«

Jetzt war aber auch meine Mutter zugegen, ebenfalls schon angekleidet, während meine sechs jüngeren Geschwister noch ringsum an der Wand in ihren Bettchen schliefen.

[5] Die Mutter, die redete drein wie folgt: »Mit Mehl und Schmalz und Salz allein kann ich kein Christtagsessen richten. Ich brauch dazu noch Germ (Bierhefe) um einen Groschen, Weinbeerln um fünf Kreuzer, Zucker um fünf Groschen, Safran um zwei Groschen und Neugewürz um zwei Kreuzer. Etliche Semmeln werden auch müssen sein.«

»So kaufest es,« setzte der Vater ruhig bei. »Und wenn dir das Geld zu wenig wird, so bittest den Herrn Doppelreiter, er möcht' die Sachen derweil borgen und zu Ostern, wenn die Kohlenraitung ist, wollt' ich schon fleißig zahlen. Eine Semmel kannst unterwegs selber essen, weil du vor Abend nicht heimkommst. Und jetzt kannst gehen, es wird schon fünf Uhr, und daß du noch die Achte-Messe erlangst zu Langenwang.«

Das war alles gut und recht. Den Sack band mein Vater mir um die Mitte, den Stecken nahm ich in die rechte Hand, die Laterne mit der frischen Unschlittkerze in die linke, und so ging ich davon, wie ich zu jener Zeit in Wintertagen oft davongegangen war. Der durch wenige Fußgeher ausgetretene Pfad war holperig im tiefen Schnee, und es ist nicht immer leicht, nach den Fußstapfen unserer Vorderen zu wandeln, wenn diese zu lange Beine gehabt haben. Noch nicht dreihundert Schritte war ich gegangen, so lag ich im Schnee, und die Laterne, hingeschleudert, war ausgelöscht. Ich suchte mich langsam zusammen und dann schaute ich die wunderschöne Nacht an. Anfangs war sie ganz grausam finster, allmählich hub der Schnee an, weiß zu werden und die Bäume schwarz und in der Höhe war helles Sternengefunkel. In den Schnee fallen kann man auch ohne Laterne, so stellte ich sie seithin unter einen Strauch und ohne Licht ging's nun besser, als vorhin.

In die Talschlucht kam ich hinab, das Wasser des[6] Fresenbachs war eingedeckt mit glattem Eise, auf welchem, als ich über den Steg ging, die Sterne des Himmels gleichsam Schlittschuh liefen. Später war ein Berg zu übersteigen; auf dem Passe, genannt der »Höllkogel«, stieß ich zur wegsamen Bezirksstraße, die durch Wald und Wald hinabführt in das Mürztal. In diesem lag ein weites Meer von Nebel, in welches ich sachte hineinkam, und die feuchte Luft fing an, einen Geruch zu haben, sie roch nach Steinkohlen; und die Luft sing an, fernen Lärm an mein Ohr zu tragen, denn im Tale hämmerten die Eisenwerke, rollte manchmal ein Eisenbahnzug über dröhnende Brücken.

Nach langer Wanderung ins Tal gekommen zur Landstraße, klingelte Schlittengeschelle, der Nebel ward grau und lichter, so daß ich die Fuhrwerke und Wandersleute, die für die Feiertage nach ihren Heimstätten reisten, schon auf kleine Strecken weit sehen konnte. Nachdem ich eine Stunde lang im Tale fortgegangen war, tauchte links an der Straße im Nebel ein dunkler Fleck auf, rechts auch einer, links mehrere, rechts eine ganze Reihe – das Dorf Langenwang.

Alles, was Zeit hatte, ging der Kirche zu, denn der Heilige Abend ist voller Vorahnung und Gottesweihe. Bevor noch die Messe anfing, schritt der hagere gebückte Schulmeister durch die Kirche, musterte die Andächtigen, als ob er jemanden suche. Endlich trat er an mich und fragte leise, ob ich ihm nicht die Orgel melken wolle, es sei der Meßnerbub krank. Voll Stolz und Freude, also zum Dienste des Herrn gewürdigt zu sein, ging ich mit ihm auf den Chor, um bei der heiligen Messe den Blasebalg der Orgel zu ziehen. Während ich die zwei langen Lederriemen abwechselnd aus dem Kasten zog, in welchen jeder derselben allemal wieder langsam hineinkroch, orgelte der Schulmeister, und seine Tochter sang also:


[7]

»Tauet, Himmel, den Gerechten.

Wolken, regnet ihn herab!

Also rief in bangen Nächten

Einst die Welt, ein weites Grab.

In von Gott verhaßten Gründen

Herrschten Satan, Tod und Sünden,

Fest verschlossen war das Tor

Zu dem Himmelreich empor.«


Ferner erinnere ich mich, an jenem Morgen nach dem Gottesdienste in der dämmerigen Kirche vor ein Heiligenbild hingekniet zu sein und gebetet zu haben um Glück und Segen zur Erfüllung meiner bevorstehenden Aufgabe. Das Bild stellte die vierzehn Nothelfer dar – einer wird doch dabei sein, der zur Eintreibung von Schulden behilflich ist. Es schien mir aber, als schiebe während meines Gebetes auf dem Bilde einer sich sachte hinter den andern zurück.

Trotzdem ging ich guten Mutes hinaus in den nebeligen Tag, wo alles emsig war in der Vorbereitung zum Feste, und ging dem Hause des Holzhändlers Spreitzegger zu. Als ich daran war, zur vorderen Tür hineinzugehen, wollte der alte Spreitzegger, soviel ich mir später reimte, durch die hintere Tür entwischen. Es wäre ihm gelungen, wenn mir nicht im Augenblicke geschwant hätte: Peter, geh' nicht zur vorderen Tür ins Haus wie ein Herr, sei demütig, geh' zur hinteren Tür hinein, wie es dem Waldbauernbuben geziemt. Und knapp an der hinteren Türe trafen wir uns.

»Ah, Bübel, du willst dich wärmen gehen,« sagte er mit geschmeidiger Stimme, und deutete ins Haus, »na geh' dich nur wärmen. Ist kalt heut'!« Und wollte davon.

»Mir ist nicht kalt,« antwortete ich, »aber mein Vater laßt den Spreitzegger schön grüßen und bitten ums Geld.«

»Ums Geld? Wieso?« fragte er, »ja richtig, du bist[8] der Waldbauernbub. Bist früh aufgestanden, heut', wenn du schon den weiten Weg kommst. Rast nur ab. Und ich laß deinen Vater auch schön grüßen und glückliche Feiertage wünschen; ich komm' ohnehin ehzeit einmal zu euch hinauf, nachher wollen wir schon gleich werden.«

Fast verschlug's mir die Rede, stand doch unser ganzes Weihnachtsmahl in Gefahr vor solchem Bescheid.

»Bitt wohl von Herzen schön ums Geld, muß Mehl kaufen und Schmalz und Salz und ich darf nicht heimkommen mit leerem Sack.«

Er schaute mich starr an. »Du kannst es!« brummte er, zerrte mit zäher Gebärde seine große, rote Brieftasche hervor, zupfte in den Papieren, die wahrscheinlich nicht pure Banknoten waren, zog einen Gulden heraus und sagte: »Na, so nimm derweil das, in vierzehn Tagen wird dein Vater den Rest schon kriegen. Heut' hab' ich nicht mehr.«

Den Gulden schob er mir in die Hand, ging davon und ließ mich stehen.

Ich blieb aber nicht stehen, sondern ging zum Kaufmann Doppelreiter. Dort begehrte ich ruhig und gemessen, als ob nichts wäre, zwei Maßel Semmelmehl, zwei Pfund Rindschmalz, um zwei Groschen Salz, um einen Groschen Germ, um fünf Kreuzer Weinbeerln, um fünf Groschen Zucker, um zwei Groschen Safran und um zwei Kreuzer Neugewürz. Der Herr Doppelreiter bediente mich selbst und machte mir alles hübsch zurecht in Päckchen und Tütchen, die er dann mit Spagat zusammen in ein einziges Paket band und an den Mehlsack so hing, daß ich das Ding über der Achsel tragen konnte, vorne ein Bündel und hinten ein Bündel.

Als das geschehen war, fragte ich mit einer nicht minder tückischen Ruhe als vorhin, was das alles zusammen ausmache? [9] »Das macht drei Gulden fünfzehn Kreuzer,« antwortete er mit Kreide und Mund.

»Ja, ist schon recht,« hierauf ich, »da ist derweil ein Gulden, und das andere wird mein Vater, der Waldbauer in Alpel, zu Ostern zahlen.«

Schaute mich der bedauernswerte Mann an und fragte höchst ungleich: »Zu Ostern? In welchem Jahr?«

»Na nächst' Ostern, wenn die Kohlenraitung ist.«

Nun mischte sich die Frau Doppelreiterin, die andere Kunden bediente, drein und sagte: »Laß ihm's nur, Mann, der Waldbauer hat schon öfter auf Borg genommen und nachher allemal ordentlich bezahlt. Laß ihm's nur.«

»Ich laß ihm's ja, werd' ihm's nicht wieder wegnehmen,« antwortete der Doppelreiter. Das war doch ein bequemer Kaufmann! Jetzt fielen mir auch die Semmeln ein, welche meine Mutter noch bestellt hatte.

»Kann man da nicht auch fünf Semmeln haben?« fragte ich.

»Semmeln kriegt man beim Bäcker,« sagte der Kaufmann.

Das wußte ich nun gleichwohl, nur hatte ich mein Lebtag nichts davon gehört, daß man ein paar Semmeln auf Borg nimmt, daher vertraute ich der Kaufmännin, die sofort als Gönnerin zu betrachten war, meine vollständige Zahlungsunfähigkeit an. Sie gab mir zwei bare Groschen für Semmeln und als sie nun noch beobachtete, wie meine Augen mit den reiffeuchten Wimpern fast unablösbar an den gedörrten Zwetschgen hingen, die sie einer alten Frau in den Korb tat, reichte sie mir auch noch eine Handvoll dieser köstlichen Sache zu: »Unterwegs zum Naschen.«

Nicht lange hernach, und ich trabte mit meinen Gütern reich und schwer bepackt durch die breite Dorfgasse dahin.

[10] Überall in den Häusern wurde gemetzgert, gebacken, gebraten, gekellert; ich beneidete die Leute nicht; ich bedauerte sie vielmehr, daß sie nicht ich waren, der mit so großem Segen beladen gen Alpel zog. Das wird morgen ein Christtag werden! Denn die Mutter kann's, wenn sie die Sachen hat. Ein Schwein ist ja auch geschlachtet worden daheim, das gibt Fleischbrühe mit Semmelbrocken, Speckfleck, Würste, Nierenlümperln, Knödelfleisch mit Kren, dann erst die Krapfen, die Zuckernudeln, das Schmalzkoch mit Weinbeerln und Safran! – Die Herrenleut' da in Langenwang haben so was alle Tag, das ist nichts, aber wir haben es im Jahr einmal und kommen mit unverdorbenem Magen dazu, das ist was! – Und doch dachte ich auf diesem belasteten Freudenmarsch weniger noch aus Essen, als an das liebe Christkind und sein hochheiliges Fest. Am Abende, wenn ich nach Hause komme, werde ich aus der Bibel davon vorlesen, die Mutter und die Magd Mirzel werden Weihnachtslieder singen; dann, wenn es zehn Uhr wird, werden wir uns ausmachen nach Sankt Kathrein, und in der Kirche die feierliche Christmette begehen bei Glocken, Musik und unzähligen Lichtern. Und am Seitenaltar ist das Krippel ausgerichtet mit Ochs und Esel und den Hirten, und auf dem Berg die Stadt Bethlehem und darüber die Engel, singend: Ehre sei Gott in der Höhe! Und beim Heimgehen werde ich mich nicht wieder verirren, wie dazumal, als mich die Mooswaberl hat müssen heimbringen. – Solche Gedanken trugen mich anfangs wie Flügeln. Doch als ich eine Weile die schlittenglatte Landstraße dahingegangen war, unter den Füßen knirschenden Schnee, mußte ich mein Doppelbündel schon einmal wechseln von einer Achsel auf die andere.

In der Nähe des Wirtshauses »Zum Sprengzaun« fuhr mir etwas Vierspänniges vor. Ein leichtes Schlittlein [11] mit vier feurigen, hochaufgefederten Rappen bespannt, auf dem Bock ein Kutscher mit glänzenden Knöpfen und einem Buttenhut. Der Kaiser? Nein, der Herr Wachtler vom Schlosse Hohenwang saß im Schlitten, über und über in Pelze gehüllt und eine Zigarre schmauchend. Ich blieb stehen, schaute dem blitzschnell vorüberrutschenden Zeug eine Weile nach und dachte: Etwas krumm ist es doch eingerichtet auf dieser Welt. Da sitzt ein starker Mann drin und läßt sich hinziehen mit soviel überschüssiger Kraft, und ich vermag mein Bündel kaum zu schleppen.

Mittlerweile war es Mittagszeit geworden. Durch den Nebel war die milchweiße Scheibe der Sonne zu sehen; sie war nicht hoch an dem Himmel hinaufgestiegen, denn um vier Uhr wollte sie ja wieder unten sein, zur langen Christnacht. Ich fühlte in den Beinen manchmal so ein heißes Prickeln, das bis in die Brust heraufstieg, es zitterten mir die Glieder. Nicht weit von der Stelle, wo der Weg nach Alpel abzweigt, stand ein Kreuz mit dem lebensgroßen Bilde des Heilands. Es stand wie es heute noch steht, an seinem Fuß Johannes und Magdalena, das ganze mit einem Bretterverschlag verwahrt, so daß es wie eine Kapelle war. Vor dem Kreuze auf die Bank, die für kniende Beter bestimmt ist, setzte ich mich nieder, um Mittag zu halten. Eine Semmel, die gehörte mir, meine Neigung zu ihr war so groß, daß ich sie am liebsten in wenigen Bissen verschluckt hätte. Allein das schnelle Schlucken ist nicht gesund, das wußte ich von anderen Leuten, und das langsame Essen macht einen längeren Genuß, das wußte ich schon von mir selber. Also beschloß ich, die Semmel recht gemächlich und bedächtig zu genießen und dazwischen manchmal eine gedörrte Zwetschge zu naschen.

Es war eine sehr köstliche Mahlzeit. Wenn ich heute [12] etwas recht Gutes haben will, was kostet das für außerordentliche Anstrengungen aller Art! Ach, wenn man nie einen Mangel zu leiden hat, wie wird man da arm!

Und wie war ich so reich damals, als ich arm war!

Als ich nach der Mahlzeit mein Doppelbündel wieder auflud, war's ein Spaß mit ihm, flink ging es voran. Nur nicht allzulange. Als ich später in die Bergwälder hinaufkam, und der graue Nebel dicht in den schneebeschwerten Bäumen hing, dachte ich an den Grabler Hansel. Das war ein Kohlenführer, der täglich von Alpel seine Fuhr ins Mürztal lieferte. Wenn er auch heute gefahren wäre! Und wenn er jetzt heimwärts mit dem leeren Schlitten des Weges käme und mir das Bündel auflüde! Und am Ende gar mich selber! Daß es so heiß sein kann im Winter! Mitten in Schnee und Eisschollen schwitzen! Doch morgen wird alle Mühsal vergessen sein. – Derlei Gedanken und Vorstellungen verkürzten mir unterwegs die Zeit.

Auf einmal roch ich starken Tabakrauch. Knapp hinter mir ging – ganz leise auftretend – der grüne Kilian. Der Kilian war früher einige Zeitlang Forstgehilfe in den gewerkschaftlichen Waldungen gewesen, jetzt war er's nicht mehr, wohnte mit seiner Familie in einer Hütte drüben in der Fischbacher Gegend, man wußte nicht recht, was er trieb. Nun ging er nach Hause. Er hatte einen Korb auf dem Rücken, an dem er nicht schwer zu tragen schien, sein Gewand war noch ein jägermäßiges, aber hübsch abgetragen, und sein schwarzer Vollbart ließ nicht viel sehen von seinem etwas fahlen Gesichte. Als ich ihn bemerkt hatte, nahm er die Pfeife aus dem Mund, lachte laut und sagte: »Wo schiebst denn hin, Bub?«

»Heim zu,« meine Antwort.

»Was schleppest denn?«

[13] »Sachen für den Christtag.«

»Gute Sachen? Der Tausend sapperment! Wem gehörst denn zu?«

»Dem Waldbauer.«

»Zum Waldbauer willst gar hinauf! Da mußt gut antauchen.«

»Tu's schon,« sagte ich und tauchte an.

»Nach einem solchen Marsch wirst gut schlafen bei der Nacht,« sprach der Kilian, mit mir gleichen Schritt haltend.

»Heut' wird nicht geschlafen bei der Nacht, heut' ist Christnacht.«

»Was willst denn sonst tun, als schlafen bei der Nacht?«

»Nach Kathrein in die Mette gehen.«

»Nach Kathrein?« fragte er, »den weiten Weg?«

»Um zehn Uhr abends gehen wir von Haus fort und um drei Uhr früh sind wir wieder daheim.«

Der Kilian biß in sein Pfeifenrohr und sagte: »Na hörst du, da gehört viel Christentum dazu. Beim Tag ins Mürztal und bei der Nacht in die Mette nach Kathrein! Soviel Christentum hab' ich nicht, aber das sage ich dir doch: wenn du dein Bündel in meinen Buckelkorb tun willst, daß ich es dir eine Zeitlang trag' und du dich ausrasten kannst, so hast ganz recht, warum soll der alte Esel nicht auch einmal tragen!«

Damit war ich einverstanden, und während mein Bündel in seinen Korb sank, dachte ich: Der grüne Kilian ist halt doch ein besserer Mensch, als man sagt.

Dann rückten wir wieder an, ich huschte frei und leicht neben ihm her.

»Ja, ja, die Weihnachten!« sagte der Kilian pfauchend, »da geht's halt drunter und drüber. Da reden sich die Leut' in eine Aufregung und Frömmigkeit hinein, die gar nicht [14] wahr ist. Im Grund ist der Christtag wie jeder andere Tag, nicht einen Knopf anders. Der Reiche, ja, der hat jeden Tag Christtag, unsereiner hat jeden Tag Karfreitag.«

»Der Karfreitag ist auch schön,« war meine Meinung.

»Ja, wer genug Fische und Butter und Eier und Kuchen und Krapfen hat zum Fasten!« lachte der Kilian.

Mir kam sein Reden etwas heldentümlich vor. Doch was er noch weiters sagte, das verstand ich nicht mehr, denn er hatte angefangen, sehr heftig zu gehen und ich konnte nicht recht nachkommen. Ich rutschte auf dem glitschigen Schnee mit jedem Schritt ein Stückchen zurück, der Kilian hatte Fußeisen angeschnallt, hatte lange Beine, war nicht abgemattet – da ging's freilich voran.

»Herr Kilian!« rief ich.

Er hörte es nicht. Der Abstand zwischen uns wurde immer größer, bei Wegbiegungen entschwand er mir manchmal ganz aus den Augen, um nachher wieder in größerer Entfernung, halb schon von Nebeldämmerung verhüllt, aufzutauchen. Jetzt wurde mir bang um mein Bündel. Kamen wir ja doch schon dem Höllkogel nahe. Das ist jene Stelle, wo der Weg nach Alpel und der Weg nach Fischbach sich gabeln. Ich hub an zu laufen; im Angesichte der Gefahr war alle Müdigkeit dahin; ich lief wie ein Hündlein und kam ihm näher. Was wollte ich aber anfangen, wenn ich ihn eingeholt hätte, wenn ihm der Wille fehlte, die Sachen herzugeben, und mir die Kraft, sie zu nehmen? Das kann ein schönes Ende werden mit diesem Tage, denn die Sachen lasse ich nicht im Stich, und sollte ich ihm nachlaufen müssen bis hinter den Fischbacher Wald zu seiner Hütte!

Als wir denn beide so merkwürdig schnell vorwärts kamen, holten wir ein Schlittengespann ein, das vor uns mit zwei grauen Ochsen und einem schwarzen Kohlenführer [15] langsam des Weges schliff. Der Grabler Hansel. Mein grüner Kilian wollte schon an dem Gespann vorüberhuschen, da schrie ich von hinten her aus Leibeskräften: »Hansel! Hansel! Sei so gut, leg' mir meine Christtagsachen auf den Schlitten, der Kilian hat sie im Korb und er soll sie dir geben!«

Mein Geschrei muß wohl sehr angstvoll gewesen sein, denn der Hansel sprang sofort von seinem Schlitten und nahm eine tatbereite Haltung an. Und wie der Kilian merkte, ich hätte hier einen Bundesgenossen, riß er sich den Korb vom Rücken und schleuderte das Bündel auf den Schlitten. Noch knirschte er etwas von »dummen Bären« und »Undankbarkeit«, dann war er auch schon davon.

Der Hansel rückte das Bündel zurecht und fragte, ob man sich draufsetzen dürfe. Das bat ich nicht zu tun.

So tat er's auch nicht, wir setzten uns hübsch nebeneinander auf den Schlitten und ich hielt auf dem Schoß sorgfältig mit beiden Händen die Sachen für den Christtag. So kamen wir endlich nach Alpel. Als wir zur ersten Fresenbrücke gekommen waren, sagte der Hansel zu den Ochsen: »Oha!« und zu mir: »So!« Die Ochsen verstanden und blieben stehen, ich verstand nicht und blieb sitzen. Aber nicht mehr lange, es war ja zum Aussteigen, denn der Hansel mußte links in den Graben hinein und ich rechts den Berg hinauf.

»Dank' dir's Gott, Hansel!«

»Ist schon gut, Peterl.«

Zur Zeit, da ich mit meiner Last den steilen Berg hinanstieg gegen mein Vaterhaus, begann es zu dämmern und zu schneien. Und zuletzt war ich doch daheim.

»Hast alles?« fragte die Mutter am Kochherd mir entgegen.

»Alles!«

[16] »Brav bist. Und hungrig wirst sein.«

Beides ließ ich gelten. Sogleich zog die Mutter mir die klinghart gefrorenen Schuhe von den Füßen, denn ich wollte, daß sie frisch eingefettet würden für den nächtlichen Mettengang. Dann setzte ich mich in der warmen Stube zum Essen.

Aber siehe, während des Essens geht es zu Ende mit meiner Erinnerung. – Als ich wieder zu mir kam, lag ich wohlausgeschlafen in meinem warmen Bette, und zum kleinen Fenster herein schien die Morgensonne des Christtages.

Der unrechte Spielkartentisch
[17] Der unrechte Spielkartentisch.

Wenn der siegreiche Heiland in Brotesgestalt durch das Dorf zieht, da winken sie ihm mit Palmen zu. Die Palme der Alpen ist die Birke. So wie zu Weihnachten die Tannenbäumchen ihr Leben lassen müssen, so zu Fronleichnam die Birken. Zu Hunderten werden sie auf großen Karren hereingeschleppt in das Dorf und werden an den Gassen, durch welche die Prozession ziehen wird, der Reihe nach in den Boden gebohrt zu beiden Seiten. Und wie sie so auf dem frischen Erdboden stehen und der laue Wind in ihren leichten Zweigen rieselt, da ist's, als führten sie das junge fröhliche Leben wie jene Stammesgenossinnen dort drüben am Raine. Und man merkt es nicht, daß der Stamm in der Erde wurzellos ist, abgehauen durch das Beil, daß die Säfte in ihren Adern nicht mehr treiben, daß in wenigen Tagen die schönen gezackten Herzblättlein gilben werden; und die Raupe auf einem schwanken Ästlein, die ein künftiges Schmetterlingsleben träumt, sie ahnt nicht, daß sie auf einem Leichnam sich schaukelt.

Das Leben ist erfüllt, es kommt der Herr.

Bei der Fronleichnamsprozession werden im Freien an vier verschiedenen Stellen die Evangelien gelesen. Dazu errichten die Leute vier Altäre, damit »der Herrgott abrasten kann auf seiner Wanderschaft«. Auf wessen Grund der Altar zu stehen kommt, und das ist seit alten Zeiten bestimmt, der hat diesen Altar zu errichten. Die sein geschnitzten [18] und bemalten Bestandteile dazu sind das Jahr über auf dunkelm Dachboden gelegen, nun werden sie hervorgeholt, von Staub und Spinnweben gereinigt und im Freien zusammengestellt oft zu einem stattlichen, kapellenartigen Aufbau mit dem Altartische, dem Tabernakel, den anbetenden Engeln und den Kerzenleuchtern. Knechte, die gestern noch Dung gegraben, zeigen sich heute als geschickte Architekten, errichten den Altar noch vor Sonnenaufgang und umgeben ihn mit einem Birken- oder Lärchenwäldchen. Der Hausvater stellt alle Heiligenbilder, die im Hause vorhanden, auf den Altar oder heftet sie an, hoch oben an den Säulen. Die Bäuerin bringt bunte Töpfe mit glutroten Pfingstrosen, um damit den Altar zu schmücken, und die Dirnlein streuen Blumen und Rosenblätter als einen Teppich vor die Stufen.

Die Glocken heben an zu läuten, die Pöller krachen, über die Dächer her klingt Musik, in allen Fenstern brennen Lichter, und so zündet nun auch der Bauer die Kerzen an auf seinem Altare. Bald wehen die ersten Fahnen heran, summen die Gebete der Männer, schallen die Gesänge der Weiber, es kommen die langen Reihen der Kinder, die weißgekleideten Mädchen, über ihren Häuptern bunte Bildnisse tragend. Endlich die Musikkapelle mit hellen Trompeten und dröhnenden Trommeln, und dann der »Himmel«. Der rote, von vier Männern getragene Baldachin, unter demselben von Ministranten und lichtertragenden Knaben umgeben, der Priester, der hoch vor seinem Angesichte her die funkelnde Monstranze trägt.

Die Monstranze, das wissen wir alle, ist das Haus für die Hostie. Diese ist von einem goldenen Strahlenkranze umgeben, ruht auf einem mondkipfelförmigen Behälter und ist durch Kristall geschützt. Das wichtigste Zubehör [19] zu solchem Umzug ist der Glaube, und der ist in Fülle vorhanden. Sie beten ja nicht das Brot an, sondern das versinnbildlichte Geheimnis, in dessen Schoße unsere ewigen Geschicke ruhen. Es ist ja eigentlich unrichtig, wenn man von Bilderanbetung spricht, oder vom Götzendienste der Heiden, sie alle meinen dasselbe, das versinnlichte göttliche Geheimnis, das sich jeder in seiner Weise vorstellt, jeder nach seiner Natur fühlt. Und die Kraft, das unfaßbare, unendliche Geheimnis in eine den Sinnen faßbare Form zu übertragen und so zu ihm in ein trauteres Verhältnis zu bringen, diese Kraft gibt der Glaube.

Die Menschenreihen kommen zum Altare im Freien, die vorderen müssen weit voran, bis der Priester an die Stelle gelangt. Ist er da, so stellt er das Sakrament in den Tabernakel und liest Verse aus einem der vier Evangelien. Dann hebt er unter dem Dröhnen der Pöller die Monstranze, wendet sich mit ihr nach allen vier Himmelsgegenden hin und segnet die Auen, die Fluren, die Lüfte, auf daß der Sommer fruchtbar sei und kein Ungewitter den Fleiß des Landmannes vernichte. – Und die Prozession zieht weiter.

So ist es in größeren Dörfern. In kleinen Gebirgsortschaften wird das Fest einfacher abgehalten, doch nicht minder feierlich. Weil dort alle Gassen und Straßen bestanden sind von lebenden Bäumen und Sträuchern, so braucht keine Birke aufgesteckt zu werden, außer an Kreuzsäulen, wo sie dann gleichsam wie zur heiligen Wacht stehen, eine zur Rechten und eine zur Linken. Weil die Leute kleiner Ortschaften nicht vier Altäre haben, um sie aufzustellen, so ist ein tragbares Altärlein vorhanden, ein vierfüßiges Tischchen mit weißem Decktuche und der Tabernakelnische, in welche auf blauem Grunde Engel gemalt sind, die [20] vor dem »Süßen Namen« knien. Darüber ein Dächlein mit Goldquasten. An der Rückseite sind die Tragbänder angebracht, mittelst welcher ein Bursche das Altärlein auf den Rücken nimmt und während der Prozession von einer Evangeliumsstelle bis zur anderen trägt.

So ein Altartischlein haben sie auch zu Kathrein am Hauenstein. Wer es sehen will, zur Sommerszeit steht es dort in der Kirche vor dem großen Bilde der vierzehn Nothelfer. Schon in meiner Jugendzeit stand es daselbst, und der Kaunigl, der mit der Hasenscharte, hatte die Obliegenheit, am Fronleichnamstage das Tischlein hinauszutragen und von einem Evangeliumsplatz zum anderen. War das eine Evangelium zu Ende und die Prozession zog auf ihrem Wege weiter, alsogleich faßte er das Altärlein bei den Tragbändern auf den Rücken, die Kerzenleuchter und den Knieschemel in die Hände und hastig über den Bühel hin durch den abkürzenden Waldsteig, um den Vorsprung zu gewinnen und am nächsten Platze den Altar aufzustellen. An den Füßen des Tischchens wurden etwa ein paar Steinchen untergelegt, daß nichts wackeln konnte, der Schemel zurechtgestellt und die Kerzen angezündet, dann war die erste Fahne aber auch schon in Sicht.

Und da ist's einmal geschehen, daß ich aus solchem Anlaß in eine seelenmordende Geschichte verwickelt worden bin. Ich war damals in den Jahren, da noch niemand weiß, wo es mit einem solchen Lecker hinaus will. Es kann ein halbwegs braver Kerl draus werden, aber auch ein Lumperl, wer weiß es? Nur der liebe Gott, und selbst der läßt dem schlanken blassen Bürschel die Wahl. Ich war an jenem Tage in meinem Waldbauernhause drüben etwas zu spät aufgestanden, oder ich hatte mit den bockigen Bundschuhen meine Plage, bis ich hineinkam, oder es war die [21] Frühsuppe nicht zu rechter Zeit fertig, kurz, als ich der Kathreiner Kirche in die Nähe kam, ging es dort schon über und über los und zwischen den Bäumen her leuchteten die roten Fahnen, funkelten die Lichter. Ich schlich mich hinterwärts hinüber, denn das einfach Richtige zu tun, nämlich geradeswegs auf die Prozession loszugehen und mich unter die Leute zu mischen, dafür hätte ich mich zu Tode geschämt. Da war's ja wieder, wo mir der liebe Gott die Wahl ließ: Geselle dich zu den Andächtigen oder schlüpfe wie ein Strick durch die Büsche hin. – Ich schlüpfte wie ein Strick durch die Büsche hin und da begegnete ich dem Kaunigl mit dem Altarl. Sogleich forderte er mich auf, ihm tragen zu helfen. Das war mir auch recht, so kam mein abseitiger Weg zu einer Rechtfertigung. Ich nahm dem Kaunigl Schemel und Leuchter aus der Hand und wir hafteten zwischen Jungwald hinauf zum Föhrenriegel, der hinter der Kirche steht, und wo das letzte Evangelium abgehalten werden sollte. Wir wirkten getreulich zusammen, und bald stand neben der Felswand das Altärlein fest und bald brannten darauf die Kerzen. Die Prozession erschien noch nicht, sie hatte einen weiteren Weg zwischen die grünenden Felder hin genommen, der Kauniglbub war aber nicht der Mensch, der eine Zeit unnütz verstreichen lassen wollte. Mit einem flinken Griff zog er aus seiner Hosentasche ein Kartenspiel und warf es auf das Altärlein hin, daß die Lichter zwinkerten vor den flatternden Blättern. Schweigend, als wäre es so selbstverständlich, warf er zwischen mir und ihm ein Spiel aus, ein »Brandel«. Es war nicht das erstemal, daß wir zusammen »taten«, so hob ich die Karten auf, und wir machten ein regelrechtes Spiel auf dem Fronleichnamsaltare bei weihevoll brennenden Wachskerzen. Für ein zweites »Bot« war auch noch Zeit; während der Kaunigl ein drittes ausgab, [22] kamen um die Biegung die ersten Männer mit entblößten Häuptern, laut betend heran. Keine Katze kann die behendige Maus hastiger packen, als der Kaunigl jetzt die Karten zusammenscharrte und in den Sack schob. Gar harmlos stellten wir uns auf die Seite und zogen unsere Kappen ab.

Bald kamen die Musikanten heran, der Eggbauer mit dem Flügelhorn, sein Sohn mit der ersten Trompete, der Schneider-Naz (der später mein Meister geworden ist) mit der zweiten, der Erhardbub mit der Klarinette, der Schmiedzenz mit der kleinen Trommel; der Rüsselfranz schleppte auf dem Rücken die große Trommel, auf welche der Hausteiner-Wirt mit Macht und Kunst dreinhieb. Der Jägerferdl handhabte die »Tschinellen«. Hinter dieser heftigen Musik kam der Himmel. Der alte Herr Pfarrer mit dem weißen Haar trug das Allerheiligste hoch vor sich her und hielt das Haupt tief geneigt, erstens aus Ehrfurcht, und zweitens, weil ihm das Alter den Nacken schon stark gebogen hatte. Er schritt dem Altärlein zu, um die Monstranze auf dasselbe hinzustellen. Schon wollte das geschehen, da hielt er plötzlich ein und stand einen Augenblick mit starrer Miene da. Hatte er nicht zwischen der Falte des weißen Decktüchleins den Grünbub gesehen? War nicht dieses verhöllte Kartenblatt dort unversehens liegen geblieben? – Mit solchem Grün den Fronleichnamstisch zu schmücken, das wollte dem Herrn Pfarrer doch nicht ganz schicklich scheinen. Ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Gebärde des Unwillens zu zeigen, wendete er sich gegen den Felsen und stellte die Monstranze auf einen vorspringenden Stein.

Die wenigsten Leute hatten es wahrgenommen, warum dieses geschehen; das Evangelium, der Segen wurden ohne weiteren Zwischenfall abgehalten, ich aber lugte zwischen den Haselstauden her und sah, daß der Pfarrer blaß war. – [23] Wäre er zornig geworden über seine Entdeckung auf dem Altärlein, hätte er gewettert und die Täter bei den Ohren nehmen lassen, ich würde das ganz stilgerecht gefunden haben, aber sein demütiges Schweigen, sein trauriger Blick, und wie er den durch das frevle Kartenspiel heimatlos gewordenen Heiland auf den wilden Felsen hinstellen mußte – das hat mir einen Riß gegeben. Gewußt kann er's nicht haben, wer der Mitschuldige war, aber merken hätte er es leicht können an meinem Armensündergesichte, so sehr dieses sich auch zu bergen suchte hinter den Haselstauden. Nachher, als in der Kirche das Hochamt anhub, zupfte der Kaunigl mich am Rockschößling und lud mich ein, mit ihm auf den Turm zu steigen, wo wir zum Sanktus und zur Wandlung die Glocken läuten und Karten spielen könnten. Den Grünbub hätte er schon wieder. – Das ist nun zwar nicht geschehen, aber verloren bin ich doch geblieben. Ich getraute mich von diesem Tage an nicht mehr zum Beichtstuhle. Der Kaunigl getraute sich, es war jedoch nicht so einfach gewesen, als er es sich vorgestellt, er hat mir's später erzählt. »Ich habe einmal Karten gespielt,« hatte er gebeichtet. »So,« antwortete der Pfarrer, »das Kartenspielen ist ja an und für sich nicht so schlimm, wenn nicht um Geld gespielt wird.« – »Ja, um Geld ist nicht gespielt worden.« – »Wo war es denn?« – »Ja, auf einem Tisch.« – »Auf welchem Tisch?« – »Ja, auf einem hölzernen.« – »War es etwa auf dem Fronleichnamstischlein?« fragte der Pfarrer. »O nein,« sagte der Kaunigl. Dann ist er losgesprochen worden.

»So hast du ja bei der Beichte gelogen!« hielt ich dem Jungen vor.

»Das macht nichts,« antwortete er rasch, »die Lug bringe ich das nächste Mal leicht wieder an, die nimmt mir jeder hinein beim Fensterl. Weil ich nur das Kartenspiel [24] vom Hals hab'. Teuxel noch einmal, das hat mich schon selber gefuchst, da kunnt einen auf die schönste Manier der Ganggerl (Teufel) holen.«

Ich habe aus dieser Erfahrung meine Schlüsse gezogen. Wenn das Kartenspiel an und für sich nicht so schlimm ist, um Geld wurde nicht gespielt, so braucht man die Geschichte ja nicht zu beichten. Es steht auch weder im kleinen noch im großen Katechismus, daß der Mensch auf Altären nicht Karten spielen dürfe. – Diese seine Auslegung half mir aber nichts. Wenn ich an jenen Fronleichnamsfrevel dachte, bei welchem ich so dumm mitgetan, da ward mir manchmal ganz übel. In den Nächten träumte ich davon, und zwar sehr ungemütlich, und Sonntags in in der Kirche sitzend durfte ich gar nicht hinblicken auf jenes Altartischchen, es stand so sonderbar da, als wollte es jeden Augenblick laut zu sprechen anheben und mich verraten. Zum Überflusse las ich um diese Zeit auch noch in einem alten Erbauungsbuche die Geschichte, wo ein frevlerischer Schustergeselle im Wirtshause das Aufwandeln der Hostie nachahmte, und wie ihm dabei die gehobenen Arme erstarrten, so daß er sie nicht mehr zurückbiegen konnte, daß er mit hoch in die Luft gestrecktem Arme herumgehen mußte, bis er durch die Lossprechung eines frommen Paters erlöst worden. Das wäre so was, wenn ich mit gehobenem Arm, das Trumpfaß in der Hand, umhergehen müßte und die Leute täten spotten: Na, stich, Peterl, stich! Und ich steche endlich zu und steche meine arme Seele tot! Das wäre so was!

Ich allein konnte mit mir nicht fertig werden, das war nun klar. Also ging ich eines Tages in der Feierabendstunde nach Sankt Kathrein zum Pfarrer. Der stand gerade vor dem Hause an seinem Brunnentroge, in welchen [25] ein stattlicher Quell sprudelte, und der mit einem rostigen Drahtgitter übersponnen war. Der Pfarrer mochte glauben, daß ich nur so zufällig vorübergehe, er winkte mit seinem schwarzen Strohhut, ich möchte zu ihm kommen. »Was sagst du dazu, Peterl?« rief er mir mit seiner weichen Stimme entgegen, »neun und fünf und sieben, macht das nicht einundzwanzig?«

Ich war nie ein besonderer Kopfrechner, diesmal sagte ich auf gut Glück: »Ja, das wird schon beiläufig so sein, einundzwanzig.«

»Nun also,« sagte er, »und jetzt schau einmal her.« Er deutete in den Brunnentrog, »da hat mir der Bläßlerbub vor vierzehn Tagen neun lebendige Forellen verkauft, die habe ich in den Trog getan. Vor acht Tagen hat er mir wieder fünf Stück verkauft, habe sie auch hineingetan, und heute hat er mir noch einmal sieben Forellen verkauft, die habe ich auch hineingetan, und jetzt wieviel sind drinnen im ganzen? Acht Stück, und nicht um ein Schwanzel mehr! Es sind dieselben, die getupften, die er mir vor vierzehn Tagen gebracht hat, und es kann gar nicht anders sein, der Lump, hätt' ich bald gesagt, hat mir die Fische immer wieder aus dem Trog gestohlen und neuerdings verkauft! Das ist doch ein – ein –« Er ballte die Faust in die Luft. – Der Bläßlerbub wird die Forellen wohl schon gestohlen gehabt haben, bevor er sie das erstemal verkaufte, denn der Bläßler hatte kein Fischrecht. Daran dachte der gute Pfarrer wohl kaum, er hatte sicherlich nur an seine Fasttage gedacht; das Kirchengebot erlaubt an Freitagen und Samstagen die Fische, ob es aber gestohlene sein müssen, davon schweigt es.

Zum Sündenbekennen war diese Gelegenheit nicht günstig. Ich unterließ es also, küßte ihm den Rockärmel, [26] weil zu einem Handkuß die Faust nicht einlud, und ging weiter. Unterwegs erwog ich lange, welche Sünde schwerer sein mochte, des Bläßlerbuben seine, oder meine. Die seinige erschien mir als ein Schelmenstück, die meinige jedoch konnte eine Sünde gegen den heiligen Geist sein, und solche werden nicht nachgelassen.

Einige Tage später trieb der Kogelmirt vom Kreßbachgraben eine graue Ziege mit zwei Zicklein des Weges. Die Alte hatte ein volles Euter, die Jungen hüpften um sie herum und wollten einmal ein wenig trinken. Der Kogelmirt aber zischte: »Gscht, nichts da! Das volle Euter müess'n mer dem Herrn Pfarrer bringen!«

Da war ich schon wieder neugierig, was dahinter wäre, und der Mirt, ein eingewanderter Tiroler war's, hatte auch noch seinen spitzen »Sternstecherhut« auf, und er sagte: »Das ischt halt so, mein du, 's Weib ischt mir gschtorben. Die Geiß, hat sie g'sagt, und die Kitzen, hat sie g'sagt, vermach' iach dem Kathreiner Pfarrer. Fürs Versechengehn und auf etlich' Messen. Das ischt noch ihr Willen g'west und nachher ischt sie g'schtorben. Dessentweg treib' iach jetzter die Viecher zum g'weichten Herrn abi.«

Gut, denke ich bei mir, und in einer Stunde komme ich nach! Heute wird er gut aufgelegt sein, und heute ist die beste Gelegenheit. War insoweit ganz klug angestellt. Ich ging hin, der alte Herr war an demselben Nachmittage gar lustig und lud mich vor, eine Schale Kaffee mit ihm zu trinken, es wäre frische Milch vom Kreßbachgraben dabei. Und mitten im Kaffee war's, daß ich plötzlich sagte: »Halt schon lang' ein Anliegen hab' ich, Herr Pfarrer!«

»Du, ein Anliegen?« lachte er auf, »na, das wäre sauber, wenn nun auch die kleinen Buben schon ihr Anliegen hätten!«

[27] Ich habe hierauf mit dem Löffel in der Schale eifrig den Kaffee gerührt, um dem Herrn nicht ins Gesicht schauen zu müssen, und dabei habe ich die Geschichte vom Kartenspiel auf dem Altarl erzählt.

Über alles Erwarten blieb der Pfarrer ganz ruhig. Dann fragte er: »Hast du es zu Fleiß getan? Hast du die Absicht gehabt, den heiligen Tisch zu verspotten?«

»Gott nein, Herr Pfarrer!« antwortete ich, bis ins Herz hinein erschrocken schon über den bloßen Gedanken.

»Nun also,« sagte der Greis. Dann schwieg er ein Weilchen und trank seinen Kaffee aus. Hernach sprach er Folgendes: »Gehören tut sich so was nicht, das muß ich dir schon sagen. Und dem Kaunigl will ich's auch zu wissen tun, daß man zum Gottesdienst das Gebetbuch mitnimmt und nicht die Spielkarten! Wenn du aber bei dem dummen Streich keine böse Absicht gehabt hast, so soll's diesmal gut sein. Ist so weit brav, daß du mir's gesagt hast. Magst noch ein Tröpfel?«

Als somit jene Fronleichnamsangelegenheit aufs beste geordnet war, hat die zweite Schale Kaffee doppelt gut geschmeckt. Als ich später aufstand um fortzugehen, legte der alte Herr mir die Hand auf die Achsel und sagte gütig: »Mir ist jetzt leichter, weil ich genau weiß, wie es gewesen ist an jenem Fronleichnamstag. Aber ein anderes Mal mußt nicht, Peterl. Schau – unser lieber Herrgott...«

Als wir unschuldiges Blut vergossen haben
[28] Als wir unschuldiges Blut vergossen haben.

Blutvoll, blutvoll waren sie, die Leute des Waldlandes. Aber die Feldzüge nach Italien oder nach Böhmen oder anderswohin liebten sie nicht. Die Kriege machten sie sich selber nach Bedarf in den Samstagnächten auf der Gasse, oder Sonntags im Wirtshaus. Da konnten sie Krieg erklären und Frieden schließen, wann sie wollten. Waren etliche Löcher geschlagen, aus denen das überschüssige Blut entweichen konnte, so wurde der Friede geschlossen und Männer, die sich früher geschlagen und gestochen hatten, gingen nun mit verbundenen Köpfen gemütlich miteinander heim.

Das galt aber nur von den Männern, von den jungen und reckenhaften. Die anderen, die durchaus friedliebenden, die nichts schlagen konnten, als die Bäume, und nichts stechen, als die Schweine – die mußten sich bei Blutüberfülle anders behelfen – sie gingen zum Bader. Der Schröpf und der Aderlaß, das waren dazumal neben Lebensessenz und Rosenbuschbalsam die Universalmittel gegen alle Krankheiten. Die Vollblütigen, auch wenn sie gesund waren, gingen alljährlich zum Aderlaß, um sich zu sichern vor dem Schlagtreffen. Die Blassen und Bleichsüchtigen gingen auch zum Aderlaß, weil man glaubte, daß denen das Blut in den inneren Organen gestockt sei und man es durch einigen Ablauf flüssig machen müsse. Ein rüstiger Jägersmann hatte mir einmal vertraut, es wäre viel leichter brav bleiben, wenn der Mensch öfters zum Aderlaß ginge. Ob man noch heute im Walde solche Blutzeugen der Bravheit [29] finden kann? Die heutigen Waldburschen nehmen eher Eisentropfen zu sich, damit ihnen das Blut nicht zu wenig wird. Wohin sie's vorher verschwenden, das weiß ich nicht.

Der erste Anlaß zum Aderlaß war gewöhnlich eine »hitzige Krankheit« in der Jugend. Und es ging der Glaube, daß, wer einmal angefangen, nicht mehr aufhören dürfe. Versäume er den rechtzeitigen Aderlaß, so komme irgendeine schwere Krankheit über ihn oder gar kurzerhand der Schlagfluß. Waren sie dann gesund oder krank, vollblütig oder blutarm, sie gingen alljährlich zum Aderlaß. Der Bader meinte, schaden täte es nie, Blut wachse nach wie Klee auf der Wiese, daran junger allemal frischer und süßer sei, als alter, abgeblühter. Diese Kleewissenschaft mußte den Bauern einleuchten. Noch lieber als die Männer gingen die Weiber, was mich erst nachträglich besonders wundert. Sie gingen zum Aderlaß als Mädchen wie als Mutter, ja noch als Greisin glaubten sie, daßjunges Blut nachwachsen würde, wenn das alte heraußen wäre.

Wenn die Jahreszeit seit dem letzten Aderlaß um war, dann meldeten sich auch tatsächlich gleich Beschwerden. Kopfschmerz, Gliederschwere, Abgeschlagenheit, Schwindel. Besonders, wenn letzterer sich einstellte, war es höchste Zeit, zum Bader zu laufen, um dem Schlaganfall zuvorzukommen. Bei vielen machte sich das Bedürfnis fühlbar im Frühjahr, wenn die Knospen sprangen.

So war es auch bei meiner Mutter. Um den Mai herum war allemal die Rede vom Bader. Sie säume schon zu lang', es wäre höchste Zeit; des Morgens, wenn sie aufstehe, tanze die ganze Stube um sie herum. – Da ging sie denn endlich in Begleitung einer Magd oder des Vaters den stundenlangen Weg nach Langenwang zum Bader. Begleitung war deshalb nötig, weil auf dem Heimweg manchmal [30] Ohnmachtsanfälle drohten. Und einmal, als wieder der Tag kam, stand es so, daß mir, weil sonst niemand vor handen war, die Aufgabe zufiel, die Mutter zu begleiten. Ich war zur Zeit noch der kleine Bub, und wie es in meiner Erinnerung ist, so will ich's erzählen, es ist wieder so, daß ich auf dem Weg nach Langenwang zu Fuß ausging und zu Wagen heimkam.

Des Morgens im Sonnenschein davon und in die weite Welt hinaus, als die mir damals das Mürztal galt, das war eine große Freude. Daß die Mutter in ihrem Armkörbchen so viele Tücher und Binden mit hatte, fiel mir nicht auf. Erst später, als auf der Landstraße lauter fremde Leute zogen, bettelnde Handwerksburschen, fluchende Fuhrleute, schreiende Zigeuner, wurde mir unheimlich in der Ahnung, daß in dieser schrecklichen Fremde der lieben Mutter, die so still und gütig neben mir herging, heute was geschehen würde.

So kamen wir nach Langenwang zum Bader. Vor seinem Hause stand ein blühender Kirschbaum, unter demselben liefen Kinder herum, schrien und lachten in den Baum hinauf, und oben im flaumigen Geäst kletterte der Bader auf und nieder. Er hatte ein altes bartstoppeliges Gesicht und eine graue gestrickte Wolljacke an und er stellte einem buttergelben Falter nach, der in und um den Baum munter hin- und herflatterte, als wollte er den Alten necken. Wir standen unten, meine Mutter hüstelte, daß der Bader uns gewahren möchte, er lugte auch zwischen den Ästen einmal herab, ohne sich in seiner Schmetterlingsjagd weiter stören zu lassen. Vor dem Hause auf der Bank saß ein borstiger Mensch, der wartete und wartete, und endlich schrie er hinauf: »Na, Bader, werst noch nit bald so gnädig sein und herabsteigen? 's ist not, mein Weib hat das Nervenfieber!«

[31] Antwortete oben der Bader: »So, das Nervenfieber hat s'? Na, wenn du's eh kennst, was gehst denn noch zum Arzt? Jetzt habe ich keine Zeit. Siehst es denn nit, daß die Kinder den Falter haben wollen?« und fächelte mit seinem Hut in die Luft hinaus, um den Gelben zu fangen.

Sagte hierauf der Borstige: »Wenn du selber nit so viel Vertrau hast auf deine Medizin, daß dir das gelbe Vieh wichtiger ist, nachher – behüt dich Gott!« Und ging mit seinen krummen Knien heftig davon.

Mir war dieser borstige Mann sehr zuwider vorgekommen. Wo der Bader eh so ein lieber Mensch ist und den Kindern Falter fängt! Nein, der gute Mann! der tut meiner Mutter nicht weh.

Als dem Schmetterling der Spaß zu langweilig wurde, flog er hoch im Zickzack gegen den blauen Himmel und der Bader stieg schnaufend vom Baum und jagte die Kinder auseinander. Als er das Anliegen der Mutter vernahm, wies er uns hinein in die Stube, dort sollten wir warten. – Ganz verwunderlich bald kam eine Frau in weißer Haube und brachte eine große grünglasierte Schüssel. Ich erschrak ein wenig, ohne recht zu wissen, warum. Meine Mutter packte das Verbandzeug aus, und als der Bader erschien, entblößte sie den Arm. Der Mann betastete und beguckte die großen bläulichen Adern und sagte: »Waldbäuerin, es ist wieder einmal die höchste Zeit. Nit einen Tag mehr kunnt ich dir sicher versprechen, alle Augenblick kann's geschehen sein. Wenn 's Blut ins Hirn steigt, bist fertig.« Jetzt tat er aber selber mit den Vorbereitungen so langweilig um, daß ich die größte Angst bekam, es stiege derweil ins Hirn. Endlich zog er aus dem Sack das Schnappmesser, aber in demselben Augenblick stürzte die weißhaubige Frau zur Tür herein: Vom Stall wären die Ferkeln ausgekommen[32] und liefen im ganzen Dorf umher. Da tat der Bader einen erklecklichen Fluch, schmiß das Schnappmesser auf den Tisch und ging Ferkel fangen.

Das ganze Jahr ist mir nicht so lang vorgekommen, als die Zeit, da wir jetzt warten mußten. Unverwandt blickte ich die Mutter an, die ergeben dasaß und sich manchmal mit dem roten Handtüchel übers Gesicht fuhr. Als die Ferkeln wieder im Stalle geborgen waren, saß sie, gottlob, immer noch aufrecht da. »Jetzt werden wir's bald haben!« sagte der Bader, und kurze Zeit darauf schlug das Schnappmesser in die Ader des linken Armes. Und jetzt war ein schwarzer Springbrunnen da, der in die Schüssel plätscherte, wie daheim der Wasserquell in den Trog. Mir war gar behaglich im Ansehen dieses Brunnens, denn mit demselben ergossen sich ja alle möglichen Krankheiten, namentlich die Gefahr des »Gehirnschlages« in die Schüssel. Als aber diese mehr als zur Hälfte voll war, und der Strahl immer noch rann, da wurde mir bange. Der Bader hielt meiner Mutter eine Essigflasche unter die Nase. Und endlich legte er den Verband an. Die Schuldigkeit war ein Zwanziger, das Blut wurde draußen auf den grünen Rasen ausgegossen und meine Mutter wankte blaß und erschöpft wegshin. Ins Wirtshaus gingen wir, und da war es gut. Braten, Semmelschnitten mit Zucker und Zimt in Wein gebeizt und noch ein Glas Wein extra. Blutmachende Mittel hatte der Bader verordnet. Die dicke Wirtin saß neben uns am Tische, legte ihre Arme gekreuzt über den Busen, war sehr mitleidig und erzählte Geschichten, wie Aderlässe den Tod gebracht hätten.

Nach dem Essen war der Mutter ums Rasten, und am Nachmittage gingen wir den Heimweg an, nicht die weitere Straße, wie ich damals im Winter, sondern den kürzeren [33] und steileren Sommerweg. Auf der Straße und an den kahlen Bergböschungen der Illach war es noch heiß. Im Trabachgraben am Waldhang und neben dem schäumenden Wasser wurde uns frischer, und ich kleiner Schlingel kam mir wichtig und bedeutsam wie ein Großer vor, als Begleiter und Beschützer der Mutter so einherzusteigen! Für alle Fälle hatte ich meine Vorschriften, die der Vater mir eingeschärft. Aber sie schienen überflüssig zu sein. Es kam der steinige Waldsteig bergan, die alten Bäume deckten uns mit ihren Astwüchsen ein, wie ein grünes Gewölbe, und mancher Windbruchstamm lag spießig über dem Wege, so daß wir mühevoll drunter durchkriechen oder darüber klettern mußten. In dieser Wildnis stolperte die Mutter, fiel zu Boden und stieß ihren Arm an einen Stein. Sie erhob sich sehr schnell und brummte ein wenig, aber nicht über den schlechten Weg, sondern über ihre Ungeschicklichkeit. Da könnte man sich sogar wehtun, meinte sie. Daß sie sich wehe getan hatte, verschwieg sie. Nach einem Weilchen, als wir zum Anger kamen, der mitten im hohen Walde liegt und wo der Fußsteig an die Straße stößt, setzte sich die Mutter, ohne weiter ein Wort zu sagen, auf den Rasen. Ein in Essig getränktes Tuch, das sie mit hatte, tat sie fast hastig hervor, fuhr sich damit über die Stirn, an den Mund, dann sagte sie zu mir: »Ein klein Randel schlafen laß mich. Sieben Vaterunser sollst beten, nachher wecke mich wieder auf.«

Sie lehnte sich zurück aufs Moos und schlief. Etwas zu schnell mochte ich das Vaterunser siebenmal hergesagt haben, sie hatte noch nicht ausgeschlafen. Mir fiel der Ausspruch des Vetters Jakob ein: »Im Schlafen wachst beim Menschen das Blut am geschwindesten.« Auf dem Anger standen allerhand rote, blaue und weiße Blümlein, [34] die brockte ich zu einem Strauß und legte ihn der Mutter heimlich auf die Brust. Wenn sie sich dann beim Erwachen darüber wundern würde, wollte ich sagen: »Ja, Mutter, dieweil Ihr geschlafen habt, sind die Blumen aus der Brust hervorgewachsen.« – Sie schlief und schlief, im Gesicht blaß wie das Essigtuch, mit dem das Antlitz halb gedeckt war. Zwischen den Binden des Armes rieselte das Blut hervor und sickerte in raschen Tröpflein auf das Gras. Ich hatte für alle Fälle Vorschriften gehabt, die waren vergessen, ich wußte nichts und nichts. – Wenn's so war, wie mir's heute vorschwebt, so begann ich nun über den Anger hin und her zu laufen und in den Wald hineinzurufen um Hilfe. Im Walde knisterte es, ein Hirsch setzte zwischen den Stämmen dahin, mit hochgehobenem Kopfe, plötzlich wendete er sich, sprang heran, an mir vorbei in den Anger und mit gespanntestem Satz fast über meine Mutter dahin. Sie ist nicht aufgewacht. Das Tier war zurückgescheucht worden von einem klappernden Scheiterkarren, der oben auf dem Wege herankam. Den Fuhrmann, der darauf saß und ein Liedel pfiff, rief ich an: »Komm' mir zu Hilf', ich weiß nit, was es mit meiner Mutter ist. Sie will nit mehr aufwachen!«

»Recht hat sie,« antwortete der Fuhrmann, hieb auf das Roß ein und fuhr weiter. Ein scheckiges Hündlein hatte er mit, das umkreiste bellend den Karren, dann lief es zu mir, sprang mich an, schnupperte am Lager meiner Mutter herum, begann an ihrem Arm das Blut zu lecken und an ihrer Stirn die Tropfen. Auch dem Tiere schrie ich zu: »Hilf mir, du lieber Hund!« Der aber lief keifend dem Fuhrmann nach, gleichsam: Schämst dich denn nit, Christof! So davonzufahren! Geh' doch erst sehen, was ihr ist! – Und das ist auch wahr, mochte sich der Christof gedacht [35] haben, es muß richtig was geben, weil der Hund so tut. Will doch umkehren und sehen, was ist. So wendete er dah Fuhrwerk, fuhr herbei, hing das Roß an einen Baum an und ging herab zu dem Anger. Als er sie sah, und das Blut, und die Waldbäuerin erkannte, murmelte er: »So steht's! Na, dann muß man sie heimführen.« Trug sie wie ein Kind auf den Armen zum Karren, wo er sie neben der Straße niederließ. Während er die Scheiter ablud, begann sie zu sich zu kommen. Ihr erster suchender Blick war nach mir. Auf mein zärtliches Hinsinken an ihre Brust sagte sie leise: »Hab' ich denn solange geschlafen? Aber jetzt ist mir schon besser. Du, mich däucht, es sind die Binden ledig geworden. Bluten, das tät nit gut sein.« Und band sich selbst die Fatschen fest, das eine Ende mit den Zähnen haltend, das andere mit der rechten Hand um den linken Arm windend.

»So, mein Bübel,« sprach sie wohlgemut, »und jetzt rucken wir in Gottes Namen wieder an.«

»Was?« lachte der Christof, »jetzt, wo ich die Scheiter hab' abgeworfen, will die Waldbäuerin auf den Füßen heimgehen? Wo ihr just totenschlecht ist gewest! Gewiß beim Bader gewest! Gewiß auf dem Aderlaß! Unschuldiges Blut vergießen! Dummheiten!«

Weiter, deucht mich, hat er nichts gesagt, hat meine Mutter auf den Karren gelegt, hat mich auch dazugetan, das scheckige Hündlein ist selber hinaufgehüpft und hat sich niedergelegt zu der Mutter ihren Füßen. Der Christof – er hat ein blaues Jackel angehabt und eine Zipfelmütze auf, ich sehe ihn heute noch – ist zu Fuß gegangen, hat das Roß geführt und hat uns zur Abenddämmerung glücklich heimgebracht ins Waldhaus.

[36] Als ich um Hasenöl geschickt wurde

Im Jahre soundsoviel hatten wir zu Pfingsten noch einen Kübel Schweinsfett vorrätig. Der Vater hatte ihn nicht verkauft, weil er meinte, die Mutter würde ihn zu Hause aufbrauchen, und die Mutter hatte ihn nicht aufgebraucht, weil sie glaubte, der Vater würde ihn ja verkaufen wollen. Und während dieses wirtschaftlichen Zwiespaltes war das Fett ranzig geworden. Jetzt hätte es die Mutter gerne verkocht, allein so oft ein Sterz mit diesem Fette auf den Tisch kam, schnupperten die Knechte mit der Nase und sagten: Schusterschmer äßen sie nicht! Es war aber kein Schusterschmer, es war heilig ein echtes reines Schweinsfett und das wußten sie auch, und deshalb war es höllisch bösartig, daß sie solche Reden führten. Die Mutter war sonst ein sehr frohes und glückliches Weib, wenn aber ein Dienstbote über die Kost klagte, da wurde sie ganz verzagt und lud die anspruchsvollen Knechte wohl auch ein, sich nur selber einmal zum Herde zu stellen und mit den vorhandenen Mitteln eine Prälatenmahlzeit zu kochen. Unter Prälatenmahlzeit verstanden wir nämlich nichts Schlechtes.

Nun hatten wir zu dieser Zeit noch die alte Einlegerin im Hause, die für alles einen guten Rat wußte. Sie war zwar auf beiden Augen blind, sah aber doch gleich, was da zu machen war.

»Ein schlechtes Schweinschmalz hast, Bäuerin!« rief sie kecklich aus, »ranziges Schmalz kaufen sie nur noch in der Apotheken, sonst nirgends nit und gewiß auch noch!«

[37] Ja, die Apotheken, das ist wahr. Die hat im vorigen Jahre auch Gamswurzeln genommen und Arnikablumen und gedörrte Hetschepetsch, die nimmt alles, was schmeckt (riecht), die nimmt auch das Schweineschmalz. Und ich, der zwölfjährige Hausbub, bin hervorgesucht worden, um am Pfingstmorgen zeitlich in der Früh das Kübelchen beim Henkel an den Stock zu hängen und so über der Achsel hinabzutragen nach Kindberg in die Apotheke. Und bei dieser Gelegenheit sollte ich auch etwas anderes besorgen.

Da hatten wir zur selbigen Zeit einen alten Weber in der Einwohne, der nahm, wenn keine Arbeit war, oft den Kopf in beide Hände, brummte schier unheimlich vor sich hin und sagte dann zu dem, der just da war: »Mensch, ich werde blöd. Just, als hätte ich ein Hummelnest im Kopf, so tut's brummen, weiß der Ganggerl, was das ist. Immer einmal ganz dumm komm' ich mir vor, das ist mir jetzt schon zu dumm!«

Und antwortete ihm nun auf einmal die alte Einlegerin: »Wenn du dumm bist, Hartl, so mußt du dir mit Hasenöl die Schläfe einschmieren.«

»Alte Dudel, wo soll denn ich ein Hasenöl hernehmen?« begehrte der Weber auf.

»In der Apotheken kriegt man's,« lautete ihr Bescheid, und so sollte ich nun für den Weber Hartl um zwei Groschen Hasenöl einkaufen in der Apotheke zu Kindberg. Hasenöl? Geben denn diese Tiere auch Öl, so wie der Leinsamen und der Rüps? Natürlich wird's so sein, denn, wenn's kein Hasenöl gäbe, so könnte man ja keins kaufen.

Als ich nach langem Marsche gegen Mittag mit meinem Küblein in die lateinische Küche zu Kindberg kam, hieß es dort, Schweinsfett brauche man jetzt nicht, und wäre es auch ganz frisch.

[38] »Es ist aber nit frisch!« versicherte ich, »es schmeckt schon!«

Dann sollte ich nur in die Apotheke nach Bruck hinabgehen! meinte der Herr lachend, ich aber dachte: Wenn du mir kein Schweinsfett abkaufst, so kaufe ich dir kein Hasenöl ab – und machte mich auf den Weg. – Daß es aber so lange Straßen geben kann auf der Welt, wie dieser Weg war bis Bruck! An beiden Seiten des Tales Berge und Gräben, das Wasser einmal rechts und dann links und dann wieder rechts; ein Dorf ums andere, dieses hatte einen Kirchturm, jenes keinen, in manchem Wirtshause gab es Musik, in manchem helles Geschrei; mancher Wanderer lallte taumelnd des Weges dahin, mancher ruhte friedsam im Straßengraben – und immer so fort. Allzumal muß auch erzählt werden, daß die Sonne sehr heiß schien und mein Schweinsfett hinter dem Rücken Fluchtversuche machte, wie später an den Spuren auf meinem Rock zu bemerken war.

Bruck ist eine Stadt. Ich hatte noch nie eine Stadt gesehen. Ein vielgereister Handwerksbursche hatte bei uns einmal erzählt, Wien, Paris und Bruck wären die größten Städte der Welt und in Bruck stünde das achte Weltwunder: ein eiserner Brunnen.

Auf dem Wege zu solchen Merkwürdigkeiten wird man nicht müde. Die Sonne ging schon hinter den Berg hinüber, als ich mit meinem Küblein einzog in die große Stadt Bruck. Mein erstes war, dem eisernen Brunnen nachzufragen, denn auf dieses Wunder war ich vor allem gespannt. Welche Enttäuschung, als aus einem rostigen Gitterwerke ein Brunnen herausrann, ganz wie jeder andere Brunnen auch – von Wasser, und nicht von Eisen!

Die Apotheke ließ sich auch nicht lange suchen, stand doch der heilige Josef mit dem Knäblein an die Tür gemalt, [39] und der steht, das wußte ich schon, immer bei den Apotheken. Da drinnen war ein altes weißköpfiges Männlein mit Brillen, die es dazu benützte, über- oder unterhalb derselben recht schalkhaft auf mich herzublicken, als ich mein Schweinsfett ausbot, das Pfund um sieben Groschen. Er fragte, ob Safran in der Butter wäre! worauf ich eine Weile tat, als besänne ich mich.

»Na na,« sprach das Herrlein, »wenn du deine Schmier nicht gern gibst, so geh' nur gleich wieder!« Da ließ ich sie ihm ab. Er wog das Küblein mit einer unendlichen Gleichgültigkeit, das gab gerade drei Pfund, das Holz wie das Fett zahlte er pro Pfund zu fünf Groschen. Der Kübel wurde in eine dunkle Nebenkammer getragen, leichten Herzens bin ich von ihm geschieden. – Und nun um zwei Groschen Hasenöl! – Schön! Solle in einer Viertelstunde wiederkommen.

Ich war hungrig und durstig geworden, ging hinaus und suchte ein Wirtshaus. Es standen ihrer ein paar stattliche da herum, mit großen Fensterscheiben, durch die schneeweiß gedeckte Tische zu sehen waren. Ich traute ihnen nicht recht. Wenn anderegute Wirtshäuser suchen, so ist das ihre Sache, ich für mein Teil suchte ein schlechtes, mir wohl bewußt, was draufgehen durfte. Glücklich fand ich das gesuchte; die Stube war dunkel und voller Fliegen, die an den braunen kleberigen Holztischen herumkrochen; das halbe Seidel Wein war lau und kamig, aber naß, und das genügte mir. Die Semmel von vorgestern war schon deshalb zweckmäßig, weil sie mehr ausgab als etwa eine von heute. Diese Genüsse verschlangen zu meinem nicht geringen Schrecken ein halbes Pfund Schweinsfett, und ich – als der bloß nach Kindberg geschickte – durfte über das Kapital nicht verfügen![40] In die Apotheke zurückgekehrt, gab es dort Leute. Ich hatte zu warten und setzte mich hinterwärts auf eine Winkelbank, von der aus schön zu sehen war, wie dieses ehrwürdige Geschäft, mit allerhand Mitteln die Leute gesund zu machen, betrieben wurde. Da kam jemand und verlangte Fuchsschmalz. Das alte Männlein langte einen schwefelgelben Tiegel vom Gesimse, stach mit einem zierlichen Schaufelchen ein Batzlein heraus auf ein Papier, legte es auf die kleine Wage: »So, Vetter, da sind vier Quintel Fuchsschmalz, kosten zwei Groschen.« Hernach verlangte eine Frau Pillen. Eine andere bekam ein winziges Fläschchen. Eine Knabe begehrte Dachsfett als Mittel gegen den Kropf. Der Apotheker langte emsig nach dem schwefelgelben Tiegel auf dem Gesimse und gab, ähnlich wie früher, das Verlangte. Das fiel mir auf, er mußte sich vergriffen haben, in diesem Tiegel war doch das Fuchsschmalz. Hierauf wurden Pulver angefertigt und kleine Schächtelchen und Fläschchen allerlei. Ein altes Weib kam hereingehumpelt, beklagte sich über die Gicht und ob sie nicht eine Gichtsalbe haben könne. »Gewiß, liebe Frau!« sagte das Männlein, langte wieder nach dem schwefelgelben Tiegel und gab die Gichtsalbe heraus. Jetzt hub dieser schwefelgelbe Tiegel auf dem Gesimse an, mir unheimlich zu werden. Weil die Zeit verging und ich immer noch nicht bemerkt wurde, so trat ich endlich aus dem Winkel hervor und bat um mein Hasenöl.

»Ei ja richtig, Kleiner. Du bist auch da. Du bekommst Hasenöl!« sprach freundlich das Männlein, nahm den Schwefelgelben vom Gesimse und stach mir gestocktes Hasenöl heraus.

Noch hatte ich das kostbare Mittel, welches in ein ganz kleines Tiegelchen getan war, kaum geborgen in meinem verläßlichsten Rocksack, und es redlich bezahlt, als wieder [41] ein Frauchen zur Tür hereinkam und fragte, ob frisches Schweinsfett zu haben währe als Medizin?

»Vollkommen frisch!« rief der Apotheker, »heute erst bekommen!« und stach aus dem schwefelgelben Tiegel Schweinsfett.

Hierauf bin ich fortgegangen und habe gleich bei mir selber die Erfahrung gemacht, wie heilsam so ein bißchen Hasenöl ist gegen die Dummheit. – Fuchsschmalz, Dachsfett, Gichtpflaster, Hasenöl und Schweinsfett, alles in einem Tiegel! Jetzt erst ist mir klar geworden, welch einen Schatz von köstlichen Arzneien ich in meinem Kübel aus dem Gebirge herabgeschleppt hatte. –

Als ich von der Bruckerstadt fortging, lagen die Schatten der Berge schon weit in das Tal hinein. Meine Füße hatten sich in schwerem Schuhwerk heiß gegangen, auch das Atemziehen machte sich wichtig und es war, als ob mir jemand ein hartes Brett fest an die Brust gebunden hätte. Nach Alpel war es bloß noch acht Stunden. Weil es etwas langsam voran ging, so holte mich ein Fuhrwerk ein. Zwei klobige Pferde zogen einen großen Bauernwagen, auf dessen Vordersitz ein Bursche, etwa in meinem Alter, kutschierte. Der Wagen selbst war fast leer. Er war mit Lärchentaufeln nach Bruck zum Faßbinder gefahren, auf dem Rückweg hatte er einen Sack Feldbohnen und einen Stock Salz aufgeladen; daneben war noch reichlich Platz für einen einfältigen Buben, der am Leiblein ein paar müde Beine hatte, hingegen aber in der Tasche die Salbe für Dummköpfe, die gescheit werden wollen. Ich war bereits so gescheit, um den Burschen auf dem Wagen anzurufen, ob er mich aufsitzen lassen wolle.

»Wohin willst denn?« fragte er fast vornehm von seiner Höhe herab.

[42] »Heimzu.«

»So setz' dich auf, ich fahr' auch heimzu.«

Bald war der Bohnensack mein Kopfkissen und der Salzstock mein Schlafkamerad, der Fuhrmann schnalzte mit der Peitsche und es ging knarrend voran. – Viel weiß ich nicht von derselbigen Fahrt »heimzu«. Einmal, als ganz zufällig die Augen ausgingen, sah ich kohlschwarze Baumzacken in den nächtigen Himmel aufragen, welche ganz unheimlich ächzten, knarrten und holperten. Und dann wieder nichts.

Als ich erwachte, na, da war etwas! Da lag ich auf dem Wagen unter einem alten Holzschoppen, um mich war ein heller Tag, und eine fremde Welt. Eine schreckbar fremde Welt. Der rauschende Bach mit der Mühle daneben, das gemauerte Haus mit einer breiten, braunangestrichenen Tür, der Anger mit den Pferden und solcherlei war mir seltsam genug, noch unheimlicher war etwas anderes. Dort hinter den Waldbergen stand breit und hoch etwas Weißes, Leuchtendes auf, fast ähnlich den mittägigen Sommerwolken, wie sie sich am Sehkreise aufbauen, wenn's nachmittags Gewitter gibt. Aber das stand so starr und ruppig und rissig da im Sonnenschein, und von unten hinauf sah es aus, als ob blaue Wälder sich hinanzögen, von steilen grauen Streifen überall unterbrochen. Und höher oben war alles wie purer Stein, der zerklüftet und zersprungen ist. Und so war es voran oben und so war es rechts oben und so war es links oben und überall die ungeheure Höhe, daß mir schwindlig ward, als ich den Kopf so weit nach rückwärts bog, um hinaufzuschauen. Mein Lebtag hatte ich derlei nicht gesehen. Zum Glücke kam nun mein junger Fuhrmann, der fragte mit lautem Lachen, ob ich gut ausgeschlafen hätte. Vom Wagen gesprungen war [43] ich schon; so rief ich nun voll Entsetzen: »Mensch, wohin hast mich geführt?«

»Heimzu!« lachte er, »da bin ich daheim.«

»Wie heißt's denn da?«

»Da heißt's Tragöß,« sagte er.

»Und das da droben? Was ist denn das lauter?«

»Die Berge meinst?«

»Nit die Berge, was hinter den Bergen so steht, das meine ich.«

»Jeßtl!« lachte der Bursche und klatschte mit beiden Händen auf seine Knie, »das sind halt wieder Berge, die Steinberge, und du sollst jetzt ins Haus gehen Suppen essen.«

So habe ich an jenem Morgen das erstemal die hohen Felsenberge in der Nähe gesehen und jene Gegend, aus der mir fünfundzwanzig Jahre später der Geist zu meinem »Gottsucher« aufgestiegen ist. Auf dem Tisch der Hausstube, in die der Junge mich geführt, stand schon die dampfende Suppenschüssel mit weißem Brote. Ich wollte aber den Löffel nicht in die Hand nehmen; ißt du, so gehörst du ihnen, mußt dableiben und weißt gar nit, wer sie sind. Von der Küche kam ein älteres Weib herein, das schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als es hörte, wie weit ich verführt worden war, und daß ich anstatt nach Krieglach im Mürztale, nach Tragöß am Fuß des Hochschwabengebirges gekommen bin.

»Jetzt mußt erst recht essen, Bübel, daß du nachher heimgehen magst.«

»Frau Mutter, wie weit hab' ich denn heim?«

»Jetzt wart' einmal,« antwortete sie und hub an, an ihren Fingern die Ortschaften und die Stunden abzuzählen, »ihrer zwölf Stunden wirst wohl brauchen bis ins Krieglach [44] hinaus. Bist aber schon ein rechtes Tschapperl! So fest schlafen! Mein Seppel hat's freilich nit wissen können, wo du hinwillst, und hat sich gedacht, 's wird eh' recht sein ins Tragöß herein. Aber das ist jetzt schon ein helles Kreuz. Mach' dir nur nichts draus, mein Wagen hat dich hergeführt und dein Schutzengel wird dich hinführen.«

Während sie mich so tröstete, war draußen in der Küche fortwährend ein klägliches Wimmern, und nun kam der Seppel herein und berichtete, das Mentschl hätte halt wieder gar so viel Zahnweh.

»Was aber das Zahnweh für ein Elend ist!« rief das Weib, »jetzt leidet das Kind schon die ganze Nacht wie eine arme Seel' im Fegfeuer. Alles haben wir schon angewendet: heiße Tücher aufgelegt, kaltes Wasser in den Mund getan, mit Rosenbuschbalsam ausgewaschen, Kalmusgeist hineingetropft, mit Salz eingerieben, einen Mariazeller Rosenkranz umgehängt, zwei Zehen mit einem Seidenfaden zusammengebunden, die Füße ins Ofenloch gesteckt, und sonst allerhand angewendet. Einen Kletzen hat's geholfen! Schreien tut das arme Wesen, als ob man's wollt' köpfen, und jetzt weiß ich nichts mehr, – Katherl, Katherl, du gutes, armes Kindel du! Wart' einmal, jetzt will ich dir Hühnermist aufs Gnack legen, das zieht's aus, das hilft, Katherl, wirst es schon sehen, das hilft!« Damit eilte sie wieder hinaus in die Küche.

Das ganze Hausgesinde war zusammengeeilt um die Leidende, die nun neuerdings anhub, herzbrecherisch zu schreien: »Mein Zahnt, mein Zahnt! Ahndl, mein Zahnt tut mir so viel weh!«

»Laß nur Zeit,« tröstete die Angerufene, »das Mittel greift halt an, jetzt wird's bald besser sein, schau, bist ja mein liebes Katherl, du!«

[45] Auch ich war in die Küche hinausgegangen. Auf dem Herde, mit den Füßen im Ofenloch, kauerte ein Dirndl, das ein rundes, liebes Gesichtlein hatte, seine gefalteten Hände wie um Hilfe flehend an die rechte geschwollene Wange preßte und mich schrecklich erbarmte. Jedes im Hause hatte schließlich noch ein Mittel gewußt, keines und gar keines hatte geholfen. Ein Mensch war zugegen, der behauptete, Dummheit wär's, die Zähne nicht ordentlich zu pflegen, und deswegen alleweil das Zahnweh! – Gott, wenn's von der Dummheit kommt, da muß ja mein Hasenöl helfen! – Aus meinem tiefen Sacke zog ich das kostbare Tiegelchen hervor und aus meinem gescheiten Kopf den guten Rat, mit diesem gestockten Hasenöl die geschwollene Wange einzuschmieren. – »Schaden wird's wohl doch nit; wenn's ein Hasenöl von der Apotheken ist, kann's unmöglich schaden!« sprach die Großmutter und fettete das Dirndel ein. – Nicht fünf Minuten, so rief die Kleine aus: »Ahndl, jetzt ist's gut!« und flink sprang sie vom Herde herab.

Freilich ging nun meine Not an, denn alles Hasenöl wollten sie haben, ich sollt nur sagen, was es kostet! Von ihren dringenden Bitten kamen sie erst ab, als das geheilte Dirndel erklärte, der Zahn wäre so fest gut geworden, daß er gar nimmer wehtun werde, also konnte ich mein Öl wieder in den Sack stecken und sehen, wie man von Tragöß nach Krieglach-Alpel kommt.

Unterwegs bedachte ich das Hasenöl. Wenn es beim dummen Weberhartl auch so heftig wirkt, wie bei dem Zahnwehdirndl, dann geht er mit den drei Weisen aus dem Morgenlande als der vierte.

Nach einer fünfstündigen Wanderung war ich beiläufig wieder dort, wo der müde Junge einen Tag früher in den Bauernwagen gestiegen. In einem Gehöfte sprach [46] ich zu und fragte, wieviel es an der Uhr sei, wie weit es noch bis Krieglach wäre, ob ich wohl den richtigen Weg hätte. Die gründlichsten Auskünfte haben sie gegeben, jedoch, ob ich etwa einen Löffel Suppe möchte, das fragte niemand. Unter einem Kirschbaum lag ein Mensch und wimmerte vor Kopf weh: alsogleich wollte ich mein Mittel anbieten, jedoch ein Weibsbild, das da war, behauptete scharf und stramm, das Kopfweh sei in der vorigen Nacht in einem Wirtshause eingekauft worden und vor dem Abend gebe es gar kein Mittel; am Abend aber würde dieser Kopf schon von selber gut, hingegen dürften nachher dem, der ihn auf hätte, die Backen weh tun! – Eine Handbewegung des Weibes hat das undeutliche Wort sehr klar gestellt.

Unterwegs nach Krieglach lud mich ein Flossenführer (Roheisenführer) ein, auf seinen Eisenschollen Platz zu nehmen; ich besorgte, auch der möchte mich »heimzu« führen in die Stanz oder in die Veitsch oder sonstwohin; wollte daher ablehnen. Der Fuhrmann kannte mich aber und sagte, daß er über Alpel nach dem Rettenegger Hammer fahre – ja das war freilich eine Schickung Gottes. Gelegen bin ich mein Lebtag schon weicher, als damals auf den Eisenflossen, geschlafen habe ich selten besser. Richtig hätte ich mich jetzt auch an Alpel vorbei bis weit hinüber ins Rettenegg geschlafen, wenn mein Führer mich nicht abgesetzt hätte beim Heidenbauerntörl, nahe von daheim.

Um Mitternacht kam ich zu Hause an. Sie waren ein wenig in Spannung und schliefen noch nicht. »Wir haben schon gemeint, der Kindberger Apotheker hat zum Schweinschmalz dich selber als Draufgab' genommen,« sagte der Vater, das war Spaß. Dem alten Weberhartl jedoch war etwas anderes eingefallen. Er erinnerte sich einmal [47] gehört zu haben, daß die Apotheker jährlich ein Menschenkind abtäten, um daraus eine ganz besondere Medizin für ganz besondere Krankheiten zu gewinnen. – Es war wohl die höchste Zeit für den alten Hartl, daß ich mit dem Hasenöl heimkam!

Erst steckte er seine Nase ins Tiegelchen. »Scharf schmecken tut's, das wird schon angreifen,« murmelte er, »tut eh' schon wieder so viel brummen im Kopf.« Mein Vater roch auch und schaute mich grauenhaft strenge an. – Ich hatte nie begriffen, weshalb die Apotheker auf jeden Tiegel, den sie verkaufen, einen Zettel mit ihrem Namen und Wohnort kleben. Jetzt ward es mir klar, ohne diesen Zettel auf dem Tiegelchen hätte man es mir daheim niemals geglaubt, daß ich mein Hasenöl nicht aus dem Schweinsfettkübel genommen, sondern aus der Apotheke zum heiligen Josef in Bruck.

»Hat er's genommen wo der will,« rief der alte Weber hochgemut aus, »wenn's nur hilft!« und begann sich gleich die Stirn einzureiben mit dem Hasenöl.

Hat's geholfen? – Nun, die Wahrheit zu sagen, beim alten Weberhartl konnte eine nennenswerte Besserung nicht nachgewiesen werden, hingegen ist mein Vater durch dieses Hasenöl klüger geworden, ob schon er sich damit gar nicht eingerieben hatte. Er hat wohl auch in späterer Zeit noch manches Küblein Schweinsfett, manches Bündlein Wurzeln und Kräuter in die Apotheke geschickt – holen aber ließ er nichts mehr aus ihr. – Das heilsame »Hasenöl« hat uns für alle Zukunft geheilt.

Stiegelhupfer - Batzenschupfer!
[48] Stiegelhupfer – Batzenschupfer!

Na, da hätten wir uns wieder einmal sauber geirrt mit der Meinung, die Hauptsache am Menschen sei – das Haupt. Hauptsache an ihm ist vielmehr die Faust und nebenbei vielleicht auch jener Körperteil, der als Prügeldepot am geeignetsten erscheint. Denn des Menschen Ziel auf Erden ist, zu hauen und gehauen zu werden. Wer dafür keinen Sinn hat, der ist das Schlimmste, was einer sein kann, er ist – feige.

Feigheit! Das ist ein verdammt schlimmer Schimpf. Wer hat Kurasch, feige sein zu wollen?

Denn ich muß wohl. Mein Angesicht trägt keines jener Zeichen, daß ich in der Waffenführung je – ungeschickt gewesen. Ich habe überhaupt niemals geschlagen, gestochen oder geschossen – bin das eine oder das andere im Ernste auch nie worden. Der Widerwärtigkeiten eines ungewöhnlichen Lebensganges waren gerade genug, um zu zeigen, was es bei mir mit Mut oder Feigheit für eine Bewandtnis hat. So habe ich weiter niemanden persönlich anzurempeln gebraucht. Sonst wird dem Freimütigen, dem Aufrichtigen geraten, stets hübsch einen Waffenpaß und was dazu gehört, bei sich zu tragen. Ich habe nichts bei mir, als mein Taschentuch, in das ich mir einen Knoten mache, wenn mich jemand tödlich beleidigt – um übrigens am nächsten Tage kaum mehr zu wissen, was der Knoten bedeutet. Mit einem solchen Taschentuch kommt man ohne [49] viel Keilerei durch die Welt, und die Wörter »Mut«, »Feigheit« brauchen weiter nicht strapaziert zu werden.

Einst, als Schuljunge, gehörte ich zu den Bravsten, obschon es sich in Biographien ganz gut macht, wenn es heißt: Ist als Schuljunge ein Strick gewesen. Das zeigt gleich von Energie und Persönlichkeit. Nun, mir tut es leid, ich war stets ein »braves Buberl«. Zwar im Kleiderzerreißen ließ ich mich nicht lumpen, auf Löcher in den Hosen kann die Gassenjungenehre nicht verzichten. Beim Klettern, beim Rutschen, beim Hüpfen, beim Schaukeln und dergleichen beweglichen Festen gab es oft flotte Fetzen. Nicht so aber beim Ringen, Rangeln und Raufen. Bei solcher Kraftmesserei mit Kameraden sind freilich weniger die Löcher in der Joppe zu fürchten, als die im Kopf, wovon das im eigenen Kopf immer noch weniger Unannehmlichkeiten verursacht, als das im Kopf des Gegners. Ich kann mich als Junge nicht erinnern, je einmal einen Handel angefangen zu haben. Meine Luft waren fröhliche Spiele, bei denen Einvernehmen herrschte, und zeigten andere dabei einen lebhaften Willen, so gab ich gewöhnlich nach. Den Luxus eines eigenen Willens konnte ich mir erst viel später gestatten. Dafür ist er aber um so ausgewachsener geworden.

Nun wurde damals unter uns Schulbuben eines Tages ein Schimpf aufgebracht; ich weiß nicht, wer ihn erfand oder einführte, weiß auch nicht, was er besagen wollte und worin seine unerhörte Ehrenrührigkeit bestand – kurz, es war ein grauenhafter Tort, der dadurch verübt wurde, daß ein Junge dem andern zurief: »Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« Keiner, auf den das Wort gemünzt war, ertrug es. Entweder er gab es mit gesteigerter Art in Ton, Miene und Gebärde zurück, oder er rächte sich sofort handgreiflich an dem Schänder seiner Ehre. Ich allein ertrug es. Anfangs [50] zwar mit saurem Lächeln, später mit wirklicher Gelassenheit, und ging meines Weges. Das war ihnen nun aber gerade recht, daß sie eine Zielscheibe gefunden hatten, die – wie es sich für eine richtige Zielscheibe auch geziemt – nicht zurückschoß. Sie krähten mir also bei jedem Begegnen die Worte »Stiegelhupfer – Batzenschupfer« zu. Da war es einmal auf dem Heimweg aus der Schule, daß drei Buben – darunter der Stagler Luis – mir am Fresenbach den Steg vertraten, über den ich zu gehen hatte. Der Stagler Luis und ich waren überhaupt stille Feinde, ohne daß wir wußten, warum. Es konnte einfach einer den andern nicht leiden, und da ist nichts zu machen. Grundloser Haß wie grundlose Liebe sind immer die echteste Sorte. Sie standen also vor dem Steg, ich kam herbei und forderte sie auf, mich meines Weges gehen zu lassen. »Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« sagten sie mit sehr ruhiger, entschlossener Stimme, streiften ihre Ärmlinge zurück und machten sich kampfbereit. Ich stand eine Weile da und überlegte, wie mit diesen Gegnern ein gütiges Übereinkommen getroffen werden könne, denn mein Vater pflegte jede Verspätung, mit der ich aus der Schule kam, zu ahnden.

»Wirst wohl umkehren müssen, Stiegelhupfer,« höhnten sie. »Oder bleibst stehen, bis du in den Boden wachsest, so bleiben wir auch stehen. Stiegelhupfer – Batzenschupfer!«

Ich schaute in die rauschenden Wellen des Baches. Was ist da zu machen? Ohne Steg ist nicht hinüberzukommen, eine nächste Brücke nicht zu erreichen. Ich suchte vernünftige und würdige Vorstellungen zu machen: »Ist das schön, daß drei gegen einen stehen?«

»Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« Das war ihr Bescheid und ihre Rechtfertigung. Dabei machten sie allerhand malerische Grimassen. Jetzt kam plötzlich etwas über mich, [51] das mir sonst fremd gewesen: Wutgefühl. Ein paar Sätze, und wie ein wütender Bock rannte ich den Luis, als den mittleren der Besatzung, in den Bach hinein – so jäh und heftig, daß sich's keiner versah. Das Wasser plätscherte hoch auf und trug den Jungen dahin. Ein vierfacher Hilferuf, denn ich schrie selbst mit. Und dann hatten wir mit vereinten Kräften tüchtig zu tun, weiter unten, wo der Bach sich über Sand flacht, den Zappelnden und Gurgelnden hervorzuholen. Als der so Gerettete am Ufer lag, war ich mit ihm auf einmal allein, die beiden anderen hatten sich in Ansehung drohender Unannehmlichkeiten langen Fußes davongemacht.

»Hast nasse Füße bekommen, Luis?« fragte ich gleisnerisch, denn am ganzen Kerl war nicht ein Faden trocken. »Macht nichts, ich hab' zwei Paar Hosen an, davon kriegst eine. Tu' nur geschwind dein Gewand aus, sonst wirst krank.«

Schweppernd tat er's, warf sein schwammig-schweres Zeug weg, schlüpfte in mein Gewand, so viel ich übrig hatte und huschte davon wie ein geprügelter Pudel. Nun erst hatte ich Zeit zur Schadenfreude und wiegte mich in ihr wie in einer Sänfte. Denn der Luisel schämte sich. Er schämte sich! Aber am nächsten Tage, als er mir das Gewand zurückbrachte, stand er eine Weile so seitlings da, schielte an die Wand hin und murmelte: »Gestern, das war dumm!«

»Ich bin halt so zornig gewesen,« war meine Entschuldigung.

»Geh', Tschappel! Nit von dir, von mir ist's dumm gewesen, daß ich dich nicht hab' über den Bach lassen wollen.«

Da schlug ich vor: »Ist's dir recht, Luisel, wenn wir von jetzt an gute Kameraden sind?«

[52] »Gilt schon. Hätt' dich eh' alleweil gern gehabt, wenn du nit so stolz wärst gewesen,« gab er zur Antwort.

Meine Friedfertigkeit nannte er Stolz – diese Auffassung erfüllt mich noch heute mit Stolz. Und sie zeigt mir, daß der Junge vielleicht halb unbewußt die Schimpf- und Rauflust wie etwas Gemeines, die gelassene Friedfertigkeit aber wie etwas Vornehmes empfunden hat.

Wir sind dann wirklich gute Kameraden geworden, sind es bis heute geblieben, und erst vor kurzem haben die beiden Alten jenen Knabentort an der Fresenbachbrücke wieder einmal lachend besprochen.

So war also damals die einzige Heldentat, die ich je begangen, als Racheakt ganz vortrefflich mißlungen. Es ist wohl auch seither schon geschehen, daß Lumpen und Schurken mich in Zorn gebracht haben. Doch wäre ich in solchen Fällen für ein regelrechtes Duell schwer zu gebrauchen gewesen. Erstens schlage ich mich mit Lumpen nicht, und der mich aus Bosheit beleidigt, ist einer; und zweitens fehlt mir im Zorn die Geduld, um alle Förmlichkeiten zu erfüllen. Wenn ich den Feind nicht sofort durchbohren kann – nach wenigen Stunden ist der Zorn verpufft, und den Degen gegen einen völlig gleichgültigen Menschen zu heben, ist kein Vergnügen.

Im ganzen weiß man nicht, welcher Mut größer ist: der, den Feind totzuschlagen, oder der – ihn laufen zu lassen.

Als wir zur Schulprüfung geführt wurden
[53] Als wir zur Schulprüfung geführt wurden.

Öfter als zu oft schon ist von der Schule in Krieglach-Alpel erzählt worden, auf welcher ich mehr gelernt hätte, als auf allen übrigen Schulen zusammen. Die Wissenschaften und Künste, die ich mir auf dieser Hochschule angeeignet, sind freilich nicht wieder vergessen worden: Lesen, Schreiben und die absolute Gewißheit, daß zweimal zwei vier sind! – Aber das wissen wir alle.

Und doch wollen wir eins darüber plaudern.

Der Holzbauernhof, in welchem der alte Michel Patterer die Alpelschule eine Zeitlang gehalten hatte, lag dreitausendvierhundert Fuß über dem Meere, und so konnte der Mann, welcher sonst nichts weniger als ehrgeizig war, seinem Institut die Bezeichnung »Hochschule« mit gutem Fuge beilegen. Dieser Michel Patterer war früher ordentlicher Lehrer in Sankt Kathrein am Hauenstein gewesen; weil er es im Jahre 1848 ein wenig mit der neuen Mode hielt, – der alte besonnene Mann wird gewußt haben warum – so wurde er von der kirchlichen Behörde kurzerhand abgedankt und langen Fußes davon gejagt. Der alte Mann kam nach Alpel, um sich durchzubetteln, allein die Alpler Bauern standen zusammen und sagten: »Bettler haben wir ohnehin zu viele, aber Schulmeister haben wir keinen, und dahier keinen gehabt seit die Welt steht. Machen wir ihn zum Schulmeister, unsere Kinder sollen Lesen und Schreiben lernen; nützt's nichts, so schadet's nichts.«

Der Michel blieb in Alpel und ging mit seinen Wissenschaften hausieren von Hof zu Hof. Je eine Woche lang [54] wurde die Schule in einem und dem anderen der dreiundzwanzig Höfe abgehalten, wo die Kinder der Gemeinde in der Gesindestube zusammenkamen, sich um den großen Tisch setzten und lernten. Wenn die Bäuerin kam, um auf dem Tische ihren Strudelteig auseinanderzuziehen, oder das Gesinde, um Mittag zu essen, mußte freilich der Tisch geräumt werden. Die Kinder gingen hinaus, aßen ihr mitgebrachtes Stück Brot; der Schulmeister setzte sich zu den Knechten und Mägden und tat etwas, wozu damals nicht jeder Schulmeister das Talent hatte – er aß sich satt. Außer der Schulzeit machte er sich in dem betreffenden Hofe auch noch dadurch nützlich, daß er Streu hackte, Heu machen oder Dung führen half und dergleichen. Dabei hatte er stets die ruppige braune Lodenjacke am Leibe, die er vom Gräbelbauer geschenkt erhalten, und den Seidenzylinder auf dem Kopf, den ihm der alte Dechant zu Birkfeld einmal verehrt hatte in früheren Tagen. Lachen und weinen muß ich, so oft ich des guten Michel Patterers gedenke; sein Schicksal ist seltsam, und sein Herz war so tapfer und geduldig! Er hatte niemanden mehr auf der Welt, als seine Schulkinder, denen er sein Bestes gab, und wenn er zur nächtlichen Stunde draußen in der Heuscheune lag, ein wenig fröstelnd vor Kälte und ein wenig schwitzend vor Sorge um sein nahes hilfloses Alter, da mag er sich wohl gedacht haben: Wie wunderlich geht's doch zu auf dieser Welt!

Eine längere Zeit war die Schule bei dem obenbesagten Holzbauer eingeheimt, und gerade aus jener Zeit habe ich die kleine Erinnerung, die hier erzählt werden soll.

Jahrelang hatte sich um unsere Alpelschule niemand gekümmert, sie war weder anerkannt noch verboten, und da der Mann von der Gemeinde verköstigt wurde, so ging die Sache weiter eigentlich niemanden was an.

[55] Vielleicht, doch! – da ist oben im Gebirge ein Mensch mit dem neumodischen Geiste, und der unterrichtet die Kinder! Da kann etwas Sauberes herauskommen! Wie steht's mit der Religion? Werden die Kinder wohl auch zur heiligen Beichte vorbereitet? Zur Kommunion, zur Firmung? – Das müßte man doch einmal näher besehen! – Und eines Tages hieß es: eine große Geistlichkeit kommt nach Alpel, und es wird strenge Prüfung sein!

Der alte Schulmeister sagte nichts dazu und es war ihm nicht anzumerken, ob er sich fürchte oder freue.

Indes schlief alles wieder ein, und die »große Geistlichkeit« kam nicht. Hingegen war im Frühherbste desselben Jahres etwas anderes. Als in der Krieglacher Ortsschule zum Schlusse des Schuljahres der Tag der Prüfung nahte, zu welchem stets auch der Dechant aus Spital erschien und andere Geistliche und Schulaufseher und Lehrer aus Nachbarspfarreien, kam unserem Michel vom Ortsschulrate der Befehl zu, er habe sich mit seinen Schulkindern am Tage der Prüfung im Schulhause zu Krieglach einzufinden. Und jetzt ging die Not an. Die Schule in Alpel war während der dringenden Feld- und Wiesenarbeiten geschlossen gewesen. Der alte Michel mußte nun von Haus zu Haus gehen, um die Kinder zusammenzusuchen und ihnen zu sagen, daß sie sich am nächsten Erchtag (Dienstag) beim Holzbauer zu versammeln hätten, hübsch im Sonntagsgewande, fleißig gewaschen und mit gesträhltem Haar, wie als ob sie am Ostertage in die Kirche gingen. Und die Schulsachen mitnehmen. Wir Kinder wußten nicht recht, was das zu bedeuten habe und was das sei: eine Prüfung! Und unsere Eltern wußten es auch nicht. Aber sie meinten, es würde schon was Rechtes sein, sonst wäre vom Sonntagsgewand nicht die Rede. Nur ein alter Kleingütler, der auf den [56] Häusern umherzuklettern pflegte, um den Bauern ihre Strohdächer auszuflicken, hatte über die absonderliche Sache seine Bedenken. – Eine Prüfung! Ob die kleinen Buben etwa schon tauglich wären zu Soldaten gegen die Franzosen! Man dürfe nicht trauen! Wer heutzutag einen kleinen Buben habe, der solle ihn verstecken! – Solcher Meinung waren die Bauern nicht, und der Heidenbauer sagte frischweg: »Wir von Alpel brauchen unsere Buben nicht zu verstecken, wir können sie schon aufzeigen.«

Trotzdem gab es unter den Schulkindern etliche, denen das Ding mit der Prüfung nicht ganz geheuer vorkam. Aber an dem bestimmten Erchtage fanden wir uns fast vollzählig ein beim Holzbauer. Es dürften unser achtzehn bis zwanzig Kinder gewesen sein. Der Schulmeister hatte sich auf das allerbeste zusammengetan. Er hatte blank gewichste Stiefel, hatte ein schwarzes Gewand an, welches er von einem ehemaligen Kollegen, dem Lehrer in Ratten, ausgeborgt; sein mageres Gesicht war glatt rasiert, das dünne graue Haar glatt über den Scheitel zurückgekämmt. Am Halse stand sogar ein schneeweißer Hemdkragen hervor, ähnlich der Halsbinde eines Geistlichen, und als er nun auch den fast ganz glatt gebügelten Zylinder auf das Haupt setzte, da dachte ich mir: Mit unserem Schulmeister brauchen wir uns nicht zu schämen.

Wir hatten jedes zu Hause je nach Umständen unser Frühstück verzehrt, und nachdem der alte Michel das seine vielleicht nur aus der brannhornernen Dose genommen, machten wir uns auf den weiten Weg nach Krieglach. Unterwegs durch die Wälder gab der Schulmeister mehrere Verhaltungemaßregeln aus: die hohen Herren höflich grüßen, beim Namensrufe sogleich aufstehen (in der Alpelschule blieben wir nämlich beim Ausgefragtwerden sitzen), auf die[57] gestellten Fragen hübsch laut und deutlich antworten; wenn wir was geschenkt bekämen oder gar in Häusern zum Essen geladen würden, sein artig sein, und Schön' Dank sagen! und halt so weiter. Ob von den Prüfungsgegenständen selbst die Rede war, daran kann ich mich nicht erinnern; der Schulmeister schien der Sache sicher zu sein.

Das Wetter war trüb, nebelig, frostig; ohne eigentlich zu regnen, troff es von den Bäumen. Vor dem Orte Krieglach zum Sandbühelkreuz gekommen, wo im Tale das Dorf stattlich vor uns ausgebreitet lag, machten wir halt. Der alte Michel riß Sauerampferblätter ab, um einzelnen der Kinder damit die Schuhe zu reinigen, und auch wo es sonstwo und wie an uns auszubessern und fürsorglich zu schlichten gab, tat er's. Waren ja doch die allermeisten von uns, besonders die Dirndln, das erstemal in der weiten Welt und sahen einem äußerst ungewissen Schicksale entgegen. Enge aneinandergeschlossen marschierten wir hinter unserem Schulmeister drein durch das große Dorf und der Kirche zu, neben welcher das Schulhaus stand. Das war ein anderes Schulhaus, als wir deren in Alpel hatten, das stand mit seiner doppelten Fensterreihe da wie ein Schloß, und jedes Fenster war so groß, daß ein Reiter auf hohem Roß ganz bequem durch dasselbe aus- und einreiten hätte können. Wir durften aber nicht einmal bei der Tür hinein. Denn davor stand eine kleine alte Frau mit Brillen auf der Nase, diese schaute uns prüfend an und sagte, wenn wir die Kinder aus Alpel wären, so sollten wir uns in die Brennholzhütte hineinsetzen und warten, die Herren hätten eben die Dorfkinder in der Arbeit; wenn sie mit diesen fertig wären, würden wir schon gerufen werden. Als wir drin waren, schlug sie das Lattentor hinter uns zu, so daß es spielte, als wären wir eingesperrt.

[58] Im Schoppen waren aufgeschichtete Scheiterstöße, darauf setzten wir uns und waren recht kleinlaut. Der alte Schulmeister war immer unter uns. Er sagte gar nichts, schnupfte aber sehr oft aus seiner Dose. Nach einer Stunde beiläufig, als unsere Beine schon steif und unsere Nasen schon blau geworden waren, hörten wir vom Hause her ein lebhaftes Getrampel, als ob ein Schock Ziegen über die Stiege liefe. Bald darauf stoben die freigewordenen Dorfkinder auseinander, und wir sahen, wie viele derselben schöne Sachen bei sich hatten, die sie betrachteten und einander zeigten. Da hatten sie Bildchen, rotgebundene Büchlein mit Goldschnitt und in Seidenmaschen gefaßte Silbermünzen. Unser Schulmeister sagte uns, daß solches die Prämien wären, womit die fleißigen Schüler bei der Prüfung beteilt würden. Er deutete nicht an, ob etwa auch uns derlei bevorstünde, für uns gewann aber die bevorstehende Prüfung nun ein anderes Ansehen. Wir wurden gerufen.

Ehrerbietig und leise schritten wir die Treppe hinauf und in das Zimmer hinein. Das war sehr groß und weiß und licht und hatte Bankreihen und roch nach Kindern. Und an der Wand stand eine Kanzel mit Bücherstößen. Und daneben am Schragen lehnte eine große schwarze Tafel, auf welcher noch die Kreideziffern einer Rechnung standen. Beim Anblicke der Zahlen ward mir sofort übel, denn so sehr ich die Buchstaben stets geliebt, so sehr habe ich die Ziffern von jeher gefürchtet. Wir setzten uns auf Befehl stolpernd in die Bänke und packten unsere Schulbücher und Schiefertafeln aus. Der alte Schulmeister war nahe an der Tür stehen geblieben, hatte unsere Ordnung gemustert und machte nun, als die Herren hereintraten, eine tiefe Verbeugung. Die Herren waren freilich danach. Da war ein schlanker ältlicher Priester in schwarzem Talar – der [59] Pfarrer von Krieglach; dann ein junger, ebenfalls schlanker Geistlicher mit einem sehr ernsthaften Aloisiusgesichte, das war der Kaplan; hernach ein wohlbeleibter, rund- und rotgesichtiger Herr mit einer recht großen Glatze – das war der Dechant aus Spital am Semmering. Ferner noch mehrere Herren in schwarzem Gewande und mit dunkeln und roten Bärten und funkelnden Augengläsern. Sie musterten uns mit scharfen Blicken, und einer oder der andere zuckte wohl gar ein wenig die Achseln, gleichsam als bedauerte er, solche arme Hascherln so weit hergerufen zu haben für nichts und wieder nichts. Denn es waren gar kümmerliche Figürlein und gar einfältige Gesichtlein unter uns. Man könne sich's ja denken, flüsterte einer der Herren zu seinem Nachbar, wenn die Kinder aufwachsen wie die Tiere im Walde, und ein solcher Lehrer dazu! Man könne sich's denken!

Da war unter den würdigen Herren auch ein kleiner dicker Kumpan mit stets zwinkernden Äuglein und schmunzelnden Lippen. Er war, soviel ich weiß, ein Gerbermeister und »Schulvater«; er war gekommen, um bei der Prüfung auch sein Gewicht geltend zu machen. Dieser nun trat alsogleich vor, nahm einen Jungen der ersten Bank aufs Korn und fragte ihn: »Wieviel hat dein Vater Kinder?«

»Mein Vater hat sieben Kinder,« antwortete der Kleine.

»Und wieviel hat dein Vater Finger?«

»Mein Vater hat zehn Finger.«

»Falsch,« rief der dicke »Schulvater«, »wenn dein Vater sieben Kinder hat, so hat er wahrscheinlich achtzig Finger.«

Auf das gab's ein paar laute Lacher, der gefragte Schüler aber schaute verblüfft drein.

Der Fragesteller wandte sich zur zweiten Bank. »Jetzt will ich dem saubern Dirndel dort eine andere Aufgabe [60] geben. Wenn auf einem Kirschbaum zehn Gimpel sitzen, und ich schieße einen herab, wie viele bleiben oben?«

Das Mädchen stand auf und antwortete: »So bleiben neun oben.«

Zog der »Schulvater« ein sehr schlaues Lächeln und sagte: »Ich glaube, es wird gar keiner oben bleiben, denn die neun übrigen werden davonfliegen.«

Jetzt trat der alte Michel ein paar Schritte aus seinem Hintergrund und, mit gefalteten Händen gegen den Fragesteller gewendet, sagte er sehr demütig: »Wenn ich recht schön bitten dürfte, die Kinder nicht verwirrt zu machen!«

»Ich meine, daß wir in der Schule sind,« nahm nun der Dechant ernsthaft das Wort, »und weil wir gerade auch beim Rechnen sind, so will ich den dort, den Kleinen mit dem roten Brustfleck fragen.«

Der Kleine mit dem roten Brustfleck war ich.

»Paß nur einmal auf, mein Kind,« sagte der Dechant. »Ein Bauer hat einen Tagelöhner, dem er für den Tag sechsunddreißig Kreuzer Lohn gibt; wieviel Gulden Konventionsmünze wird er ihm für die Woche schuldig?«

»Wenn der Bauer,« begann ich abzuhaspeln, »dem Taglöhner sechsunddreißig Kreuzer gibt, so wird er ihm in der Woche schuldig – in der Woche schuldig – – .« Ich weiß es noch genau, wie mir in jenem Augenblicke zumute war. Als ob ich auf einer sehr hohen Leiter stünde, welche zu schaukeln beginnt. Der alte Michel ruft mir noch zu: »Halt dich fest!« Aber ich sehe und taste keine Sprossen mehr, alles um mich wird blau und voll kreisender Sterne, ich stürze. – Als ich wieder zu mir kam, hörte ich nur, wie unser Schulmeister entschuldigend sagte: »Das ist halt von den Schwächeren einer.«

Ich setzte mich nieder.

[61] An derselben Frage bissen sich noch ein paar andere die Zähne locker. Der eine antwortete, der Bauer würde dem Taglöhner für die Woche drei Gulden sechsunddreißig Kreuzer schuldig; der andere behauptete, der Lohn für die ganze Woche mache vier Gulden zwölf Kreuzer. Endlich stellte es sich heraus, daß beide recht hatten, nur daß letzterer von der Sonntagsruhe Umgang nahm. Diesen fragte daher der Pfarrer von Krieglach ziemlich scharf: »Wie lauten die zwei ersten der Kirchengebote?«

Rasch antwortete der Schüler: »Erstens, du sollst den Feiertag heiligen, zweitens, du sollst die heilige Messe mit gebührender Andacht hören.«

»Nun also! Da gibt's doch keinen Taglohn! – Jetzt möchte ich von deinem Hintermann hören, wieviel bei dem bethlehemitischen Kindermorde der König Herodes Mädchen töten ließ?«

Der Hintermann war wieder ich, aber diesmal kam er mir recht. »Mädchen gar keins«, war meine Antwort.

»Nun, wie kannst du mir das beweisen?«

»Ich kann's beweisen damit, daß der Herodes nur Knaben aufsuchen und töten ließ, weil er den kleinen Jesus umbringen wollte.«

»Ah, vortrefflich!« riefen mehrere. Und der Pfarrer sagt gegen den alten Michel gewendet: »Das ist eine Antwort, die ich von Ihrer Schule nicht erwartet hätte.«

Der alte Mann verneigte sich und sagte: »Religion macht den Kindern die meiste Freude. Ich lasse halt Evangelium lesen und was sie von selber nicht verstehen, das erkläre ich ihnen durch Beispiele.«

»Du, Schwarzäugige, dort unten,« rief jetzt wieder der Dechant drein: »Wie oft soll der katholische Christ beichten?«

»Der katholische Christ soll jährlich wenigstens einmal [62] beichten und zur österlichen Zeit das heiligste Sakrament des Altars empfangen.«

Auf dem Gesichte des »Schulvaters« war die spöttische Miene gänzlich vergangen.

Nachdem in der Religion noch mehrere Fragen klipp und klar beantwortet worden waren, ließ der Pfarrer aus dem Lesebuche ein Stück biblischer Geschichte des Alten Testamentes laut lesen, jedem durch die Bank nur wenige Sätze. Das ging flott und die Herren schauten einander nur so an.

»Wieviel haben Sie in Ihrer Schule Klassen?« fragte der Dechant unseren Schulmeister.

»Eigentlich nur eine, oder gar keine«, antwortete dieser. »Ich teile nicht ab. Wir arbeiten halt fort, bis sie lesen, schreiben und ein bißchen rechnen können.«

Nun verlangte man, daß wir unsere Tafeln zum Schreiben bereit machten. Der Dechant gab folgendes Diktat: »Der Geist des Herrn wich von Saul und ließ einen bösen Geist über ihn kommen, der ihn plagte. Und siehe, Saul erschlug Tausende und David Zehntausende, denn mit David war der Segen Jehovas.«

Das Diktando war durchgehends fast fehlerlos, nur mir passierte anstatt des heiligen Namens Jehovas ein dummes »J. Hofers«, was sie aber wieder damit entschuldigten, daß ich einer der Schwächsten sei. Die Schriften der übrigen waren so, daß die Herren untereinander sagten: »In der vierten Klasse einer Bürgerschule selbst wäre ein solches Resultat glänzend zu nennen!«

Unser alter Schulmeister stand immer gleich demütig in seinem Hintergrunde.

»Aha, die hat's doppelt!« sagte der Pfarrer plötzlich, als er die Schiefertafel eines Dirndels umgewendet hatte und dieselbe dem Dechanten hinhielt. Die kleine Eigentümerin [63] stand auf und sagte: »Das andere gilt heute nicht, das ist noch von der Schul' her.«

»Wollen einmal sehen, was ihr in euerer Schule für ein Diktando habt,« sprach der Dechant und las laut die Schrift auf der Rückseite der Tafel: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, das allein unterscheidet ihn von anderen Geschöpfen.«

Sie neigten die Köpfe und der Dechant murmelte: »Nicht übel! Nur schade, daß es vom alten Heiden ist.«

Damit war die Prüfung beschlossen. Die Herren hatten sich zusammengestellt und sprachen leise miteinander. Der Pfarrer schüttelte die Achseln und machte mit den ausgebreiteten Händen eine Geste, die wir erst verstanden, als er sich zu uns wendete und sprach: »Liebe Kinder! Wir sind mit euch sehr zufrieden. Es sind euch auch Prämien vermeint, aber ihr müsset warten, wir haben heute schon alle ausgegeben, sie werden euch nachgeschickt werden. Fahrt nur so fort, lernet fleißig und vergesset die Gebote Gottes und die Gebote der heiligen Kirche nicht.«

Und dann konnten wir gehen. Der alte Michel machte vor den Herren noch seine ehrerbietige Verneigung und ging mit uns. An der Tür soll ihm im Vorübergehen der »Schulvater« ins Ohr geraunt haben: »Die Prämiierten haben es nicht halb so gut gemacht!«

Hernach standen wir auf dem Kirchplatze noch ein bißchen so herum; endlich fand unser Schulmeister, daß es Zeit sei, den Heimweg anzutreten. Die Wohlhabenden gingen noch in den Bäckerladen um je eine Semmel, wir anderen erquickten uns unterwegs an frischen Quellen und stellten Mutmaßungen an, wann wir die Prämien nachgeschickt erhalten, und worin sie bestehen würden. Der alte Schulmeister nahm aus seiner Dose eine Prise um die andere und schwieg.

Anf die Prämien warten wir noch heute.

Als ich Eierbub gewesen
[64] Als ich Eierbub gewesen.

Meine Mutter hatte im Hofe gewöhnlich drei Hühner gehabt. Waren ihrer bisweilen vier, so beklagte sich der Vater, daß dieses Geflieder zu viel Korn fresse, und gab es gar einmal fünf, dann war schon die Rede vom »schnurgeraden Abhausen«, weil die Hühner alles Gesäme auskratzten und vernichteten. So manchmal gab es im Hofe etwas wie einen Hühnerkrieg. Als je schädlicher der Vater dieses flatternde Getier für die übrige Wirtschaft erklärte, je fester mußte die Mutter auf das Vorrecht der Bäuerin bestehen, sich Hühner zu halten. Denn die Eier waren zumeist ihre einzige Einnahmsquelle, von der sie einen Teil ihrer Kleider bestreiten mußte, überdies damit auch noch kleinere Bedarfe für die Kinder anzuschaffen hatte. Doch was der Vater nicht erreichte, das tat der Fuchs, der Iltis, die bisweilen den Hühnerkäfig ausleerten bis auf einige Federn und Knöchlein. Da gab's dann ein großes Klagen, und wenn dabei die Mutter gar mit der Schürze über die Augen fuhr, war der Vater allemal der erste, der von einem Nachbarhofe Hühner heimbrachte mit der weiteren Tröstung, daß der Nachbar im Bedarfsfalle auch den Hahn zur Verfügung stellen wolle.

Die gewöhnlichen drei Hühner nun waren das Kapital der Mutter, das im Frühjahr bis in den Sommer hinein höhere Zinsen trug, als heutzutage irgendeine neugegründete [65] Aktienunternehmung bei allem Optimismus in Aussicht stellt. Das möchte ich gerne sehen, wie in unserer Zeit die Steuerbehörde hüpfen würde, wenn ihr ein Denunziant beibrächte, daß in irgendeinem Bauernhause drei wohlfeile Hühner im Monat um einen Gulden Eier legen! Welch hundertfältige Verzinsung! Da kann man ja die hochnotpeinliche Schraube anlegen! – Leider versiegte die Eier-und Steuerquelle allemal schon nach wenigen Monaten. In übriger Zeit machten die Hühner sich nur bemerkbar, da sie in Küche und Stube auf allen Kästen und über allen Töpfen herumflatterten, im Garten Gruben auskratzten und dann von vorbeikommenden Jagdhunden manchmal unter schrecklichem Gegacker bis auf die Dachfirste gescheucht wurden. In fruchtbarer Zeit war dem brummenden Vater der Mund leicht mit einer Eierspeise verstopfbar, aber in den vielen eierlosen Monaten des Jahres mußte die Mutter dann ihre ganze Beredsamkeit aufbieten, um die Hühner zu rechtfertigen. Die Hühner brächten Glück ins Haus, sagte sie einmal, die Hühner seien ein Gottesschutz gegen Seuchen und Blitzschlag und sie wären nach altem Glauben auch die Friedensvögel. – Das war auf dem Geleise des »alten Glaubens« um ein Wort zu weit gegangen, denn eben zankten sich die Hühner um ein paar Haferkörner, die auf dem Boden verstreut lagen; eine suchte die andere zurückzutreiben, so pickten sie sich gegenseitig mit dem Schnabel, schlugen unhold mit den Flügeln um sich, sprangen mit scharfen Krallen eine auf die andere und machten ein ohrenzerreißendes Gekreische. – »Na ja,« sagte die Mutter, während sie mit der Schürze bledernd die kämpfenden Tiere auseinanderscheuchte, »na ja, raufen tun's freilich auch. Was rauft denn nit auf der Welt? Sogar immer einmal ein paar Leut', und haben sich doch gern.«

[66] Also war es ihr stets gelungen, die Hühner zu behaupten, bis sie im März wieder anfingen Ostereier zu legen. Diese wurden als Erstlinge rot gefärbt und dann verschenkt an arme Kinder, die von Hof zu Hof gingen, um Ostereier zu sammeln, und an die Dienstmägde, die mit solchen Eiern wieder junge Burschen erfreuten. In manchen Gegenden bedeutet es geradezu eine Liebeserklärung, wenn das Mädel dem Buben ein rotes Osterei schenkt. Das berechtigt den Burschen übrigens einzig nur, des Abends manchmal aus Fensterlein zu kommen, um ihr »Gute Nacht« zu sagen. Die Burschen pflegen die geschenkten Eier zu benützen, um untereinander zu »dutschen«. Da werden die Spitzen der Eier aneinander gedupft; der, dessen Ei ganz bleibt, hat das zerbrochene damit gewonnen, es wird sofort verzehrt. Ein anderes Eierspiel besteht darin, daß einer das rote Ei hinhält, es mit der geschlossenen Hand so weit verdeckend, daß nur eine kleine Fläche offen bleibt. Ein anderer schleudert nun zielend eine kleine Münze darauf hin. Trifft diese die Fläche und bleibt sie im Ei stecken, so gehört es ihm, trifft die Münze nicht, so gehört diese dem Eigentümer des Eies. Ein weiteres Gesellschaftsspiel ist das Eiersuchen. Die Mädchen verstecken Eier in Winkeln, unter Stroh, Busch und dergleichen und die Burschen müssen dann suchen. Wer eins findet, glaubt bisweilen nicht bloß Eigentümer des Eies zu sein, sondern auch derselben, die es versteckt hat. Sie meldet sich aber nur, im Falle der Bursche recht nett ist. Ansonsten will keine hinter dem gefundenen Ei stehen und der Finder »ist der Narr, frißt den Dotter samt dem Klar«. – Mein Vater hat solche Eierspiele zwischen Burschen und Dirndlein nie gern gesehen. Tat man's aber hinter seinem Rücken, so ward es oft noch bedenklicher.

[67] Waren die Ostern endlich vorüber, dann kam die Zeit der Ernte. Meine Mutter hatte einen semmelgelben Korb mit Henkelreifen. Manchmal am Sonntage füllte sie diesen Korb mit Eiern, streifte den Henkel über den Arm und trug ihn ins Mürztal zum Verkaufe. In den Jahren aber, als die Mutter kränklich war, mußte ich der Eierbub sein. Alle Monate ein- oder zweimal wurde der Korb voll; ich, der zehn- oder zwölfjährige Junge, trug ihn über Berg und Tal nach Krieglach, wo die festen Abnehmer waren, als: die Frau Bürgermeisterin, die Frau Lebzelterin, die Frau Wirtin und die Frau Bäckin. Zwei Kreuzer für das Ei, das war der Preis, keine gab mehr, keine weniger. Nur dazu noch einen »Tragerlohn«, der bei einem vollen Korbe in einer Schale Kaffee bestand oder in einem Gläschen Wein oder in einer Semmel. Die Frau Bürgermeisterin gab fast allemal ein Silbergröschlein, weshalb ich den Korb am liebsten zu ihr trug. Der Nachteil war nur, daß ich an solchen Tagen auf der ganzen Wanderung nichts zu essen hatte, weil die Gröschlein für Bücher und Schreibpapier zusammengespart wurden. Daß dem kleinen, kleberen Waldbauernbuben eine Semmel oder eine Schale Milchkaffee besser bekommen hätte, als das »Ägyptische Traumbüchel« oder »Die Geschichte der heiligen Monika« oder ein Roman von Eduard Breier, das wollte ich heute schier meinen. Meine damalige Weisheit ging darauf hin, daß man morgen nichts mehr hat von den Schätzen, die man heute verspeist, weshalb man daher die Sachen nicht verspeisen soll, sondern sie für was Beständiges verwenden. Daß eine solche Weisheit allmählich recht mager macht, davon mag dieser Eierbub ein Beispeil gewesen sein. Manchmal bekam ich in Krieglach auch Bücher geborgt. »Bin froh, wenn sie mir weggelesen werden,« sagte die alte Lebzelterin und öffnete mir [68] ihren Dachboden. Er war eine untereinandergeworfene Sammlung von alten Geschichtenbüchern, Gedichtesammlungen, Reisebeschreibungen, Kalendern, Mode- und Theaterzeitungen, Anekdotenschätzen usw. Aus diesem Gelaß, das ich nach Herzenslust beherrschen durfte, ist mir im Laufe der Zeit so viel Geist und Weisheit entgegengeströmt, daß ich fast verrückt geworden bin. Wie ich den Korb voll Eier austrug, so trug ich ihn voll Bücher heim. Den Korb an den Arm gestreift, in einem Buche lesend, so trottete ich über Berg und Tal dem Waldhause zu, und wenn ich etwa einmal stark stolperte, so war ja nun keine Gefahr dabei. Die gelesenen Sachen mengten sich im Kopfe ohnehin zu einem so fabelhaften Weltgetrödel durcheinander, daß sie durch ein wenig Schütteln nicht leicht noch ungeheuerlicher werden konnten. Öfter geschah es auch, daß ich für das gelöste Eiergeld häusliche Notwendigkeiten einkaufen mußte und der Korb mit Band und Zwirn, Kerzen, Salz und dergleichen sich füllte. So war ich das merkantile Organ des Waldhauses geworden zur allseitigen Zufriedenheit. Da kam über den Eierbuben einmal das Verhängnis.

Als ich mit meinem reichlich gefüllten Eierkorb eines Tages wieder einmal auf der Waldstraße ging gen Krieglach hinab, holte mich der Jungfuhrmann Blasius ein mit seinem flinken Rößlein. Da er sah, wie sehr weich und behutsam ich voranschritt, erstens der Eier wegen und zweitens der steinigen Straße halber, deren scharfe Splitter mich in die Barfüße stachen, so hielt der Blasius seinen Wagen an und sagte, ich dürfe aufsitzen.

»Es sitzt ja schon wer im Wagen,« lachte ich.

»Der liegt,« antwortete er. Denn es war ein abgestochenes Kalb, das er zum Fleischhauer führte. Ein untere haltsamer Fahrgast war das nicht, aber ich setzte mich zu [69] thut. Das Kalb schaute mich mit seinen großen, pechschwarzen Augen gleichgültig an, als ich mich so zwischen seine vier ausgestreckten Beine hinschob und den Eierkorb daneben aufs Stroh setzte.

»Hat's dich denn nit derbarmt, Blasius, weil du es hast abgestochen?«

»Gerad' weil's mich derbarmt hat, hab' ich's abgestochen,« sagte er. »Lebendigerweis' auf dem Wagen zum Fleischhacker schleppen, oder gar mit einem Hund hetzen, und am End' bleibt's ihm doch nit erspart, nur daß es der Fleischhacker vielleicht viel dümmer macht. Da hab' ich's Messer lieber gleich selber hineingeschoben. In zwei Minuten ist's hin gewesen.«

Kaum er's gesagt, bewegte das Kalb den Kopf – es war aber nichts als das Schütteln des Wagens. Der Blasius ließ das Zeug flink vorangehen; mir tat das Sitzen auf dem hüpfenden Wagen sehr wohl. Da kam mir allmählich der Gedanke, es dürfte nicht ungeschickt sein, den Eierkorb auf den Schoß zu nehmen. Aber es war schon zu spät. Die schleimige, gelbliche Flüssigkeit sickerte hervor durch alle Spalten des Korbes.

Auf mein Klagegeschrei riß der Blasius sofort die Halfter zurück.

»Ein Pfund Fleisch hätt' ich sollen heimbringen für meine kranke Mutter, und ein Pfund Reis und drei Semmeln und jetzt ist das Eiergeld hin!«

Der Fuhrmann schaute auf die Bescherung und schwieg.

»Wart Bübel, das wollen wir gleich machen,« sagte er endlich und langte um seinen Geldbeutel.

»Oha!« rief er überrascht, denn das lederne Säcklein mit dem roten Binderiemen war leer. »Macht nichts, ich geb' dir meine Taschenuhr. Der Knödel geht eh' nix nutz, [70] aber ein paar Gulden ist das G'lump noch wert. Verkauf' sie in Krieglach und kauf' Fleisch für deine Mutter. Fleisch da aus dem Kalb schneiden, wenn wir könnten! Ist eh' dumm, daß wir Kalbfleisch hinführen, das Pfund nit teurer als etwa funfzehn Kreuzer und dort mußt du's sicher um zwanzig zahlen.«

»Ich kann von dir nichts verlangen, Blasius. Die Eier sind wegen meiner Leichtsinnigkeit zerbrochen.«

»Dummes Zeug! Der Wagen hat sie zerschüttelt und wenn ich dich nit auf den Wagen steigen hätt' heißen, so wär' den Eiern nix geschehen. Ich bin schuld, seh', da hast die Uhr!«

Ich nahm sie leihweise und wir fuhren weiter.

Als wir zur Seßlerschen Kohlenbrennerei kamen, wo neben einer verfallenden Hütte zwei Meiler dampften, hielt der Blasius wieder an. Er stieg ab, nahm den triefenden Korb und rief durch die offene Tür in die finstere Köhlerhütte hinein: »Susanna! Hörst du? Bist daheim, so komm heraus und bist nit daheim, so sag's. Bis wir nach vier Stunden zurückkommen, sollst du uns eine Strauben (Eierkuchen) backen.«

Daß aus einer kohlrabenfinsteren Hüttentüre ein blühröserlrotes Dirndlgesicht hervorgucken kann, sollte man sich nicht denken.

»Eine Strauben?« fragte sie zurück. »Hast Eier?«

Der Jungfuhrmann hielt ihr den Korb entgegen. Sie schlug die Hände zusammen: »Aber Jesseles na! Was habt's denn da ang'stellt?« Sie kam mit einer blumigen Tonschüssel und schüttete das Gemenge hinein: Klar, Dotter, Schalen, alles durcheinander. Es hatte in der Schüssel nicht Platz, sie füllte auch noch einen Milchtopf. Und wurde es festgemacht: nach vier Stunden kommen wir, die Strauben zu [71] essen. Es fanden sich noch Eier, denen nichts geschehen war, diese nahm ich im Korbe wieder zu mir und so fuhren wir weiter talwärts.

In Krieglach angekommen, nahm der Blasius seinen Weg zum Fleischhauer, ich ging mit meinem Korb zur Bürgermeisterin. Da sie sich verwunderte über die geringe Anzahl der Eier, die ich heute brachte und wohl auch die Spuren des Mißgeschickes sah, erzählte ich ihr das Malheur.

»Ja,« lachte die Frau, »Bübel, da hast heut' ein gutes Lehrgeld gezahlt. Jetzt wirst dir's wohl merken, daß man den Eierkorb nicht in einen Kälberwagen hinstellt.«

Da der Erlös für die Eier durchaus nicht reichen konnte für ein Pfund Kalbfleisch und für ein Pfund Reis und drei Semmeln, so zog ich die Sackuhr aus der Tasche und fragte, was die Frau dafür geben wolle. Die Uhr gehe zwar nicht, weil sie das Fahren gewohnt sei, aber sie koste drei Gulden, mindestens zwei. Wenn der Frau das zu viel, so sei sie auch um einen Gulden zu haben, oder wie viel man halt dafür geben wolle.

Das kam der Frau nicht recht vor, sie rief den Bürgermeister. Der kam aus seiner Kanzlei heraus, setzte sich auf der breiten Stumpfnase die Hornbrille zurecht und fragte kurz und schneidig: »Bub, woher hast du diese Uhr?«

Erschrocken stotterte ich, ein Fuhrmann hätte sie mir geschenkt.

»Das ist nicht wahr. Fuhrleute schenken keine Uhren. Du bleibst da, bis wir wissen, von wem du die Uhr hast!«

Die Bürgermeisterin wollte besänftigen, doch der Herr war überwältigt von seinem Richterberufe, er ließ schon den Gemeindediener rufen, der mich in den Kotter stecken sollte. – Es ist gefährlich, jetzt vor den Fenstern den Blasius vorbeifahren [72] zu lassen, weil in solchen wahrhaftigen Erzählungen der Zufall nie eine zu auffallende Rolle spielen sollte, aber er fuhr doch vorbei. Erstens weil der Blasius bei seinem Fleischhauer schon fertig war und zweitens, weil die Straße da vorüberkam. Wie glaubte ich es der heiligen Kirche, daß Sankt Blasius ein Nothelfer ist, wie rief ich ihn an durch das Fenster: »Blasius, komm herein und sag', von wem ich die Uhr hab'!«

Da hat sich denn rasch und schön alles aufgeklärt. Und als die Frau Bürgermeisterin hörte, alles sei darum, daß die kranke Mutter daheim Fleisch, Reis und Semmeln bekomme, rief sie lebhaft, das hätte ich gleich sagen sollen, und gab Geld her. Abzahlen sollte ich es mit Eiern, recht langsam und kleinweise, daß es mir nicht weh täte.

So steckte der Blasius seine Uhr wieder ein, ich ging ins Dorf, um meine Einkäufe zu machen und dann setzten wir uns auf den nun leeren Wagen und fuhren heimwärts.

Der Korb stand unter den Füßen und nun vertrug er die Püffe und Stöße ohne alle Gefahr. Der Jungfuhrmann fragte mich, was beim Fleischhauer das Pfund Kalbfleisch gekostet hätte.

»Fünfunddreißig Kreuzer.«

»Was sagst du? Fünfunddreißig das Pfund? Fünfunddreißig Kreuzer, sagst du? Und mir hat er's am Kalb um vierzehn abgedruckt, das Pfund. Ist das ein Lump! Der ist ja für den Galgen zu schlecht! Und hat mir nicht einen Kreuzer ausbezahlt. Weil ich ihm schuldig bin gewest. Fünfunddreißig hast du ihm geben müssen für das Batzel! Und noch ein Knochen dabei. Sind doch Erzräuber, diese Fleischhacker, diese gottverfluchten Wuchererbuben, diese kreuzweis verdammten!«

Mit heiligem Schauder blickte ich auf. Als ob ein[73] wildes Wetter mit Blitz, Donner und Hagel vom Hochgebirg herabkömme, so schreckbar erhaben kam mir dieser Fluch vor. Bei uns daheim wurde so was nie gehört. »Sapperawold nohamol!« war schon der höchste Zornesausruf, dessen mein Vater in den widerwärtigsten Momenten fähig war. Später freilich habe ich die Fleischer noch ganz anders verfluchen hören und man kann begierig sein, wie es diesen feisten Leuten ergehen wird am Jüngsten Tage, wenn die Teufel mit ihren neunmalhunderttausend Gehilfen in großen Krenzen (Rücktragkörben) all die Flüche vor den Richter schleppen werden, die je gegen die Fleischwucherer ausgestoßen worden sind. Ein halbdutzend Krenzen dürften allein von den meinen schon voll werden.

Als wir in die Nähe der Kohlenbrennerei kamen, wurde der Blasius sänftiglich. Mit dem Peitschenstab zog er sich von einem Vogelbeerbaume einen Ast nieder, pflückte eine Rispenblüte und steckte sich dieselbe auf den Hut, dann drehte er seinen salben Schnurrbart in Spitzen, was bei den widerspenstigen Haaren, wovon jedes für sich Spitze sein wollte, nicht sonderlich gelang.

Als wir aus der dunkeln Hüttentüre den zarten blauen Rauch hervorsteigen sahen, schnalzte der Blasius mit der Zunge. Die Strauben war fertig und lag gleichsam wie ein goldener Turban (deren gab's in meinem Buch von dem Türkenkrieg) auf dem Porzellanteller. Auch überzuckert war er. Das Dirndl hatte sich ebenfalls bereitet, schön die blonden Haare geflochten und eine Steinnelke hinters linke Ohr gesteckt. Ich weiß von ihr nicht viel zu beschreiben, als daß sie wie ein lichtes Röselein in der dunkeln Hütte stand. Wir setzten uns um etwas, das sie Tisch nannte, einer nahm die eiserne Gabel zur Hand und begann den stattlichen Kuchen zu zerreißen. Wir aßen mit[74] Andacht und Dank gegen die brave steinige Waldstraße, die den Wagen hatte holpern und die Eier in süßer Wehmut hatte zerfließen gemacht.

Das Köhlerdirndl aß auch mit und als dann die Abrechnung kam, was wir schuldig wären für das Kochen und für das Schmalz und für den Zucker, schickte der Blasius mich hinaus, um aufzupassen, daß das Pferd nicht davongehe. Weil das Tier ganz ruhig stand, so dachte ich, er habe mich fortgeschickt, um in seiner Großmut die Zeche allein zu bezahlen. Es war vielleicht nicht genau so. Um die Ecke – damals hatte ich noch ein scharfes Ohr – hörte ich folgendes, wenn auch nur geflüstertes Gespräch:

»Wie soll ich dir die Strauben denn bezahlen, Susanna?«

»Ja, das mußt du wissen, wohlfeil wird sie nit sein.«

»Ist dir's derweil genug, wenn ich die Sackuhr da laß?«

»Uh, was brauch' ich denn eine Uhr, die nit geht!«

»Weißt, Dirndl, gehen tut gar keine Uhr. Jede muß man tragen.«

»Schau, wie du g'scheit bist! Kannst denn so viel Gescheitheit derführen mit deinem Einspänner?«

»Ich tät' schon auch lieber zweispännig fahren,« sagte er und wie mir schien, legte er gleich seinen Arm als Joch um ihren Hals. Nach ihren halblauten Einwänden zu schließen, suchte sie sich einer solchen Zweispännigkeit zu entwinden.

Sprechen hörte ich nichts mehr. An einem der Kohlenmeiler, die neben der Hütte rauchen, war eine Glutstelle offen geworden, aus der Funken stoben. Ich wußte von meinem Vater her, der auch das Köhlern verstand, daß solches nicht sein dürfe und rief laut: »Köhlerin, das Feuer tut Schaden!«

[75] Darauf sind beide hervorgekommen aus der Hütte, nicht wenig verwirrt und erschrocken darüber, daß der Meiler zu Schaden brenne!

Na, dann gegen Abend bin ich glücklich nach Hause gekommen. Es war ja soweit alles gut abgelaufen, aber als nach einem Monat wieder der Eiertag kam, habe ich mir doch gesagt: Einem Fuhrmann sitze nicht wieder auf!

Hoffentlich hat die junge Kohlenbrennerin nicht einen ähnlichen Vorsatz zu fassen gehabt.

Der Gang zum Eisenhammer
[76] Der Gang zum Eisenhammer.

Noch tief in der Nacht weckte mich an einem Frühlingsmorgen mein Vater und sagte, er gehe heute in das Mürztal. Wenn ich mitgehen wolle, so möge ich mich eilig zusammentun, aber die scharfbenagelten Winterschuhe anziehen, es sei stellenweise der Weg noch eisig.

Sonst, wenn ich in früherer Stunde zur Alltäglichkeit geweckt wurde, bedurfte es allerlei Anstrengungen außer und in mir, bis ich die Augen zur Not aufbrachte, um sie doch wieder auf etliche Minuten zufallen zu lassen, denn meine alte Ahne war der Meinung, ein allzurasches Aus-dem-Schlaf-springen mache Kopfweh. Heute war ich mit einem Ruck munter, denn ins Mürztal mitgehen, das war in meiner Kindheit das Erfreulichste, was mir passieren konnte. Wir waren bald reisefertig, der Vater nahm seinen großen Stock, ich meinen kleinen; die Laterne nahmen wir nicht, weil es sternhell war – und so gingen wir davon. Die erste halbe Stunde war es wie allemal, wenn ich frühmorgens mit dem Vater ging, wir schwiegen still und beteten während des Gehens jeder für sich das Morgengebet. Wir hatten wohl so ziemlich das gleiche, aber ich wurde immer ein gut Teil früher fertig als er und mußte mich dann still gedulden, bis er den Hut aufsetzte und sich räusperte. Das war das Zeichen, daß ich ein Gespräch beginnen durfte, denn ich war fortwährend voll von Fragen und Phantastereien, auf die der Vater bisweilen derart einging, daß [77] alles noch rätselhafter und phantastischer wurde. Gewöhnlich aber unterrichtete er mich in seiner gütigen und klaren Weise, daß ich alles wohl verstand.

Nachdem wir an diesem Frühmorgen etwa zwei Stunden gegangen waren, hin über die Höhen der Stangelalm, lag vor uns das weite Tal der Mürz. Von Mürzzuschlag bis Kapfenberg dehnte es sich stundenlang, und wenn ich es sonst im Morgengrauen sah, lag im Tale der Nebel wie ein grauer See, aus welchem einzelne Höhen und die jenseitigen Berge blauduftig emporragten. Heute war es anders, und heiß erschrak ich vor dem, was ich sah. War denn der Franzose wieder im Land? Oder gar der Türk'? In Kindberg, das tief unter uns lag, lohte an vielen Stellen glührotes Feuer auf. Auch im oberen Tal, über Mitterdorf, Krieglach und Feistritz, und gen Mürzzuschlag hin waren rote Feuersäulen; im nahen Kindtal sprühten mächtige Garben von Funken empor.

»Närrlein, du kleines!« sagte mein Vater, als ich mich mit beiden Fäusten krampfhaft an seinen Rock hielt, »das ist ja nichts. Das sind ja nur die Eisenhämmer. Lauter Schmiederauchfänge, aus denen Funken springen. Hörst du denn nicht das Pochen und das Klappern der Hämmer?«

»Ich höre es wohl, aber ich habe gedacht, das wären die Kanonen und Kugelstutzen,« sagte ich aufatmend.

»Kind, wo käme denn jetzt der Feind her? Der liebe Herrgott hüte unser Steirerland!«

»Aber wie ist es denn,« fragte ich, »daß die Dächer nicht brennend werden, wenn soviel Feuer herumfliegt?«

»Die Dächer sind voller Staub und Asche, das brennt nicht. Und dieses Feuer, das so schreckbar wild aussieht, ist auch nur glühende Asche, Ruß und Geschlack, wie es aus der Esse aufsprüht, wenn der Blasebalg dreinbläst.«

[78] »Und warum sprüht es denn just in der Nacht so?« fragte ich.

»Es sprüht auch beim Tag so,« antwortete der Vater, »aber gegen das Sonnenlicht kommt dieser Schein nicht auf, und was jetzt so blutrot leuchtet, das ist bei Tag nur der rußige Rauch, der aus dem Schornsteine aufsteigt.«

»Tun sie denn in den Schmieden nicht schlafen?«

»Das wohl, aber sie stehen sehr früh auf, oder lassen in den größeren Essen gar das Feuer nicht ausgehen, weil es sonst schwer ist und viel Kohlen braucht, bis die Hitze wieder erzeugt wird. Da wachen und arbeiten die einen Schmiede, während die anderen schlafen.«

»Gibt's denn soviel Ochsen zu behufen im Mürztal?« war meine Frage, denn ich hatte einmal dem Hufschmied zu Hauenstein zugeschaut, wie er einem Zugochsen Hufeisen an die Klauen nagelte.

»O Knäblein, Knäblein!« rief mein Vater, »die Schmiede haben noch ein wenig mehr zu tun, als wie zu hufen. Du bist ein Steirer; wenn wir auf unserem Gebirge auch nichts haben, als Feld und Alm und Wald, solltest du doch schon wissen, wozu die vielen hundert Krippen von Holzkohlen verwendet werden, die wir und unsere Nachbarn Jahr für Jahr ins Tal hinausführen. Solltest auch wissen, daß dein Heimatland Steiermark das Land der Hammerschmiede ist. Wenn du jetzt, bevor der Tag ausgeht, vom hohen Himmel mit sehr guten Augen herabschauen könntest auf unsere Steiermark, so würdest du, besonders im Oberland, auch die anderen Täler so sprühen und leuchten sehen, wie hier das Mürztal. Es sprüht in Neuberg und bei Mariazell und in der Veitsch, es sprüht im Ennstal und im Murtal, an der Feistritz, an der Kainach, an der Sulm und an der Sann, wo die Leut' schon gar nicht mehr deutsch sprechen, [79] aber sprühen tut's doch. In Vordernberg, in Eisenerz, in Hiflau sollst es erst sehen, und überall, wo Hochöfen sind. In den Hochöfen wird das Erz, das sie aus dem Gebirg graben, geschmolzen, daß das Eisen herausrinnt wie ein hellglühender Mühlbach. Da sprüht's auch, mein Bübel! Da sind – wenn ihrer zwei, drei Hochöfen nebeneinander stehen – in der Nacht schier die Felsberge rot vor lauter Schein. Und schaust in den Ofen, so siehst ein schneeweißes Licht, blendend wie die Sonne. Das ist ein anderes Feuer, als daheim bei unserem Hufschmied. Das Erz graben sie aus dem Erzberg, der weit drinnen im Gebirg steht und mehr wert ist, als alles Gold und Silber von Haus Österreich. Das Eisen, das im Hochofen aus dem Erz rinnt, erstarrt in der freien Luft sogleich, wird nachher mit Hämmern zerschlagen und in schweren Schollen durch das ganze Land verführt, zu jedem Eisenhammer hin, wo sie aus diesem Roheisen immer feineres Eisen, das Schmiedeeisen, den Stahl und daraus allerhand Geräte und Werkzeuge machen.«

»Auch Schuhnägel vielleicht?« fragte ich, weil mich einer davon durch die Schuhsohle in die Ferse stach.

»Schuhnägel, Messer, Stifte und Eisendrähte, das machen sie draußen bei Stadt Steyer herum. Bei uns im Land machen sie in den Eisenhämmern Pflugscharen, Eggenzähne, Strohschneidemesser, Hacken, Äxte, Drähte, Nägel, Schlösser, Ketten, Pfannen und allerlei, was du aus Eisen an den Häusern und Werkstätten nur sehen und denken magst. Die kleineren Schmiede, die fahren damit auf die Jahrmärkte. Größere Hämmer gibt's, die machen auch Zeug zum Leutumbringen – mußt du wissen. Das Wichtigste aber, was in den steirischen Hammerwerken gemacht und auch weit in fremde Länder verführt wird, sind Sensen und Sicheln. Millionen [80] Stück werden dir verschickt alle Jahr, und darum können die Hammerherren mit ihren Frauen so vornehm herumfahren mit flinken Rößlein. Und mit dem Geld prahlen sie, daß es nur so prasselt im Land, und wo ein übermütig Stückel aufgeführt wird, da ist gewiß ein Hammerherr dabei. Gar zu Gescheite sind gewesen, haben es mit Steinkohlen probiert, die tun's aber nicht; das rechte Eisen muß mit Holzkohlenfeuer gearbeitet werden, sonst ist's nichts nutz. Die Holzkohlen, die wir Bauern liefern, die machen es ja, daß steirisch Eisen in der Welt so gut estimiert wird. Kommen halt die polnischen und russischen Juden und türkischen Händler, auch aus Ungarn und Böhmen, werden von den Hammerherren brav bewirtet und kaufen ihnen die Eisenwaren ab, oft zu tausend Gulden auf einmal. Sollen da draußen in einer großen Stadt die Schmiede von der ganzen Welt einmal zusammengekommen sein um einen eisernen Tisch, und jeder wollt' die schärfsten Sensen haben, den feinsten Stahl drin. Der steirische Schmied hat nicht mitgestritten, sondern soll zuletzt mit seiner Sense den eisernen Tisch mitten auseinander gehauen haben.«

»Wird sie wohl schartig worden sein, die Sense. Nicht?«

Ohne auf diese müßige Frage Antwort zu geben, fuhr der Vater – indem wir im Morgengrauen sachte talab stiegen – fort zu sprechen:

»Wie die Anzeichen sind, wird's nicht immer so dauern mit den Eisenhämmern. Man hört allerlei Sachen. Merkwürdige Sachen, mein Bübel, wie sie unsere Vorfahren nicht gehört haben. Da draußen auf dem flachen Land irgendwo – sie sagen im Mährischen oder wo – da bauen sie eine Eisenbahn.«

»Eine Eisenbahn? Was ist das?«

»Da legen sie auf der Straße hin und hin zwei eiserne [81] Leisten, daß darauf die Wagenräder recht glatt und eben gehen können. Auf diese Weise sollen ein Paar Rösser schwere Wagen fünf und sechs auf einmal ziehen können. Es wird auch gelogen über die Sach', daß sie eine Maschine erfunden hätten, die das Feuer treibt, anstatt der Fuhrmann, und daß die Maschine vor die Wagen gespannt wird und wie ein Roß ziehen kann. Sind dumme Sachen, ich sag' dir's nur, daß du's nicht glauben sollst, wenn du davon hörst.«

»Nein, Vater,« antwortete ich, »das werde ich gewiß nicht glauben.«

»Aber das ist wahr,« fuhr er fort, »daß sie jetzt viel mehr Eisen brauchen in der Welt, als vor Zeiten. Es werden da und dort auch schon große Eisenhämmer gebaut, wo mehr als hundert Schmiede beschäftigt sind, und wie sie extra noch mit Wasserdampf arbeiten sollen, was weiß ich, wie! In diesen großen Werken machen sie alles, und weit wohlfeiler als in den kleinen, und desweg wird's ein rechter Schade sein für unsere Eisenhämmer, und hört man, etliche sollen schon keine Arbeit mehr haben, zugesperrt oder an die großen Werke verkauft werden. Nachher ist's traurig um uns. Weiß Gott, wie's noch wird mit der Welt!« 1

Mittlerweile war es licht geworden, und wo früher die feurigen Springbrunnen aus den Schornsteinen gestiegen [82] da flog jetzt dünner, brauner Rauch auf. Wir waren in das Tal gekommen, gingen an einem überquellenden Hammerbachfloß entlang und auf glattem, kohlschwarzem Wege einer der Hammerhütten zu, aus deren offenem Tor uns greller Glutschein entgegenleuchtete.

Über dem Tore war das Bergmannszeichen, die gekreuzten Hämmer und Schlegel, über dem schwarzen Dache ragten die weißgetünchten Schornsteine auf, die an ihrer Mündung mit lenkbaren Klappen versehen waren, womit man, wie der Vater belehrte, den Luftzug regeln könne.

So waren wir der Schmiede ganz nahe gekommen. Ich sagte nichts, denn ich wollte in die Schmiede gehen und hatte doch Angst vor dem Lärm, der drinnen war, und vor den Funken, die durch die finsteren Räume flogen. Mein Vater sagte auch nichts, sondern führte mich hinein. Vor dem Tore hatte eine Tafel gestanden: »Fremden ist der Eintritt nicht gestattet!« Aber ein Mann, den mein Vater fragend angeblickt, sagte: »Nur zu!«

Was ich zuerst sah, das war ein sprühendes Stück Sonne, das von der brüllenden Esse mit Schwung herbeigebracht wurde und auf den Amboß geworfen, tonlos, als wäre es von Teig. Jetzt hob sich auf wuchtigem Hebelbaume der Hammer und fiel nieder in die weiche Masse, daß ein [83] Meer von Funken durch die Hütte schoß. Ich barg mich vor Schreck und Angst hinter den Rücken meines Vaters, aber die Funken waren bereits angeflogen an mein Leiblein, und ich war nur höchlich überrascht, daß ich nicht lichterloh brannte, ja nicht einmal einen Schmerz wahrnahm an den Händen, an welche die feurigen Mücken gesaust waren. Auch der zweite und dritte Hammerschlag jagte ein Heer von Schlacken und Funken hinaus, aber je platter das Eisenstück geschlagen wurde, je rascher der Hammer darauf niederfiel, desto weniger sprühte es. Ein Schmied stand da, der wandte mit langer Zange das Eisenstück hin und her, bis das Geschlacke von allen Seiten herausgehämmert war. Das weiße Glühen war immer röter und matter geworden, und endlich hatte das Stück nur mehr die graue Farbe des Eisens. Es wurde hingeschleudert, der Hammer stand still.

Ich war ein wenig dreister geworden und besah mir jetzt die Dinge, obwohl es ganz dunkel war, wenn das Feuer nicht leuchtete. Vor allem fiel mir ein großer Lederkasten auf, der Atem schöpfte. Der Blasebalg war's, welcher, von Wasserkraft aufgezogen, durch Röhren in die Esse blies. Auf der Erde lag allerlei altes Eisen umher. An den Wänden lehnten und hingen in ganzen Reihen Zangen, Hämmer, Schlegel, Feilen, Hacken, Beile und anderlei, was ich gar nicht kannte. Jetzt erst fielen mir auch die Schmiede auf, über deren rußige Gesichter und entblößte Brust die Schweißtropfen rannen. Wir gingen weiter und kamen zu anderen Essen, wo die Schmiede mit Eisenschaufeln Kohlen in die Glut warfen, die sofort mit glanzloser, blauer Flamme grollend zu brennen begannen. In einer Esse glühte man Eisenstücke, die hernach unter kleinere, rascher pochende Hämmer kamen. Hier wurden sie – wie sie der Schmied wendete und drehte – in längliche Formen gehämmert, an denen [84] ich nach und nach die Gestalt der Sense erkannte. Weil das Eisen bald kühlte und noch unrein war, so mußte es immer wieder in die Esse, aus der es glühend und sprühend hervorkam. So wiederholte sich's, bis der Hammer und das kleine Handgehämmer der Schmiede endlich eine richtige Sense zuwege gebracht hatte, die dann schrillend auf einen Haufen von Sensen hinfiel.

War der Lärm in der Schmiede auf einen Augenblick verstummt, so hörte man draußen das Rauschen des Wassers, das von hohem Floß auf die Räder niederstürzte. Aber der Lärm ging immer von neuem los, und es geschah an den Essen und Hämmern immer dasselbe. Auch meine Sense, die ich werden sah, war lange noch nicht fertig. Sie wurde neuerdings geglüht und kam unter die Handhämmer der Schmiede, die sie seiner formend in gleichem Takte bearbeiteten, bis der Henkel und der Rückenrand und die Schneide und die Spitze fertig waren. Sie hatte nun eine Reihe von kleinen Narben bis zur Spitze hinaus und war überlaufen mit einem schönen violetten Blau.

Mir fielen aber die Schmiede auf. »Warum sie allemal noch einen leeren Schlag auf den Amboß machen, wenn die Sense schon weggezogen ist?« so fragte ich. Mein Vater antwortete: »Das tun die Schmiede überall, weil es heißt, mit dem Schlage auf den Amboß schmieden sie die Kette fester, mit welcher der höllische Drach' gefesselt ist; sonst tät' sie endlich brechen und der böse Feind wär' los und ledig.«

Nun kam die Sense noch auf einen Schleifstein; der ging so scharf, daß die Stahlschneide, die fest auf ihn gedrückt lag, unter ohrenzerreißendem Geschrille beständig einen hellen Blitzschein von sich gab, was noch das Allerschönste war in der ganzen Schmiede.

Wollte ich's genau nehmen, so müßte ich auch das[85] Personal aufzählen, durch dessen Hände ein Stück Eisen geht, bis es Sense ist; ich müßte den Kohlenbuben, den Strecker, den Breitenheizer, den Abschinner und den Kramrichter nennen und vor allem den Obersten, den Essemeister. Ich müßte auch den Streckhammer, den Breithammer und den Kleinhammer genauer beschreiben, endlich das Abschinnern der fertigen Sensen, und das Stempeln mit dem Firmazeichen und das Kramrichten. Ich bin aber kein gelernter Schmiedegeselle und werde wohl allerlei Handgriffe und Vorgänge übersehen haben, bis das Werkzeug des Mähders fertig war. – Ähnlich, sagte mein Vater, würden auch die Sicheln gemacht, aber ganz anders die Messer und alle Schneidewerkzeuge, die einen federigen Stahl haben.

»Glückauf!« rief mein Vater den Schmieden zu. Diese hörten nichts. Wir gingen – stets angefochten von sprühenden Funken – ins Freie. Dort war es freilich noch schöner; wir gingen unter Pappeln hin und hörten noch lange das dumpfe Hammerpochen und das Wasserrauschen hinter uns.

Ich hatte ein blauschimmerndes Stück Schlacke mit mir genommen und betrachtete es jetzt wie einen errungenen Schatz.

»Das ist nichts,« sagte mein Vater und zog ein Schöllchen Roheisen aus dem Sacke. Das war rostfarbig und durchlöchert wie ein Schweizerkäse. »Wenn's auch nicht so glänzt wie das deinige, es ist doch mehr. Aus diesem Ding – heb' einmal, wie schwer es ist! – kann man seine Werkzeuge machen, die sehr wichtig sind. Du sollst mir auch noch das Tüchtige vom Schimmernden unterscheiden lernen.«

Nun gingen wir in den Marktflecken Kindberg hinein.

Wir hörten an allen Ecken die Hämmer pochen, und auf der Straße fuhren schwarze Kohlen- und Roheisenwagen, aber auch fertige Eisenwaren in Kisten, Fässern und Strohgewinden [86] sahen wir schleppen die weiße Reichsstraße entlang gegen Graz und gegen Wien.

Im Brauhause bekränzten sie das bogenförmige Einfahrtstor mit Tannenreisig und schmückten es mit Fahnen, mit Hämmern, Hacken und Zangen. Mein Vater fragte, was das bedeute? Ja, morgen hätten die Schmiede hier einen Ball, sagte der Brauknecht.

»Den eigentlichen Ehrentag des Schmiedehandwerks, den feierten sie doch erst zu Jakobi!« meinte mein Vater.

Das sei schon richtig – doch zur selben Zeit sei etwas anderes, da hätten die Schmiede einen zwei Wochen langen Feiertag, da täten sie nichts, als gut essen und trinken, tanzen und Scheibenschießen, und da kämen die Hammerherren von weit und breit, um Schmiede zu werben für das nächste Jahr. Die Geworbenen kriegen den Leihkauf auf die Hand und werden zum nächsten Silvester durch aufgeputzte Wagen oder Boten an ihren neuen Werksort gebracht. Vom Werksherrn kriegen sie nebst dem vereinbarten Jahrlohne auch die Kost; der Essemeister speist gar mit der Herrschaft.

»Ich weiß das alles,« versetzte mein Vater dem gesprächigen Brauknecht, »aber meines Buben wegen ist's mir lieb, daß du's erzählst, der ist schon alt genug, und wenn er gleich Bauer bleiben wird, so schadet es ihm nicht, daß er auch anderer Stände Arbeit und Brauch kennen lernt. Ich hab' ihn darum vom Berge herabgeführt.«

»Und bei solchem Schmiedefeste,« erzählte der Mann weiter, »da kommen sie halt zusammen, jeder der's hat, im Steirergewand, jeder eine kecke Feder oder einen Gamsbart am Hute, jeder eine schwersilberne Uhrkette mit Talerbehängseln an der Brust, jeder eine volle Geldtasche im Sacke, jeder sein Mädel am Arme. Blasende und trommelnde Spielleute voran, so ziehen sie ins Wirtshaus zum [87] Trunk, zum Tanz und zu anderer Lustbarkeit. Da darf sich kein Bürgerssohn, kein Bauernbursch, kein Holzknecht blicken lassen; denn diese Eindringlinge spotten die Schmiede ob ihrer Schwerhörigkeit, ob ihrer Kröpfe und dergleichen, und ihr Trachten geht dahin, den Hammerschmieden die Dirndlein wegzunehmen. Den Schmieden gehört der Tag, und der Marktflecken und die Leute lassen sich's gefallen – es springt Geld um. So kohlrabenschwarz sie am Werktag sind, die Schmiede,« schloß der Brauknecht, »am Sonntag gibt's keine hochmütigeren Menschen, als diese Rußteufel. Und sind doch soviel Gaggen (Halbkretins) dabei!«

Schon jetzt, als wir dastanden und das geschmückte Haustor bewunderten, kamen sie herbei von den unteren und oberen Hämmern, um nachzusehen, wie weit die Vorbereitungen gediehen seien, und ein Glas Bier durch die Gurgel zu sprengen.

Da kam plötzlich ein Bote gelaufen, rußig im Gesicht, aber weiß vor Straßenstaub an den Beinen. Einen Sturmhut hatte er auf, wie Landwehrmänner zu Kriegszeiten. Ein langes Messer hatte er an der Seite baumeln, und schier atemlos war er, als er rief: »Kameraden! Kameraden!«

»Was gibt's?« fragten sie ihm entgegen.

»Keinen Schmiedball gibt's! Kein Flanieren und Karessieren gibt's! Jetzt heißt's Messer, Spieß und Säbel schmieden, Kanonen, Kugeln gießen!«

»Ja,« sagten sie, »wer gibt uns dazu das Privileg?«

»Ich!« rief der Bote. »Denn der Kaiser Ferdinand ist fort. In Wien ist Revolution!«

Fußnoten

1 Die Änderung ist vor sich gegangen. Die größten Eisenwerke des Landes sind heute Zeltweg, Donawitz, Neuberg, Graz, Köflach, Gußwerk. Mittlere Werke, wovon eines doch immerhin mehrere Hundert Arbeiter beschäftigt oder beschäftigen kann, sind Kindberg, Krieglach, Wartberg, Kapfenberg, St. Michael, Rottenmann, Aumühl, Eibiswald, Storee, denen sich anschließen die Werke in Turrach, Judenburg, Murau, Zeiring, Knittelfeld, Thörl, Mürzzuschlag, Breitenau, Stanz, Eppenstein usw. Außerdem bestehen auch noch unzählige kleine Eisenhämmer, wie sie hier beschrieben sind. Der Kammerbezirk in Obersteiermark vermag unter den heutigen Zuwaren, ständen jährlich an 2 Millionen Meterzentner Roheisen zu erzeugen, nahezu 50 Prozent des in den gesamten österreichischen Kronländern jährlich erzeugten Roheisens. Die Sichelfabrikation hat in Obersteiermark aufgehört, hingegen ist die Sensenerzeugung gestiegen. Gegenwärtig gibt es in Steiermark an 800 Sensenschmiede, welche jährlich gegen 2 1/2 Millionen Sensen verfertigen. Die Produktion von anderen Stahlwaren, Gußwaren, Blechen, Drähten und Maschinen steht auf hoher Stufe. Die Eisenbahn geht seit 40 Jahren durch das Mürztal. Fußnote aus 1888.

Ein Neujahrsmahl beim Hammerherrn
[88] Ein Neujahrsmahl beim Hammerherrn.

In meinem elften Lebensjahre am Silvestertag ging ich wieder einmal ins Mürztal. Ziemlich weit hinauf, in die Mürzzuschlager Gegend, bis dort, wo mein Vetter Jakob lebte und Sensenschmied war. Er hatte, als ich ankam, just Feierabend gemacht und schritt mit mehreren anderen Schmieden über die Brücke, vom Hammerwerk herüber. Er war so rußig, daß ich ihn nicht wieder erkannt haben würde, wenn er mich nicht mit zwei Fingern beim Ohr gefaßt und gezupft hätte. Das war stets seine Zärtlichkeitsbezeugung, wenn er den »kleinen Vetterbuben« sah, wie er mich nannte. Dann fragte er, wie es dem Vater ginge und der Mutter und dem Bruder und dem kleinen Schwesterl. Meine Antwort ist sicherlich fix gewesen: »Dem Vater geht's gut, die Mutter tut spinnen, der Bruder hat einen Kiniglhasen und das Schwesterl hat Zahnweh.«

»Gut ist's,« sagte der Vetter Jakob, »aber daß deine Mutter spinnen tut, das ist nit wahr. Oder ist bei euch der alte Brauch abgekommen, daß man in den Rauchnächten nicht spinnt?«

Wenn solche Buben unrecht haben, werden sie immer keck, und so sagte ich: »Was die Mutter jetzt tut, kann ich nit sagen, weil ich nicht daheim bin. Im Winter tut sie halt spinnen, weißt es eh!«

[89] »Du bist ein Schnabel,« verwies er, »ich hab' dich nit gefragt, was sie tut, sondern wie's ihr geht.«

Da antwortete ich: »Gut,« und damit war der Sache Genüge getan.

Während der Vetter dann seinen Waschtrog mit Wasser füllte, Seife, Rasierzeug und Kamm aus dem Wandkastel nahm, um sich »schön zu machen« für den hohen Feiertag, saß ich vor der Hütte auf der Bank und schaute das vornehme Hammerhaus an, das jenseits des Baches stolz wie ein Schloß dastand mit den vielen kunstvoll vergitterten Fenstern, dem zweifach ausspringenden Schindeldach, in dem es neben den weißen, schlank und zierlich gebauten Rauchfängen auch noch funkelnde Fenster gab. Sie Sonne schien schräg herein auf meine Bank, es war so lauwarm, daß ich mein Gebetbüchel aus dem Sacke zog und den Schulbleistift, und anfing, hinten auf dem leeren Blatt das Hammerhaus abzuzeichnen. Als der Bau fertig war, tat ich ein übriges und zeichnete darüber die dreieckige Mariazeller Mutter Gottes und Glanzstreifen, die von ihr gerade auf das Haus niedergingen. Denn ich hatte das Hammerhaus lieb, obschon ich nicht wußte, wem es gehörte und wer darin wohnte. Zu dem auf dem Papier war ja auch ich der Hausherr, und gerade wollte ich das Büchlein zumachen und in die Tasche stecken, als hinten von der Ecke da nach eine Hand herübergriff.

Ein dicker Herr mit rotem Schnauzer war da, der rief lachend: »Du Sauschwanz, was hast denn da?« Hat mein Kunstwerk in die Hand genommen und bewundert. Hat mich vor lauter Vergnügen über mein Talent einen kleinen Rotzbuben genannt, hat mich gefragt, wer und woher, und hat zum Schluß folgende Einladung gemacht: »Wenn du morgen noch da bist, Bauernböckel, so kannst bei mir essen [90] mit den Schmieden, und dein Kunststückel da muß ich dem Schulmeister zeigen, verstehst, Schlingel?«

Dann ging er mit kurzen Schritten davon über die Brücke.

Seiner Höflichkeit nach zu schließen war das der Hammerherr selbst gewesen. Wen so einer lachend »Sauschwanz« nannte, der stand in seiner Gunst, gleichsam geadelt. Mein Vetter, der mittlerweile so »schön« geworden war, daß man in seinem guten breiten Gesichte wieder alle Warzen sah, nannte mich obendrein einen »Teuxelsbuben«, was wieder nur eine Huldigung war, und zwar zu dem Glück, im Hammerhause zum Neujahrsfestmahl eingeladen worden zu sein.

Denn das war was! Das war mehr, als so ein Waldbauernbub denken kann. Ein Neujahrsmahl im Hammerhaus! »Brauchst drei Tag' vorher und drei Tag' nachher nichts zu essen,« sagte der Vetter. »Mußt dich um einen starken Ledergürtel umschaun, damit der Bauch seinen Reif hat. Oder mußt eine Hahnfeder rupfen, daß du dir, was zuviel ist, wieder aus der Gurgel herauskitzeln kannst.« Zur weisen Vorbereitung gab's beim Vetter an demselbigen Abend bloß ein »Wasserfaserl«.

Am nächsten Tag in der Kirche fehlte mir die Andacht. Wo denn hernehmen, wenn mir der Hammerherr das Betbüchel weggenommen hat! Nach dem Gottesdienst bin ich mit dem Vetter ins Hammerhaus gegangen. Die Luft roch schon in der ganzen Umgebung nach Gebratenem und Gebackenem. Die große »Leutstuben« war schon voller Schmiede, die an dem langen, mit Zinntellern, Stahlbesteck, Beinlöffeln und braunen Tonkrügen bedeckten Tisch herumstanden. Es waren deren wohl an die zwanzig, alle in schwarzem Festgewand oder grauem Steireranzug. Sie hatten [91] hochgefederte Hüte auf, an den Westen schwere Uhrketten mit allerlei Anhängseln baumeln und etliche sogar an den Ohrläppchen güldene Scheiblein. Sie waren so gründlich durch Haar und Bart hinein gescheuert und in so weißer Wäsche, daß man die Feuer- und Kohlenteufel der Woche nicht wieder erkannte. Ich hielt mich hinter dem breiten Rücken meines Vetters und schämte mich ein wenig, daß ich kein Schmied war.

Plötzlich rauschte eine dicke, schwarzseidene Frau durch die Stube. An den teilweise ganz soldatischen Schmiedreihen ging sie vorüber, rings um den Tisch, um die Anordnung zu prüfen. Auf ein paar versuchte Handküsse entgegnete sie: »Ja, ja, ist schon gut, ist schon gut. Später!« Damit rauschte sie in ein anderes Zimmer, wo die Herrschaft und die geladenen Ortsgrößen beisammen waren. Man hörte aus diesem Zimmer die laute Stimme des Hammerherrn und manchmal ein Gelächter der übrigen.

Nach einem gemeinsamen lauten Gebet in unserer Stube setzten sie sich zur Tafel. Zuerst der graubärtige erste Hammermeister und dann je nach Rang bis hinab zum letzten Kohlenbuben. Mein Vetter war in der Reihe der Wassergeber. Ich stand hinter dem Uhrkasten und sog in Ermanglung von anderem an meinem Zeigefinger. Ich war vergessen worden und meinte schon, mit solchem Eigenbau fürlieb nehmen zu müssen, da rief der Bärtige: »Was ist's denn mit demselbigen Bübel dort?« Und wurde ich am untersten End' der Tafel mitten in die Kohlenbuben getan. Aber auch da noch fand ich's betäubend vornehm. Daß jeder seinen besonderen Teller hatte und sein glänzendes Besteck und sein Trinkglas und sein Stück Brot daneben, mutete mich, aus dem Bauernhause, wo wir alle aus einer Schüssel aßen, an, wie eine wahre Kaisertafel; oder so, wie [92] ich mir eine Kaisertafel dachte. Aber ich habe mich mit Ehren dreingefunden. Auch andere schienen von der Würde des Tages überwältigt, sie bezähmten ihre Reden oder sagten sie leise und saßen sehr anständig da.

Es begann. Zwei Weibsbilder mit aufgekreselten Hemdärmeln trugen die Schüsseln auf. Zuerst kam eine braune Brotsuppe mit Fleischgehack. Bei der hielten mir uns eine Zeitlang auf. Die Schmiede aßen mit ihren großen Hornlöffeln so langsam, daß ich schon berechnete, wie lang' bei etwa viergängigem Mahl das Essen dauern konnte. Hernach wurde Bier eingeschenkt.

»Kriegen die Buben auch ihr Maß?« fragte der Schenk den Hammermeister

»Alles, was Manndl ist, kriegt seine Maß!« beschied der Bärtige.

Aber mir half das nichts. Seit jenem Schluck Bier, den mir beim »Bäcken« einmal ein Holzknecht reichte und den ich sofort unter den Tisch spie, war ich mißtrauisch gegen derlei. Gallhantiges Zeug oder so was. Nicht alles ist so gut trinken, wie Wasser. Und Wasser bekam ich heute nicht. Der zweite Gang brachte Brustkern mit Krennkoch. Spießte man die Fleischbrocken, tauchte sie ins Koch und verschlang sie. Dann kamen zwei Schüsseln voll Selchfleisch, eine Schüssel voll Bratwürste und ein großes Blechbecken voll Sauerkraut. Das gab Arbeit für längere Zeit. Die meisten aßen in schweigender Andacht, einer oder der andere aber begann schon Witze zu reißen, zuerst verstohlen, allmählich dreister. Manche hoben die Biergläser, tranken einander zu. Dabei fehlte es an kräftigen Ausdrücken nicht.

»Die abgestanden' Lacken! Da hat sich der Alt' schon drin gebadet!«

[93] »Batsch du! Der Alt' badet sich ja gar nit!«

Das brauchte nicht mehr verstohlen gesagt zu sein, denn im Herrenzimmer ging es schon so laut her, daß die verwegensten Reden gewagt werden konnten. Das mit dem Nichtbaden war übrigens nur des Witzes wegen gesagt, denn damals badete sich überhaupt noch niemand, am wenigsten ein Schmied. Deshalb, hat einmal einer gesagt, sei damals noch das Gebirgswasser so rein gewesen.

Nun erschien, hochgetragen von den drallen Armen der Mägde, kälbernes Bratel mit gespecktem Krautsalat. Jeder langte mit kühnem Gabelstich sein »Trumm« aus der Schüssel, schleuderte es auf den Teller und bekränzte es mit Krautsalat. Jetzt kamen auch die ersten Flaschen Wein. Weißer untersteirischer Tischwein, kein »falsches Luder«, wie es der Dorfwirt im Gebinde hat, sondern herb und echt. »Man kriegt davon seinen Rausch, aber kein Kopfweh.« Mancher Hammerherr hatte im Unterland seinen eigenen Weingarten, bloß für den »Leutwein«. Im Herrenzimmer hatten sie eine andere Gattung; wir sahen ihn nicht, wir rochen ihn nicht, aber wir hörten ihn knallen.

»Hau, bei dena drina geht's schun an!« sagte einer der Schmiede. »Knallen tuat's ban uns nit!«

»Knallen tuat's ban uns ah!« sagte ein anderer, rückte ein wenig auf der Bank und brachte dafür einen ausgiebigen Beweis. Der machte weiter kein Aufsehen.

Ich verging fast vor Durst, aber statt Wasser wurde nur Wein eingeschenkt.

»Ja, so nobel wie bei dem Waldbauern,« spottete mich einer, »künnen mir's nit geben. Aber wenn auch unser Trank nit so stark ist, wie der eurige, der Mühlräder treibt –«

[94] »So treibt er wenigstens das Radl im Kopf,« setzte ein anderer bei und zog mit dem Finger Kreislein an der Stirn. Da rückten neue Schüsseln an mit »Einmachfleisch« und »Lungenkoch«.

Auf dem Kirchturm läutete es schon das erstemal zum Segen. »So lang ma Segen im Haus hat, holt ma kein' in der Kirchen,« bemerkte ein Witzbold und wies auf das schweinerne Bratel, das eben in großen Flachpfannen auf den Tisch kam, begleitet von Schüsseln voll Triät. Der besteht in gerösteten Semmelschnitten mit Wein getränkt und mit Zimmt gewürzt – ein steirischer Leckersalat, zu hohen Festlichkeiten üblich. Dieses Gericht munterte meinen schon lange erlahmten Appetit wieder auf. Die Tropfen Wein, wovon die Semmelschnitten vollgesogen waren, schmeckten mir und brachten es dahin, daß ich nun auch aus dem Glase Wein zu trinken begann. Jetzt merkte ich erst, es sei sehr lustig, und lachte mein Teil munter mit zu den Späßen, die sich immer üppiger entwickelten.

Einer griff sich mit dem Finger in den Mund und wußte mit dem Schneller des aufgeblasenen Backens einen Knall zu erzeugen, der dem Champagnerknallen im Herrenzimmer ganz ähnlich war. Da wurde plötzlich die Tür aufgerissen, der gewerkschaftliche Kohlenschreiber schaute mit brennendem Gesicht heraus und gebot Ruhe.

Diese Gelegenheit der offenen Tür wollte der Eßmeister (heut' war er's in doppeltem Sinn) benützen, um mit gehobenem Glase eine Gesundeit und ein glückseliges neues Jahr auszubringen auf den »hochehrengeachteten Herrn Vattern und die gnädige Frau Muatter!« aber schon war die Tür wieder zugefallen, so daß die Gesundheit und das glückselige neue Jahr uns selber verblieb.

Länger als drei Stunden hatte der Schmaus gedauert, [95] und als ich schon hoffte, nun würde des Guten genug sein, zündete der Hausknecht Lampen und Kerzen an, denn es begann zu dunkeln. Und jetzt kamen große, dampfende Schüsseln herein. Die Reissuppe. – Sollte es denn von neuem beginnen? Das geht ja nicht mehr, dachte ich mir; aber es ging. Bis aufs Neigerl haben wir die Suppe ausgelöffelt. »Ein' warme Suppen ist gut auf 'n nüchternen Magen!« Mit diesem Sprichwort leitete man lustigerweise die neue Epoche an. Endlich war die große, langersehnte Krapfenstunde gekommen. Auf riesigen Reittern hoch getragen, erschienen, üppig gegupft, gelblich gerandet und bräunlich geschmort, die Butterkrapfen. Alle gossen die Gläser voll mit frischem Wein. Mit den Fingern zerrissen wir die Krapfen zu Fetzen und verschlangen sie, und gossen Wein nach. Eine gewisse Wütigkeit war ins Essen gekommen, als ob aus dem Hunger, dem das Haupt abgeschlagen worden, sieben neue gierige Häupter hervorwüchsen. So lange hatten sie getrunken, bis sie besoffen wurden, und wieder so lange hatten sie gegessen, bis sie nüchtern wurden. Aber mir kreiste im Kopf das Rädchen. Bereits tanzte die große, qualmige Stube ein wenig, als in weiten flachen Schüsseln die Germnudeln kamen, über und über mit brauner, süßer Branntweintunke begossen. Und das war zuviel.

Denn es war zu wenig. Fast balgten sie sich um die walzenförmigen Kräpflein, obschon immer und immer noch frische Nachschübe kamen. – Daß sie soschwer zu sättigen waren, ist kaum zu glauben, aber daß sie gar nicht zu sättigen waren, das leuchtet ein. Wer von der Unersättlichkeit genießender Weltkinder je etwas gehört hat. Trotz der Vorräte, die alle Schüsseln und Teller deckten, war zwar allmählich eine gewisse Erschöpfung eingetreten, aber [96] in der Besorgnis, daß sie im nächsten Augenblick wieder anheben könnten, erhob sich der graubärtige Hammermeister – er torkelte ein wenig und sagte: »Wünsch' allerseits wohl gespeist zu haben.« – Er lallte ein wenig. – »Aber eh wenn ihr die Pfeifen anzündet,« setzte er bei, »wollen wir bei der gnädigen Herrschaft anfragen, ob wir danken gehen dürfen.«

Hernach suchte er die Tür zum Herrenzimmer zu gewinnen und als es ihm gelang, klopfte er an. Die Doppelflügel gingen auf. Durch Rauchqualm, auf silbernen Armleuchtern schimmerten die Kerzen. Die Tafel da drin war eine prachtvolle Ruine, noch voll beladen von den Trümmern und Resten einer großen Vergangenheit. Nur wenige saßen mehr daran; der Hammerherr, der Bezirksrichter, der Pfarrer, der Schullehrer, der russische Agent lehnten an den Sofas und den Kästen herum, lärmten und lachten und rauchten Pfeifen, ja sogar nach der neuesten Mode Zigarren. An kleinen Tischen standen die weißen Schälchen des schwarzen Kaffees.

Die Hausmutter saß ausgebreitet auf einem großblumigen Kanapee und winkte uns mit der flachen Hand durch die Tür zu: »Nau nau, Leutln, kemts nur herein!«

So gingen sie nun hinein, schön der Reihe nach, trotz allem möglichst sittsam. Manches halblaut gemurmelte Wort über die liebe gnädige Herrschaft war fürs Gehörtwerden gesagt, manche in den Bart hineingekicherte Äußerung war nicht dafür berechnet.

Den Vortritt in die Herrenstube hatten der Hammer- und der Essemeister, denen schlossen sich die Wassergeber an und diesen die Schmiedgehilfen und Kohlenbuben. Einer der Gehilfen wollte sich unauffällig in die Reihe der Wasserer schmuggeln, aber der bekam einen ausgiebigen Rippenstoß, ihn [97] an seinen niedrigeren Gesellschaftsgrad erinnernd. Dann kam aus anderen Räumen her von Tischen, die man gar nicht gesehen, das Gesinde der Hauswirtschaft, der Mar, der Marknecht, die Ackerer, der Mistknecht, der Kutscher, der Staller, die Roßknechte und die Jäger. Endlich erschienen schüchtern und ruckig getorkelt die Köchin, das Stubenmädchen, die Kucheldirn, die Mardirn, die Hausdirn, die Schweizerin, die Kuhdirn, die Felddirn und zuletzt ein paar alte Einleger.

In solcher streng vorgeschriebenen Ordnung, die der Vetter mir nachher erklärte, drückten sie sich zum Handkusse vor. Die Hammerfrau war sehr gnädig und streckte jedem die reichberingte Hand entgegen. Mancher machte seine Sache derb und ungeschickt, mancher gleichgültig, flüchtig, mancher zärtlich. Die Hammerfrau hatte für jeden ein bezeichnendes Wort, lobend oder auch tadelnd. Jeden duzte sie und nannte ihn bei seinem Taufnamen. So sagte sie gleich zum graubärtigen Hammermeister, der kurz seinen Neujahrswunsch vorgebracht hatte: »Is scho recht, is scho recht, Franzl. Wünsch' dir auch soviel. Und daß du gesund bleibst und uns noch viel Sengsen klopfest. Tut's euch nit verlaufen, Leut', 's kommt nachher noch was.« – Zum Eßmeister, der sich für das Essen bedankte: »Hat's geschmeckt? Na, wenn's na g'schmeckt hat!« – Zu einem anderen: »Du kunntst dir auch besser die Pappen waschen, wenn du zum Handkuß kommst!« Wieder zu anderen: »Bist auch da, Hiesel? Dein' Weib geht's gut, gelt? Will ihr ein Körbel voll Resteln schicken lassen. – Laß gut sein, Michel, und schieb' dich weiter, daß die Hinteren nach können! – Wart', Josel, dir werd' ich ein besseres Halstüchel schenken, daß d' nit mit dem alten Fetzen zum Neujahrsessen gehen brauchst! – Geh', Ferdl, reib' deinen Bartwisch einer anderen in die Hand.

[98] Wenn du so gut sengsenschlagen kannst, wie Bußlgeben, nachher werden die Russen schon zufrieden sein.« Zu meinem Vetter sagte sie: »Mir scheint, Jakel, du hast nit mehr weit zum Vormeister. G'freut mich, g'freut mich. Aber die Fingernägel kunntst dir einmal zwicken!«

Als nachher aus der Küche und den übrigen Wirtschaftsräumen, wo auch großes Essen stattgehabt hatte, die Weibsleute herbeikamen zum Handkuß, mit denen war sie weniger gnädig. Zur Köchin: »Die Nudeln san dir heut nit b'sunders g'raten. Is halt wieder einmal die Germ nix nutz g'west, gelt!« – »Wie windschief hast denn heut' 's Halstüchel schon wieder um!« rügte sie an einer Küchenmagd. Und zu einer anderen: »Verhoff' mir mit dir eine bessere Zufriedenheit fürs nächst' Jahr! – N an, du Rotkittlete, was machen denn d' Schweindln? Schau, daß wir zum Fasching ein paar feiste auf den Tisch kriegen. – He, da kommt ja meine liebe Kathl! Brav bist alleweil, brav bist; nur so fort. Ist schon gut, ist schon gut.«

So ging es die lange Reihe der Schmiede und des Gesindes bis zum letzten Abwaschdirndl und den Einlegern, und knapp hinter diesen kam der Waldbauernbub. Der schämte sich noch immer, daß er kein Schmied war und trachtete sich so gut als möglich hinter den Vorgängern zu verstecken, damit die Herren ihn nicht sollten bemerken. Endlich kam ich zum Handkuß. Ich tat's wie bei einem Pfarrer und bedankte mich fürs Essen.

»Was ist denn das für ein Grill?« rief die Hammerfrau, »den kenn' ich gar nit.«

»Ho ho!« lachte der Hammerherr von seinem Sofa her. »Das ist der klein' Spitzbub, der so sauber zeichnen kann. Na, geh' her da, daß ich dir dein Gebetbüchel zurückgeb'. [99] 's Bildl hab' ich herausg'rissen, das b'halt ich mir. Da, seh' – das g'hört dein.«

Einen Silberzwanziger warf er mir zu; der blieb auf dem Teppich liegen. Die Herren schauten mich alle an und betrachteten die Zeichnung, die von Hand zu Hand ging. Und so war ich, der in der Menge verschwinden wollte, aller Welt zum Anschauen ausgesetzt. Sogar die Schmiede verwunderten sich, daß der kleine Kerl, der ihnen unbeachtet unter den Füßen herumgelaufen war, Hammerhäuser zeichnen konnte.

»Der Knabe sollte in eine Zeichenschule kommen,« meinte einer der Herren; das wunderte mich. Wenn man's schon kann, wie sie sagen, was braucht man denn da noch in eine Zeichenschule zu gehen?

»Waldbauer ist dein Vater?« fragte der Pfarrer. Und gleich setzte der Hammerherr bei: »Sag' deinem Vater, dem Locherl, er sollt' mir einmal Holzkohlen bringen!«

Dann konnte ich gehen.

Aber es kam noch nicht dazu. »Wer einen Kaffee haben will, der soll wieder auf seinen Platz gehen!« verkündete die Hammerfrau so laut, daß es in allen Zimmern und Gängen zu hören war. Da truderten die Mägde vergnüglich in die Küche und die Schmiede setzten sich wieder an ihre lange Tafel. Ich war unsicher, ob das auch mir noch vermeint sei und stand wieder so herum, bis der Vetter mich an meinen Platz winkte. Der Tisch war derweil gedeckt worden mit Kaffeeschalen, Zuckerbüchsen, Germbroten und wuchtigen Gugelhupfen. Neben jeder Kaffeeschale lag ein rosenrotes Tüchlein und unter demselben – der Kohlenbub hatte es zuerst entdeckt – ein güldenes Kreuzerlein. Ein Aufruhr entstand um den ganzen Tisch, denn Kenner hatten erklärt, daß es keine Kreuzerlein wären, sondern Dukaten. Auch bei [100] mir lag einer und da ich kein Neujahrsgeschenk beanspruchen durfte, so nahm ich ihn als Ehrenlohn für das gezeichnete Hammerhaus, das der Herr mir aus dem Gebetbüchlein gerissen und das ich nachher nie mehr gesehen habe.

Und auf einmal war der stattliche Hammerherr in der großen Schmiedstube. Mitten unter den Leuten stand er da, in seiner ganzen Höhe und Breite. Mit beiden Armen schlug er Räder und rief: »Lost's auf, Schmied!«

»Der Herr Vatter, der Herr Vatter!« flüsterte alles, und sie horchten.

Der Hammerherr sagte die gewichtigen Worte: »Alle Tag' geht's euch nit so gut wie heut' – gelt? Mir auch nit. Mir müssen jetzt neue Schmiede haben. Verhoff's, daß ihr euch gut mit ihnen vertragt. Eine große B'stallung aus Rußland ist da, eine großmächtige. Bis Ostern brauchen wir um dreißigtausend Sengsen mehr – was! Was sagt's denn da dazu – ha? Von der Türkei sind auch wieder B'stallungen da. Unser steirisches Eisen hat den Preis davongetragen vor dem englischen und dem schwedischen. Werd's nit Vivat schreien, ihr Locherln?«

»Vivat!« riefen sie, »Vivat!« daß die Fenster surrten.

»Das hab' ich enk sagen wöllen und jetzt könnt's heimgehen.«

Also ist dieser merkwürdige Tag beschlossen worden. Für mich war's der erste und der letzte dieser Art gewesen. Für andere ist er überall und oft wiedergekehrt in jener großen Eisenzeit, die das Land weltberühmt gemacht hat. Derb sind die Leute gewesen, aber einen guten Kern haben sie gehabt und weitum in ihrem Kreise hat's keine Not gegeben. An Essen und Trinken haben sie was geleistet und an Arbeit auch. Seither hat die steirische Eisenindustrie unvergleichlich größere Formen angenommen, die Technik[101] hat sich fabelhaft vervollkommnet, aber die Gediegenheit jenes altsteirischen Eisens und Stahls ist nicht mehr erhöht worden. So sind die alten Geschlechter der Hammerherren in ihrer Art Adelsleute gewesen, die schon fest auftreten durften: »Mir san wer!« Ein großer Teil steirischen Wohlstandes und steirischer Sitte stammt noch aus ihrer Zeit. Und nebenbei haben sie auch Kunstmäzene gespielt, wie jener Mürztaler Hammerherr, der dem Waldbauernbuben ein bekritzeltes Blatt Papier mit einem Zwanziger, einem Dukaten und einem sieben Stunden langen Festessen honoriert hat.

Als ich Schullehrer gewesen
[102] Als ich Schullehrer gewesen.

Ob es wahr sei, daß ich einmal Schullehrer gewesen? wurde ich schon brieflich befragt. Denn in irgendeiner Gesellschaft des Reiches hatte man sich mit meiner Wenigkeit für und wider befaßt und da hätte jemand die von den übrigen bestrittene Behauptung aufgestellt, der Waldbauernbub sei einmal Schulmeister gewesen.

Ob das richtig sei?

Soviel ich weiß, nein.

Das heißt – . Ganz kann ich es nicht ableugnen, und bei näherer Gewissensforschung komme ich drauf, daß jener Jemand recht hatte. Ich war doch einmal Schulmeister gewesen, und was für einer!

Als im Jahre 1857 der alte Michel Patterer verstorben war, drohte in Alpel die Kunst des ABC wieder verloren zu gehen, sowie den Deutschen einst die Glasmalerei und die Kunst, Knödel zu braten, verloren gegangen war. Das mußte vermieden werden. Ich fühlte mich als Hüter der Wissenschaft und hatte Lust, in die Ehren und Würden des alten Lehrers zu treten, erstens, um der schweren Feldarbeit zu entgehen, zweitens, um – Spielgenossen bei mir zu versammeln. Es war, wie man sieht, ein mehrfach begründetes Streben.

Meine Eltern waren unschwer zu überzeugen, daß es [103] auch den jüngeren ihres Stammes – Mädlein wie Knaben – vorteilhaft sein würde, wenn sie christliche Bücher, Zuschriften des Amtmannes und die Papierflügeln auf den Medizinflaschen lesen konnten. Täglich auf zwei Stunden wurden mir meine Geschwister freigegeben, daß ich sie im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwiese. Der Leuttisch in der Stube war zur Zeit von Nähterinnen besetzt. So richtete ich mir als Schulzimmer den Stubenwinkel ein, der zwischen dem breiten Elternbette und dem Ofen war. Ein Brett von der Bettstatt bis zur Ofenbank war der Tisch. Zu beiden Seiten einige Holzblöcke waren die Stühle. Das abgebrochene Stück einer Kastenleiste war das Lineal, eine Fibel und eine Schiefertafel sollten von Hand zu Hand gehen, und sonst bedurfte man nichts. Alles übrige mußte sich im Kopfe vorfinden. Meine Schuljugend befriedigte mich aber nicht recht. Der Bruder Jakob bestritt mir die Namen einzelner Buchstaben, und die Schwestern waren dumme Dinger, die immer lachten.

Ich sann nach, wieso beim alten Patterer eine größere Ordnung war. Natürlich, weil er mehr Schüler hatte. – So ging ich in die Nachbarschaft und warb Schüler. Ich täte es ganz umsonst, ja, wenn meine Mutter Topfenstritzel backe, so bekämen sie auch davon.

Einige Nachbarn hatten mir sofort ihre Kinder probeweise zugesagt. Der alte Höfelzenz, er saß immer auf dem Herd seines Hauses, der nahm mich zwischen die Knie, faßte mich an beiden Ohren an, aber ganz leicht, und fragte nach meinem Alter.

»Dreizehn vorbei!«

»Sappermosthosen! – Na, die Altersschwäche wird noch nicht plagen. Sag', Peterl, was willst du denn werden?«

[104] Glotze ich ihm ins Runzelgesicht. Werden? Ichwar's ja schon!

»Schulmeister, natürlich!«

»Ah ja so. Richtig, richtig, Schulmeister.«

»Auweh!« schrie ich auf, denn er war mir auf die Zehe getreten.

»W– a– s?!« fragte er ellenlang gedehnt. »Du schreist auweh, wenn dir einer mit den Tuchpatschen ein bissel auf die Zehen tritt. Und willst Schulmeister werden? Oh, mein kleiner Mensch, auf einem Schulmeister wird noch ganz anders herumgetreten!«

Dieser törichten Rede legte ich kein Gewicht bei. Wer wird denn auf einem Schulmeister herumtreten!

»Na, geh' nur, ich werde meinen Buben, den Klasel, schon schicken. Aber raufen, wenn's mir tut's!«

Als ich auf dem Heimweg über die Weide ging, wo sein Bub die Schafe hütete, winkte ich ihm wiederholt mit der Hand: »Grüß Gott, Klasel!« und schritt mit langsamen, großen Schritten fürbaß. – Strenge, das nahm ich mir vor, strenge wollte ich nicht sein. Wußte ich doch selbst am besten, daß der alte Patterer nur mit Güte bei mir was ausgerichtet hat. Einst, als er mir des Käfers im Tintenfasse wegen die Ohrfeige versetzt hatte, blieb ich nachher einfach wochenlang weg, bis er endlich gütlich und bittlich an mich herankam und mir ein Lebzeltenherz versprach, wenn ich wieder in die Schule käme. – Lebzeltenherzen hatte ich nicht zu vergeben, so durfte ich natürlich auch keine Ohrfeigen austeilen, und das um so weniger, als meine Schüler fast alle stärker waren als ich.

Aus diesem Grunde geschah es auch, daß schon in der zweiten Lehrstunde, die wie die erste sehr feierlich begonnen [105] hatte zwischen Bett und Ofen, ein Nachbarsbub den Vorschlag machte, wir sollten jetzt in den Schachen hinausgehen und »Esel über den Bock springen« spielen, hingegen am nächsten Tage um eine Stunde länger Fibel lesen. Nun dachte ich, wer nicht stark ist, der muß klug sein. Vergeben will ich mir nichts.

»Esel über den Bock springen? Ich kann euch das nicht erlauben, Kinder, denn es ist Schulzeit. Aber ich will es auch nicht verbieten. Wir werden jetzt diese Seite fertig lesen und dann werde ich abstimmen lassen.«

»Wer für den Schachen nicht ja sagt, der wird gehaut!« rief der Nachbarsbub. Alle stimmten für den Schachen. Auch meine kleine Schwester Plonele, die sonst immer Wissensdrang heuchelte, hub ihr Bratzlein auf: »In den Schachen, in den Schachen!«

Einige Zeit früher, als ich des »Hasenöls« wegen in Bruck gewesen war, hatte ich Schulknaben gesehen, die im Garten der Reihe nach über einen mit Leder überzogenen Holzbock sprangen und der Lehrer kommandierte sie dazu wie Soldaten. »Turnen« hieß man das, eine Leibesübung, die nach neuem Brauch auch zur Schule gehörte. Als meine Schuljugend nun einstimmig für den Schachen war, erhub ich meine Stimme und rief strenge: »Schachen hin, Schachen her! Jetzt ist Turnstunde. Jetzt gehen wir Bockspringen. Marsch!« – So hatte ich den Anschein meiner Herrlichkeit gewahrt und kann sich's auch mein Leser merken: Willst du, daß dir die Leute stets gehorchen, so befiehl ihnen gerade das, was sie selber tun wollen. Da die Knaben keine hölzernen Turnböcke hatten, so gaben sich die Mädel dazu her, indem sie tief gebückt auf Füßen und Händen dastanden und die Jungen über sich springen ließen. Ich war natürlich der Turnmeister, hütete mich aber wohl, auch nur einen Sprung [106] zu machen, um nicht etwa die Meinung zu zerstören, daß ich der beste Springer sei. Das hinderte sie keineswegs, sich im Schachen in Knabenlust auszutoben.

Um meine Zöglinge nächstens doch wieder zu den Schulbüchern zurückzulocken, stellte ich ihnen für die Prüfung am Schlusse des Monats Prämien in Aussicht. Die ABC-Schützen waren noch die ehrgeizigsten, sie wußten in wenigen Tagen die Namen der vierundzwanzig kleinen Burschen, die seit vierhundert Jahren größere Reiche erobert haben, als alle Heere der Welt zusammen. Das Zifferrechnen wollte gar nicht gehen, hingegen waren die Finger an der Hand die denkbar bequemste Rechenmaschine. Die Schreibaufgaben wurden häufig illustriert. Zumeist ein Kopf mit langen Ohren und langer Nase. Ich hatte nie den Mut, die Künstler zu fragen, wer das sein sollte. »R!« rief die kleine Schwester, die auf dem Ofenmäuerlein saß und ihren Finger gar so harmlos an den genannten Buchstaben legte.

Ich war zur Zeit im Besitze eines alten Pulverhornes, wie es einst die Jäger an grüner Schnur seitlings getragen haben, ferner hatte ich vom verstorbenen Oheim, der »Uhrendoktor« gewesen, ein paar in Bein gefaßte Brillen inne und endlich war ich Eigentümer einer mausgrauen Pelzhaube, an der man rechts und links Tuchlappen über die Ohren herabbinden konnte. Diese Schätze stiftete ich als Ehrengaben für jeden besten Schüler im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Prüfung kam heran. Den alten Höfelzenz, den ich ein wenig als Gönner meiner Schule betrachtete, lud ich ein, der sollte den Schulinspektor abgeben. Ich hatte ihm in der Stube nächst dem »Schulzimmer« den Großvaterstuhl hergerichtet. Er kam, setzte sich hinein, behielt aber den breitkrempigen Hut auf dem Kopf und die. Pfeife im Mund, was mich so irre machte, daß alle feierliche Stimmung [107] zum Kuckuck ging. Unter den Schülern war leidliche Zucht, ich ließ lesen, schreiben und rechnen, und zwar das Urelementare im ABC, und die ewige Wahrheit, daß zwei mal zwei gleich vier ist. Bei einigen ging es recht notig, aber sie brachten es ziemlich richtig vor, ein paar aber ratschten ihre Wissenschaft mit großer Zungengeläufigkeit herab, an der nur die Kleinigkeit auszustellen gewesen wäre, daß fast alles unrichtig und falsch war. Natürlich nickte ich stets zufrieden mit dem Kopf und hütete mich, auch nur einen Fehler auszubessern. Darob ließ freilich auch der alte Höfelzenz sein Köpflein bewundernd wackeln, jetzt tat er auch den Stinktiegel vom Gesicht, spuckte über das Ehebett hin in den Stubenwinkel und sagte: »Deuxels Fratzen seid's, daß' schon lesen und rechnen könnt's, wie der Herr Verwalter! Hätt' mir's nit erwartet von dem Rotzbuben, daß er schon so brav schulhalten kunnt! Wie der Pfarrer tun's lesen, daß nur gleich alles scheppert, die Schlingel, die verschwammelten! So ein kleberer Nixi da, dem die Windeln schier noch beim Hösel heraushängen! Und schon so schulhalten können! Wirst halt einer werden müssen, bist eh sonst zu nix.«

Auf solche Anerkennung blickten meine Schüler auf mich her voller Hochachtung und Geringschätzigkeit zugleich ganz im Geist der Rede des verehrlichen Inspektors. Und dann wurde die Preisverteilung vorgenommen. Meine Schwester erhielt das Pulverhorn, der Klasel die Brillen, der Grabenhupferfranzel für sein fixes Rechnen die Pelzhaube. Nun mochte der gute Rechner auf etwas Besseres gerechnet haben, als auf eine schäbige Pudelhaube, er schmiß sie dem Höfelzenz an die Beine, worauf dieser ihn mit zwei Fingern beim Ohrläppchen nahm und es wie eine Schraube drehte: »Werden wir halt einmal ein bissel uhraufziehen, vielleicht, daß nachher im Köpfel doch der Verstand anhebt. [108] Aften wollen wir das Pelzkappel schon noch aufsetzen.«

Der Klasel war übrigens mit seinen Brillen auch nicht zufrieden, wollte das Pulverhorn haben. Aus Schießen dachte er, allerdings nicht ermessend, daß zum Horn auch noch Pulver und zum Pulver das Gewehr gehört. Darauf kam er erst, als das Horn durch Tausch für die Brillen sein Eigentum geworden war, und also einen Schock unerfüllbarer Wünsche in ihm geboren hatte. Meine Schwester wollte die Brillen sofort an das Nasel stecken, blieben aber auf dem kleinen Ding nicht stehen; und als sie doch ein wenig durchguckte, konnte sie durch diese guten Gläser sehen, wie es ist, wenn man nichts sieht, wenn man die Augen ausmacht in den hellichten Tag und nichts sieht, als nebelige Sachen, die alle ineinanderrinnen.

So hatte ich mit meinen Prämienstiftungen schon das Richtige getroffen, jedes war unzufrieden mit der seinigen, und die mehreren, die nichts bekommen hatten, waren es noch am meisten.

In den Vakanzen, während des Herumarbeitens im Heu und Korn, legte ich mir manchmal die Frage vor, ob für nächstes Jahr meine Schule nicht einen anderen Geist bekommen sollte? Eine Schulreform, die sich aber in erster Linie auf den Schullehrer selbst beziehen sollte. Vor allem mußte er älter werden, und das wurde er bis zum nächsten Winter. Dann mußte er gescheiter werden, und das wurde er nicht. Denn als der Winter kam, machte er mit Kreide an der Haustür bekannt, daß das neue Schuljahr beginne.

Die Nachbarn taten diesmal aber nichts desgleichen, nur einer warf es mir so im Vorbeigehen über die Achsel zu, er schicke seinen Buben nicht mehr. Das sei ein kindisches Wesen und es käme nichts dabei heraus. Der Knabe [109] des Höfelzenz, der Klasel; sandte mir ein zierlich zusammengefalztes Brieflein, in welchem nichts Geringeres stand, als der folgende Bericht:

»Igaik Schul kun e lesen un schreim a.«

(In unserer umständlichen Alltagssprache heißt das: »Ich gehe auch in keine Schule, kann ohnehin lesen und schreiben auch.«)

Nun also! Das war doch ein Erfolg. Und was für einer! Mit so wenigen Buchstaben soviel zu sagen! – Übrigens war das aber auch die einzige schriftstellerische Leistung des Klasel. Später ist er Eseltreiber geworden. Nun, da kam er mit seinen Selbstlauten ja reichlich aus.

Der Preuß' in der Waldheimat
[110] Der Preuß' in der Waldheimat.

Das Jahr 1866 war den Bewohnern meiner Waldsheimat durchaus nichts mehr Neues gewesen. Dort war schon in den Fünfzigerjahren »der Preuß'« eingedrungen. Wir Halterbuben kletterten manchmal an seinen Brennholzstoß hinauf und guckten ihm zum Fenster hinein, beim Grabenhäusel, wo er Wohnung genommen hatte. Das war ein anderes Fenster, als die Fenster der übrigen Bauernhütten! Das alte Grabenhäusel unter der Felswand und den zerzausten Hollerbäumen hatte eine unbeschreibliche Herrlichkeit angenommen, seit es von »Preußen« bewohnt war. Die braunen Holzwände hatten eine Kalktünche bekommen, so daß sie aussahen wie das Herrenhaus in Krieglach. Die kleinen Guckfenster, zu denen vor Zeiten der alte einäugige Grabenhäusler kaum das kleine Kahlköpflein herausstecken konnte, waren vergrößert worden wie Wirtshausfenster. Später, als das Geschick des »Preußen« sich erfüllt hatte, standen sogar Töpfe mit Grüngewächsen und blauen »Veigerln« auf dem Gesimse und dahinter Vorhänge, die so rot waren, wie Kirchenfahnen. Und wer so gut auf dem Scheiterstoß saß, daß er zwischen den Vorhängen in das Stübchen gucken konnte, der sah eine unerhörte Pracht. Da waren an der Wand geheimnisvolle Bilder, deren Darstellung man nicht erkennen konnte, deren breite Goldrahmen aber im dunkeln [111] Zimmerlein viel Sonnenschein ausstrahlten. Dann gab es auf dem Tisch ein buntes Tuch, auf welchem Bücher lagen, und eine beinerne Tabaksdose. An der Wand eine breite dunkelgrüne Polsterbank, deren Lehnen mit weißen Sticktüchlein behangen waren. Daneben ein schwarzer lackierter Schubladkasten mit messingbeschlagenen Griffringen. Auf diesem Kasten unter einem hohen Glassturze ein elfenbeinernes Gestell, das wie ein Altärlein gebaut war, statt des Tabernakels aber ein weißes Zifferblatt hatte. Daneben allerhand Figurlein, Kästlein, gemalte Gläser und Krüge, wie derlei in keinem Hause von Alpel geschaut worden war. Was sich weiter in den Winkeln noch befand, das konnte nicht gesehen werden, maßen selbst ein Halterbubenaug' durchs Fenster um die Ecke nicht zu gucken vermag. In diesem Hause nun hauste der »Preuß'«. Er selbst aber war nicht zu erblicken, er war tagsüber weiter oben in der Waldschlucht bei einer kleinen Branntweinbrennerei tätig, die er sich hergerichtet, sowie auch das Grabenhäusel nach seiner Besitznahme von ihm die unerhörten Veränderungen erfahren hatte. Gekommen waren die Sachen auf mehreren Blachenwagen, ähnlich wie sie die Schleifersleute haben, oder Schaufelschnitzler, Korbflechter und andere fahrende Leute. Der »Preuß'« selbst war nicht etwa drangespannt gewesen, um in Gemeinschaft mit einem mageren Hunde das Gefährte zu ziehen, nein, er war vorne auf dem Bocke gesessen neben dem Fuhrmann, sein Gewand war feierlich schwarz, die Hemdärmeln, die man sah, weil es heiß war und er keinen Rock anhatte, waren grau gestreift und hatten an den Ellbogen Flicken. Er trug einen langen roten Bart und auf dem kleinen Näschen blaue Hornbrillen, die dem Manne etwas Geheimnisvolles und Ehrwürdiges verliehen, obschon er im Grunde noch kein graues Haar unter dem roten gehabt hatte. [112] Anstatt des Filzhutes, wie ihn bei uns daheim jeder ordentliche Mensch trug, hatte der Fremde ein schwarzes Käpplein mit glänzendem Lederschilde. Auf dem Schoße hielt er einen kleinen fuchsroten Hund, von dem er sich das Gesicht lecken ließ. So war er angefahren und wir wußten nicht, kam da ein vornehmer Herr oder einer von der entgegengesetzten Seite. Wir hatten nur gehört, daß der Mann aus dem Preußenlande sei. Da hatten wir schon genug. Jemand wußte, daß im Preußenlande lauter Lutheraner lebten! Dieser Herr war am Ende auch so einer, er lugte durch die blauen Brillen gerade so drein, als wie wenn es mit seiner Seele nicht geheuer wäre; als ihm das Hündlein einmal bei der Liebkosung mit der Pfote ungeschickterweise die Hornbrille von der Nase gestreift hatte, sah man kleine grünlichgrau schillernde Augen. Und erst, wenn er sprach! »Der hat ja alle Buchstaben (es waren wohl die Laute gemeint) im hinteren Gaumen oben!« äußerte sich der Schneider Steff; wenn der Mann den Mund auftat und seine Wörter stoßweise hervorschnarrte, so war es zu hören wie eine Karfreitagsratsche. Anfangs hatten die Leute kein Wort verstanden, er mußte handgreiflich werden. Er griff in die Hosentasche, zog einen aus roter Wolle gestickten Beutel hervor, verschob daran das Messingringlein, so daß das Eingeweide auf die flache Hand herausrieselte. Mit Silbermünzen begann er zu sprechen, und siehe, das begriffen die Leute schnell. Das Grabenhäusel hat er gepachtet, Holz, Milch, Butter, Brot, Eier, kurz alles, was der Mann brauchte, bezog er von den Waldbauern und alles zahlte er mit barer Münze. Sogar den Strohschaub für ein Bett wog er meinem Vater mit einem Silberzwanziger auf, obschon bei uns daheim seit Erschaffung der Welt kein Bettstroh für Bargeld verkauft worden ist. »Für den Schaub [113] ein Vergelt's Gott ist genug!« sagte mein Vater zum Preußen, dieser aber entgegnete: »Sehn Sie mal, Bauer, 'n Silberzwanziger ist mehr!« Mein Vater nahm zwar das Geld, steckte es aber in einen anderen Sack, als wo die gut katholischen Kupfermünzen waren, denn der Knecht Markus – es war aber Schalkheit dabei – hatte ihm gesagt: »Gib Achtung, Lenz! Laß das lutherische Silberböcklein nicht zu den Kupferschafen! Für was Gutes wirst mit diesem Geld nicht viel Segen aufheben. Das gescheiteste, du vertrinkst es.« Mein Vater wollte aber auch keinen lutherischen Rausch haben. »Na, nachher machst es so!« sagte der Markus, nahm ihm den Silberzwanziger aus der Hand, ging zur Tür, wo das Weihbrunngefäß hing, tauchte ihn hinein, hielt ihn dann mit zwei Fingern hoch in der Luft und sprach mit feierlichem Tone: »Jetzt ist er getauft!« Denn zur Zeit hat man in jenen Gegenden die Lutheraner – und wären sie selbst von Silber gewesen – für Heiden gehalten.

Beim Preußen stimmte es aber nicht. Der ging am Sonntag in die Kirche nach Krieglach, wie wir anderen. Er stand stets am Seitenaltar vor dem Dreikönigsbild und benahm sich ganz anständig. Auffallend war es nur, daß er beim gemeinsamen Rosenkranzgebet das Vaterunser allemal vernehmlich, wenn auch stark aus dem Hintergaumen hervor, mitbetete, beim Ave Maria jedoch keinen Laut von sich gab. Solche Widersprüche mußten näher untersucht werden.

So hockten wir eines Tages auf dem Holzstoß, den der »Preuß'« an der Außenwand seines Hauses geschichtet hatte und guckten zum offenen Fenster hinein. Den Mann wußten wir zur Stunde oben in der Schlucht bei seinen dampfenden Branntweintöpfen. Der Heidenflorl hätte gerne gewußt, wie es sich aus der beinernen Dose schnupft, die [114] auf dem Tische lag. Der Haltergustl hätte gerne versucht, wie es sich auf der grünen Polsterbank langhingestreckt liegt und mir wäre für alle Welt um das schwarzgebundene Buch zu tun gewesen, das neben der Dose geheimnisvoll-feierlich dalag. Vielleicht war es das Buch vom Martin Luther! Dann durfte es kein Christenmensch anrühren. Aber, wenn er's nicht anrühren darf, nicht aufschlagen, wie soll er dann erfahren, daß es das Lutherbuch ist! – Ich weiß nicht mehr, welcher von uns dreien den Vorschlag gemacht, durchs Fenster einzusteigen. Dieweilen ich darüber nachdachte, ob es zu wagen wäre, waren die Kameraden schon drinnen. Und – wups, stand ich auch in der Stube. Da gab's einen bremseligen Geruch, ganz eigen. Der Gustl streckte sich sosofort auf der Polsterbank, gab derselben mit seinem Hinterteil etliche Stöße, so daß das Zeug schwellend auf- und niederwogte. Der Florl untersuchte die Stockuhr; ich faßte Mut und schlug das schwarze Buch auf. »Kurzgefaßte Anleitung zur Destillation von Ebereschenbeeren.« – Jetzt wußte ich erst noch nicht, war der Mann Christ oder Heide. Der Florl fand an der Uhr weiter nichts auszusetzen, nahm die Schnupftabaksdose, versuchte sie mit den Fingernägeln auszumachen, was ihm auch gelang, aber so, daß das feuchte schwarze Pulver auf den Tisch niederpatschte. Über das Mißgeschick erschrocken, huben wir alle drei an, mit den Fingern den Schnupftabak in die Dose zu fassen, da kam plötzlich einem das Niesen an, sogleich auch dem anderen, und bald niesten alle drei wie bezahlt.

»Potztausendmillion, ist jemand in der Bude!« schnarrte draußen eine Stimme. Der Schlüssel rasselte im Türschloß, wir purzelten zum Fenster hinaus, aber der letzte, der Florl, tat einen kreischenden Schrei, er fühlte sich am Bein gepackt und zurückgezerrt in die Stube. Der »Preuß'«! – Wir [115] beiden anderen waren hinter die Hollerbäume gestoben und glotzten uns sprachlos an. »Na nu!« hörten wir von drinnen, »die Diebe läßt man mal 'n bißchen hängen, wie?« – Diebe? – Wenn es so stand, konnten wir jetzt nicht davonlaufen, den Kameraden nicht im Stich lassen. Wir müssen hinein. »Geh' du voraus!« flüsterte ich dem Gustl zu und wollte ihn durch die Tür schieben. »Geh' du voraus!« gab er zurück und schupfte mich hinein. – Der Preuß' war schrecklich anzusehen. Nicht sein seines Sonntagsgewand hatte er am Leibe, sondern einen groben Zwilchkittel mit Brandflecken. Der rote Bart krauste sich wirr auf, die Brillen baumelten, nur noch an einem Ohr hängend, an der Backe, seine Augen mit den strohfalben Wimpern waren bloßgelegt, der scharfe Blick war so krumm wie eine Fischangel und damit schien er den armen Florl festzuhalten. Denn dieser stand wie eingebohrt in der Stube und war totenblaß, und seine braunen Augen zuckten hilflos wie zwei gefangene Vöglein umher. Mich macht die Gefahr trutzig, mir ist in ihrem Angesichte allemal, als müßte ich sie schüren, daß sie einen recht großen Brocken gibt. So auch damals. »Herr Preuß'!« sagte ich, »wir sind keine Diebe. Wir sind halt beim Fenster hereingestiegen, weil wir das Glumpert da herum haben anschauen wollen.« Hazih! Denn die Nase hatte sich wieder soweit erholt vom Schreck, daß sie ihrem herkömmlichen Brauch obliegen konnte, bei Schnupftabak zu niesen.

»Zur Genesung, junger Herr!« spottete der Preuß'. »Wollen Sie man Ihre Taschen umkehren.«

»Das nicht!« schrie ich und biß in seinen Rockärmel, weil er schon Hand anlegen wollte. Es hätte sich ein abscheuliches Gemenge zugetragen, wenn nicht zur Stunde der Almhausel hereingekommen wäre. Der Almhausel war [116] ein großer, derbknochiger Mann mit einem ganz seinen, fast zirpenden Stimmlein.

»Sind die Buben 'leicht über Ihner Branntweinhäfen 'kommen?« fragte er zierlich den Mann.

»Zu den Fenstern sind sie 'reingestiegen, die jungen Herren!«

»Beim Fenster sind wir wohl hereingestiegen,« berichtigte ich, »aber Herren sind wir keine und gestohlen haben wir auch nichts. Ob er ein Lutherischer ist, das haben wir wollen wissen!« Damit glaubte ich, unser Eindringen vollgültig entschuldigt zu haben. Doch gestaltete sich durch mein Geständnis die Sache wesentlich schlechter. Der Almhausel meinte, daß man durch Einbruch erstens weder seine katholische Gesinnung sonderlich beweise, und zweitens, daß die Lutherischen ihren Glauben nicht daheim auf dem Tisch liegen ließen, während sie oben in der Waldschlucht Branntwein machten.

»Hab' gemeint, daß es dem Martin Luther sein Buch wäre!« gestand ich, auf die Anleitung zur Destillation zeigend.

Da riet der Almhausel, um der Weltgeschichte einen anderen Lauf zu bereiten, dem »Preußen«: »Jagen's das Bubenwerk davon und verkaufen's mir ein Glasel Kranabethenen.«

Für uns »Bubenwerk« war diese Fenstergeschichte nun zwar abgetan. Doch hatte sie eine Folge. In den Heugräben bei Alpel lebte eine junge Holzmeisterswitwe, eine kleine, recht geschmackige Person, die immer am »Rematischen« litt. Sie ging stets mit verbundenem Kopfe um, so daß man das rotwangige Gesichtel nur partienweise zu sehen bekam, an einem Tage die rechte, am anderen die linke Backe; oder sie trug um das Kinn ein wulstiges Tuch, [117] wie der Soldat das Helmband, und sie zog dieses Tuch über den Mund hinauf wegen »der scharfen Luft«, wobei dem männlichen Kennerblicke wieder die vollen kirschroten Lippen vorenthalten blieben. 's ist halt ein Kreuz, wenn man alleweil das »Rematische« hat, einmal im Kopf, einmal in den Zähnen, einmal in den übrigen Gliedern, daß man oft nächtelang nicht schlafen kann. Und die Leute denken nicht daran, was eine verlassene Witwe leiden muß.

Der »Preuß'« dachte dran. Er hatte sie im Walde beim Schwämmesuchen kennen gelernt und gefragt, weshalb sie den Beißkorb trage vor dem Mund? Sie nahm ihm die ungeschickte Rede nicht übel und erzählte treuherzig von ihrem »Rematischen«. Da gab er ihr fürs erste Ebereschenbranntwein zum Einreiben. Solange sie rieb, war's gut, dann hatte sie wieder ihr »Rematisches«. Dann riet er ihr, sich abends vor dem Schlafengehen in ein warmfeuchtes Tuch einschlagen zu lassen und erbot sich zu Diensten. Sie tat's aber allein und am nächsten Tage war es schlimmer, als vorher. – Schließlich mußten sie doch auf das rechte Mittel gekommen sein, denn die Witwe half dem »Preußen« Ebereschenbeeren sammeln und ihr Gesichtl war nicht mehr verbunden.

So stand es zur Zeit, als wir dem »Preußen« in die Stube gestiegen waren, und als nun der Almhausel bei ihm saß und das »Stamperl Kranabethenen« austrank, so oft es sich gefüllt hatte. Und sagte unter anderem Gespräch plötzlich der »Preuß'«, wenn es sich so verhielte, daß ihm die Leute schon bei eitel Tageslicht zum Fenster hineinstiegen, so würde er künftighin allein nicht leben können.

»Werden's halt ein bösen Haushund müssen anschaffen,« meinte der Almhausel.

»Ne was!« schnarrte der »Preuß'«, »'n Weibsen werd' [118] ich mir mal anschaffen.« Und rückte kühnlich hervor mit der von den Heugräben.

»Hau!« lachte der Almhausel, »die lassen's Ihna nit!«

Der »Preuß'« antwortete ganz barsch, da werde er niemand fragen, der »Kranabethene« koste drei Groschen und der Hausel möge sehen, daß er beizeiten zur Tür hinauskomme.

Der Almer sah sich verabschiedet, sagte auch nichts weiter, behielt aber doch recht. Schon am zweiten Tage, nachdem die Holzmeisterswitwe ganz unauffällig eingezogen war in das fürnehme Grabenhäusel, kam der Schragelfranz mit dem langen Stecken. Der Schragelfranz war damals in Alpel Ortsrichter und der Stecken bedeutete die Würde.

Die Witwe tat wie eine Hausfrau, rückte dem Schragel einen der Polsterstühle zurecht, fächelte mit der Schürze allfälligen Staub ab und lud zum Niedersitzen ein. Der Richter blieb stehen und pflanzte seinen Stab auf vor den Augen des Weibes, dem jetzt schier ein wenig unheimlich zu werden begann.

Der Richter stand großartig da. Nun öffnete er seinen Mund, hielt ihn ein Weilchen offen und ließ ihn dann wieder zugehen. Er hatte eine Anrede im Kopfe und fand dazu den Anfang nicht. Dabei war ihm die strenge Richtermiene abhanden gekommen und nun setzte er sich nieder. Jetzt kam auch der »Preuß'« herein, stellte sich neben die Witwe hin, daß man sah, wie gut sie zusammenstanden, und fragte dann den Richter, ob Geist gefällig wäre?

Der Richter antwortete, Branntwein trinke er aus Sittlichkeitsgründen nicht, außer es wäre guter Weichselgeist. Dann begann er mit dem Stabe auf das Fletz zu klöpfeln und endlich – als er die beiden groß angeschaut hatte – begann er zu sprechen: »Also, jetzt hätte ich euch einmal [119] beisammen, dich, Preuß' mit der, und dich, Holzmeisterin, mit dem. Und jetzt muß ich euch sagen, daß ihr nit beisammenbleiben dürft, daß ihr wieder auseinander müßt. Und das heut' noch. Ich leid's keine Nacht mehr länger, und desweg bin ich da, und die Holzmeisterin muß auf der Stell' mit mir gehen. Unsereiner hat die Verantwortlichkeit und ich laß euch nit beieinander. Keinen Tag mehr länger. Ich leid's nit. Und desweg muß sie mit mir.«

Als der Richter merkte, er wäre in seiner Rede bereits zweimal herum und es wiederhole sich möglicherweise immer so, schloß er ab und stieß den Stab scharf in den Boden – gleichsam: punktum.

Die Holzmeisterswitwe schaute ein wenig verblüfft auf zu ihrem »Preußen«, und was der jetzt sagen werde. Dieser sagte gar nichts, sondern lachte scharf auf. Das Lachen ging dem Richter durchs Mark. Er war hier zwar der Höhere, aber nicht der Stärkere, und im Lachen lag's: Wollen mal sehen! –

»Und wenn's auch wär',« sagte der Schragelfranz sänftiglich, »daß ich euch heut' noch beieinander ließ', freiwillig – so kommen morgen die Schandarn! – Heiraten? Ihr zwei zusammen? Das ist eine dumme Red'. Ein Lutherischer! Das wär' noch schöner! Zwiescheckige Kinder! Das darf nit sein. Ich sag' es euch. Und gesagt hab' ich's euch und jetzt geh' ich wieder.«

Er ging und die zwei blieben.

Am nächsten Tag kamen die »Schandarn« noch nicht, aber acht Tage drauf kamen sie.

Die Holzmeisterswitwe wollten sie »davontreiben«. Aber das kleine Weibsbild schaute auf die großen Landwächter von oben herab, vom Söller, und drällerte ein Spottliedchen:


[120]

»Mei Schatz is a guata Bua,

Is a Schandar.

Sei Pulver is naß

Und sei Taschl is lar

Er hat a schöns Ketterl mit,

Schliaßt aber nit,

Er hat a schöns Hüaterl auf,

Grüaßt aber nit.

Er hat an schwarn Spiaß ban eahm,

Sticht aber nit,

Er hat a seins Büchserl um,

Schiaßt aber nit.«


Das ließen sich die Gerichtsboten nicht zweimal sagen, doch als sie dem Weibe das »schöne Ketterl« um die Hände legen wollten, tat der »Preuß'« in der Eile eine schneidige Wachebeleidigung, so daß sie jetzt auch ihn mitnehmen mußten.

Nun hatten aber die »Schandarn« nur ein Handschloß, und da von einer besonderen Freundschaftlichkeit der beiden Leute gegen die Landwächter keine Spur war, so wurden die beiden, der »Preuß'« und die Witwe, aneinandergeschlossen, er an der rechten, sie an der linken Hand, und so stapften sie, von der Ehrenwache begleitet, die Straße entlang.

Der Bezirksrichter in Kindberg mußte freilich lachen, als er sah, wie dieses Paar, das behördlich getrennt werden sollte, behördlich zusammengeschlossen worden war.

»Tut's weh, das Kettel?« fragte er die Witwe und befühlte ihr gefesseltes Handgelenk.

»Aber nit ein bissel tut's weh,« antwortete sie frisch.

»Na, wenn's nicht weh tut,« sprach der Bezirksrichter, »so wird sich ja wohl ein Mittel finden lassen, daß statt diesem Band ein anderes angelegt werden kann, eins, das nur die Untreue brechen kann oder der Tod.«

[121] »Die Untreue gewiß nit!« schrie die Witwe.

»Na nu, und der Tod ooch nich,« setzte der »Preuß'« bei, »denn weil zwee verliebte Christenleut' in Ewigkeit zusammenhalten wollen.«

Wenige Wochen später ist das Ehepaar eingezogen ins Grabenhäusel zu der fürnehmen Stockuhr, zu den güldenen Bilderrahmen und zu der grünen Polsterbank. Ich habe später noch ein einzigesmal ganz flüchtig zum Fenster hineingeguckt nach dem Lutherbuch und der Tabaksdose. Auf der Polsterbank saß das Weib und hatte einen kleinwinzigen »Preußen« auf dem Schoß. –

Das Schläfchen auf dem Semmering
[122] Das Schläfchen auf dem Semmering.

Das Mittagsmahl war vorüber. Den Rest der Milchsuppe hatte der Kettenhund bekommen, der dankbar mit dem Schweife wedelnd die Schüssel so blank leckte, daß die roten und blauen Blumen, sowie die Zahl des Geburtsjahres der geräumigen Tonschüssel klar zum Vorscheine kam. Der Hund beleckte, gleichsam zum Danke, dann auch noch die Blumen und die Jahreszahl, und gut war's. Den Rest der Schmalznocken hatte die Bäuerin dem alten Zottentrager (Lumpensammler) verehrt, der auf der Ofenbank saß bei seinem großmächtigen Bündel, in welchem alle alten Fetzen von Alpel beisammen waren und der Papiermühle harrten. Der Zottentrager nahm weder die »Zotten« umsonst, noch die Schmalznocken, er tat ein Täschlein auseinander und bot der Bäuerin zur Gegengabe drei Ellen blaue Schürzenbänder und ein paar englische Nadeln. Der Großknecht nannte ihn trotzdem einen Lumpenkerl.

Als wir vom Tische aufstanden, um wohlgesättigt wieder dem Tagwerke nachzugehen, steckte der Großknecht Rochus einen Ballen Tabak in den Mund. Trotzdem vermochte er noch zu reden und zum Hausvater das Wort zu sagen: »Bauer, brauchst du heute das Bendel?« Bendel, das ist nämlich der geringschätzige Ausdruck für einen nichtigen kleinen Buben, der den Leuten unter den Beinen umherschlupft, wenn er beim Vieh nichts zu tun hat. Das Wort Bendel mußte auf mich passen, weil der Zieselhofbauer, bei dem ich damals als Schafhirt angestellt war, auf mich [123] herabschaute und die Achseln zuckte. Er brauche mich nicht. Die Schafe seien ja in der eingezäunten Halde.

»Wenn du ihn nicht brauchst, so brauch' ich ihn,« sagte der Knecht. »Wenn ich morgen ins Österreichische hinaus soll mit dem Leab, so muß das Vieh heut' ein paar Stunden umgetrieben werden auf dem Anger.«

Der Leab, das war durchaus kein »Vieh«, wie der Knecht in seiner Grobmauligkeit sagte, sondern das war unser falbes Öchslein, der Liebling des Hauses. Es mußte besonders brav sein, denn es wurde besser gehalten, als die anderen Rinder, es bekam Heu statt Stroh und Salzrübenbräu statt Spreufutter. Warum die Bevorzugung? Weil der Leab eben ein lieber Kerl war, der auch so schön jodeln konnte. Wenn er satt war und vor dem Stalle stand, so begann er zu lauten, die Töne, die er in kurzen Zwischenräumen ausstieß, waren wie heller Juchschrei, der drüben im Wald klingend widerhallte. Die anderen konnten es bei weitem nicht so. Ich wußte damals noch gar vieles nicht, unter anderem auch, warum der Leab so schön jauchzte. War es, weil es gar so lustig ist auf dieser Welt, wenn man nicht an den Pflug muß und so guten Salzrübenbräu kriegt, oder war es, weil er Genossen und Genossinnen herbeirufen wollte von den Weiden, oder war es, weil der Wald sein Jauchzen so munter beantwortete. Kurz, es machte sich alles so sein und nett mit dem Leab, und das war nicht bloße Höflichkeit, wenn es hieß, daß er sehr gut aussehe. Mit diesem lieben Öchslein nun sollte der Knecht Rochus am nächsten Tage ins Österreicherland reisen, über den Semmering hinüber. Man sprach gar von Wien, wo der Leab, wie es hieß, sein Glück machen sollte.

»Sodl, jetzt komm einmal, Bendel, nichtiges!« Also hat der Knecht mich geworben. »Jetzt führ' den Leab aus [124] dem Stall auf den Anger und treib' ihn ein paar Stündlein langsam herum. Na, hast mich verstanden?«

Nun war das vom Leab eine besondere Gefälligkeit. Wenn ich ein gesunder starker Ochs bin, wie der Leab, so lasse ich mich nicht von einem Jungen, den sie das Bendel heißen, mir nichts dir nichts auf dem Anger umhertreiben. Entweder ich gebe ihm einen Deuter mit dem Hinterbein, daß er mich in Ruh lassen soll, oder ich tauche ihn mit dem gehörnten Kopf zu Boden. Mein Leab aber erkannte mir die Oberhoheit zu, oder es war ihm nicht der Mühe wert, einem winzigen Knirps sich zu widersetzen; er ließ sich gutmütig treiben. Etwas schwerfällig trottete er auf dem Rasen dahin, ich trappelte barfuß hinter ihm drein und wenn er stehenbleiben wollte, um sich zu lecken oder eine Schnauze voll Gras zu sich zu nehmen, so versetzte ich ihm mit der Gerte einen leichten Streich an den Schenkel, daß er weiter ging. So hatte es der Knecht angeordnet. Ich wußte nicht, was das Herumtrotten heute zu bedeuten hatte und mein Leab wußte es wahrscheinlich auch nicht. Der Mensch, wenn er so etwas nicht weiß, macht sich Sorgen darob, der Ochs nicht, trotzdem kam letzterer genau so weit als ich – etwa fünfzigmal um den Anger herum.

Am Abend, als wir müde und mit steifen Beinen in den Stall gingen, habe ich's erst erfahren, weshalb die Rundreise verhängt worden war. Der Leab mußte sich für seine bevorstehende Fußpartie ins Österreicherland eingehen, weil er das Marschieren nicht gewohnt war. Bei mir stand die Sache nicht viel anders, denn auch ich war auserlesen, die Reise mitzutun.

Am nächsten Frühmorgen hatten wir, der große Knecht Rochus und der kleine Bendel, unser Halbfeiertagsgewand angelegt, ich auch mein neues Paar Schuhe, dann aßen [125] wir Sterz und Milch, und der Leab bekam noch einmal seinen Salzrübenbrei. Während er mit Behagen sein Frühstück verzehrte, ahnungslos, daß es das letzte war in der Heimat, striegelte ihm der Ziegelhofbauer noch die Haare glatt und betastete mit Wohlgefallen den rundlichen Leib.

»Unter hundertsechzig treibst ihn wieder heim,« sagte er dann zum Knecht. Das war mir nicht ganz verständlich, der Rochus aber nickte seinen Kopf. »Geh' nur her, Öchsel!« sprach er und legte dem Genannten den Strick um die Hörner. Ich stand hinten mit der Gerte. Als wir so zu dreien durch das Hoftor hinaus davonzogen, brüllten die anderen Rinder des Stalles, und der Leab stieß ein paarmal sein helles Jauchzen aus. War ihm wirklich so wohl ums Herz, weil es jetzt in die helle Fremde ging, oder hatte der Arme nur einen einzigen Laut für Freud und Leid? Die Hausleute schauten uns nach, bis der Weg sich verlor im Schachen.

Anfangs ging's etwas rostig, es waren uns die Beine noch steif von der gestrigen Angerwanderung, aber schon über dem Alpsteige wurden wir gelenkiger, und im Mürztale trabten wir zu acht Füßen ganz rüstig fürbaß.

»Sodl,« sagte der Knecht, »bis die Sonne abi geht, müssen wir z'Gloggnitz sein. Heimfahren können wir morgen auf dem Dampfwagen, ist sicherer mit dem Geld.«

Und kam es jetzt auf, was der Rochus im Sinn hatte. Den Leab wollte er verkaufen. Zu Gloggnitz an einen Viehhändler, der ihn dann nach Wien führen würde. – Nein, das konnte dem Knecht nicht ernst sein. Verkaufen, den Leab! Derselbe Knecht hatte früher einmal am Feierabend eine Geschichte erzählt, wie ein Mann seinen Bruder an die Juden verkauft hatte... Und stimmte denn das mit dem, was meine Mutter daheim oftmals gesagt hatte, [126] nämlich, daß auch das liebe Vieh unserem Herrgott gehöre, und daß Ochs und Esel die ersten gewesen, die beim Christkind Wache gehalten? –

Weil die Straße so breit und glatt vor uns da lag und das Öchslein so willig fürbaß ging, so konnten wir plaudern. Daheim plaudert kein Knecht mit dem Schafbuben, am wenigsten der ruppige Großknecht mit dem Bendel, aber in der Fremde schließen die Menschen sich nahe aneinander, selbst wenn ein Ochs dazwischen ist.

»Was wird er denn nachher machen, der Leab, z'Wien?« fragte ich.

»Der wird totgeschlagen,« antwortete der Knecht. Ich lachte überlaut, weil ich das grobe Wort für einen seinen Witz hielt.

»Übermorgen um die Stund hängt er schon an den Hinterbeinen beim Fleischhacker,« setzte der Knecht bei. Mir ward plötzlich bange, ich schaute dem Leab ins Gesicht, das glotzte harmlos drein; er hatte nichts verstanden, gottlob. – Fleischhacker! Man hatte den Namen übrigens schon gehört. Als daheim die Mutter einmal schwer krank gewesen war, hatte der Arzt ein Pfund Suppenfleisch verordnet, zum Kraftmachen. Das war auch beim Fleischhacker geholt worden.

»Hi, Leab!« sagte der Rochus und zog am Strick.

Dann fuhr er fort, wunderlich zu sprechen: »Das beste Fleisch geht allemal nach Wien. Wenn unsereiner auf der Kirchweih beim Fleischhacker im Dorfe ein Stückel kauft, kriegt man ein wiedenzähes Luder.« – Was er nur da redet!

Als wir beim jungen Lärchenwald am Anfang des Semmeringberges waren, wußte ich alles. Es war ganz unerhört. – Zurückführen nach Alpel konnte ich den armen, [127] armen Leab nicht, ich hätte mit dem Knecht darum bis auf den Tod raufen müssen. Der Knecht Rochus hatte ja vom Bauern den Auftrag, den Leab in Gloggnitz dem Fleischhacker zu überantworten! Dann sollte das gute Ochsl zur Schlachtbank geführt, dort mit einer großen Hacke niedergeschlagen und hernach mit einem langen Messer erstochen werden. Alsdann sollten ihm die schönen schwarzen Hörnlein vom Haupte geschlagen und die Haut herabgezogen werden. Dann sollten ihm die Eingeweide herausgerissen und das Fleisch in tausend Stücke zerschnitten werden. Und diese Stücke würden gekocht, gebraten, von den Wienern verzehrt, so wie der Wolf das Schaf frißt, und die Katze die Maus! – Mir ward blau vor den Augen, ich taumelte hin an den Rain. Der Rochus steckte mir einen Bissen Brot in den Mund.

Später, wieder zu mir gekommen, schaute ich den Leab an. Der biß einen Grasschopf ab und kaute ihn mit aller Behaglichkeit hinein. Er weiß von nichts. Er hat's gehört, aber nicht verstanden. O, argloses Gottesgeschöpf! – Ich hub an, laut zu brüllen.

Der Rochus lachte und gab mir zu bedenken, daß ich selbst schon Ochsenfleisch gegessen hätte! Ich selbst? Das war noch schöner! – Ja! Am Leihkauftag, wie uns der Bauer beim Wirt Braten mit Salat gezahlt. Das sei so etwas gewesen. – Mir wurde übel. Braten hatte ich freilich gegessen, er war sogar sehr gut gewesen, aber daß das ein Stück Tierleib sollte gewesen sein, der vorher geradeso warm gelebt, und vielleicht so hell gejauchzt hatte, wie der Leab! – Und daß die Menschen so etwas tun!

Als mir das erstemal die Gewißheit ward, daß alle Menschen sterben müssen, auch ich – da war mir nicht so abscheulich weh ums Herz, als an diesem Tage, wie ich [128] erfahren, daß der Mensch das Tier ißt, mit welchem er vorher so zutraulich beisammen gelebt hat.

»Was ist denn das?« fragte der Rochus und stupfte mit dem Stock auf meinen Fuß. »Ist das nicht ein Schuh?«

»Das ist mein Feiertagsschuh,« gab ich artig zurück.

»Gelt, und mit dem gehst du in die Kirche und betest fleißig. Sag' mir schön, hast du die Scheckige noch gekannt, die unser Bauer im vorigen Jahr für ein Kalb umgetauscht hat?«

»Die scheckige Kuh, die mit dem Melkstuhl geschlagen worden ist von der Stallmagd, weil sie keine Milch geben hat wollen?«

»Richtig. Und geben hat sie keine wollen, weil sie keine mehr im Euter hat gehabt, und deswegen hat sie unser Bauer fortgetauscht. Was meinst, Schafhalterbub, wo wird sie sein jetzt, die scheckige Kuh?«

Riet ich: »Auf der Fischbacher Alm.«

Sagte er: »O, Tschapperl, auf der Fischbacher Alm! Wo du jetzt in ihrer Haut steckst!« Und tippte wieder auf meine Schuhe. – Mich machten diese Offenbarungen ganz verwirrt. Inwendig Ochsenfleisch, auswendig Kuhhaut! Und so einer will Kind Gottes sein?! –

Auf der Semmeringhöhe, wo die grünen Matten waren, wollte unser Leab auf einmal nicht weiter, sondern setzte sich nieder.

»Das ist gar nicht so dumm!« meinte der Rochus und setzte sich auch in den Schatten einer Lärche, denn es war heiß geworden. Ich hockte ebenfalls hin und lugte heimlich auf das Rind. Das tat gemütlich wiederkauen, der Knecht tat's auch an seinem Tabak, und dabei kratzte er das Tier zärtlich hinter den Ohren. Der Leab war dessen froh und streckte traulich den großen Kopf so zurecht, daß [129] der Rochus gut krauen konnte. Und jetzt dachte ich: Wie doch der Mensch so falsch sein kann! – Ich meinte damit den Knecht und mich und alle, die ein Haustier so liebhaben, daß sie es endlich zur Schlachtbank führen und aufzehren. Endlich hatte der Leab sein schweres Haupt auf den Rasen hingelegt und machte die großen runden Augen zu. Der Rochus lehnte sich an den Baumstamm und duselte auch ein. Jetzt schliefen sie beide – aber den Schlaf des Gerechten sicherlich nur einer. Der Knecht hatte den Strick noch schlafend um die Hand gewunden, mit dem er das ahnungslose Schlachtopfer hielt. Ich war voller Betrübnis.

Kam des Weges her, den wir gekommen, ein großes graues Bündel, unter denselben gebückt der alte Zottentrager, der tags zuvor in unserem Hause gewesen. Der stand still, streckte seinen langen braunen Hals nach mir vor und fragte flüsternd: »Was hat's denn, Bübel?«

Schluchzend stand ich auf und vertraute dem weltfremden Menschen meinen Schmerz.

»Das Öchsl tut mir so viel derbarmen, weil es zum Fleischhacker muß.«

»So, so! zum Fleischhacker!« flüsterte der Alte und verzog sein runzeliges Gesicht zu einer schrecklich lächerlichen Larve. Aber ich konnte nicht lachen, mußte immer noch heftiger weinen aus Erbarmnis, weil der liebe gute Leab so arglos und unschuldig schlummerte.

»Ist das nit dem Zieselhofer von Alpel sein Knecht?« fragte dann leise der Zottentrager, auf den Rochus deutend, »Ist schon gut. Der hat mich gestern mit einem Lumpenkerl angemurmelt. Lumpenkerl, der bin ich, gewiß auch noch, daß ich's bin. Weil ich ein Kerl bin, der Lumpen tragt. Aber anmurmeln laß ich mich nit so. Gesagt ist's! [130] Heute wird er die Lumpen nit verachten, wenn sie ihm der Viehhändler als nagelneue Hunderter auf die Hand tut. Aber wart, altes Murmeltier, so gut sollst es nit haben! Gesagt ist's! Dem kleinen Edelmann da tut eh' der Ochs leid. Mir auch. Schlaf süß, du holdseliger Bauernknecht, du kotzengrober! Der Ochs soll in den grünen Wald gehen, und nit zum Fleischhacker. Gesagt ist's und –« mit dem Taschenmesser schnitt er den Strick durch – »getan ist's.«

Das alles war im Flüsterton herausgestoßen, nun rüttelte er den Ochsen bei den Hörnern: »Steh' eilends auf, Herr Ochs, und fliehe!«

Der Leab glotzte ob solcher Belästigung etwas verblüfft umher, dann stand er schlotterig auf, zuerst mit den Hinter-, dann auch mit den Vorderfüßen und ließ sich vomZottentrager in den Wald führen. Der alte Spitzbube zischelte mir noch zu: »Du schlafst auch, Jüngling, und weißt von nichts.« Dann rückte er sein Bündel mieder auf und huschte davon.

Ein junger Mensch ist bald verführt, wenn er verführt sein will. Ich streckte mich auf den Rasen, drückte meine Augen zu und wartete, bis der Knecht Rochus die seinen ausmachte. – Das wird ein schreckliches Erwachen merden! Ich bangte davor und war höllisch neugierig drauf. Ich blinzelte zwischen den Augenwimpern wohl doch ein wenig auf ihn hin. Er schlief so arglos, wie früher der Leab. Jetzt tat mir der Knecht leid, wie früher der Ochs. Fest um die Hand gewickelt hielt er den abgeschnittenen Strick. Jetzt zuckte er ein wenig mit derselben Hand, als wollte er das Tier an sich ziehen. Das gab keinen Widerstand. Er riß die Augen auf, warf den Kopf, sprang empor: »Der Ochs!« Ein wahrhaftes Angstgebrüll: »Bub, wo ist der Ochs!«

[131] Ich tat, als wäre ich eben auch erst erwacht, streckte die Arme aus, gähnte und sagte mit der ganzen Niederträchtigkeit eines Zottentragers: »Hast du den Leab schon verkauft?«

»Gestohlen! Geraubt! Weggeraubt!« schrie der Knecht und schoß umher wie ein scharf losgelassener Kreisel. Die Faust, um welche der Strick noch geschlungen war, streckte er gegen Himmel, und an mir vorüber rasend, schien es einen Augenblick, als wollte er sie auf mich niedersausen lassen. Mir war nicht zum Lachen, und die Freude an dem geretteten Leab löste sich in eine schreckliche Angst vor dem schnaubenden Großknecht. Seine Fäuste lösten sich bald in flache Hände auf, mit denen er sich jammernd den Kopf hielt. Das viele Geld! Auf Jahre hinaus der Dienstlohn weg, auf viele Jahre hinaus! Der Bauer werde ihm nichts schenken. Vielmehr strafen werde er ihn für die Fahrlässigkeit. Auf fremden Straßen einzuschlafen! Es sei auch zu pflichtvergessen! Zu pflichtvergessen! »Mein Bübel,« rief er mir zu, in seiner Verzweiflung zärtlicher als je, »lauf du zurück auf der Straßen, wo wir hergekommen, vielleicht derwischest du den Dieb! Ich werde auf die Österreicherseiten hinaus. Weit kann er ja noch nicht sein. O, mein liebes Geld, mein liebes Geld!«

So wollten wir uns ausmachen zur Verfolgung des Wichtes, der uns den Leab gestohlen, da hub es im nächsten Dickicht an in hellen Stößen zu lauten...

O, Ochs, du jauchzest dich in den Tod hinein! – Drei Stunden später hat zu Gloggnitz der Händler den Leab übernommen und ihn dem großen Mastviehtransport einverleibt, der nach Wien ging.

Als der Kaiser die Kaiserin nahm
[132] Als der Kaiser die Kaiserin nahm.

Das war am Tage des heiligen Ritters Georgi. Ein Montag war's – sonst für manche der unangenehmste Morgen der ganzen Woche. Der liebe Sonntag ist vorbei und hat nichts zurückgelassen, als einen leichten Geldbeutel und etwa einen schweren Kopf; und zuvor stehen wieder sechs lange, alltägliche Gesellen, oft mager beim Tisch und herb bis in die Nacht hinein. Da seufzte zwar unser Knecht Markus allemal, wenn der Haushahn die Montagsfrühe krähte, aber schließlich brummte er: »Arbeiten ist auch kein Unglück!« und sprang flink vom Bette auf. Und heute, als die Leute zum Frühstück zusammen kamen, sahen sie mit Verwunderung das schneeweiße Tischtuch mit den roten Querstreifen, welches so groß war, daß es an allen Seiten weit über den Tisch hinabhing, eine Erscheinung, die mich allemal an das Bild vom letzten Abendmahl Christi erinnerte. Und auf dem Tische lagen ringsum die beinernen Löffel, jeder seines Mannes oder Weibes harrend, dessen Ernährung er übernommen hatte. Diese Löffel waren von einem Bauer in Wenigzell aus Kuh- oder Ochsenhörnern verfertigt und wiesen je nach der gesprenkelten Farbe der Hörner die prächtigsten Zeichnungen. Mein Vater besaß deren ein Dutzend, hielt sie die meiste Zeit in seiner Truhe verwahrt und gab sie nur zu besonderen Anlässen und Festlichkeiten in Gebrauch. Endlich kam heute auf den Tisch auch noch die große Porzellanschüssel mit den gemalten roten Blumen; sie war voll gelblichweißer Milch, in welcher diesmal nicht [133] das mindeste von jenem unliebsamen bläulichen Ton bemerkbar war, über welchen der Knecht Markus einmal die Worte gesagt hatte: »Jesses Maria, heut' ist uns die Suppen ertrunken!«

Wir sahen ihn damals alle erschrocken an, wie er das meine? »Im Wasser ertrunken,« fuhr er fort, »seht's denn nicht, daß sie schon ganz blau angelaufen ist?«

Aber heute, als er in der Milch das erfreuliche, zarte Gelb sah, und wie jetzt noch weißes Brot hineingeschnitten wurde, schmunzelte er, zerbrach sich aber den Kopf darüber, was denn in dieser Woche für eine hantige (herb:) Arbeit kommen müsse, daß sie mit solcher Kost anfange.

Nun die Leute beisammen waren, kam mein Vater in schneeweißen Hemdärmeln und hatte die Haare gekämmt und seine schöne rote Weste an.

»Jetzt setzt's euch zur Suppen,« sagte er, »und nachher mögt's euch anlegen gehen.«

Sie stutzten, sie waren ja schon angelegt (angezogen).

»Das bessere Gewand meine ich,« fuhr der Vater fort, »wir halten heut' einen Feiertag.«

Da hellten sich die Augen auf und die Magd lobte den Hausvater, daß er ein so großer Verehrer vom heiligen Georgi sei.

»Nicht deswegen,« antwortete der Vater, »der heilige Georgi ist wohl auch nicht zu verachten, aber für den ist gestern in der Kirche schon etwas getan worden. Heut' ist's wegen was anderm, heut' ist dem Kaiser seine Hochzeit.«

Das war eine helle Verwunderung und so fragte der Vater, ob sie denn nicht gehört hätten, wie es der Pfarrer von der Kanzel verkündet.

Ja, meinte der alte Knecht, gehört hätte er wohl so etwas vom Kaiser, aber er hätte gemeint, es gehöre nur zu der Predigt und hätte nicht weiter darauf geachtet.

[134] »Tut's halt jetzt fleißig in die Kirchen gehen, Leutl, und beten. Wird schon ein Glück zu brauchen haben, wenn's auch der Kaiser ist.« So sagte mein Vater, und wir – ich bin dazumal das lose ins Leben guckende Bürschel gewesen – richteten uns zusammen zum Kirchgang.

Und als unsere Leute unterwegs waren und gleich auch die Morgensonne ganz anders golden war, als an einem ordinären Montag, da führten zwei Mägde unter sich folgendes Gespräch:

»Aber na,« sagte die eine, »jetzt heiratet der Kaiser auch! Der wird was eine Noble nehmen!«

»Das kannst dir denken,« sprach die andere, »eine Postmeisterische zum Niedrigsten, vielleicht gar eine Verwalterische.«

»Meinst!«

»So ein Herr, da!«

»Aber na – mei!«

»Ihr redet so viel närrisch daher,« bemerkte eine dritte, »der Kaiser wird 'leicht doch wohl eine Prinzessin nehmen.«

»Gibt's denn Prinzessinnen auch noch?« fragte die erste sehr überrascht, »jetzt hätt' ich vermeint, die wären nur so in den alten Geschichten drinnen. Na, nachher wohl.«

Hierauf sagte ein Knecht: »'s ist doch auch nicht, daß er eine Prinzessin nimmt. Hat's ja der Pfarrer verkündet, daß er eine Bäuerische heiraten wird.«

»Eine Bäu'rische? Geh', Rüppel, da lugst 'leicht doch.«

»Wenn der Pfarrer lugt, lug ich auch.«

»Ah na, der Pfarrer nit – das nit – der Pfarrer nit. –«

»Ja, ja,« sagte ein anderer, »es ist richtig, ich hab's auch gehört, eine Bäu'rische nimmt er.«

[135] Darüber kamen nun alle Mägde in eine zuckende Aufregung. Und der Ältesten wurde es zuerst klar: »Wenn er schon so ist und eine Bäu'rische mag, so hätt' er auch auf mich können verfallen! Gefehlt wollt' ihm bei mir nichts haben, ich bin nicht so, daß ich etwan grob wär'. Kochen kann ich auch was. Das Kaiserhaus hätt' ich ihm schon sauber hergeputzt und alle Wochen hätt' mir der Fußboden müssen hinausgewaschen werden, na, das hätt' ich nicht anders getan.«

Die Magd war nicht so dumm, daß sie das bloß dachte, sie war so dumm, daß sie es auch vor sich hinsagte. Da lachten die anderen Mädchen hell auf und riefen: »Die Kathel will Kaiserin sein!«

Der Haber-Michel-Anton – ein verabschiedeter Soldat, dem im Neunundvierzigerjahr eine piemontesische Kugel durch den linken Arm gefahren war – trat nun auf die Kathel zu und sagte: »Kathel, es ist zu spat, heut' hält er Hochzeit. Grimm' (gräme) dich nicht, kriegst den Kaiser nicht, so nimmst einen Kaiserlichen. Schaust meinen Kragen an, so wirst es sehen, daß ich Feldwebel bin. Leider Gottes habe ich den Abschied, bin aber erst einunddreißig Jahr alt und möcht' doch noch einmal einrucken. Kathel, pack' ihn z'samm', den Kaiserlichen!«

»Wenn du meinst, Anton, daß dich deine linke Hand nicht irrt?«

»Aber schon gar nicht, Kathel. Die Kugel ist heraußen, das Loch ist verwachsen. Geh' du, es wär' gar nicht dumm, wenn wir uns heut' miteinander täten versprechen.«

Und die Kathel – gut kaiserlich war sie – –

»Geh' schau, daß du weiter kommst, kleiner Spatz! Da tröttelt er unsereiner alleweil hinten nach.« So grollte die Kathel, meinte aber nicht den durchschossenen Feldwebel, sondern mich, der hinter beiden einhergelaufen war und sich [136] nur für den piemontesischen Kugelschuß interessiert hatte. So eilte ich nun zu den anderen, die immer noch darüber hin und her redeten, daß es kaum glaublich sei, wie der Kaiser eine Bäu'rische nehmen könne.

So kamen wir zur Kirche. Dort, wo das schöne Lindenbäumchen stand, welches jemand zur schuldigen Danksagung für die glücklich abgewendete Gefahr des 18. Februar 1856 1 pflanzen ließ, standen heute auch die fünf Musikanten, welche an hohen Festen mit Trompeten, Klarinetten, Geigen und Trommel zusammenwirkten, um dem lieben Gott oder einem seiner Heiligen ein Ständchen zu bringen. Als nun der Herr Pfarrer im Talare vom Pfarrhof den Kirchberg heranstieg, begann das klingende Spiel. Dem Pfarrer brachten sie's, dem Kaiser vermeinten sie's. Der war weit weg in der Wienerstadt, dem konnten sie persönlich die Ehre nicht antun, seiner Braut auch nicht, so bereiteten sie dieselbe dem Fürnehmsten der Gemeinde. Der Pfarrer jedoch sah sich im Volke um und entdeckte den achtzigjährigen Höfelbauer mit seinem Weibe, beide tief gebeugt am Stock und weiß an Haaren und halb taub. Vor mehreren Jahren schon hätten sie die goldene Hochzeit halten können; die Jahre waren dazu da, aber das Gold nicht, um ein Fest zu machen, und so lebten die Leutchen still über den Gedächtnistag hinaus. Dieses greise Paar nahm nun der Pfarrer in seine Arme, so, daß sie zur Rechten und er zur Linken war und stellte sich mitten auf dem Kirchplatze auf. Als die Musikanten ihr erstes Stück zu Ende gespielt hatten, nahm der Priester das Wort und sprach folgendes:

»Es ist recht erfreulich, liebe Pfarrkinder, daß ihr so zahlreich erschienen seid, um den heutigen Tag zu ehren [137] und Gott zu bitten, daß er unserm allergnädigsten Kaiser Franz Josef, der sich heute mit Elisabeth, der schönen und tugendreichen Prinzessin aus dem erlauchten bayerischen Hause, vermählt, ein langes Leben, Glück und Segen für das durchlauchtigste Kaiserhaus und für unser geliebtes Österreich bescheren möge. Wolle Gott unserem geliebten jungen Kaiser, der ritterlich ist wie der heilige Georg, dessen Gedächtnis die Kirche heute begeht, die Kraft und Gnade verleihen, den Drachen zu besiegen, der in dieser bewegten Zeit Reich und Thron noch immer bedroht! – Weil es aber nach dem Willen Gottes ist, daß seine Ehre wieder den Menschen zugute komme und weil es nach dem Wunsche unseres gnädigsten Kaisers ist, daß die heutige Festfreude auch den Ärmsten des Reiches zuteil werde, so habe ich hier unsere guten, alten Höfelbauerleute aufgefunden und lade euch ein, mit mir zuerst in der Kirche und dann im Wirtshause bei einem frohen Glas Wein, schlicht, wie es ohne alle Vorbereitung nur sein kann, dieses betagten Paares goldenes Ehegedächtnis zu begehen. Und das ist halt wie ein Gebitt an den lieben Gott, es möchten auch der Kaiser und die Kaiserin den goldenen Hochzeitstag erleben!«

So sprach er, und da drängten die Leute auf ihn ein und riefen: »Das ist brav, Herr Pfarrer, das ist brav! – Wir sind alle dabei!«

Die alten halbtauben Höfelbauerleute hatten wohl ihre Ohren gespitzt und dem Herrn Pfarrer stockscharf auf den Mund geschaut, was er denn da zwischen ihnen heute für eine schöne Predigt halte – aber sie konnten es doch nicht recht loskriegen, um was es sich eigentlich handle. Fragend blickten sie umher, bis ihnen einer recht ins Ohr schrie: »Eure goldene Hochzeit ist heut'!«

»Jesses und Josef!« ächzte das Weib erschrocken auf [138] und sah nach allen Seiten auf ihr Gewand hinab, das freilich nicht gerade hochzeitlich war.

Nun tat auch der Höfelbauer den Mund auf – ach, der arme Alte hatte sich an der harten Nuß eines achtzigjährigen Lebens alle Zähne ausgebissen – und fragte mit seiner heiseren Stimme: »Eine goldene Hochzeit ist heut'? Ei, so wohl! Und wenn man fragen darf: wer denn?«

»Unsere ist, du alter Lapp!« schmetterte ihm das Weib freudvoll unters runzelige Kinn hinein.

Da fiel schon wieder die Musik ein, und mit den Klängen des »Kaiserliedes« zogen wir in die Kirche. Die zwei alten Leute kamen auf die Ehrenbank vor dem Altar; der Mann sah immer noch höchst verwundert drein, das Weib preßte ihre Schürze ins Gesicht.

Der Gottesdienst war recht feierlich, selbst die Buben hinterseits des Chores, wo die Glockenstricke hingen, ließen heute ihr heimlich Kartenspiel, zogen aber um so heftiger an den Stricken, damit das Geläute recht hell und weit hinausklinge in die Berge und Wälder, wo der junge Frühling aufstand.

Ich hockte unter dem Seitenaltar des heiligen Michael und befliß mich der Andacht. Ich hatte drei Bitten: Erstens für das junge Kaiserpaar, zweitens für die alten Höfelbauerleute und drittens für mich selber. Mein Anliegen war, ob mich der Knecht Markus wohl ins Wirtshaus mitnehmen werde. Ein kleiner Bub', der kein Geld hat und sich auch noch keinen Kredit zu machen weiß, kann nur unter dem Horte eines Erwachsenen zu den gesegneten Tischen gelangen. Nun hatte ich aber wohl die Erfahrung gemacht, daß der Markus der Ansicht war, kleine Buben gehörten nicht ins Wirtshaus. Doch heute schien auf mein Gebet Gott den alten Knecht wunderbar erleuchtet zu haben, denn als wir [139] aus der Kirche gingen und mir der braune Brustfleck zitterte vor dem Moment, da der Markus sagen werde: So, du gehst jetzt heim, Bub'! Aber daß du mir unterwegs keine Allotria treibst! – nahm er mich am Arm und sagte: »Darfst heut' ein Glasel Wein mit mir trinken, Peter!«

So gingen wir alle miteinander ins Wirtshaus. Ich kam just neben einem sehr angesehenen Mann zu sitzen, dem Schneider Natz, der nachmals mein Lehrmeister geworden ist. Der nahm plötzlich eine Semmel aus dem Korb, brach sie mitten auseinander, legte die eine Hälfte zu seinem Glase, die andere Hälfte vor mich hin und sagte: »Die gehört dein, Bub, daß du auch was zu beißen hast.«

Wir kannten uns nicht weiter und er hatte gewiß keine Ahnung, daß er mit dem Jungen, mit dem er jetzt die Semmel teilte, dereinst ein Stück Leben zu teilen haben würde. In mir ist aber an jenem Tage das erstemal der Gedanke erwacht: Ich möcht' auch so ein braver Schneider werden.

Die alten Höfelbauernleut' saßen beim vordersten Tisch; sie verzehrten umständlich, doch mit stillem Behagen den vorgesetzten Braten, sie nippten vom Wein, das Weib tat Zucker ins Glas und tauchte die Semmel ein und nun begann ihre Glückseligkeit, an welcher wir alle uns freuten. Bald wurde Gesundheit getrunken und der Haber-Michel-Anton stand auf – dem saß die Kathel richtig schon bei – pochte mit dem Glase auf den Tisch und brachte einen Trinkspruch aus auf das kaiserliche Brautpaar in der Wienerstadt.

»Ich wünsch' Glück!« sagte er, »das Heiraten ist freilich leicht, wenn der Bräutigam so mannbar ist und die Braut so schön. Das Beieinanderleben ist auch leicht, wo sich zwei so gern haben. Aber halt das Länderregieren! Gleich auf einmal neununddreißig Millionen Leut' in Ordnung [140] zu halten, wenn Krieg ist und wenn Sturm ist und die Leut' auf sind und selber nicht wissen, was sie wollen! Da gehört ein Kopf dazu! Unsere Hausteinerpfarr' hat vierhundertsechzehn Seelen, und was das schon immer einmal ein Kreuz ist! Nicht wahr, Herr Pfarrer? Na, ich sag's ja. Und erst so ein unsinniger Leuthaufen, wo die einen ungarisch sind, die anderen böhmisch, slovakisch, wällisch, deutsch, polnisch – was weiß ich! Aberwenn's einer imstand ist, so sag' ich: Unser Kaiser Franz Josef hält's auf gleich! Denn warum: sie haben ihn alle gern. Drum heb' ich mein Glasel Wein zu Gott dem Herrn: Der Kaiser soll leben und die Kaiserin daneben!«

Nach diesem Spruch war das beim Wirt und der Kellnerin ein Rennen und Laufen, denn alle Gläser waren auf einmal leer geworden. Und die Kathel, wie sie stolz war darauf, daß ihr Beisitzer so fürnehm reden konnte, und so gesetzt und so gescheit! Ja, wer einmal bei den Kaiserlichen gewesen, gleich ganz was anderes ist's!

Wie alt er denn täte sein, der Bräutigam z'Wien?

»Nicht ganz vierundzwanzig Jahr.«

»Just recht. Und die Braut?«

»Ist siebzehn.«

»Schau du! Schon gar blutjung. Na, ist auch recht, älter wird der Mensch.«

Und jetzt kam man auch auf das Mißverständnis, daß sie keine Bäu'rische, sondern eine Bayerische sei, und da wurde rechtschaffen gelacht.

»Es ist viel,« meinte ein Bauer, »daß ein so junger Herr schon das Haus Österreich regiert.«

»Vor sechs Jahren ist er noch jünger gewesen,« berichtete der Anton, »und der Kaiser ist gar über die Revolution Herr geworden.«

[141] »Ja, das hat man gehört.«

»Ich nicht, wenn ich ein achtzehnjährig Bürschel bin, ich nicht,« sagte ein anderer und tat stolz darüber, daß er hier auch mitreden konnte.

»Aber einer muß doch sein, der sich traut. Wenn der Kaiser Ferdinand auf einmal hergeht und sagt: ich mag nimmer regieren, das Volk ist mir zu bockbeinig. Soll's ein Jüngerer probieren. Was wirst denn ma chen? Einen Bruder hat der Ferdinand, der ist nicht viel jünger als er selber, der macht einen Deuter mit der Hand und sagt: Mich laßt's aus, ich bin nicht für das und will mein' Fried' haben. – Hat auch recht gehabt, der alte Herr, ich hätt' ihnen's g'rad so gesagt. Das Kaisersein wäre schon recht, aber das Länderregieren ist eine verkieselte Sach'! Ich nicht, ich; lieber den ganzen Tag holzhacken im Wald '«

»Das sag' ich auch.«

»Nun, und so hat der Erzherzog – vom Kaiser Ferdinand der Bruder – gesagt: Wenn mein Sohn, der Franzel, will, der ist jung und stark, die Leut' haben ihn auch gern, so soll er's im Gottesnamen probieren. Der Franzel aber hat ihm zur Antwort gegeben: Herr Vater, ums Kaisersein ist mir gar nichts, aber wenn ich's übernehme, so tue ich's, weil einer sein muß, der sich die Sach' angelegen sein läßt und ihr vor sein kann. Die Österreicher sind im Grund brave Leut', ich komme mit ihnen schon wieder auf gleich. Ich fahr' überall herum und mach' gute Gemeinschaft mit jedem Land extra, und frage die Leut', was sie für Gesetze haben wollen, und dieselbigen mach' ich ihnen nachher. Ich bin nicht der Mensch – hat er gesagt – der sich auf was kapriziert; wie es dem mehreren Teil recht ist, so soll's sein. – Hat darauf sein Vetter, der gute Kaiser Ferdinand, gesagt: Franzel, das gefallt mir von dir, du [142] bist der Rechte. Auf das, ob du als Regent selber glücklich sein wirst, darfst nicht schauen, aber 's Land mach' glücklich. – Ausgeredet ist's gewesen und Österreich ist gleich ganz verliebt worden in seinen braven blutjungen Kaiser.« So redeten sie und der alte Höfelbauer legte die hohlen Hände an die Ohren, daß er den Schall der Worte hineinleite, und murmelte dann traurig: »Daß ich aber schon gar nichts versteh'!«

Der Pfarrer teilte ihm's mit, und da nickte der Alte gar befriedigt mit seinem weißen Haupt und dann sagte er: »Na das! So hätten wir schon seit sechs Jahren einen neuen Herrn? Nicht ein bissel was hab' ich davon gehört; halt dasselbig' ist mir letzt' Zeit her wohl vorgekommen, daß alles einen anderen Lauf hat. Hab' ich's nicht immer einmal gesagt, Alte, ich weiß nicht, was das ist, daß jetzt die Welt ganz anders kugelt, als voreh!«

»Freilich, freilich, Alter, wie sie voreh ist kugelt, da sind wir alleweil untenauf gewesen. Jetzt heben wir uns bissel in die Höh'!«

Für die Weiber war das kein Gespräch; die wollten lieber von der »Frau Kaiserin« was wissen, wann und wie die zwei so nahend wären bekannt worden, daß es zur Heirat geführt hätte.

»Wie werden sie denn auch sein bekannt worden?« belehrte der Toni, »hat halt gehört sagen von der schönen Prinzessin im Bayerland. Darauf hat er sich als Rittersmann verkleidet und ist hingereist und hat sie gefragt, ob sie ihn nehmen wollt'. Sie schaut ihn an und gibt zur Antwort: Tu' der Herr halt mit meinen Eltern reden. Die Eltern – versteht sich – die haben ihm gleich zu verstehen geben, die Prinzessin dürfte wohl doch nicht recht passen für so einen einfachen Rittersmann, und er solle ihnen [143] nichts für ungut halten. Darauf hat er geantwortet: wenn sie schon für den einfachen Rittersmann nicht paßt, leicht paßt sie für den Kaiser von Österreich. Könnt euch wohl denken, daß jetzt keine Dreinred' mehr gewesen ist; aber die Prinzessin hat gesagt: ich heirate ja nicht den Kaiser von Österreich, ich heirate meinen Franzel.«

»Schau, das ist brav!« sagten die Bauern und bissen fest in ihre Pfeifenrohrspitzen. Und die Weiber waren über die Geschichte schier glückselig, und die Kathel gestand sich's nun auch, ihr sei eigentlich nicht so sehr um den Kaiserlichen zu tun, als um den Anton. Die Kaiserhochzeit wäre nach Bauernart noch des weitern erörtert worden, hätten die Musikanten den Dingen nicht einen anderen Lauf gegeben. Dieser andere Lauf ging in der Stube rund im Kreis herum. Das alte Paar selbst mußte ein Ehrentänzchen reigen. –

Die Wirtshausfreuden haben dazumal sicherlich bis tief in die Nacht hineingedauert. Bei mir waren sie am Nachmittage, als der Kirchturmschatten das Wirtshaus strich, zu Ende.

Der Markus stand auf, langte mir das Filzhütlein von der Wand, sagte noch: »Trink' aus dein Neigel.« Ich tat's, wandte mich noch zum Meister Natz und sagte kleinlaut: »Ich bedank' mich nochmals für die halbe Semmel.« Dann gingen wir heimwärts.

Zu jener Abendstunde, als in der Hofburgkirche zu Wien im Feststrahle von tausend Kerzen und des milden Abendrotes unser Kaiser mit seiner Erwählten getraut worden war, gingen wir durch den stillen lenzenden Wald!

Fußnoten

1 Attentat auf Kaiser Franz Josef I. in Wien.

Wie dem Hartl an einem Tage die Sonne zweimal aufging
[144] Wie dem Hartl an einem Tage die Sonne zweimal aufging.

Nach solch außerordentlichen Vorkommnissen, gar schon das Wirtshaus! war's denn wohl kein Wunder, wenn mein Vater eines Tages sagte: »Den Buben müssen wir besser einspannen. Bei den Schafen tut er's nimmer, liest mir auch zu viel zusamm', daß er ganz närrisch wird. Werden ihn halt jetzt zur Kohlstatt stellen; der Ruß ist ihm gesund.«

Aber bei der Kohlstatt ist mir auch was Außerordentliches begegnet.

Zum meisten Teil geht's den Knecht Hartl an.

Oben auf der Hochöde zogen eines Tages im Frührot zwei graue Ochsen einen Leiterkarren dahin. Sie fuhren um Futter aus. Auf dem Karren lag der Riegelberger Knecht, der Hartl. Wie gestorben lag er auf der Leiter und einen Fuß ließ er niederhängen zwischen den Sprossen und hin und her schlängeln, so oft die trägen Ochsen einen Schritt machten. Auf der Brust lag ihm die Tabakspfeife; er hatte sie schon angezündet und in den Mund gesteckt gehabt, aber sie war wieder herausgefallen und verloschen. Der Hartl war gar verzagt. Er kniff die Augen zu und dachte: Hin sein, ganz mausetot sein, das wär' das beste. Es gibt gar keine Religion mehr auf der Welt. Hi, Grull, Wald! Die Alpelbauern schimpfen über die Mürztaler Leut', [145] daß sie keinen Festtag halten und in keine Kirche mehr gehen wollen. Die Alpelbauern sind selber um kein Haar besser. Noch schlechter sind sie. Hi, Grull, Wald! – So lang ich was denk', ist der Magdalenentag ein Feiertag gewesen in der Gemein, und daß wir das Kirchenfest haben mitgemacht in Haustein. Jetzt auf einmal bringen sie den Brauch auf und halten das Fest Sonntags ab und es mag Magdalena zehnmal auf den Erchtag fallen, oder auf den Pfingstag (Donnerstag). Weil der arme Dienstbot' ein Zugochs sein soll, den sie die ganz' Wochen einspannen wollen. Nicht einmal einen Tabak hat eins mehr in der Blader (Blase). So verfluchtlete Feiertagsschänder. Hi, sag' ich! Gelt, Grull, du selber hast heut' keine Schneid! Am heiligen Magdalenentag! Wenn ich mich leichter reden tät', eher wie nit ging' ich zum Pfarrer und wollt' ihm's sagen: Hochwürden Herr, der Sonntag gehört unserem Herrgotten selber zu, das geht nicht, daß man ihn an einen Heiligen verschenkt! Fällt der Heilige, und schon gar ein Kirchenpatron, auf einen Wochentag, so muß er am Wochentag gehalten werden. Ganz wahr, daß jetzt die g'nötige Zeit ist – das Vieh zu versorgen, das Mähen und Branden – aber soll eins deswegen auf die Kirchen vergessen? – Was kunnt er sagen drauf? Nichts. – Was ist's vor Zeit immer lustig gewesen am Magdalenentag! Leut' hat's geben beim Hausteinerwirt, daß die Trinkgläser zu wenig sind worden. Nicht einmal, oftmal hab' ich meinen Hut unter die Pippen gehalten. Gespielt, getanzt und gesungen ist worden. Räusch' hat's geben. – 's kommt alles ab. – Hi, Grull: Wald! –

Die Ochsen pfusterten und gingen ihren zähen Schritt über die Hochöde hin gegen die steile Lehnwiese, wo das Futter wuchs.

[146] »He, Hartl! Schlafst noch?« rief es jählings und eine Hand klatschte her. Der Knecht fuhr auf, rieb sich die Augen und griff nach dem Haupte, um den Hut zu rücken. Aber der Hut saß gar nicht oben.

Ein Schock Herren stand da. Der Bezirksrichter von Kindberg, und der Apotheker, und der Bräuer, und der Schullehrer von Krieglach, und der Kaufmann, und der Lederer und der Bader und noch ein paar Fremde. Ein geistlicher Herr war auch dabei. Der Bader hatte den Hartl aufgeschreckt.

Im Grunde war der Hartl ein sehr manierlicher Mensch, er wollte von seinem Karren springen, aber die Herren sagten, er möge nur sitzen bleiben, sie gingen bald wieder ihres Weges, sie wollten noch bis zur Spitze steigen, um den Sonnenaufgang zu sehen. Ob das der rechte Weg wäre?

»Ja, versteht sich, ist das der rechte Weg. Nur alleweil grad' auf!«

Die Gesellschaft folgte der Weisung; der Hartl blieb liegen auf dem Leiterkarren, die Ochsen trotteten schwerfällig über die Hochmatte dahin.

»Narren, das,« brummte der Hartl den Herren nach. »Die sind heut' um Mitternacht aufgestanden, heißt das, wenn sie schlafen gegangen und nicht etwa so lang im Extrazimmer sitzen geblieben sind. Und schnaufen mit Mühsal auf den Berg, daß sie den Sonnenaufgang sehen. Ist das so was Schönes? So lang' die Sonn' hinterm Berg ist, sieht man sie nicht; und ist sie heroben, so kann man sie nicht anschauen. Und kunnt man sie anschauen, was hätt' man davon – sie ist halt die Sonn' und von der kann man sich nichts herabbeißen. – Aber so Herren müssen [147] sich selber ihre Plag' machen, sonst hätten sie ein gar zu schönes Leben. Ein andermal schlafen sie wieder, bis ihnen die Sonn' in den Hals hinab scheint. Wissen nichts davon, wie's unsereinem geht, der alle Tag' im Stockfinstern muß die Hosen anlegen und schon wieder müd' und hungrig ist, bis die Sonn' ausgeht. Und jetzt auch schon an den Feiertagen. – 's ist ein Hundeleben, bei meiner Seel'! – Hi, geht's einmal weiter, ihr Viecher, ihr zaunmarterdürren!« Mit der Peitsche pfiff er den Ochsen eins über die Rücken.

Dieweilen ging schon die Sonne auf. Der Hartl lugte sie mit zwinkernden Augen an und lachte sie aus. Sie und die Herren, die ihretwegen über den Berg hinaufschwitzten. – »Möcht' wissen, was das Schönes ist! Nur die Augen tun einem weh. Heiß wird's und gleich ist man durstig. Mein Bauer, der Riegelberger, das weiß ich, der legt sich heut' schon einen Feiertag zu. Der ist christlich, der geht zur Meß und nachher ins Wirtshaus – und bleibt drin sitzen, bis es finster wird und nachher – wird das Licht angezündet. Unsereins muß in der Hitz' rackern den ganzen Tag. Geh' zum Teufel!«

Die Wut kam ihm plötzlich; aufsprang er und mit dem umgekehrten Peitschenstiel versetzte er den trägen Zugochsen ein paar tüchtige Schläge: »Das will ich sehen, ob ihr keine Füße habt, ihr Sakermenter!«

Er sah's, sie hatten Füße. Einen wilden Sprung machten sie im ersten Schreck und dann schossen sie schnaubend davon über die Höhe, über die Biegung, über die steile Lehnwiese nieder. Der Karren klapperte und hüpfte hoch auf. Der Hartl hielt sich mit Händen und Füßen an die Leitersprosseln, daß er nicht abgeschleudert wurde und rief mit aller Stimme den Ochsen zu: »Ho, Ho!«, daß [148] sie stehenbleiben sollten. Aber sie raseten schnurgerade in die die Tiefe hinab – gegen die schattenfinstere Felsenschlucht.

Der Hartl konnte sich noch eine Menge denken: »Jetzt ist mein letztes End'. Ade, du schöne Welt! Bin noch so jung – hätt' gern noch eine Zeit gelebt. Das geht ja wie der Wind. Dort steht der Buchenbaum mit dem grünen Platzel. Meine liebe Dirn. B'hüt dich Gott, meine liebe Dirn! – Damisch geht's talab. Dort drüben am Weg ist das Kreuz, wo sie allemal die Leichen abstellen, die sie von Alpel hinabtragen ins Pfarrdorf. Heut' ist Pfingstag, am Samstag stellen sie meine Truhen vors Kreuz... daß die Sonn' noch einmal drauf scheint. Unter der Erden ist's finster. Ade Welt! – Ho, Grull, ho, Wald! – Keine Menschenmöglichkeit mehr. Wir drei sind hin...«

An demselben Magdalenenmorgen war's, als ich unten im Tale an der Kohlstatt meines Vaters stand und den glimmenden Meiler zu überwachen hatte, daß das Feuer nicht ausschlug. Es war mir öde zumute neben dem schwarzen, langweiligen Haufen mit dem grauen Rauche. Ich blickte zu den Gipfeln der Berge auf, an denen schon die Morgensonne lag. Da hörte ich plötzlich ein Tosen und Rasseln – wußte anfangs nicht, woher es kam – sah's aber bald. Die steile Lehne herab schoß ein Gefährte mit Ochsen und Karren. Von letzterem war schon ein Rad abgegangen, das tanzte in der Luft und hüpfte selbständig hernieder, und die Achse schleifte im Gerölle, daß die Steine flogen. Und jetzt sah ich auch den Mann, der sich förmlich in die Leitern des Karrens verschlungen hatte. – Ein Unglück ist fertig, denk' ich noch und ruf' die heilige Magdalena an, daß sie an ihrem Ehrentag doch keinen solchen Jammer geschehen lasse. Da ist ein Krachen – die Ochsen fahren auf den Anger hinab, der Karren liegt in Trümmern an [149] einem Baumstrunk, in der Luft fliegt was und just vor meinem Meiler fällt ein Menschenfuß nieder.

Mir wird blau vor den Augen. Hat ihn zerrissen, denk' ich; es war aber kein Fuß, es war nur der Stiefel allein. Und von den Karrentrümmern her hinkt der Riegelberger Knecht, der Hartl. – Der Schuh weg, der Ärmel weit aufgerissen, einen Schurf am Schenkel, die Tabakspfeife beim Teufel... sonst war ihm nichts geschehen.

Er setzte sich aber auf meinen umgestülpten Wasserschöpfer, stützte den Kopf auf die Arme und war totenblaß.

Unten auf dem Anger grasten die Ochsen und jeder hatte ein Stück des zertrümmerten Joches an den Hörnern.

Ich brachte dem Hartl einen Topf Wasser – er trank nicht; brachte ihm ein Schälchen Milch – er trank nicht. Stumm wie der Fisch saß er da und stierte auf den schwarzen Boden. Ich stand ganz verzagt neben ihm und wußte nicht, was ich tun sollte.

Endlich – der helle Schein, der niederging über sein Gesicht, weckte ihn. Er erhob sich, breitete die Arme aus und blickte gegen den jenseitigen Waldkamm auf. –

Dort guckte eben die Sonne herfür. In funkelndem Vormittagsglanze stieg sie über den Waldrücken empor – und der Hartl lachte. Aber er lachte sie nicht aus und er lachte niemanden aus...

»Hab' allzuviel geschmäht,« so sagte er jetzt, »'s ist eine große Gnad' Gottes, daß mir die Sonnen heut' das zweite Mal aufgeht.«

Darauf hat er mir seine Morgenfahrt erzählt.

»Und jetzt geh' ich wohl gleich in die Kirchen und bedank' mich bei der heiligen Magdalena für ihren Beistand, daß mir nichts geschehen ist.« So schloß er. Dann [150] ging er. Und weil er zur Messe schon zu spät kam, so setzte er sich ins Wirtshaus, um das Wunder zu feiern, wie an einem Morgen ihm zweimal die Sonne aufgegangen war. –

Als er nach Hause wankte, ging sie schon unter. Er stand still, blickte sie mit verschwommenen Augen an und lallte: »Dieser Magdalenentag! In der Früh geht die Sonne zweimal auf und jetzt geht sie doppelt unter.«

Der große Wald
[151] Der große Wald.

Von meinem Heimatberge gegen die Abend- und Mitternachtsseite hin stehen spitze und kuppige Waldberge, über deren viele man hinwegsieht in das Kalkgebirge der Alpen. Gegen die Morgenseite hin steht in weiter Ferne eine langgestreckte blaßgraue Wand. An sonnigen Sommertagen ist sie kaum zu sehen, im Schleier des Äthers verschwimmt sie mit dem Himmel. Bei feuchter Luft hingegen steht die Wand klar und leicht gegliedert da, so daß man die Waldtäler erkennen kann, die in sie hineinschneiden, und die Almblößen, die sich über den meilenlangen, fast wagrechten Höhenrücken dahinziehen. Es ist das Wechselgebirge. Zwischen diesem und meinem Heimatberge liegt ein weiter Landkessel von Berg und Tal mit vielen Ortschaften, alles so in die Tiefe gesenkt, daß unser Blick hoch und frei darüber hinfliegen kann. Menschenaugen, die auf solchen Bergen glänzen, können nie ganz kurzsichtig, Herzen, die auf solchen Höhen wachsen, nie ganz engherzig werden. Außer man ist ein dummer Junge, dessen blöde Augen selbst vor dem Leuchten der Johanniswürmchen erschrecken.

Aber auch gegen die Mittagsseite hin steht eine hohe, langgezogene Wand, sie ist viel näher da, ist ganz dunkelbewaldet und nur gegen den obersten Rand hin geht das grünliche Braun in ein leichtes Blau über. Das sind die Fischbacher Alpen, ein stundenlanger Bergzug, der meiner [152] Heimatsgegend die unabsehbare Breitseite zuwendet. Von dieser Nordseite steigt das Gebirge sachte und gleichmäßig an, auf der Höhe flacht es sich weit und fast eben hin, um im Süden gegen das hochgelegene Dorf Fischbach steil abzufallen. In meiner Jugendzeit war dieser Gebirgszug mit einem einzigen unendlichen Wald überzogen. Kein Märchenwald kann geheimnisvoller sein als dieses dunkle Meer, das, vom hochgelegenen Vaterhause aus gesehen, ewig und unbeweglich vor meiner kleinen, ahnenden Seele dalag. Immer und immer wieder zieht's mein Erinnern zurück zu diesem Walde. Und während in der Waldheimat so vieles andere klein und unbedeutend geworden ist im Vergleiche mit dem, was die weite Welt geboten: der Fischbacher Alpenwald ist groß geblieben, er trägt groß und bedeutsam die Kindesmär herüber bis an die Schwelle des Greisenalters.

Der Wald bestand fast nur aus Fichten, untermischt mit mancher weißschimmernden Tanne, deren älteste in verwitterter Wildheit starr über den Fichtengipfeln aufragten und sich auch im Winde kaum bewegten. Ganz selten stand aus der braunen Fläche das hellere Spitzchen einer Lärche hervor. Die wenigen kleinen Lichtungen, die der Wald hatte, waren aus der Ferne gar nicht zu sehen, wohl aber die scharfen Zähnchen jener Tannenwipfel, die weit hinten am gerade gezogenen Rande des Bergrückens in den Himmel standen. Noch im späten Erinnern sehe ich eine Gruppe solcher Wettertannen höher in den Himmel hineinragen, dort, wo auf der Höhe eine verfallende Halterhütte stand, die »Hirtelstube« geheißen. An dieser weit ausschauenden Baumgruppe führte der Fußsteig vorbei, der von unserem Alpel über den Bergrücken nach Fischbach ging. Auf dem höchsten Punkte dieses langen Bergzuges ragt der Teufelsstein. Mit einigen Riesenklotzen, die übereinandergelegt sind, [153] hatte dort »bekanntlich« der Teufel einst begonnen, einen Turm in den Himmel hinaufzubauen. Wenn es ihm gelänge, in einer Christnacht beim Mettenamte während der heiligen Wandlung von der Erde aus einen so hohen Turm zu bauen, dann dürfe der Teufel an demselben in den Himmel emporsteigen. Aber der arme Kerl hat's nicht einmal so weit gebracht, daß das begonnene Mauerwerk über die Baumwipfel emporragte. Heute klettern Touristen hinauf an den drei übereinandergeschichteten Felsklötzen, um über den hier verzwergten Fichtenwald in die weite Alpenwelt hinauszuschauen. Das Merkwürdigste an der Teufelssteinsage war mir immer, daß die Waldheimatbewohner, die doch sonst für allerlei Phantastereien zu haben gewesen, an sie nicht glauben wollten. Es kam ihnen zu unchristlich vor, daß einer in der heiligsten Stunde des Jahres, anstatt mit Beten, mit Arbeiten den Himmel hätte sollen erwerben können. Und als dann gar unser alter Schulmeister einmal dartat, daß der Stein auf der Höhe nur ein bloßgelegter Kopf des Felsgerippes sei, von dem die Weichteile des Erdreiches im Laufe der Zeit abgeschwemmt worden wären, kümmerte sich kein Mensch mehr um den Teufelsstein, außer man hatte dort oben ein verlaufenes Vieh zu suchen.

Ganz andere Geheimnisse barg der große Wald und von einigen derselben will ich erzählen.

Zu jener Zeit, als mein Vater jahrelang an einer Brustkrankheit siechte und zum Sterben sachte Vorbereitungen traf, ging er gerne langsam mit einem Stocke in Flur und Wald umher, betrachtete die Schöpfung Gottes, trug den Hut in der Hand und betete. Mich, seinen älteren, aber immer noch recht kleinen Knaben, nahm er dabei gerne mit, daß ich ihm beten helfe. So gingen wir auch einmal hinüber in jene Waldschlucht der Fischbacher Alpen, wo der[154] Vater eine Lichtung wußte, auf der Erdbeeren wuchsen. Als wir vom Hause fortgegangen waren, hatte mir – da ich in bloßen Hemdsärmeln war – die Mutter das neue Schafwolljäckchen über die Achsel gelegt, im Walde würde es kühl sein. Ich ging hinter meinem Vater einher und wir beteten halblaut murmelnd den Rosenkranz zur Erlangung einer glückseligen Sterbestunde. Ich wußte damals kaum, daß mein kranker Vater von dem Arzte aufgegeben war, und ich dachte, wir beteten nur so im allgemeinen um ein gutes Sterben, wenn's je in achtzig Jahren einmal dazu kommen sollte. Als wir eine Weile über frisch gemähte Wiesen mit dem Heudufte und am Waldraine mit den Himbeersträuchern dahingegangen, dann über ein schattiges Bächlein gestiegen waren, das unter Huflattich und Germen gurgelte, kamen wir in die Waldschlucht. Zwischen jungen Fichten, durch Haselnuß- und Brombeergesträuche tasteten wir uns langsam voran. Ins Gebet mischte sich mancher Ausruf, der eigentlich nicht dazu gehörte, besonders, wenn ein federnder Busch oder eine hochgewachsene Distel uns ins Gesicht schlug oder wenn im Schlinggewächse des Bodens eine Natter dahinschlängelte, auf die unsere Füße schier getreten waren. Aber nun prangten in diesem wilden Garten auch schon die großen, roten Erdbeeren. Während das Gebet beschlossen wurde, pflückten wir Beeren, um sie in den Mund zu tun. Eigentlich nein. Sie waren viel zu gut, um von uns gegessen zu werden. Wir pflückten die Frucht in unsere Hüte, um sie der Mutter und meinen Geschwistern heimzubringen. Durch die Waldmulde herab strich eine kühle Luft, mein Vater knöpfte seinen Rock zu und plötzlich unterbrach er ein gemütlich begonnenes Gespräch: »Bub, wo hast du dein Jöppel?«

Ich erschrak arg. Auf meiner Achsel lag es nicht, unter meinen Füßen lag es nicht, die zehn Schritte, die [155] man nach rückwärts blicken konnte, lag es auch nicht. Wir gaben alles auf und suchten das Röcklein. In kreuz und krumm, wie wir durch das Struppwerk gegangen waren, gingen wir wieder zurück, aber das Röcklein war nicht zu finden. Mein Vater schlug vor, daß wir drei Vaterunser zum heiligen Antonius beten sollten, als zum Patron verlorener Sachen. Wir taten es, aber das Röcklein fand sich nicht. Es war schier neu gewesen, erst einmal war ich mit ihm in die Kirche gegangen. »Beim Bachel wird es liegen, wo du so drüber gehüpft bist,« riet der Vater. Aber am Wasser lag's auch nicht, am Waldrain entlang lag es nirgends und auf der frisch gemähten Wiese war es nicht. Es wurde schon halbdunkel, als wir heimkamen, wir getrauten der Mutter unseren Verlust nicht mitzuteilen und siehe – in der Stube am Wandnagel hing mein Röcklein. »Ich hab's ja gewußt, daß er's bringt, der heilige Antoni!«

»Ja, ja, der heilige Antoni!« rief die Mutter fast erzürnt. »Der soll just gut genug sein, euch das Gewand nachzutragen! Leichtsinnigerweise verloren habt ihr's! Schon beim Fortgehen. Gleich da hinter dem Haus oben bei dem Zaunstiegel hat's die Weiddirn gefunden.«

»So, so,« sagte mein Vater zufrieden. »Beim Beten ist's dem Bübel halt über die Achsel gerutscht. Weil wir's nur wieder haben.«

»Versteht sich, beim Beten!« gab die Mutter zurück. »Beim Beten alleweil wird euch noch mancherlei über die Achsel rutschen.«

»Wird eh sein. Aber, Mutter sei gut. Schau, wir kriegen ja alles wieder.«

Derart war die kleine Angelegenheit abgetan. So oft ich später durch jenen Wald hinanging, fiel mir das kleine Abenteuer ein. Denn gar oft bin ich dort dahingegangen.

[156] Bin dahingegangen den Waldsteig, der voll braunen Genadels und voll roter Baumwurzeln war, immer durch den Wald, dem breiten, flachen Rücken des Berges zu. Und jenseits die steilen Hänge hinab bis ins Dorf Fischbach, das mit seinen grauen Bretterdächern und der weißblechernen Kirchturmkuppel auf weiten Almmatten dalag. Wie viele Dinge, die uns Alpelleute mit diesem Fischbach verbanden! Dort waren die Schuster, die wir auf unsere Steren luden, damit sie uns für das ganze Jahr die Schuhe machten. Dort war ein geprüfter Arzt und ein Winkeldoktor, die unseren Kranken das Lebenselexier schickten oder die Todeskrankheiten zu gutem Ende führten. Dort war der Krämer Kajetan, der uns in schlechten Zeiten Mehl, Schmalz und andere Lebensmittel besorgte. Dort waren am Kirchweihsonntag und am Bittmontag, dann an den Tagen des heiligen Egydius und der heiligen Anna die Kirchenfeste, die nirgends so feierlich abgehalten wurden als in Fischbach. Dort wurde einmal eine Volksmission abgehalten, die uns Alpler nahezu aus Rand und Band gebracht.

Ich will morgen davon erzählen.

Auch nach dem ferneren Birkfeld und dem Obstlande draußen führte dieser Fußsteig über das Waldgebirge.

So ist denn keine Stunde des Tages, in der ich als Knabe nicht auf dem Wege gewesen bin über den Berg. Am sonnigen Morgen, wenn an allen Ästen des jungen Fichtenwaldes noch die Tautropfen zitterten, wenn der Auerhahn im Gewipfel der alten Tannen balzte, bin ich den Waldsteig still dahingegangen. Am Mittage, wenn tausend Tierlein über das Gewurzel liefen und in der Luft summten; am sinkenden Abende, wenn Wildhühner durch Dickicht und Heidekraut gespenstig dahinhuschten und dürres Gefälle unter den Beinen flüchtiger Rehe und Hirsche knisterte, bin ich [157] durch den Wald gegangen. Dann, wenn die trüben Nebel des Herbstes spannen im Geäste, daß man nicht fünfzehn Schritte weit vor sich hinsah und die Wipfel ins Unermeßliche der grauen, tropfenden Düsternis aufragten; und in den Nächten, wo man sich mit Stock und Hand langsam dahingreifen mußte, an die Stämme stieß, über Gewurzel stolperte und doch den rechten Weg einhielt; und bei stürmischem Wetter, wenn der Wind in den unbeugsamen Wipfeln toste und der Regen hagelscharf durch das Gestämme sauste, bin ich durch all das dahingegangen. Und im Winter endlich, wenn alle Pfadspur ganz verschneit war und die schneebelasteten Äste tief niederhingen – zu all diesen Zeiten bin ich über den waldigen Berg gegangen, der in zwei Stunden zu bewältigen war, wenn ihn tiefer Hochwinter nicht überhaupt unmöglich machte. Hatte man den ersten scharfen Anstieg hinter sich, so war es ja nicht steil, auf der Höhe eine lange Strecke hin fast eben. Wo man von dieser Hoch ebene aus durch eine Scharte die lichte Welt erschaute, da zeigte es sich, wie sehr sie sich verschoben hatte und wie tief sie unten lag; nur die graue Wand des Wechselgebirges stand immer gleich hoch und ruhig in der Ferne.

Dann gab es auf diesem an Werktagen einsamen Waldweg über die Höhe hin manch unheimliche Örtlichkeit. Da war der »Rauberkessel«. Mitten in einem grünen Angerlein stand ein riesiger halbvermoderter Baumstock, der in der Mitte hohl war und an dem nur die äußeren Teile wetterzernagt aufragten. Verkohlter Holzreste nach zu schließen, war in dem Stocke manchmal Feuer unterhalten worden. Die Räuber der Wälder versammelten sich hier, um ihre Schätze unter sich zu teilen, Wildbret zu braten und dann neue Raubzüge zu verabreden. So wurde geredet. In Wahrheit gab es in den Waldgegenden weitum [158] zu jener Zeit nicht einen einzigen Menschen, der – vielleicht etliche Wildschützen ausgenommen – seinen Lebensunterhalt nicht redlich als Holzknecht, Kohlenbrenner, Kohlenführer, Wurzelgräber, Kräutersammler, Förster oder Jäger, verdient hätte. Dem kleinen Wallbauernbuben rieselten aber doch manchmal einige Erbsen über den Rücken, wenn er in die Wildnis zu diesem »Rauberkessel« kam.

Weiterhin, zwischen Wildfarren, aus Stein und Sand aufsprudelnd, war eine Quelle. Sie war nicht gefangen, rann auf keinem Rinnlein in den Trog, sondern rieselte im Sande weiter. Daneben lag ein großer Holzblock zu einer Art von Bank ausgehauen, in die gar wunderliche Zeichen eingeschnitten waren, seltsam zueinandergestellt und verschlungen, daß man wohl vermuten konnte, es müsse etwas Bestimmtes, Geheimnisvolles damit gemeint sein. Daneben ragte die gewaltige Ruine eines Fichtenbaumes, den der Blitz entwipfelt hatte und der jetzt in seiner obersten Krone eine ganze Wipfelgruppe gegen Himmel streckte. Auch an seinem Schaft waren die Zeichen eingeschnitten. Trotz seiner fahlen Äste, die wie Riesenklauen in die Lüfte ausgriffen, lebte dieser Baum noch und wucherte fort, aber seine hunderttausend gekreuzten Zweige schwiegen und sagten es nicht, was die Zeichen bedeuteten. Diebszeichen oder Zaubererformeln! Wer sie hätte lesen können!

Eines Tages, als ich an dieser Quelle getrunken hatte und dann ein wenig gesessen war auf der Bank, fiel mir ein, es wäre wohlgetan, wenn man den heiligen Namen Maria in den Baum schnitte, damit die bösen Zeichen, die dort standen, keine Kraft hätten. Mit der Spitze des Taschenfeitels grub ich mühsam die Buchstaben ins Holz, aber als sie dastanden, unterschieden sie sich kaum von den anderen Zeichen, und da wußte ich auch, was sie alle miteinander [159] bedeuteten. Der erste vor soundso viel Jahren hatte die weihevolle Stelle an der Quelle wohl mit einem heiligen Zeichen ehren wollen; ein Nachfolger tat es ebenso und ein weiterer wollte die ihm unbekannten und unheimlichen Zeichen durch ein anderes beschwören und so entstanden allmählich die Einritzungen, jede aus frommer Meinung, um aber von späteren für Diebsmarken oder Zauberformeln gehalten zu werden

Auf diesen Höhen waren die Bäume nicht mehr so buschig und hoch, sie waren verknorrter, starrer und hatten Flechtenbärte. So standen sie auch dort, wo das Wunderbare war, daß über die bewaldete Hochebene hin ein stattliches Bächlein rann. Woher kam dieses Wasser? Von der Gegend des Teufelssteins kam es her, aus hohen Quellen, den Ursprung habe ich nie ergründen können. Es war ein kristallklares Wasser, in dem die Steinchen und Sandkörner wie Gold glänzten, es rann ganz leise und flach, gleichsam wie ein lebendiges Geflechte über diesen Grund dahin. Und warum dieser stille Bach »der Schreier« heißt, habe ich nie erfahren können. Man sagte, daß es im Bache rote Forellen gebe, und zwar – singende Forellen. Sie sängen zauberhaft süß, aber nur besonders auserwählte Menschenkinder könnten sie hören. Zu diesen werde ich wohl kaum zählen, denn nie habe ich eine Forelle singen gehört und im »Schreier« einen Fisch auch nie gesehen. Etwa hundert Schritte von der Stelle, wo das Brücklein über dieses Wasser führt, ein wenig wegsab, ragte aus dem Moosboden ein verwitterter Stein. Er wurde »die Mutter« genannt. In alten Zeiten soll einmal eine Mutter mit ihrer jungen Tochter aus Alpel gegen Fischbach gegangen sein. Hier am »Schreier« hätten sie gerastet. Es war im Walde still, fast zum einschlummern, da sagte die Tochter plötzlich: [160] »Mutter, hörst du nichts? Ich höre singen. Dort aus dem Wasser höre ich singen.«

»Gott behüte dich, mein Kind, dann sind es die singenden Forellen.«

»O schönes Singen! O liebliches Singen!« flüsterte das Mädel, stand leise auf und ging nach der Richtung hin, wo der Bach aus dem Dickicht hervortritt und von wo das Singen kam. Und horchte und legte die Hand an die Stirn und ging im Dickicht dahin. Die Mutter blieb auf dem Moose sitzen und wartete, bis ihre Tochter sich an dem Singen genugsam ergötzt haben und zurückkommen würde. Sie wartete drei Stunden lang, das Mädel kam nicht zurück. Die Mutter wartete drei Tage lang, drei Monate lang, drei Jahre lang, dreimal hundert Jahre lang – die Tochter ist nicht mehr gekommen. Die Mutter aber ist bei diesem Warten zu Stein geworden und ragt noch heute aus dem Moosboden. Ich habe an dem Steine nie Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt finden können, mit Ausnahme einer einzigen Begegnung. Eines Abends im Hochsommer mußte ich für einen erkrankten Nachbar nach Fischbach zum Arzt. Dem sagte ich die Leiden des Kranken, er gab mir eine Flasche Medizin und die dazu gehörigen Verordnungen und ich ging in der Nacht heim. Den steilen Hang herauf ließen sich auf dem Wege die weißen Steine noch erkennen. Endlich auf die Höhe gekommen, war es finster geworden wie in einem Ofen, am Himmel kein Stern, schwül war die Luft. Ich achtete auf eine besonders knorrige Baumwurzel, die zu übersteigen war, auf einen alten, grobrindigen Lärchbaum, der rechterhand stehen mußte, auf einen Viehzaun, der oberhalb der Hirtelstube überstiegen werden mußte. Das alles stimmte. Mir fiel auf einmal das Sprichwort ein: So finster, daß man eine [161] Todsünde machen könnte. – Dann mehrten sich die Blitze; es waren aber keine Strahlen, nur rote Scheine; kein Donner war zu hören in nah und ferne. – Endlich war das rote Flackern, das Himmel und Wald erfüllte, so anhaltend geworden, daß es schier wie ein einziger beständig zuckender Schein war, und wenn er ein paar Sekunden aussetzte, so war es finsterer als finster und ich mußte stehen bleiben, wo ich stand. Nun fiel mir meine Mutter ein. Ich hatte Angst, daß sie Angst haben würde um mich. Und führte mich doch Gott so schön mit seinem Lichte. So war der Wald durchwogt von einem einzigen roten Feuermeer, glühend und schattenlos standen die Bäume und über den Himmel sprangen die großen Scheinfluten, eine nach der anderen, eine in die andere. Und in diesem Scheine stand plötzlich vor mir – die Mutter. Aber nicht die meine, vielmehr die andere, die schon dreihundert Jahre dasteht und auf ihr Töchterlein wartet. Wie eine hellglühende Menschengestalt, so stand zu jener Stunde der Stein. Nun hörte ich in der Nähe auch den Bach rieseln, ganz leise, und ich horchte, ob nicht auch ein Fischlein sänge. Da fiel mir das Vaterunser ein: »Führe uns nicht in Versuchung.«

Nach Stunden, als das elektrische Glutmeer über das Gebirge dahingeflutet und verlodert war, ohne daß ein Donner grollte, ein Tropfen fiel, war ich hinabgekommen ins Alpel.

Zu jener Zeit war ich ein Knabe von etwa zehn Jahren gewesen. Damals hatte ich mich unter Ausnahmen noch vor nichts gefürchtet. Ein paar Jahre später war ich von unseren alten Mägden doch schon so weit unterrichtet, daß ich mich in den Nächten tapfer vor den Geistern fürchtete. Nun wurden die nächtlichen Gänge durch den Wald der Fischbacher Alpen schon bedenklicher. Wie, wenn am Rauberkessel [162] doch Räuber säßen, oder unerlöste Seelen von Gemordeten? Wie, wenn die steinerne Mutter plötzlich lebendig würde? Die Hirtelstube, die halb verfallen unter den großen Schirmbäumen stand und keine Fenstergläser hatte, war besonders unheimlich. Die Leute wichen ihr in weiter Runde aus, so daß der Fußsteig, der hart an ihr vorüberging, schon ganz verwachsen war und weit oben durch den Jungwald ein neuer ausgetreten wurde. Denn in jener Zeit war es, daß zu den Fenstern der Hirtelstube Leute herausschauten, die schon lange gestorben waren. So sah jemand den alten Hirten Kilian, den man ein Jahr vorher in der Hütte tot aufgefunden, herausschauen, mit traurigen Gebärden um Hilfe bittend. Dem er also erschienen, der ließ zu Fischbach eine Messe lesen für seine arme Seele. Da war es an einem späten Juliabend, daß ich von einer Missionsandacht nach Alpel heimging. Andere waren noch bei Tage nach Hause gegangen, ich aber hatte die Abendpredigt über die vier letzten Dinge nicht versäumen wollen. Nun war ich im weiten Walde ganz allein, begleitet nur von meinem durch die Predigt aufgeregten Herzen. Es war schon ganz dunkel geworden. Auf der Höhe wollte ich natürlich den Fußsteig durch den Jungwald einschlagen, konnte es aber nicht lassen, einen Blick gegen die Hirtelstube hin zu tun, die unter der schwarzen Masse der Schirmbäume stand. Da sah ich um die Hütte kleine blaue Lichter schweben. Sie schwebten langsam hin und her, auf und nieder, verschwanden zum Teile und traten wieder hervor und schwebten in geheimnisvollen Kreisen um die alte verlassene Hütte. Anfangs war ich vor Entsetzen starr gewesen, dann floh ich durch den Jungwald und stieß mir an den Stämmen Beulen in den Kopf. Naß wie ein Pudel vor Angstschweiß war ich nach Alpel gekommen.

[163] Nach mir ging in der gleichen Nacht ein anderer von Fischbach her denselben Weg. Steinreiters kleiner Kühbub, der Franzl. Auch der sah an der Hirtelstube die schwebenden Lichtlein, und weil sie ihm so wundersam schienen, ging er näher hin, um sie anzusehen. Da hörte er, daß in der verfallenden Hütte ein Gewimmer war. Ein klägliches Stöhnen. Der Missionär zu Fischbach hatte von den armen Seelen im Feuer gepredigt. Wimmerten ihrer da drinnen? Waren die fliegenden Lichtlein Funken des schrecklichen Feuers? Das waren diese gerade einmal nicht, sondern Johanniswürmchen, wie der Junge dergleichen auch unten am Berghang gesehen hatte. Dann kann das Stöhnen wohl auch nicht von einer armen Seele sein. Eher von einem armen Leibe. Der Kleine ging um den alten Holzbau herum, bis er den Eingang fand, stolperte über die Schwelle und hörte vor sich ein lautes Dankgebet dafür, daß endlich jemand komme. Tagelang schon war der alte Wurzelsammler Joachim in dieser Höhle gelegen auf einem Mooshaufen. Sein Brot hatte er all schon verzehrt; dem Regen, der zweimal durch die Dachluken auf sein Lager fiel, konnte er nicht entweichen, denn er hatte den »Brand in den Füßen«. »Wer bist denn, Mensch? Vom Steinreuter der Kühbub? So nimm den Hut und bring' mir Wasser!« Gröhlend fast war die alte Stimme, gröhlend vor Freude, daß jemand gekommen, der »ihm sterben helfen« konnte. Der Franzl ging im Walde hin bis zum »Schreier« und brachte Labung. Und als es anfing, zu tagen, ging er wieder hinaus, suchte Pilze und briet sie an einem Feuer. Der Kranke verzehrte sie mit Gier. »Ach,« sagte er und rang seine hageren Finger. »Franzl, du bist wohl brav. So viel schwer, wenn der Mensch hungrig und durstig versterben muß. Verlaß' mich nit, ich vermach' dir zu Lohn mein Geld.«

[164] Dann ist der Wurzelgräber nach Alpel in ein Bauernhaus geschafft worden, wo er nicht mehr lange gelebt hat. Einen Strumpf voll Maria-Theresientaler, so hieß es, hatte der Franzl von dem Alten geerbt. – Geradeso gut hätte ich die Erbschaft machen können, wenn die Angst vor den – Johanniswürmchen nicht gar so groß gewesen wäre. Der Strumpf soll zwar nicht allzuviel innegehabt haben, nur ganz unten bei den Zehenspitzen seien ihrer etliche Silberklinger beisammen wie ein Beutlein gebunden gewesen.

So waren die Geheimnisse des großen Waldes allmählich entgeistert worden, daß schließlich nicht mehr viel übrig blieb als Bäume, als der Fußsteig mit den braunen Nadeln und dem knorpeligen Gewurzel, und als das schöne Wasser, das so seltsam über den breiten Hochrücken heranfließt.

Dreißig Jahre später, als ich einmal von Graz über Birkfeld und Fischbach dem Alpel zugewandert, fand ich den Weg nicht mehr. Auf der Höhe war Wald wie immer. Aber als es dann niederwärts ging, da brach der Wald plötzlich ab und vor mir tief unten lag Alpel, wie eine weite, lichte, schier fremde Gegend. Die alten Riesenbaumstämme sind teils als Kohlen, teils als Zimmerholz ins weite Land hinausgegangen. In den Tälern nagen Tag und Nacht die Holzsägen, um den Urwald zu zerschneiden, und die Parkette in den Salons von Wien und Graz ruhen auf den Trambäumen, die einst in dieser weltfernen Wildnis gewachsen. Ganz zu bewältigen aber ist der große Wald nicht. Immer noch ziehen sich ungemessene Waldflächen über das Gebirge dahin, und in den weiten abgeholzten Gründen zwischen dem teils modernden Gestock und unter den wuchernden Himbeer- und Erdbeergebüschen sprießen kleine, weiche Fichtenbäumchen frisch hervor, so daß es den [165] Anschein hat, als sollte ich auf den Fischbacheralpen noch ein zweites Waldgeschlecht erleben.

Der »Schreier« rinnt in der Sonne dahin und ist versandet, »die Mutter« steht nicht mehr unter hundertjährigen Bäumen, sondern zwischen jungen Sprößlingen, sie ist noch bemooster und noch verwitterter geworden und wartet auf ihr Kind. – An der Stelle, wo unter Schirmbäumen die Hirtelstube gestanden, ragt ein knochenweißer, halb vermoderter Strunk auf, an den ein großer Ameisenhaufen hingebaut ist.

Der Kühbub Franzl, der einst die Erbschaft des Wurzners gemacht hat, lebt noch, aber in einer anderen Gegend. Er hat sich aus jenen Silbertalern einen großen, eisernen Kessel schmieden lassen, mit dem er zur Herbstzeit von einem Bauernhof zum andern fährt, um den Leuten vom Garten weg im Freien über einem Feuer die Kohlköpfe zu brühen, bevor diese im Krautschacht für den Winter aufbewahrt werden. Dieser Kessel hat den Mann wohlhabend gemacht. Das kann nur einem solchen passieren, der sich vor den schwebenden Johanniskäferchen in der Waldnacht nicht fürchtet.

Die Mission zu Fischbach
[166] Die Mission zu Fischbach.

Im Sommer des Jahres 1855 kam eine große Aufregung in unsere Waldgemeinde Alpel. Schon im Frühlenz hatte der Nachbar Auenhofer das Gerücht heimgebracht, nach Fischbach täten die »frommen Geistlinger« kommen.

Sprach hierauf die alte Riegelbergerin: »Du redest daher, wie ein Unchrist. Die Geistlinger sind ja alle fromm – denke ich!«

»Denkst du!« sagte der Auenhofer und schob sich einen Tabaksballen in den Mund – das war so einer! »Ich denk's nit. Was ist denn das für eine Frommheit, wenn der zu Waldegg beim Versehgang sein Büchsel mitnimmt und sich am Heimweg vom Kranken aufs Jagern verlegt! Was ist denn das für eine Frommheit, wenn er mit derselbigen Hand, die morgens die heilige Hostie aufwandelt, am Abend die Schellsau (das Schellaß) herpackt und mit einem geschmalzenen Sapperment seinen Trumpf aufhaut! Was ist denn das für eine Frommheit?«

»Du wirst noch ersticken an deinem Tabaksknödel,« unterbrach ihn die Riegelbergerin, »wenn du die Goschen so vollnimmst! Denk' auf das, was sie sagen, die Geistlinger, und nit auf das, was sie tun.«

Und muß jeder Vernünftige mit der alten Riegelbergerin einverstanden sein. Der Auenhofer drückte sich.

Ein wenig später brachte unser Knecht Diktel die Nachricht heim: »'s wird halt doch Ernst. Sie tun schon die [167] Kirchen auskränzen in Fischbach. Die schwarzen Geistlinger kommen.«

Auf das lachte unsere Kuhdirn: »Hu, als ob sie nicht alle schwarz wären!«

»So!« sagte der Diktel und bog seine lange, hagere Körpergestalt krumm nach vorwärts, was ein Zeichen der Entrüstung war. »Ist der Krieglacher schwarz, wenn er auf der Kanzel steht? Ist der Kathreiner schwarz? Oder der Stanzer? Wenn du dein Lebtag einmal in einer Predigt bist gewest, so mußt es gesehen haben: die weiß' Pfaid haben sie an. Die Fremden herentgegen, die nach Fischbach kommen, die steigen dir kohlrabenschwarz wie Schwabenkäfer auf den Predigtstuhl.«

»Jessas Maria!« rief die Kuhmagd, »was du wieder zusammenschwatzest, Diktel! Hat Christus der Herr die weiß' Pfaid angehabt beim Predigen? Hab' nichts davon gehört!«

»Ich auch nicht,« brummte der Diktel und zog sein Knochengerüst wieder in die Höhe.

Zwischen Alpel und Fischbach steht der langgestreckte bewaldete Rücken des Teufelssteingebirges. Er steht an der Mittagsseite von Alpel, wie schon gesagt, als dunkelblauer Wall ins Firmament auf, an welchem sich dort und da ein aus dem Jungwald steigender verknorrter Baum scharf abhebt. Von meinem Heimatshause aus konnte man die ganze Ausbreitung des Waldgebirges übersehen. Wer gute Augen hatte, der konnte auch auf dem höchsten Punkte des Bergzuges über den Wald etwas wie eine Warte aufragen erblicken; das war der Teufelsfels, ein von dem Volke verrufener und gemiedener Ort. Mitunter, wenn ein leichter »Landwind« (Südwind) zog, konnte man ein zartes Klingen hören über dieses Gebirge her, nicht anders, als ob jemand in den Lüften ganz leise Zither spielte. Das war das Geläute [168] vom Kirchturme zu Fischbach. Und ein solches Zitherspielen war am Abende des Pfingstsamstages im genannten Jahre. Mein Vater und ich standen auf dem Rain hinter dem Hause und horchten. Einmal war es weich, wie das Summen einer Hummel, dann verwehte und erstarb es fast ganz, um allmählich wieder rein klingend aufzutauchen, daß man sogar die Glockenschläge hörte.

Mein Vater trug zwei buschige Lärchenwipfel auf der Achsel, die er von unserem Schachen geholt hatte, um damit das Fest zu schmücken. Er vergaß die Last abzulegen, selbst wie eine mit Reisig geschmückte Bildsäule stand er da und horchte. So schön hatte er zeitlebens die Fischbacher Glocken nicht gehört an seinem Hause. »Es ist doch eine Entfernung! und der große Berg dazwischen! Aber ein prächtiges Geläute haben sie, die Fischbacher.«

»Wie lang' wird's denn her sein,« so unterbrach uns jetzt der Schuster Florl, der mit seinem Leistenbündel auf dem Heimweg von einer Ster an uns vorbeiging. Er blieb bei uns stehen, stopfte sich eine Pfeife Tabak und sagte: »Wie lang' wird's denn her sein? Nicht zehn Jahr', daß die Fischbacher Glocken christkatholisch sind eingeweiht worden. Bin dabeigewest. Dazumal werden sie sich's nicht gedacht haben, daß sie einmal den anderen Christen (Antichrist) einläuten sollen.«

»Den anderen Christen?« fragte mein Vater.

»Die Missiongeistlinger halten jetzt ihren Einzug in Fischbach,« so berichtete der Schuster Florl, hob einen Schenkel, fuhr sich mit einem Streichholz über das Hinterteil – da hatte er Tabaksfeuer. »Bei uns in Krieglach,« fuhr er fort, »haben sie sich auch angemeldet, aber unser Pfarrer hat gesagt: Ich kann eh selbiger predigen. Wenn sie das befolgen, was einer sagt, bin ich schon zufrieden; [169] ich brauch' nicht vier. Ist schon recht, unser Pfarrer. In Fischbach sind vier fremde Geistlinger angekommen und wollen jeden Tag drei Predigten halten, vierzehn Tag' lang. Da wirst wohl doch auch zuhören gehen, Waldbauer.«

»Wenn's der andere Christ ist, gehe ich nicht.«

»Grad' den will ich sehen.«

»Ich bleib' schon bei meinem alten Glauben.«

»Bei dem bleib' ich auch. Aber predigen hören will ich sie doch, die Fremden. Bei mir greift nichts Gutes an, so wird auch nichts Schlechtes angreifen.«

»Hast eh recht,« sagte mein Vater.

Soviel ward gesprochen, dann schupfte der Schuster seinen Leistenknäuel höher auf den Rücken, gab uns noch »recht glückselige Pfingstfeiertage« und ging seines Weges.

Noch an demselben Abende kam die alte Riegelbergerin zu uns. Die hatte ihren Kopf immer dicht in Tücher gewickelt, weil er gichtisch war; aber ihr Mundwerk achtete weder der Tücher noch der Gicht, das war ein scharfes Zeug, besonders wenn sich die Alte in religiöser Aufregung befand, da ging ihr alle Vernunft durch und sie wollte die Welt erlösen. So kam sie an diesem Abende, es war schon in der Dämmerung, in unsere rauchige Küche und hub einen Lärm an. Unser Haus und unsere Leute, sagte sie, die gingen sie zwar nichts an, aber soviel Recht habe sie als Nachbarin und Christenmensch, daß sie in jedem Alpelhause jedem verbiete, nach Fischbach zu den fremden Geistlingern zu gehen. Es seien keine Geistlinger, es seien falsche Geistlinger! Es sei ihr nicht leid um die Nacht, sie laufe durch ganz Alpel und warne vor dem anderen Christen, der, schon von Jesum Christum vorhergesagt, endlich erschienen wäre.

Es widersprach ihr kein Mensch, aber sie schrie sich so sehr in den Zorn, daß von der Stube und von der Dachkammer [170] und vom Stalle herein das Gesinde zusammengelaufen war, um die Alte zu hören.

»Ihr seid imstand' und geht nach Fischbach!« schrie sie, »denn ihr seid allmiteinander ein schlechtes Gesindel!« Hierauf hub sie an, jedem seine Fehler vorzuhalten, bis wir alle laut lachten. Da fluderte die Alte auf mich zu: »Du lachst auch? Mistiger Rotzbub! Wie einen Frosch tret' ich dich ins Fletz hinein. Schlepp'st eh allerhand schlechte Bücher zusamm'! Waldheid' du! Rosenkranz beten! Ist g'scheiter, wie christliche Leut' auslachen! Junger Kochlecker, miserabliger! Du bist recht für den anderen Christen, geh' nur, soll dich aufspießen der höllische Feind mit seinen Hörnern. Die Ohrwaschel reiß' ich dir aus!«

Kaum gelang es mir, mich unter die Beine des Diktel zu retten; dieser schnupperte durch die Nase und sagte, mit der Hand mein Haupt streichelnd: »Laß sie nur ausgaustern, die alte Hex. Ich habe wollen morgen nach Krieglach in die Kirchen gehen, jetzt gehe ich nach Fischbach. Wer mitgeht?«

Unter allerlei Verwünschungen verließ die Riegelbergerin das Haus und noch lange hörte man ihr Zetern, als sie hinabhuschte gegen den Auenhof.

Das Aufsehen für die fremden Priester von Fischbach war nun erregt und der Weidknecht Natz sagte: »Wenn schon einmal der Diktel geht, nachher ist's was!«

Der Diktel war bei uns nicht als Knecht, sondern nur als Tagwerker. Obwohl in der Arbeit tüchtig und handsam im Umgang, stand er nicht eben in gutem Ruf. Der Mann hatte immer Geld, und wenn man seinen kargen Erwerb betrachtete, so stimmte es nicht. Er war aus der Leobner Gegend eingewandert. Er war einäugig und es hieß, das Auge hätte er im Kampfe mit einem Jäger verloren. Andere [171] sagten, es wäre umgekehrt, er wäre schon früher einäugig gewesen und er sei Wildschütze geworden, weil man zum Schießen ohnehin nur ein Auge brauche. Man wurde nicht klug.

Am Pfingstsonntage früh war er wieder recht brav herausgestiefelt, der Diktel. Braune Hosen hatte er an, die waren unten mit Leder besetzt, schlotterten ein wenig über den kräftigen Bundschuhen und machten spitze Knie. Durch den Hosenträger etwas zu stramm hinaufgezogen waren die Hosen, es traten die Rundungen rückwärts schier stark gespannt hervor. Um die Hüften hatte er eine blaue Schürze strickartig gewunden, in welcher hinten der strotzende Tabaksbeutel stak. Die graue Lodenjoppe trug keiner so kurz, als der Diktel, und keiner hatte soviel grünes Gebäume und anderes Zierwerk daran. Auf dem Haupt – aber nie ordentlich aufgesetzt, sondern immer schief nach einer Seite geneigt – saß der graue Rundhut mit Gemsbart und Schildhahnfedern. Darunter kräuselten sich die lichtsalben Haare hervor, aber heute zu Pfingsten waren sie hübsch geschoren. Das taten sie gestern, der Weidbub Natz schor den Diktel, dieser den Weidbuben, hierauf der Diktel meinen Vater und mein Vater den Nachbar Michel und der Michel mich. Dreimal des Jahres war eine ähnliche Schur, und einmal rühmte sich der Weidknecht Natz, daß er unter allen die dicksten Haare habe, worauf ihm die Kuhmagd zurückgab: »Allemal, das größte Schaf hat die meiste Wolle.«

Nun das unterwegs. Ich wollte nur sagen, daß der Diktel, so sauber zusammengestellt, frühmorgens das Haus verließ und über die Felder hinging den Weg gegen Fischbach. Auch andere folgten ihm, und eine Stunde später – mein Frühsüppel hatte mich solange aufgehalten – ging ich denselben Weg.

[172] Es war ein warmer, nebeliger Frühsommermorgen. Als ich den Berg erstiegen hatte und über die Höhe hinging, immer durch jungen Fichten- und Lärchenwald, da lag der Nebel so dicht, daß ich von den Bäumen die Wipfel nicht sah. Auf allen Zweigen zitterten und funkelten die Tautropfen, in allen Kronen sangen die Finken. Auf dem Boden das junge grüne Gras, und wo im Dickicht oder auf alten morschenden Baumstöcken Spinnengewebe gespannt waren, glitzerten sie wie Silberfäden. Ich weiß nicht mehr, ob mir damals die Schönheit eines solchen weichen, stillen Sommermorgens im Walde aufgefallen ist; ich glaube kaum, aber daß ich mich durch und durch frisch und freudig fühlte, das weiß ich.

Es war kein eigentlicher Weg, es war nur eine baumfreie Gasse hin über grünen Rasen und über glatten, graubemoosten Sandgrund – rechts Wälder, die kein Ende hatten, links Wälder, die kein Ende hatten auf dieser hohen Ebene.

Doch hat dieser Weg eine Ablenkung erfahren, die mich nicht nach Fischbach geführt hat, sondern einem anderen Erlebnisse zu, das ich vorerst erzählen will.

Nachdem ich länger als eine Stunde gegangen war, fiel es mir auf, daß der Waldpfad sich nicht talwärts zu wenden begann. Ich sollte ja schon längst auf der Fischbacher Seite sein, aber der Weg stieg noch immer sachte an und statt jungen Anwuchses war ein schütterer Wald von kleinen verkümmerten Bäumen da, die schon alt sein mußten, weil sie so lange graue Bärte trugen. Auf dem Boden war niedriges, kleinblätteriges Heidelbeerkraut, und dort und da lagen, wie aus der Erde quellend, graue Steine. Endlich nahm ich auch wahr, daß auf dem Federgras des Weges noch überall der Schimmer des Taues hing. So war heute vor mir noch niemand da gegangen. Und kaum mir endlich [173] klar wurde, daß ich mich verirrt hatte, stand ich erschrocken vor einem ungeahnten Bilde. Der verkrüppelte Wald hatte aufgehört, eine Lichtung war da, deren kahler Boden nach allen Seiten abfiel. Ein paar graue Fichtengerippe standen einsam, und fast auf dem Mittelpunkte dieser Blöße ragte eine Felsmasse empor – die übereinanderliegenden Klötze.

Ich stand vor dem Teufelsstein, das machte mir aber nichts; und wenn's in Fischbach unten heute ohnehin zweifelhaft ist mit dem Gottesdienst, so kann man am Pfingstsonntag ja wohl einmal den Teufelsstein besteigen. Es war schon lange mein heimlich Verlangen gewesen, dieses Stümperwerk des Bösen zu sehen.

Zwei Leitern waren angelehnt, eine von der Erde bis zur Zinne des ersten Steines empor, die andere von dort bis zur Platte. Nachdem ich ein paarmal um den Fels herumgegangen war und überlegt hatte, ob ich mich meiner armen Seele wegen wohl näher mit dieser absonderlichen Sache einlassen dürfe, rief ich plötzlich fast laut: »Na, wer wird denn abergläubisch sein!« und steig' die Leitern hinan. Oben staunte ich. Die Felsplatte war ganz eben und so groß, daß darauf zwei Liebespaare bequem nebeneinander hätten steirisch tanzen können. Und die Umsicht! Ich mar plötzlich über dem Nebel. Oben war der reinste blaue Himmel mit der lichten, heißen Sonne, und rings um mich war ein weißes, grenzenloses Meer, aus welchem mein Fels wie eine Insel emporstand. Weit draußen waren auch noch andere Inseln. Bei dieser Rundschau war mir schier schwindelig, daß es vorkam, als gleite der Teufelsstein mit mir wie ein Schiff auf dem weißen Meere dahin. Dort und da waren die Nebel unruhig, wirbelten und wogten, als koche es in den Tälern, und stiegen dann in vergehendem Dunst auf. Ungeheure Gewalten ringsum, und doch war es so still um mich, daß ein [174] Sandkorn, welches am Felsen niederrieselte, schier unheimlich rauschte. Kein Wasser aus dem Tale war zu hören, kein Vogel von den Wipfeln, kein Lüftchen. Aus den Tiefen des Nebels drang ein weiches Klingen und Tönen – es waren die Glocken zu Fischbach. Da unten also, in diesen steilen Tiefen lag das Dorf und die Kirche, in der heute die fremden Priester das erstemal Gottesdienst hielten. Fast überkam es mich bei diesen Glockenklängen wie Heimweh, nicht gerade nach den Priestern, wohl aber nach der Menschengemeinschaft, die dort unten war.

Auf der warmbesonnten Felsenplatte hatte ich mich ausgestreckt, hatte mein taufeuchtes Schuhwerk von den Füßen getan, daß es trocknen konnte, und auf dem Rücken liegend hatte ich mein Angesicht dem Himmel zugewendet und mich verloren im Sinnen, wie es wäre, wenn jetzt aus blaudämmernden Höhen nieder ein weißer Punkt geschwebt käme, und er zucke wie ein silbernes Lichtlein und schlüge seine Flügel aus – und es wäre die Taube des heiligen Geistes...

Da knallte ein Schuß. Ich sprang auf. In nächster Nähe von mir war er gefallen. Unten um den Fels herum verdampften die Nebel, daß nur mehr ein sonniger Dunst war zwischen den Baumwipfeln. Als ich so über die Kante des Steines hinabspähte, sah ich über die Blöße einen Mann laufen, ein Schußgewehr in der Hand und ein totes Reh beim Hinterläufel über das Gras zerrend. Der Mann war unser Tagwerker Diktel. Er wollte gegen das Gebäume hinab, aber quer den Hang heran sprang ein Jäger – der alte Förster Baldhauser war's – und rief dem Wilderer ein heiseres »Halt!« zu. Jetzt setzt's was! dachte ich und kroch zurück auf die Mitte meiner Platte, wo ich auf dem Bauch liegen blieb. Der Diktel ließ das Reh sofort auf dem Rasen liegen, aber sein Gewehr riß er fest an sich und [175] eilte dem Teufelsstein zu. Mit zwei Sprüngen war er auf dem unteren Vorsprung des Felsens, gleichzeitig zog er die Leiter herauf – da war er in der Festung. Ich guckte durch eine Scharte hinab und konnte genau sehen und hören, was nun geschah, ohne von unten bemerkt zu werden.

Der Diktel unter mir hatte sich flach auf seinen Felsvorsprung hingelegt, lud rasch sein Doppelgewehr und schnob dabei wie ein gereizter Eber. Der Jäger Baldhauser schritt mit schußgerechtem Stutzen langsam über die Blöße heran, warf einen Blick auf das Wild und knurrte: »Ewig Sünd' und Schad', jetzt in der Schonzeit ein solches Tier umbringen! Hängen soll man den gottverdammten Lumpen, der so was tun kann!« Dann näherte er sich dem Fels und rief: »Was treibst da oben, Haderlump!«

»Passen,« antwortete der Diktel.

»Wirf mir dein Gewehr herab!«

»Das brauch' ich selber.«

»Oder ich schieß' dich vom Stein, wie einen Raben!« rief der Jäger und machte dazu die bedenklichsten Anstalten.

Mir wurde angst und bang.

»Schieß zu!« höhnte der Wildschütz, denn er war auf seiner Platte so geborgen, daß ihn, den flach Ausgestreckten, der Stein gegen unten vollkommen deckte. Er hob auch während der Verhandlung den Kopf nicht, lauerte aber mit dem Ohr, welche Stellung sein Feind unten einnahm. Dabei legte er seinen Finger an den Hahn des Gewehres, dessen Lauf ein wenig über die Scharte des Felsens hinausstand. Der Jäger überlegte, wie dem Manne beizukommen sei; dann pfiff er seinem Hunde, der das tote Reh beschnuppert hatte. Es war nicht der Jagdhund; an solchen Tagen pflegte der Baldhauser den großen Fanghund mit sich zu neh men. Den hetzte er nun gegen den Wilderer. Da krachte es und mit [176] einem schrillen Gewinsel purzelte der Hund über und über. Im selben Augenblick hatte auch der Jäger nach dem etwas gehobenen Kopf des Wilderers gezielt, aber der duckte sich noch zu rechter Zeit, die Kugel prallte an den Stein und flog summend auf den Rasen hinab.

»Ich ruf' es zum letztenmal, ergib dich!« schrie der Jäger, hob von neuem sein Gewehr und entfernte sich einige Schritte vom Fels, um den Wilderer auf die Mücke zu kriegen.

»Und ich,« sagte der Diktel ruhig, indem er sich noch enger an die Platte schmiegte und den Finger schärfer an das Schloß bog, »ich rate dir, Baldhauser, geh' heim. Es geht eine ungesunde Luft da heroben auf dem Berg.«

»Ja, das wirst du bald spüren,« gab der Jäger zurück.

»Wenn du ein Kugel hättest, die ums Eck geht!« spottete der Diktel.

»Sie wird dich auch auf dem geraden Weg noch finden!« Der Jäger machte jetzt Miene, am Felsen emporzuklettern, aber so, daß er durch denselben gedeckt blieb.

»Baldhauser,« sagte der Wildschütz, »wenn du da heraufsteigen willst, das hilft dir nichts. Du wirst es einsehen. Mein Stutzen hat einen Doppellauf und einen Kolben, ich geb' dir einen guten Rat: bleib' unten. Schau, dein Weib und Kind derbarmt mich. Ich bin heute ausgegangen, um ein Tier zu schießen. Ich bitt' dich, derspar' es mir, daß ich einen Menschen umbringen muß am Pfingstsonntag.«

Aus der Tiefe klangen die Glocken. Mir kam in den Sinn, den Vermittler zu machen. – Misch' dich nicht drein! rief sogleich eine Stimme in mir, gib acht, daß sie dich nicht sehen, sonst kann's dir schlecht bekommen!

Der Jäger hatte eine Weile überlegt und die vorteilhafte Stellung seines Feindes wohl erwogen.

»Wenn du mir den Hund nicht erschossen hättest,« sagte [177] er dann, »ich ließe dich laufen. Wer du bist, das weiß ich doch.«

»Tu', wie du willst, Jäger,« entgegnete der Diktel; »du wirst einsehen, daß sich der Mensch um sein Leben wehrt. Laßt du mich in Fried, so –«

Er brach ab. Nach einer Weile sagte der Jäger: »Wenn ich jetzt geh', du bist das Hundsfott und brennst mir eine Kugel nach.«

»Stell' dich sicher dagegen!« sagte der Diktel trotzig; »leg' mir einen Eid ab, daß du mich nicht verraten wirst!«

»Legst du mir einen ab, daß es das letztemal sein soll bei dir?«

»Jäger,« sagte der Diktel, »mich gefreut das von dir, daß du auf mein Ehrenwort noch was gibst. Die heutige G'schicht ist mir zu dumm. Ich laß es sein.«

»Und zum Beweis gibst mir jetzt das Gewehr.«

»Das nicht, Jäger, das Gewehr geb' ich dir jetzt nicht. Wir trauen uns einander nicht, und wir zwei werden unser Lebtag keine guten Freunde. Aber das versprech' ich dir, wenn du mir bei deiner Seel' und Seligkeit zusagst, daß du mich nicht anzeigen wirst, so gehen wir heut' gesund auseinander.«

»Es soll dir für das Mal geschenkt sein!« sagte der alte Baldhauser. »Aber das Reh rühr' mir nicht mehr an! Ich werde es von hier holen lassen durch meinen Burschen.«

»Alsdann behüt' dich Gott, Jäger Baldhauser.« So der Diktel. Dann ging der Förster eiligen Schrittes gegen den Wald hinab. Der Wildschütz blieb noch eine Weile kauern auf dem Steinvorsprung, endlich erhob er sich, sprang auf die Erde, lauerte und lief davon. –

Das hatte ich erlebt am selbigen Pfingstsonntag auf dem Teufelsstein. Noch stellte ich mir vor, wie es sein könnte, [178] wenn der Jägerbursche käme, das tote Reh, den toten Hund und mich hier fände – dann machte ich mich auch davon, so rasch es ging.

Mittlerweile hatte sich in den Tälern der Nebel gelöst, und tief unten im blauen Dunstschimmer lag auf den Matten das Dörflein Fischbach mit seinem silberig leuchtenden Turm. Um die Kirche herum und zwischen den Häusern war es schwarz vor lauter Menschen. Auf dem Steinbühel hinter der Kirche sprang bisweilen ein Rauchwölklein auf, aber es währte unglaublich lange, bis der Schall des Pöllerschusses empordrang zu meiner Höhe.

Ich eilte gegen die Gegend von Alpel hinab, und am späten Mittag war ich zu Hause.

Nach und nach kamen die Leute von der Kirche heim, auch die von Fischbach. Diese waren schier kleinlaut, und als sie während des Mittagsmahls mein Vater fragte, was die fremden Geistlinger gepredigt hätten, antwortete die Magd: »Alles ist derlogen!«

»So grob mußt nicht reden,« verwies ihr mein Vater, »Wort Gottes wird's doch gewesen sein.«

Mit Entrüstung wiederholte sie: »Alles ist derstunken und derlogen, was sie geschwatzt haben, die Leut', daß die fremden Geistlinger schwarz täten auf die Kanzel steigen und daß sie der andere Christ täten sein! Ich hab' meiner Tag' keine weißere Wäsch' gesehen, als wie die Chorpfaid, die der geistliche Herr hat angehabt.«

»Und fromm sind sie dir!« rief der Weidbub Natz, der auch in Fischbach gewesen. Das Wort war ursprünglich an den Hausvater gerichtet, aber als dem Natz das unehrerbietige »Dir« entschlüpft, drehte er seinen Kopf geschwind gegen den Knecht, als sei es dem vermeint gewesen. »Wenn du sie beten hättest gesehen! Da sind sie dir gekniet vor [179] dem Altar, und die Hände hoch aufgehoben, ineinandergepreßt bittweis. Und Augenäpfel hat man schier keine gesehen, so haben sie selbige gegen Himmel geschlagen.«

»Und predigt hat er!« rief die Magd, legte den Löffel weg, um die Hände zu falten, »predigt hat er! Leut', ich sag' euch's, wenn wir kein frömmeres Leben anheben, so wird's gefahlt sein mit uns!«

»Nau, nau, nau,« sagte mein Vater, »was ist denn das, die Dirn ist ja ganz aus dem Häusel.«

»Geh' der Vater selber zuhören,« sagte die Magd. »Morgen ist eine Predigt für Hausväter und Eheleute.«

»Und übermorgen ist eine für die Junggesellen,« wußte der Natz, »da muß ich wohl bitten, daß ich gehen darf. Ich bring' die Arbeit gern ein anderes Mal ein.«

»Nachher kommt auch eine für die Kinder, da soll der gehen, wird ihm nicht schaden.« So die Magd und deutete auf mich.

»Nachher kommt eine für die Greise und Greisinnen. Das muß man dem alten Köhlerhansel sagen und dem krumpen Mirt.«

»Der krump Mirt kann ja nicht gehen,« warf ich ein.

»So soll er sich tragen lassen,« eiferte die Magd, »wird sich nachher auch müssen tragen lassen, wenn er in der Truhen liegt.«

»Laßt's die Knödelsuppen nicht kalt werden!« mahnte nun meine Mutter, »ich weiß gar nicht, wie ihr mir heut' vorkommt.«

Aber es war keine Luft zum Essen da und mit dem Pfingstmahl hatte sich meine Mutter doch gewiß niemals spotten lassen. Alles sprach von der Mission, die in Fischbach begonnen hatte, vom Einzug der Geistlichkeit, von der Feierlichkeit des Hochamtes, von der Eindringlichkeit der Predigten – es waren deren zwei an einem Vormittage gewesen, [180] und jede über eine Stunde lang. – »Aber zu kurz, viel zu kurz! Den ganzen Tag könnte man ihnen zuhören. Wie ein Kind haben die Leut' geweint, und niedergepredigt hat er sie!«

Niederpredigen heißt – so muß ich weislich erläutern – wenn einer so eindringlich predigt, schließlich zum Altare gekehrt kniend Gott und die Heiligen anruft, bis die Zuhörer auf die Knie sinken. Diese Art zumeist nur von außerordentlichen Predigern beliebt, verfehlt ihre Wirkung niemals.

Hierauf erzählte die Magd, wie die fremden Geistlinger noch gleichwohl recht jung wären, aber blaß im Gesicht, und jeder ein rundes Glatzerl auf dem Scheitel. Nach dem Gottesdienst seien sie auf den Kirchhof gegangen, niedergekniet an den Grabhügeln und hätten gebetet, denn das hätte einer der Prediger auch gesagt, wie sie von Jesum gesandt worden als Apostel nach dem lieben Fischbach, so wollten sie nicht früher von dannen gehen, als bis die Lebendigen und die Toten dieser Gemeinde gerettet wären.

Ob heute denn keine Predigt mehr wäre? fragte mein Vater.

»Ja freilich ist noch eine,« wußte der Natz zu berichten. »Um sechs auf den Abend.«

Mein Vater zog sein Kirchengewand an, um nach Fischbach zu gehen. An der Haustür begegnete ihm der Diktel fast mehr noch verstört als die anderen.

»Dich hat's auch gefreut zu Fischbach,« redete ihn der Vater an, »weil du so spat kommst. Weißt was?«

»Den Pfingstsonntag will ich mir merken,« murmelte der Diktel und ging, ohne einen Bissen von seinem Mahle zu berühren, in die Kammer. –

Und dann kam eine absonderliche Zeit. Ein vierzehntägiger Feiertag. Vom Felde liefen die Leute weg und gingen nach Fischbach. Früh vor Tags gingen sie aus den [181] Häusern davon, ohne Morgenbrot, und standen viele Stunden lang in einem finsteren Winkel der Kirche, zum Beichtstuhle drängend. Viele, die sonst gewohnt waren, ihren Morgenkaffee noch im Bett zu sich zu nehmen, wie die Bäckin zu Falkenstein, fasteten nun willig bis zum Abend, wo sie erst dran kamen und die Kommunion empfingen. Ich war natürlich bei allem dabei, und wenn wir dann spät abends durch die Wälder heimwärts gingen, standen längst die Sterne am Himmel, um unseren aufgeregten Gemütern die Predigten von Tod, Gericht, Himmel und Hölle in stiller, aber großer Sprache zu wiederholen. Die Riegelbergerin war gar nicht mehr in ihrem Ausnahmshäusel. In den ersten Tagen der Mission war sie wie rasend durch die Gegend gelaufen und hatte die Leute beschworen, den fremden Geistlingern ja nicht in die Fallstricke zu gehen. Und wenn man ihr riet, sich selbst die Missionäre einmal anzuhören, kreischte sie: »Nicht mit vier Ochsen bringt ihr mich nach Fischbach!« Zu Beginn der zweiten Woche war die Wandlung vollzogen. In der Absicht, einen Prediger in der Kirche zu unterbrechen und ihn laut den »anderen Christen« zu heißen, war die alte Riegelbergerin nach Fischbach gegangen. Sie hatte aber den Prediger nicht unterbrochen, sondern nach dem Gottesdienste, als die Leute nach Hause gingen, ausgerufen: »Nicht mit sechs Rössern bringt man mich von Fischbach weg, solange die heilige Mission nicht zu Ende ist.« Da die Wirtshäuser überfüllt waren, so brachte sie, wie viele andere, die kurzen Nächte auf Heustadeln zu, und wenn zum Tagesgrauen die Aveglocke klang, ging sie schon zur Kirchentüre, wo bereits eine Menschenmenge auf Einlaß harrte.

Einer der eifrigsten Kirchengeher war Martin, der junge Jägergehilfe des Försters Baldhauser. Anfangs hatte er [182] sein Dirndl, die saubere Schmiedstochter Kathrin, mit hineingeführt, in der Meinung, wenn sie eine scharfe Predigt höre, bliebe sie ihm sicherer treu. Bald war es so, daß er nichts mehr von ihr wissen wollte, denn die Predigt gegen unerlaubte Liebschaften war zu schreckbar gewesen. Die Verlassene weinte sich halbblind – und es hieß, sie hätte Grund dazu gehabt. Der Martin nahm sich nach den Darstellungen des Predigers vor, die irdischen W, Weib, Wirtshaus und dergleichen, zu meiden, um dem ewigen Weh zu entgehen.

Also unglaublich war die Wirkung der Missionäre auf das Volk. Meilenweit kamen die Leute denn herbei, anfangs aus Neugierde, bald aus Frömmigkeit und Buße, deren Ausübung plötzlich zu einem Hochgenuß geworden war. Die Priester predigten längst nicht mehr in der Kirche, sondern im Freien, wo an der Kirchhofsmauer eine Kanzel errichtet worden war. Und es war kein gewöhnliches Predigen jenes stets nur dogmatischen Inhaltes, der die Gemeinde so gleichgültig läßt, wie den Prediger. Schon Ton und Aussprache der Priester war eigenartig; sie kamen aus dem Tiroler Land. Ihre Predigten waren voll Glut und Leidenschaft, und dann wieder voll Innigkeit, sie bewegten sich immer nur im Ideenkreise des Volkes, brachten zahllose Geschichten, die scheinbar aus dem Leben gegriffen waren, und Beispiele aus der bäuerlichen Anschauungsweise. Mit Hinweis auf die lieben Kleinen in der Wiege, auf die duldenden Kranken, die fern in den stillen Stuben leiden, während die Gesunden der Gnaden der heiligen Mission teilhaftig werden, auf die Angehörigen in fremden Ländern, auf die Toten, die unter den Füßen der Zuhörer ruhen, griffen sie den Leuten aus Herz; und als das Herz aufgefurcht war, legten sie den Samen zu vielen Tugenden hinein, aber auch den der Frömmelei, der Unduldsamkeit, [183] der Verachtung gegen Schule und geistige Entwicklung. Besonders ging es gegen Telegraph und Eisenbahn, als die richtigen »Höllenstraßen«. – So schlicht und einfältig sich alles anhörte, es war doch unendlich klug und sein gewoben und heute weiß ich's: nicht dem Sittengesetze sind wir damals gewonnen worden, sondern der Kirche. In mir war eine wahre Leidenschaft erwacht, ein Haß und Rachegefühl gegen Andersgläubige oder auch gegen solche Katholiken, die sich aus dem Papste nichts machten. Sogar die Seelsorger unserer Nachbarspfarren begann ich zu verachten, weil sie mir zu weltlich gesinnt schienen, die Hausierjuden und Protestanten nicht austrieben aus ihren Gemeinden, die Eisenbahn nicht zerstören ließen, die doch soviel Unheil in die Gegend brachte. Ein halbes Jahr lang wurde in unseren Bergen nichts als gegen die Sünder geflucht und nichts als gebetet um Erlösung der armen Seelen aus dem Fegefeuer, um Erlangung von Ablässen, und nichts gebetet, als immer wieder die Missions-, Segen- und Ablaßgebete, die Amulette und Rosenkränze, die man sich während der Mission in den Buden auf dem Kirchplatz zu Fischbach gekauft hatte. Nach einem halben Jahre begann die Frömmigkeit wieder langsam zu verdunsten.

Die Missionspriester mußten das wohl vorausgeahnt haben. Als Andenken und »ewigen Mahner an die Gnadenzeit« wollten sie am Tage ihres Abschiedes das große Missionskreuz aufstellen an der Kirchenmauer zu Fischbach. Solche Kreuze pflegen bekanntlich riesigen Grabkreuzen ähnlich und ohne Christusbild zu sein. »Der Heiland ist herabgenommen,« sagen sie bei der »Kreuzpredigt«, »jetzt Sünder, mußt du hinauf.«

Aber der Pfarrer von Fischbach machte seine Missionäre darauf aufmerksam, daß die Leute gegen ein »herrgottsloses«

[184] Missionskreuz Mißtrauen haben könnten, weil im Volke eine alte Prophezeiung gehe: daran werde man den Antichrist erkennen, daß er heilandslose Kreuze aufstelle.

So mußte eilends nach Graz um einen »Christus« telegraphiert werden, »aber nicht auf dem Postwagen schicken, sondern auf der Eisenbahn bis Marein, sonst kommt er zu spät!«

Mittlerweile erhielt der Zimmermeister Josef in Fischbach den Auftrag, das Kreuz zu verfertigen; es hatte vierzehn Schuh hoch zu sein. Der »Zimmermeister« dingte sich einen Taglöhner – und zwar unseren Diktel – um mit ihm in den Wald zu gehen und einen Baum zu fällen. Am Fuße des Teufelssteingebirges standen stattliche Fichten und Kiefern, aber da hieß es, zu einem Kreuze müsse ein hartes Holz sein. Jedes Kreuz ist hart, das war freilich einzusehen. Der Meister entschloß sich für die alte wetterfeste Steinschlaglärche, die oben an der Schanz stand. Aber als sie hinaufkamen, um diesen Baum zu fällen, hing an ihm ein toter Mann. Der – ein schiefsinniger Mensch – hatte die Mission mitgemacht vom ersten bis zum letzten Tage – und da war er zu diesem Schluß gekommen.

Zu den Bekehrten dieser Tage gehörte auch der Knecht Diktel, aber nicht die fremden Geistlinger hatten ihn bekehrt, sondern die schreckliche Gefahr am Teufelsstein, ein Mörder zu werden.

Vom heiligen Wasser
[185] Vom heiligen Wasser.

Eines Tages – es war an einem sommerfrohen Pfingstmontage – führte meine Base mich über die Almen stundenlang dahin. Sie trug einen Armkorb mit Brot und anderlei, in der Hand einen Gehstock und einen Rosenkranz, der am Stocke hinabpendelte. Ich trug nichts als ein freudig gehobenes Herzlein, denn wir gingen an einen Ort, den ich noch nicht kannte, der aber nach aller Beschreibung unerhört merkwürdig war.

Wir wanderten nach Heilbrunn. Dort steht hoch auf dem Berge, zwischen Wäldern, eine große Kirche und in derselben ist ein Brunnen, der die Kranken gesund macht. Meine Base und ich, wir waren beide gesund, aber die Base trug in ihrem Armkorb bei dem Brot eine leere Flasche bei sich – .

Als wir die Fischbacher Almen hinter uns und unterwegs den Rosenkranz dreimal abgebetet hatten, setzten wir uns vor einer Waldkapelle nieder und aßen. Die Base hatte ihre blaue Schürze so über die Knie gespannt, daß es einen kesselförmigen Tisch gab, in dem das Weißbrot und der Kuchen lagen. Schon dieser Wallfahrtskuchen mit den süßen Korinthen brachten mich in Weihestimmung, und wie wir früher gegangen waren und gebetet hatten zu Ehren der Mutter Gottes, so aßen wir jetzt ihr zu Ehren den Kuchen und waren heiter. Und die Base behauptete, der Mensch könne so lustig sein wie er wolle und zeitweise auch ein bißchen tun, was man Schwachheiten nennt, wenn er nur alles unserem Herrgott zu Ehren aufopfere, so sei es gleich [186] ein gutes Werk. Soviel ich noch weiß, war dann meine Frage, ob man Gott zu Ehr' anstatt auf dem Stein zu knien auf dem Kopf stehen könne und die Füße gegen Himmel recken? »Ei ja, freilich, mein Kind,« beschied die Base, »ob du die Hände bittweise gegen Himmel reckest oder die Füße, das wird alles eins sein, wenn du nur einen guten Gedanken dabei hast.« Gute Gedanken zu haben hielt sie für sehr wichtig, mir war nur nicht ganz klar, was sie unter guten Gedanken verstand. Denn ich war schon inne geworden, daß man Gedanken an gute Sachen – böse Gedanken nennt.

Wer weiß, wie tief wir uns noch in die Geheimnisse der Gottverehrung verstiegen hätten, wenn nicht hier ein Weggenosse zu uns gestoßen wäre. Der Kaplan von Fischbach, ein junger Herr mit frischrotem Gesicht, an dem die Wangen zwei Grübchen bildeten, wenn er lachte. Er war in schwarzem Gehrock und gewichsten Röhrenstiefeln. Ich wäre fast lieber mit der launigen Base allein gegangen; denn mit dem geistlichen Herrn Kaplan zu marschieren, da ist man keinen Augenblick sicher, ob er nicht auf einmal anhebt, aus dem Katechismus auszufragen. Das tat er nun aber nicht, im Gegenteil, er erzählte unterwegs Geschichten. Er ging nämlich auch nach Heilbrunn, um am nächsten Tage dort die Messe zu lesen und Beichte zu hören – als Aushilfe bei den vielen Wallfahrern, die am Pfingstdienstag sich einzufinden pflegten.

»Wenn wir gut anziehen,« sagte er gleich zu uns, »so können wir in einer Stunde schon den Kirchturm sehen. – Wirst du wohl so weit laufen können, kleines Böckel?«

Das Böckel war an mich gerichtet, und mir wurde ganz heiß in den Wangen ob der auszeichnenden Anrede, die noch dazu ohne jeden Beigeschmack von Katechismus war.

[187] »Und wenn wir ihn auch erst in zwei Stunden sehen,« fügte der Kaplan bei, »er läuft uns nicht davon; die Mutter Gottes steht auch noch am Abend auf dem Altar und erhört uns, wenn wir nur recht fleißig beten können.«

Da wir also den Alm- und Waldwegen entlang, die bergauf und talab gingen, mit Weile eilten, so entfaltete sich ein freundliches Gespräch, bei welchem meine Base die Frömmigkeit etwas mehr hervorkehrte, als es ihr vielleicht gerade ernst gewesen, während der Kaplan ganz weltlich plauderte und lachte.

Und plötzlich fragte er: »Kennt ihr wohl auch den Ursprung von Heilbrunn? Nein? Aber der ist ja sehr schön, den muß ich euch doch erzählen.«

Geschichten! Ich trappelte nicht schlecht neben seiner dahin.

Der Kaplan erzählte: »Es war vor mehr als zweihundert Jahren. Da lebte in Holland ein reicher Mann. Er konnte aber seinen Reichtum nicht genießen, denn er war stockblind. Alle berühmten Ärzte und alle Arzneimittel wollten nicht helfen, da hat er gemeint, ob ihm nicht unsere liebe Frau helfen könne, wenn er recht fleißig zu ihr wollte beten. Das hat er getan und darauf hatte er in der Nacht einen merkwürdigen Traum. Er sah eine wilde Gebirgsgegend mit finsteren Wäldern, tiefen Schluchten und hohen Bergkuppen und es träumte ihm, daß er sich sollte ausmachen und ins Land Steiermark reisen. Dort sei im wilden Birg eine Gegend, Ofenegg genannt, da werde er an einem Bildnis Mariens einen Brunnen finden; mit diesem Wasser solle er sich waschen, dann würde er sehend werden. Das erstemal gab er nicht viel auf solchen Traum, als ihm aber in der zweiten Nacht gerade so träumte und in der dritten Nacht wieder, da nahm er das für eine Erscheinung und teilte [188] seiner Frau den Entschluß mit, ins Land Steiermark zu reisen und den Brunnen zu suchen. Die Ehefrau erkannte ebenfalls die göttliche Fügung und beide machten sich auf die Reise. Zuerst wußten sie gar nicht, wo das Land Steiermark liege. Von einem gelehrten Mann erfuhren sie, daß sie über Länder und Länder hin so lange der Mittagssonne zureisen müßten, bis sie in die Welt der hohen Berge kämen, die Alpen genannt. Dort würden sie das Land Steiermark wohl erfragen. Also sind sie gereist und nach vielen Wochen in die Alpen gekommen. Das war aber Tirol, sie mußten wieder viele Tage lang gegen Sonnenaufgang wandern, bis sie endlich ins Land Steiermark kamen und in die Hauptstadt Grätz. Dort fragten unsere Reisenden aus Holland nach der Gegend Ofenegg. Ja, die wäre weit hinten in den Bergen und sie sei eine rauhe Wildnis. Wohlgemut wanderten sie die angegebene Richtung hin, bis sie durch einen langen Graben hinaufkamen zu dem Berge Ofenegg. Aber dort gingen nun drei schlechte Steige auseinander und sie standen lange da und wußten nicht, nach welcher Seite sie sich zu wenden hätten. Da kam ein Hirtenknabe gegangen, der hatte nasses Haar, obschon es nicht regnete. Und als sie den Knaben fragten, weshalb er so naß sei, antwortete er, er käme just vom Bild am heiligen Brunnen, wo er sich das Haupt gewaschen habe, damit sein Kopfweh, an dem er leide, geheilt werde. So hat er sie dahingewiesen. Die Wallfahrer aus dem fernen Holland sind niedergekniet vor dem Bild in der Wildnis, der Blinde hat an der Quelle sich die Augen befeuchtet und ist zur selbigen Stunde sehend geworden. Wie er den ersten Blick tut hinaus in die Berge und Täler, da ruft er aus: O mächtiger Gott, das ist jene Gegend, die ich im Traume gesehen habe! – Solches Wunder hat der geheilte Holländer im Lande weitum verkündet, bevor sie [189] die Heimreise angetreten. Er ist sehend geblieben und hat sich des Lebens gefreut. Zum Heiligen Brunnen aber sind Andächtige gekommen von nah und fern, und viele haben dort Heilung gefunden. Bald wurde über dem Brunnen und dem Bildnisse eine Kapelle errichtet, und später ist die große Kirche erbaut worden, zu der wir heute wallfahrten.«

Als der Priester so erzählt hatte, sind mir eine Weile schweigend neben ihm hergegangen, die Base wohl in Verwunderung und Andacht versunken, ich mit einer Frage auf der Zunge, die sich lange nicht ins Freie getraute. Endlich aber rief ich doch aus: »Ist das wahr?«

Der Kaplan schaute mich über quer an, solche vorwitzige Fragen schien er nicht gewohnt zu sein. Dann antwortete er ganz gemütlich: »In Heilbrunn kannst du dir die ganze Beschreibung kaufen; ist ja auch die Geschichte vom Holländer dabei.«

Endlich blickte über den Waldrücken die Kirchturmspitze herüber. Da stellte meine Base den Armkorb auf den Boden, nestelte aus demselben ein rotes Wollentuch, um es sich über Achseln und Brust zu legen – auf daß sie vor der lieben Frau im Festgewand erschiene. Dabei hatte sie aus dem Korb die große Flasche, wie man solche schon damals für Sauerbrunnwasser zu haben pflegte, hervorgezogen, um zu sehen, ob sie nicht etwa Schaden genommen.

»Ah,« sagte der Kaplan, »das ist gescheit, daß ihr Sauerbrunn bei euch habt. Da darf man sich wohl ein wenig den Durst löschen.«

»Sauerbrunn ist halt keiner drinnen,« antwortete sie demütig, »sie ist leer, weil ich beim heiligen Brunn Wasser hineinfüllen und mit heimnehmen werde.«

»Ihr nehmt vom Wasser mit heim?«

[190] »Wenn was krank wird, Leut' oder Vieh, daß man gleich eine Hilf' hat.«

Der Kaplan schwieg, ich glaube gar, er hat den Kopf geschüttelt, als ob ihm die Sache nicht ganz recht wäre.

So sind wir zur Kirche gekommen. Da drinnen war der Brunnen, der in einen Kessel niederplätscherte. Viele Andächtige waren schon da, Männer und Weiber, sie knieten vor dem Altare und an den Bildnissen herum; andere standen in Reihen vor dem Beichtstuhl; andere strebten sachte vor zum Brunnen, um sich Hände und Gesicht zu waschen, mit einem angeketteten Blechschöpfer zu trinken oder Wasser in Flaschen zu füllen. Unerschöpflich rieselte aus dem Gestein die Quelle und hoch oben stand unsere liebe Frau, von vielen Lichtern umgeben. Während dann ein Priester in goldenem Mantel vor den Altar trat und unter Orgelbegleitung die Litanei gesungen wurde, und während die Base in der Kirche herumschlich, um die Bildstöckeln zu küssen, stellte ich mich zum Beichtstuhl an. Als ich dahin kam, saß drinnen der Kaplan von Fischbach, unser Reisebegleiter. Das war mir unangenehm, denn das, was ich zu beichten hatte, betraf auch ihn. Aber gesagt mußte es werden: Ich sei im Glauben sündig geworden.

»Wie meinst du das, im Glauben sündig geworden?« fragte er leise durch das Gitter heraus.

»Ich kann nicht mehr alles glauben, was geschrieben steht und was zu glauben vorgestellt wird,« antwortete ich nach der Formel.

Er wendete sich angelegentlicher zu mir und fragte nach den näheren Umständen. Da habe ich ihm zagend einbekannt, den Ursprung von Heilbrunn könne ich nicht recht glauben. Wenn unsere liebe Frau dem reichen Holländer schon habe helfen wollen, warum nicht gleich in Holland, [191] warum hat er erst so weit nach Steiermark reisen müssen? Und warum wirkt sie gerade bei einem Reichen Wunder, daß er seinen Reichtum genießen könne!

»Das Vertrauen, mein Kind!« sagte der Kaplan, »Gott hat sein Vertrauen prüfen und stärken wollen. Wenn du das nicht fassen kannst, so bete fleißig. Die Geschichte ist freilich aufgeschrieben und verbreitet worden, daß sie die Leute glauben sollen. Aber wenn du sie gerade nicht glauben kannst, so ist das Unglück auch nicht gar so groß. Es ist ja kein Glaubensartikel. Nur nimm dich in acht. Wenn's einmal anfängt abzubröckeln, da fallen nachher immer größere Brocken. – Gehe hin und bete drei Vaterunser, drei Ave Maria und den Glauben.«

Dann murmelte er die lateinische Lossprechung und machte mit flacher Hand das Kreuz über mich.

Von der darauffolgenden Nacht ist nichts zu berichten als ein Traum. Den berichte ich aber auch nicht, weil der Träume dummer Bauernjungen wegen doch keine Kirchen gebaut werden.

Als ich nach Emaus zog
[192] Als ich nach Emaus zog.

Am Ostermontag, wenn der Gottesdienst vorüber ist und im Waldlande die Leute beim Mittagsmahle sitzen, kommt es vor, daß einer sagt: »Heut' ist Ostermontag, heut' sollen wir nach Emaus gehen.« Und fast allemal entgegnet ein anderer: »Nach Eb'naus (eben aus) gehen, das ist bei uns im Gebirg eine Kunst.« Aber der strenge Hausvater verweist: »Gescheiterweis' reden! Heilige Sach' ist kein Spaß!«

Am Vormittag haben sie es bei der Predigt gehört, daß nach dem Tode Jesu die Jünger vereinsamt und betrübt umhergegangen seien, immer nur an den Herrn und Meister denkend, der ein paar Tage früher gekreuzigt und begraben worden war. Und als sie die Straße entlang gingen, die nach Emaus führte, da begegnete ihnen der Gekreuzigte leibhaftig und grüßte sie: »Der Friede sei mit euch!« also daß sie wußten, er ist von den Toten auferstanden. – Dessen gedenkt man im Walde frommen Sinnes, und sei es nun auf der Bergstraße oder im Tale draußen, irgendwo steht doch ein Wirtshaus, und das ist das Emaus, nach welchem man an diesem Tage pilgert. – Jenem, der still beschaulich zwischen den grünenden Saaten dahinschreitet, unter dem Gesange der Vögel, die auf treibenden Zweigen sich schaukeln, und der in den milden Sonnenäther des Himmels aufschaut, Sehnsucht im Herzen, dem begegnet der Auferstandene mit dem Gruße: »Der Friede sei mit dir!« – Jenen, die nach ernsten Berufsarbeiten zur feiertägigen [193] Erholung in heiterer Geselligkeit dem Wirtshaus zuwandeln, sei es Freund mit Freund, sei es Bursche mit Mädchen in ehrsamer Neigung, sei es der Geigenspieler und der Pfeifenbläser zur hellen Osterfreudigkeit, denen begegnet der Herr und grüßt sie: »Der Friede sei mit euch!« & #2014; Dem aber, der mit frömmelnder Miene, Schlimmes sinnend, nach »Emaus« schleicht, dem begegnet der Heiland nicht doch möglicherweise etwas anderes.

In jener Knabenzeit war's, da wollte mein Vater einmal in der Fasten einen eingewanderten vazierenden Tagwerker aufnehmen; es gab zu solcher Zeit eigentlich nicht mehr Arbeit in der Wirtschaft, als wir mit unserem Gesinde selbst verrichten konnten, doch mein Vater meinte: »Arbeitet er schon nicht viel, so soll er uns wenigstens fasten helfen. Wo will er denn sonst hingehen, jetzt? Hat auch schon einen grauen Bart.«

»Ist selber schuld,« antwortete die Mutter, »warum balbiert er sich nicht. Der Tritzel gefallt mir nicht, sie sagen ja, er wäre schon einmal eingesperrt gewesen.«

»Mußt nicht alles glauben, was sie sagen. Die Leut' tun alleweil gern andere noch schlechter machen, als sie selber sind.«

»Und der Tritzel gefällt mir nicht,« wiederholte die Mutter, »er hat einen krummen Blick.«

»Einen krummen Blick hat er, weil er schielt,« sagte der Vater, »und fürs Schielen kann der Mensch nicht.«

»Da hast freilich wieder recht,« darauf die Mutter, »und wenn er jetzt im Märzen keinen anderen Platz findet, und er auf der freien Weid' müßt' liegen, da mögen wir ihn doch lieber nehmen.«

Also war es verabredet worden. Aber bei der Aufnahme konnte mein Vater nicht unterlassen, den Tagwerker [194] zu fragen: »Bist du nicht einmal in der Keichen (im Arrest) gesessen?«

»Ja, das ist gewiß,« antwortete der Tritzel.

»Was hast denn angestellt?«

»Schon etwas der Müh' wert, das magst dir denken, Waldbauer. Mir ist nicht zu trauen, mir!«

»Darf man's wissen?«

»Warum denn nicht! Im Arzbachgraben bin ich ein armer Kleinhäusler gewesen.«

»Deswegen werden sie dich doch nicht gestraft haben!« rief mein Vater.

»Armut ist halt ein Verbrechen,« sprach der Tritzel sehr tiefsinnig. »Und weil ich meine Steuer nicht hab' zahlen können, so sind die Pfändersleut' gekommen und haben mir meine Kuh wegtreiben wollen. Die lass' ich nicht! schrei' ich, und hau' dem Pfändersmann eine ins Gesicht. Alsdann haben sie anstatt der Kuh mich fortgetrieben.«

»Dem Pfänder hast eine gegeben!« lachte mein Vater auf. »Na, bleib' halt da, Tritzel.«

Der Alte zog & #2014; aber so, daß es mein Vater nicht merkte & #2014; das runzelige Gesicht schief, blinzelte mit den salben Wimpern und murmelte in seinen Bart: »Ein Gusto, wie sich der anplauschen laßt! & #2014; Ja, freilich bleib' ich.«

Und abgemacht war's.

Tat dann der alte Tagwerker Tritzel zuerst ein bissel Schnee schaufeln bei uns um den Hof herum, dann ein bissel Streu hacken, hernach ein bissel Dung führen mit der Schiebtruhe in den Garten hinaus. Dabei tat er mit uns fleißig die vierzigtägige Fasten halten und ein sittsames Leben führen. Als die Ostern nahten, gab mein Vater zu verstehen, daß der Tritzel nun im Frühjahr wohl auch anderweitig [195] einen Platz finden würde, und jetzt war es meine Mutter, die sprach: »Weil er uns hat fasten helfen, der Tritzel, so kann er uns auch essen helfen; wer weiß, wo er sonst sein Weihfleisch und die Osterkrapfen finden kunnt.«

Also blieb der alte, graubärtige Bursch' über das Osterfest in unserem Hause, aß sich gewissenhaft satt und führte gern christliche Gespräche. So sagte er am Ostermontag beim Mittagsmahle: »Heut' sollen wir nach Emaus gehen. Gehst mit, Bübel?«

Die Frage war an mich gerichtet. »Ja, nach Emaus ginge ich mit!«

»Versteht sich!« begehrte die Mutter auf, »Kinder ins Wirtshaus!«

»Waldbäuerin,« versetzte der Tritzel ernsthaft, »vom Wirtshaus ist keine Red'. Bei mir schaut das Christentum anders aus. Der Gang nach Emaus ist ein heiliger Gang. Ein heiliger Gang, meine liebe Waldbäuerin! Wir gehen zu der Kreuzkapellen hinauf, dort werden wir den Heiland sicherer finden, als im Wirtshaus – will ich meinen.«

»'s selb' wär' eh wahr,« gab mein Vater bei, und ich durfte mit dem Tritzel gehen.

Die Kreuzkapelle stand etwa eine Stunde von uns, weiter oben im Gebirge, auf einem Waldanger. Wenn der Wetterwind ging im Sommer und dort das Glöcklein geläutet wurde, konnte man bei uns im Hof den Klang hören. In der Fastenzeit war die Kapelle ein beliebter Wallfahrtsort, kamen an jedem Freitag aus nah und fern Andächtige herbei, zündeten vor dem lebensgroßen Kreuzbilde, das in der Kapelle über dem Altare stand, Lichter an, beteten, legten bescheidene Opfergaben hin und gingen erleichterten Herzens wieder nach Hause. Da in der Nähe dieses Andachtsortes keine Menschenwohnung war, so ging täglich [196] von den Waldbauernhäusern ein altes Weiblein hinauf, um die Kapelle zu öffnen, zu schließen und das Glöcklein zu läuten.

Das war also unser Emaus, zu welchem der alte Tagwerker Tritzel und ich auszogen & #2014; ein heiliger Gang, wie der Alte unterwegs wiederholt versicherte.

Der Weg ging über Wiesen, durch Wäldchen hinan, war stellenweise noch mit schmutzigen Schneekrusten belegt, stellenweise rann die Gieß und stellenweise ging es über aperen Rasen. Bei jeder Wegbiegung blickte ich scharf aus, ob uns nicht der liebe Heiland entgegenkäme. Endlich sah ich von ferne aus dem Schachen hervortretend die Gestalt; sie schwankte langsam heran, kam immer näher, und als sie ganz nahe, war es nicht der liebe Heiland, sondern das alte Weiblein, welches mit dem Schlüssel von der Kapelle herkam.

»Jetzt wird doch einmal schön' Wetter werden,« redete sie der Tritzel an.

»Ja, Zeit wär's,« sagte die Alte und trippelte fürbaß.

Als wir sie nicht mehr sahen, sagte der Tritzel: »Das ist sauber, jetzt hat uns die gewiß die Kapellen zugesperrt!«

»Ich lauf' ihr nach, daß sie wieder zurückgeht,« war mein Vorschlag.

»Ah geh', hast denn du kein Herz für alte Leut'!« verwies er mir, »den Weg mehrmal hin und wieder machen, wie ein Hundel! Die geht nicht mehr auf ihren ersten Fußen wie du! Wir werden uns schon helfen.«

Bei einer Wegzweigung fragte mich der Tritzel: »Geht's da links nicht hinauf zum Schützenhof?«

»Ja, da geht's hinauf zum Schützenhof.«

»Ist's wahr, daß er so viel' Sachen haben soll, der alte Schützenhofer?«

[197] »Ja, sie sagen, daß er reich ist,« war die Antwort.

»Nachher kommt der Schützenhofer in die Höll'. Die Reichen müsse alle hinab,« sagte der Tritzel. »Aus Nächstenlieb' sollte man machen, daß sie in den Himmel kommen.«

»Ist eh wahr,« gab ich bei.

Endlich kamen wir auf den Waldanger. Da lag der Schatten, nur die Baumwipfel standen im Sonnenschein. Auf dem Anger gab es noch Schnee, auch auf dem Dache der Kapelle lag er und ließ am Rande tropfende Eiszäpfchen herabhängen. Als wir dem Eingange nahe kamen, zog der alte Tritzel den Hut vom Haupt und glättete mit der anderen Hand sein graues Haar. Dann drückte er an der Türklinke. Da gab nichts nach, und er blickte mich betroffen an.

»Ja, weil sie zugesperrt hat,« sagte ich.

»Freilich hat sie zugesperrt, du Narr, sonst wär' es offen!« schnarrte er mich an. Das war mir zuwider. Folgerichtig war mein Wort und seines ebenfalls, aber warum denn so anschnarren!

Er ging rings um die Kapelle, als suche er einen zweiten Eingang. »Schau du!« rief er plötzlich, »da ist ein Fenster. Der Laden geht auf, so! Es ist zwar nicht groß, aber eine Spindel wie du kann hinein!«

»Eine Spindel wie ich,« war mein Aufbegehren; »nein, da schlief' ich nicht hinein!«

»Ei freilich schliefst hinein, Buberl. Nachher schiebst von innen an der Tür den Riegel weg und laßt mich ein; wir knien uns hin vor das Kreuz und beten eins miteinand'.«

Vor das Kreuz hinknien und beten, das war freilich verlockend, denn ich hatte den gekreuzigten Jesus sehr lieb und wollte ihm mit dem Gebet eine Freude machen. Ich ließ es also geschehen, als der Tritzel mich empor hob, ins Fenster steckte und tapfer nachschob, weil es doch ein bißchen eng [198] herging an diesem Himmelspförtlein. Ein Ruck, und ich kollerte drinnen hinab. Auf einen Schrei, den ich ausgestoßen, fragte er draußen: »Hast du dir weh getan?«

»Weiß nicht, es ist finster,« war die Antwort, denn ich konnte es nicht sehen, ob das Nasse an den Nüstern Blut war oder etwas anderes. Hernach machte ich mich an die Tür. »Schieb' den Riegel zurück!« rief draußen der Tritzel.

»Es ist kein Riegel,« berichtigte ich nach längerem Umhertasten.

»Lalli! Wird doch ein Riegel sein. Jedes Schloß hat einen Riegel.«

»Aber das ist ein eisernes Schloß mit dem Blechmantel, und man kann nicht dazu.«

»Ein eisernes? – Du verdammt! hätt' ich bald gesagt, christlich Weih' ausgenommen.« Also er draußen. »Wart', Buberl, greif ans Fenster. Da hast eine Zündholzschachtel. Damit zünd'st die Kerzen an, die auf dem Altar stehen.

– Raspel nur, raspel! Aber du raspelst ja auf der verkehrten Seiten, wo das Weibsbild pickt! Auf der rauhen mußt raspeln! So! Brennt's schon? Richtig, brennt schon, bist ein Buberl, ein braves. Kannst noch Meßner werden, du, oder gar Pfarrer und Bischof, und noch ein bissel später Papst. Ei, das wohl! – Du Buberl, weil du schon drinnen bist, geh' schau, siehst auf dem Altar kein zinnernes Schüsserl stehen?«

»Ja,« antwortete ich, »und sind mächtig viel Kreuzer und Groschen drin.«

»Hat 's die Alte akurat wieder stehen lassen!« sagte der Tritzel draußen in grollendem Tone. »Wenn man halt nicht überall nachschaut! Auf die alten Weiber ist hell kein Verlaß. Für was geht sie denn Brot sammeln bei den Bauern, wegen Kapellendienst, wenn sie doch aufs Geld nicht [199] schaut! Schandbare Leichtsinnigkeit! Mach', Bub, gib's heraus! Das Schüsserl sollst mir herausgeben, das zinnerne Geldschüsserl!«

Jetzt, das kam mir nicht ganz richtig vor.

»Kirchen ausrauben?« sagte ich endlich.

»So ist's! Kirchen ausrauben kunnten sie, die Schelm', wenn man das Geld tät' stehen lassen da in der Kapellen!« sprach der Tritzel. »Kirchengut muß man wahren. Geh', Buberl, gib's heraus, schau, ich g'lang schon.« Reckte den Arm zum Fensterchen herein und krabbelte mit den langen, hageren Fingern in der Luft umher.

»O nein,« war mein Bescheid, »das holt Sonntags allemal der Pfarrer. Kirchenausrauben tu' ich nicht.«

»Kindisch, wer redet denn von so was! Bei dem heiligen Gang so dumm reden! Dich wird unser Herrgott noch einmal recht strafen! Dem Herrn Pfarrer tragen wir das Geld hinab. Der Herr Pfarrer hat mich gebeten, daß ich ihm von der Kreuzkapellen das Geld möcht' holen.«

»So hol's, Tritzel.«

»Wenn ich aber nicht hinein kann. Und du bist schon drinnen. Willst in den Himmel kommen?«

»Ja freilich.«

»So gib mir das Geld heraus!«

Ein kleines Weilchen überlegte ich, da war's, als flüsterte irgendwo jemand: Tu's nicht! Tu's nicht! Und laut war mein Schrei: »Nein, ich tu's nicht!«

»Waldbauernbübel, mach' keine Geschichten!« schmeichelte er draußen. »Dem Herrn Pfarrer muß man das Wort halten. Kannst ihn auch einmal zu brauchen haben. Steig' nur auf die Betbank und gib's heraus. Verstreu' nichts, jeder blutige Kreuzer ist heilig! Na, mach', Bürschel, mach'! Kriegst nachher was von mir!«

[200] Es half ihm nichts. Und als er das endlich einsah, ging er fluchend von dannen. Der Boden knarrte, da er über den Schnee hinschritt gegen den Wald.

Ich war in eine trotzige Stimmung gekommen, ohne eigentlich recht zu wissen, warum. Als es jetzt aber ganz stille war in der dämmerigen Kapelle, und die zwei von mir angezündeten Kerzen wie Totenlichter brannten vor dem Kreuzbilde, da begann mir unheimlich zu werden. Das Blut sah ich an den Händen und Füßen des Gekreuzigten, und als ich so hinausstarrte zum blassen, dornengekrönten Antlitze mit dem gebrochenen Aug', da war's, als bewege sich ein wenig das Haupt. Nur ein einzigmal und dann war's wieder wie früher.

Mein Versuch, vermittels eines Betpultes zum Fenster wieder hinauszukriechen, mißlang; so faßte ich den vom Türmchen niederhängenden Glockenstrick und hub an zu ziehen, aber nicht gleichmäßig, sondern mit heftigen Zügen und in Absätzen, wie man die Feuerglocke läutet. Als die Erschöpfung kam, setzte ich mich an die Altarstufen und wartete auf einen Retter.

Es erschien weder der Tritzel, noch jemand anderer. Schreien und Poltern, neues Zerren am Stricke. Endlich ganz matt geworden, mußte mich der Schlaf übermannt haben. Als ich wieder zu mir kam, flackerte vor dem starren Kreuze nur noch eine Kerze in den letzten Zügen, die andere war niedergebrannt und ausgeloschen. Zum Fenster schaute die Nacht herein. Neu erwachende Angst gab mir zugleich neuen Mut; ich kletterte wieder auf die Betbank, zwängte mich durch das Fenster, diesmal zuerst den Kopf und den rechten Arm hinaus, und jetzt ging es. Ich fiel in den Schnee, blieb aber nicht lange liegen, sondern lief wegshin. Der Boden war gefroren, der Himmel sternenbesäet. Was [201] ich bei all diesen Unternehmungen gedacht habe, weiß ich nicht – sehr viel kaum; wenn der Mensch soviel tut, hat er nicht Zeit zum Denken. Nun aber, als ich über die Felder hinablief und von weitem ein zuckendes Lichtlein sah, das immer näher kam, dachte ich: Am Ende kommt mir jetzt der liebe Heiland entgegen. – Und er war's. Voran schritt ein Knecht vom Schützenhof mit Laterne und Glöcklein, hinter ihm drein der Pfarrer in Chorrock und Stola, an seinem Busen das Sakrament bergend. Alsogleich kniete ich am Wegrande nieder, wie es Sitte ist, und bat um den Segen.

Der Pfarrer blieb stehen und sagte: »Das ist ja der Waldbauernbub. Warum bist du noch aus, so spät in der Nacht?«

Hab' ich denn erzählt, daß der Tagwerker Tritzel mich in die Kreuzkapelle gesteckt, um ihm das Opfergeld herauszulangen, und weil ich es nicht tun wollen, er mich im Stiche gelassen hätte.

»O, dieser Spitzbub!« rief der Knecht vom Schützenhofe aus. »Aber heut' ist sein Krügel 'brochen. Hat den Ostermontag, wo die Leut' im Wirtshaus sitzen, nicht unbenützt lassen wollen. Von der Kreuzkapellen in den Schützenhof, dort beim Bodenfenster einsteigen, Kästen ausrauben, vom Bauer derwischt und niedergeschlagen werden. – Ja, mein lieber Waldbauernbub, das sind Geschichten! Und jetzt ist der Tritzel just beim Sterben. Um den Geistlichen geht's ihm, ich glaub', diesmal ist's sein Ernst. Und so bin ich halt gelaufen bei der Nacht. Jetzt rucken wir wieder an, er wird hart warten.«

Der Pfarrer gab mir den Segen, dann schritten sie weiter. Noch lange sah ich das Lichtlein dahingleiten, bis es endlich zuckend zwischen dem Gestämme des Waldes verschwunden war.

Ein funkelnagelneues Jahr
[202] Ein funkelnagelneues Jahr.

Übrigens so schlimm ist es ja gar nicht. Der Mensch ist allmächtig und allwissend. Allmächtig durch die Phantasie und allwissend durch die Theorie. Er ist der Schöpfer der Begriffe. Er stellt sich was vor und mit dieser beliebigen Vorstellung mißt er alle Dinge. Vorwegs ist ja alles unbegreiflich, aber der Mensch macht sich einen »Begriff«. Der Begriff ist sein Eigentum, sein ganzes Um und Anf. Zum Beispiel: der Begriff von nebeneinander, das ist der Raum. Der Begriff von nach einander, das ist die Zeit.

Wir haben da ein neues Jahr im Kopf. Im Kopf ist es fix und fertig. Dieses »Jahr« ist nicht etwas Gewordenes, es ist etwas Gemachtes. Etwas ganz willkürlich Gemachtes und Eingeredetes. Es hält sich nicht etwa an das durchschnittliche Menschenalter, dann müßte das Jahr an fünfzigmal so lang sein. Es hält sich nicht an den Sonnenlauf, sonst müßte es an einem Sonnwendtage oder an einem Tage der Tages-und Nachtgleiche beginnen. Ohne allen Sinn, nur an lässiges Herkommen geheftet, läßt der Mensch sein Jahr irgend einmal beginnen und nennt den Tag den ersten Jänner. Der letzte Dezember ist zwar von Natur wegen genau so ein Tag, wie der erste Jänner. Aber der Mensch mit seiner Phantasie und Theorie macht zwischen diesen zwei Tagen einen großen Unterschied. Den Unterschied zwischen Greis und Kind.

[203] Da es schon alle Welt so treibt, so kann man es dem phantastisch-wilden Waldbauernbuben nicht verdenken, wenn er am Abend des Silvestertages auf der Anhöhe hinter dem Berghause steht und dem sterbenden Jahre zuschaut.

Spät und mühesam war die Sonne hinter dem Wechselgebirge heraufgestiegen, mit blassem Gesicht und tiefhängendem Kopf kroch sie am Himmel mühsam dahin. Um zehn Uhr vormittags, als die Hausmutter das zweitemal ihr Herdfeuer anblies, kam die Sonne an der kahlen, reifgrauen Esche vorbei; um Mittag war sie erst bei den Fichtenwipfeln. Höher ging's nicht mehr, erschöpft sank sie dem Waldschachen zu und hinter demselben hinab. Der Schein auf dem schneebedeckten Hausdach erblaßte, die Wipfel der Fichtengruppe, die erst wie grünes Gold geleuchtet hatten, wurden schwarz und standen als finstere Zacken in den Himmel hinein. Über den fernen Almen lag glatt und blaß das Leichentuch und hinter ihnen dunkelte feierlich die Nacht herauf, in der allmählich Sternlein zu glimmen begannen, wie Ampeln an einer Bahre. Tagsüber waren von den Dachrändern Tropfen gefallen, zu hören, wie das Ticken von Uhren; das war nun still geworden. An den Dachrändern hingen Eiszapfen – erdwärts wachsend. Auch der Hausbrunnen hatte ein Eismäntelchen angelegt und sein bisher ununterbrochenes Rauschen eingestellt, gleichsam nur noch hinter der hohlen Hand Geheimnisse flüsternd. Die Hühner hatten ihre Stangen gesucht und gackerten nicht mehr, sondern hockten unbeweglich und horchten. Die Rinder im Stalle lagen auf frischer Streu und scharrten im Wiederkäuen mit den Zähnen. Der Vater aber ging würdigen und leisen Schrittes mit einem Rauchgefäß im Hofe herum, beräucherte sein Hab und Gut: das Haus, den Brunnen, die Ställe, den Dunghaufen, die Vorräte und Werkzeuge, die Tiere und die Menschen. Das war [204] sein Segnen am Ende einer Zeit. Denn die Sonne des Jahres war gestorben und versunken.

Trotz der feierlichen Stimmung sagte ein schalkhafter Knecht: »Jetzt wird's lang finster bleiben. Die Sonn' geht erst im nächsten Jahr wieder auf.« Und beim Nachtmahl hieben sie mit den breiten Hornlöffeln tief in die Schüssel: »Brav Sterz essen, heunt! Heuer kriegen wir nix meh'!«

Und dann – es war ja in meinem Vaterhause – legten wir uns schlafen. Die Neujahrsstunde erwarten, das war im Waldhause nicht der Brauch. Der Schlaf des Gesunden, die Leiden des Kranken, die Träume und die Sorgen, das alles war wie in jeder Nacht. Ich aber in meinem Dachkammerbette hatte weder Schlaf noch Schmerzen, weder Träume noch Sorgen – ich wachte, hielt Ohren und Augen auf und wartete auf das neue Jahr. Das Geheimnis der Nacht lag über dem einsamen Hause. Wenn sonst draußen der Wind ging, da ächzte immer ein wenig die Holzwand; heute ächzte sie auch manchmal, aber so, als ob jemand im Sterben läge. Durch das Fenster sah ich Sterne. Sie benahmen sich nicht viel anders als sonst, und doch merkte man, es gehe was Besonderes vor, dort oben. Auch wußte ich's von der Ahne: In der Neujahrsnacht tun die lieben Engelein Sterne scheuern, daß sie schön funkelblank werden fürs neue Jahr. – Unten in der großen Stube schlug heiser röchelnd die Wanduhr. Elf Schläge. Das ist nun die letzte Stunde. Ich hub an zu denken, was in diesem jetzt vergehenden Jahre alles gewesen war. Zu Lichtmeß hatte die Katze den Finken in der »Vogelsteigen« getötet. Zu Ostern hatte mir der Fleischhacker, als er das Kälbel holte, zwei Groschen Futtergeld geschenkt. Eine Woche vor Pfingsten hatte ich mein Taschenmesser mit der Schildkrötenschale verloren. Am Peter- und Paulitag war die [205] Geschichte mit der Tabakspfeife und dem Angstschweiß. Zu Jakobi einen Zahn reißen lassen, hat fünf Groschen gekostet. Zu Michaeli ein Schaf von einem Jagdhund verjagt worden. Drei Tage vor Allerheiligen beim Forellenfangen in den Bach gefallen, vom Fischpächter herausgezogen und geschopft worden. Das waren die hervorragendsten Ereignisse des Jahres. Möglicherweise waren in der Welt noch wichtigere vorgegangen; möglicherweise sogar um mich und in mir selber. Man sieht nur die oberflächlichsten, es geht auch den Erwachsenen nicht anders. Die geheimen Mächte in unserem Innern, die sachte wirkenden Wünsche und Leidenschaften, die Entwicklung von Schuld oder Seligkeit – diese stillen aber großen Schicksalsgewalten, die uns das Jahr über geändert haben, so daß wir am Ende desselben nicht mehr das sind, was wir am Anfang gewesen – selten gedenken wir ihrer bei der Rückschau am Silvesterabend.

Aber die Ereignisse, die flüchtigen, versinken mit dem Jahre. – Noch die letzten Minuten. Die Spannung wächst. Es ist, als ob man einem Sterbenden zusähe bei seinen letzten Atemzügen. Man wünscht, daß es zu Ende wäre, und will ihn doch nicht lassen scheiden. Noch ein Atemzug – und noch einer. – – Und noch einer... Nun schlägt die Uhr. – Es ist aus. Es geht an.

»Hat's nicht einen Schnalzer gemacht irgendwo am Himmel? Nicht einen Ruck, einen Stoß gegeben in der Weltkugel? Nein, die Uhr geht ihren gleichmäßigen Schritt, und der, mit dem sie über den Abgrund gestiegen, war nicht größer gewesen als die anderen.

Ich dachte, in Gottes Namen, jetzt ist das neue Jahr! Und legte mich aufs andere Ohr. Nun schlafen. Neben Sterbenden wacht man, neben Neugeborenen schläft man. Die ersten Stunden des funkelnagelneuen Jahres gehören [206] dem Traum – dem Zukunftsgesichte. Vielleicht kann es weissagen. Doch siehe, auch dieneue Straße ist nächtig und nebelig.«

In einer solchen Neujahrsnacht sah der kleine Waldbauernbub einmal einen Fußsteig, der in der Wildnis steil bergan ging. Ein Knabe mit dem Hirtenstabe stieg munter hinaus. Der Hirtenstab ward zum Wanderstabe – ein neues Land, ein neues Leben in Wort und Geist, ein dornenreiches, freudenreiches, köstliches! – Plötzlich erwachend, wußte ich, es war meine Zukunft. Aber groß verwundert habe ich mich nicht. War es doch in einem der früheren Leben auch einmal so ähnlich gewesen. Ist ja recht, wenn's so kommt, ist ja recht. – Damit legte ich mich aufs andere Ohr. In dem darauffolgenden Jahre kam aber gar nichts, als wieder die Reihe der Kindereien. Der Traum indes wiederholte sich, er gehörte zur Art jener Träume, die immer wieder einsetzen und weiterspinnen und mit denen man allmählich so vertraut wird, daß sie neben dem wirklichen Leben wie ein zweites wirkliches Leben einherranken, bis endlich die beiden Leben, das wirkliche und das geträumte, in eins zusammenfließen, um sich zeitweilig wieder zu spalten und gelegentlich auch die Rollen zu wechseln. Hatte ich einst einen glücklichen Büchermann geträumt, so träume ich jetzt den noch glücklicheren Waldbauernbuben.

Nun, und wie war nach solcher Neujahrsnacht der erste Morgen? War er wirklich funkelnagelneu? Nein. Die Fensterscheiben hatten geradeso ihre Eisgärten, wie an gewöhnlichen Wintertagen. Die Sonne ging geradeso trüb und träge auf, kroch geradeso kraftlos über die kahle Esche hin, kam geradeso spät zu den Fichtenwipfeln und ging geradeso schläfrig und frühzeitig zu Bette, wie gestern. Und doch – es war eine andere Sonne! Gestern konnte sie nicht [207] empor, weil sie eine alte Frau war, heute kann sie nicht, weil sie noch ein Kind ist.

Die Sonne hatte dem Buben aber schon Gedanken gemacht. Da stimmte etwas nicht.

»Vater, wie ist denn das, daß über dem Wechselgebirge alle Tage eine Sonne ausgeht?«

»Mein Kind, das ist die Allmacht Gottes.«

»Ja, hat Gott denn so viele Sonnen im Sack?«

»Kind, ich sage es dir noch einmal, das ist die Allmacht Gottes.«

Dann aber kam der Schulmeister. Zuerst der kleine und hernach die großen, und die Schulmeister wollten gar nicht mehr aufhören. Sie stellten die Welt auf den Kopf, so daß der Himmel einmal unten war und die Erde oben. Sie ließen die Erdkugel tanzen, wie mein jüngstes Brüderchen den Schnurrhiesel, den ihm der Vater gemacht hatte. Und sie ließen diese tanzende Weltkugel alle Jahre einmal um die Sonne kreisen, die unendlich größer war als die Erde und anderseits doch wieder unendlich kleiner als andere Sonnen, die im unendlichen Raum unter- und durchein anderwirbelten, jede auf ihrer bestimmten, unabänderlichen Bahn. – So war's, jetzt wußte man's. Aber seit wann es war? Warum es war? Durch wen es war? Das wußte man nicht.

Früher die Welt und die Allmacht Gottes darüber, das war so einfach gewesen. Und jetzt alles so ungeheuerlich und unbegreiflich, tausendmal unbegreiflich. Man hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, kein Dach mehr über dem Haupte, keine Richtschnur mehr in der Hand – man hing nur so da und wurde mitgewirbelt, daß dem armen Waldbauernbuben Hören und Sehen verging.

Früher hatte er gewußt, daß zur Jahreswende das[208] Knistern der Kohlen in dem Ofen, das Miauen der Katze von der Zukunft spricht; hatte gewußt, daß die Form des gegossenen Bleies, das Begegnen gewisser Personen am Neujahrsmorgen von der Zukunft spricht; hatte gewußt, daß man mit Almosen und Beten den Himmel bewegen kann, ein glückseliges Jahr niederzuregnen und herabzulachen. Und jetzt sagte der Schulmeister, auf das alles sei kein Verlaß. Und wenn der Knabe fragte, auf was denn eigentlich ein Verlaß wäre, wußte der alte Herr keine rechte Antwort. Er suchte lange nach einer herum und sagte schließlich ganz leise: Urkraft. Allmacht. Weltgeist. – Gott.

Wie? – Allmacht? Gott?

So war wieder ein funkelnagelneues Jahr gekommen. Es stand im Glanze des Himmels. Trotz allem Leide es war zum Jauchzen.

Wenn nun die Menschen, bangend vor dem Rollen der Zeiten, draußen in der starren Schneelandschaft nachsinnen den ewigen Dingen, oder wenn sie in der Kirche beten, so andächtig, wie man das ganze Jahr hindurch nicht beten sieht, da sagt der alte Waldbauernbub leise vor sich hin: Bange sein sollen wir nicht, wir sollen freudig sein. Und wenn in der langen Winternacht alles zu ersterben droht und das zitternde Menschenherz beim Jahresbeginn sich fragt: Werde ich mich noch einmal durchzuschlagen vermögen? Und wenn am Fenster ein Sarg vorbeigetragen wird, gerade am Neujahrstage, und der Abergläubische nichts gesehen haben will und doch des unheimlichen Zeichens nicht zu vergessen vermag, da sagt der alte Bub: Bange sein sollen wir nicht, wir sollen freudig sein. Der Herr der Zeiten hebt die Sonne höher von Tag zu Tag und läßt sie hinfliegen über Winter und Sommer, über Sarg und Wiege. Das irdische Jahr mit all seinem Wandel, nichts bedeutet [209] es vor Gottes Ewigkeit, der an Größe nur eines standhält – die unsterbliche Seele des Menschen. Vor dieser sind alle Jahresläufe und alle Geschicke im letzten Sinne ohnmächtig. Arm in Arm mit Gott ist sie die Schöpferin der Zeit und die Beherrscherin des Raumes, schreitet groß und des ewigen Lebens froh über Welten und Sonnen dahin.

So ist der alte Bub vom kindlichen Glauben durch die Erkenntnis gegangen und mit der Erkenntnis wieder zum Glauben gelangt. Und so – denkt er – möchte allen, die guten Willens sind, endlich wieder ein mal kommen ein funkelnagelneues, ein glückseliges neues Jahr, eine Zeit göttlicher Weltfreudigkeit.

Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen saß
[210] Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen saß.

Noch viel seltsamer als diese Dinge waren, ist jenes Erlebnis gewesen, das hier erzählt wird.

Mein Oheim, der Knierutscher Jochem – er ruhe in Frieden! – war ein Mann, der alles glaubte, nur nicht das Natürliche. Das Wenige von Menschenwerken, was er begreifen konnte, war ihm göttlichen Ursprungs; das Viele, was er nicht begreifen konnte, war ihm Hexerei und Teufelsspuk. – Der Mensch, das bevorzugteste der Wesen, hat zum Beispiel die Fähigkeit, das Rindsleder zu gerben und sich Stiefel daraus zu verfertigen, damit ihn nicht an den Zehen friere; diese Gnade hat er von Gott. Wenn der Mensch aber hergeht und den Blitzableiter oder gar den Telegraphen erfindet, so ist das gar nichts anderes als eine Anfechtung des Teufels. – So hielt der Jochem den lieben Gott für einen gutherzigen, einfältigen Alten (ganz wie er, der Jochem, selber war), den Teufel aber für ein listiges, abgefeimtes Kreuzköpfel, dem nicht beizukommen ist und das die Menschen und auch den lieben Gott von hinten und vorn beschwindelt.

Abgesehen von dieser hohen Meinung vom Luzifer, Beelzebub (was weiß ich, wie sie alle heißen), war mein Oheim ein gescheiter Mann. Ich verdankte ihm manches neue Linnenhöslein und manchen verdorbenen Magen.

Sein Trost gegen die Anfechtungen des bösen Feindes und sein Vertrauen war die Wallfahrtskirche Mariaschutz [211] am Semmering. Es war eine Tagreise dahin und der Jochem machte alljährlich einmal den Weg. Als ich schon hübsch zu Fuße war (ich und das Zicklein waren die einzigen Wesen, die mein Vater nicht einzuholen vermochte, wenn er uns mit der Peitsche nachlief), wollte der Jochem auch mich einmal mitnehmen nach Mariaschutz.

»Meinetweg',« sagte mein Vater, »da kann der Bub gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein.«

»Behüt' uns der Herr,« rief der Jochem, »daß wir das Teufelszeug anschau'n! 's ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr.«

»Kann auch sein,« sagte mein Vater und ging davon.

Ich und der Jochem machten uns auf den Weg; wir gingen über das Stuhleckgebirge, um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kommen, in welchem nach der Leut' Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als wir aber auf dem hohen Berge standen und hinabschauten auf den Spitalerboden, sahen wir einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen, der Tabak rauchte.

»Jessas Maron!« schrie der Jochem, »das ist schon so was! spring' Bub!« – Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges hinunter.

Gegen Abend kamen wir in die Niederung, doch – entweder der Jochem war hier nicht wegkundig oder es hatte ihn die Neugierde, die ihm zuweilen arg zusetzte, überlistet, oder wir waren auf eine »Irrwurzen« gestiegen – anstatt in Mariaschutz zu sein, standen wir vor einem ungeheuren Schutthaufen und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß [212] und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein.

Mein Oheim stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf; endlich murmelte er: »Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraßen sein. Aber derlogen ist's, daß sie da hineinfahren!«

Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loche. Weiter hin gegen Spital in der Abendsonne stand an der eisernen Straße ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange und eine der Kugeln ging wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken. Doch standen wir wie festgewurzelt.

»Oheim Jochem,« sagte ich leise, »hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erden?«

»Ja, freilich, Bub,« entgegnete er, »es donnert was! es ist ein Erdbiden (Erdbeben).« Da tat er schon ein kläglich Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. Und hintenher

»Kreuz Gottes!« rief der Jochem, »da hängen ja ganze Häuser dran!« Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an der Lokomotive wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging's, und ein solches Brausen war, daß einem der Verstand still stand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen! fiel's mir noch ein. Da [213] hub der Jochem die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: »Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig ins Loch!«

Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen, nur ein Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden, bloß der Boden dröhnte und aus dem Loche stieg still und träge der Rauch.

Mein Oheim wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und starrte in den Tunnel.

Dann sah er mich an und fragte: »Hast du's auch gesehen, Bub?«

»Ich hab's auch gesehen.«

»Nachher kann's keine Blenderei gewesen sein,« murmelte der Jochem.

Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen aus mehreren Schachten Rauch hervorsteigen. Tief unter unseren Füßen im Berge ging der Dampfwagen.

»Die sind hin wie des Juden Seel'!« sagte der Jochem und meinte die Eisenbahnreisenden. »Die übermütigen Leut' sind selber ins Grab gesprungen!«

Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still; die großen Stallungen waren leer, die Tische in den Gastzimmern, die Pferdetröge an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst der stolze Beherrscher dieser Straße, lud uns höflich zu einer Jause ein.

»Mir ist aller Appetit vergangen,« antwortete mein Oheim, »gescheite Leut' essen nicht viel, und ich bin heut' um ein Stückel gescheiter worden.« Bei dem Monumente Karls VI., das wie ein kunstreiches Diadem den Bergpaß schmückt, standen wir still und sahen ins Österreicherland hinaus, das mit seinen Felsen und Schluchten und seiner [214] unabsehbaren Ebene fern dorthin lag. Und als wir dann abwärts stiegen, da sahen wir drüben in den wilden Schroffwänden unseren Eisenbahnzug gehen – klein wie eine Raupe – und über hohe Brücken, fürchterliche Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch hinein, beim andern hinaus – ganz verwunderlich.

»'s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag' die Leut' treiben,« murmelte der Jochem.

»Sie tun mit der Weltkugel kegelscheiben!« sagte ein eben vorübergehender Handwerksbursche.

Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel.

Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und beteten.

Dann genossen wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl und gingen an den Kammern der Stallmägde vorüber auf den Heuboden, um zu schlafen.

Wir lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke und unter der Stimmung des Fremdseins kein Auge schließen, vermutete jedoch, daß der Jochem bereits süß schlummere; da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte:

»Schlafst schon, Bub?«

»Nein,« antwortete ich.

»Du,« sagte er, »mich reitet der Teufel!«

Ich erschrak. So was an einem Wallfahrtsort, das war unerhört.

»Ich muß vor dem Schlafengehen keinen Weihbrunn' genommen haben,« flüsterte er, »'s gibt mir keine Ruh', 's ist arg, Bub.«

»Was denn, Pate?« fragte ich mit warmer Teilnahme.

»Na, morgen, wenn ich kommuniziere, leicht wird's besser,« beruhigte er sich selbst.

[215] »Tut Euch was weh', Oheim?«

»'s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah' dabei sind, probieren wir's?«

Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine Antwort.

»Was kann uns geschehen?« fuhr er fort, »wenn's die anderen tun, warum nicht wir auch? Ich lass' mir's kosten.«

Er schwätzt im Traum, dachte ich bei mir selber und horchte mit Fleiß.

»Da werden sie einmal schauen,« fuhr er fort, »wenn wir heimkommen und sagen, das wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!«

Ich war gleich dabei.

»Aber eine Sündhaftigkeit ist's!« murmelte er, »na, leicht wird's morgen besser, und jetzt tun wir in Gottes Namen schlafen.«

Am anderen Tage gingen wir beichten und kommunizieren und rutschten auf den Knien um den Altar herum. Aber als wir heimwärts lenkten, da meinte der Oheim nur, er wolle sich dieweilen gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmeringbahnhof sehen, und wir lenkten unseren Weg dahin.

Beim Semmeringbahnhof sahen wir das Loch auf der anderen Seite. War auch kohlfinster. – Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Oheim unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen.

»Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht,« sagte der Bahnbeamte lachend.

»Aber wenn wir absteigen wollen!« meinte der Jochem.

»Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zweiunddreißig Kreuzer Münz.«

[216] Mein Oheim meinte, er lasse sich was kosten, aber soviel wie die hohen Herren könne er armer Mann nicht geben; zudem sei an uns beiden ja kein Gewicht da. – Es half nichts; der Beamte ließ nicht handeln. Der Oheim zahlte; ich mußte zwei »gute« Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewaltige Ding wolle nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte – da stand es still.

Wie ein Huhn, dem man das Hirn aus dem Kopfe geschnitten, so stand der Oheim da, und so stand ich da. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen; da schupfte der Schaffner den Jochem in einen Wagen und mich nach. In demselben Augenblicke wurde der Zug abgeläutet und ich hörte noch, wie der ins Gelaß stolpernde Jochem murmelte: »Das ist meine Totenglocke.« Jetzt sahen wir's aber: im Wagen waren Bänke, schier wie in einer Kirche; und als wir zum Fenster hinausschauten – »Jessas und Maron!« schrie mein Oheim, »da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!« – Jetzt wurde es finster und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir von Wasserfällen umgeben, und ein-ums andermal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde.

Der Jochem hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: »In Gottes Namen. Jetzt geb' ich mich in alles drein. Warum bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.«

Zehn Vaterunser lang mochten wir so begraben gewesen sein, da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen und die Bäume und wir fuhren im grünen Tale.

Mein Oheim stieß mich an der Seite: »Du, Bub! Das [217] ist gar aus der Weis' gewesen, aber jetzt – jetzt hebt's mir an zu gefallen. Richtig wahr, der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht abgesessen. Ich denk', Bub, wir bleiben noch sitzen.«

Mir war's recht. Ich betrachtete das Zeug von innen und ich blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden. Und mein Oheim rief: »Na, Bub, die Leut' sind gescheit! Und daheim werden sie Augen machen! Hätt' ich das Geld dazu, ich ließe mich, wie ich jetzt sitz', auf unseren Berg hinausfahren!«

»Mürzzuschlag!« rief der Schaffner. Der Wagen stand; wir schwindelten zur Tür hinaus.

Der Türsteher nahm uns die Pappeschnitzel ab, die wir beim Einsteigen bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. »He, Vetter!« rief er, »diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt's nachzahlen, und zwar das Doppelte für zwei Personen; macht einen Gulden sechs Kreuzer!«

Ich starrte meinen Oheim an, mein Oheim mich. »Bub,« sagte dieser endlich mit sehr umflorter Stimme, »hast du ein Geld bei dir?«

»Ich hab' kein Geld bei mir,« bekannte ich.

»Ich hab' auch keins mehr,« murmelte der Jochem.

Wir wurden in eine Kanzlei geschoben, dort mußten wir unsere Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns beide war und das die Herren nicht anrührten, ein hart Rindlein Brot, eine rußige Tabakspfeife, ein Taschenfeitel, etwas Schwamm und Feuerstein, der Beichtzettel von Mariaschutz und der lederne Geldbeutel endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messingamulettchen, das der Oheim stets mit sich trug im festen Glauben, daß sein Geld[218] nicht ganz ausgehe, solange er das geweihte Ding im Sacke habe. Es hatte sich auch bewährt bis auf diesen Tag – und jetzt war's auf einmal aus mit seiner Kraft. – Wir durften unsere Habseligkeiten zwar wieder einstecken, wurden aber stundenlang auf dem Bahnhofe zurückbehalten und mußten mehrere Verhöre bestehen.

Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da, auf ehrlichen Füßen wandernd, wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer Nacht zurückzulegen.

Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, murmelte mein Oheim: »Beim Dampfwagen da – 's ist doch der Teufel dabei!«

Als ich den Kaiser Josef suchte
[219] Als ich den Kaiser Josef suchte.

Ich habe mich unversehens in die reiferen Jahre herauferzählt und muß jetzt jenes Erlebnis nachholen, das der junge Waldbauernbub einst gehabt und der alte nachher aus dämmernder Erinnerung wiedergegeben hat.

Heut', mein lieber Waldbauernbub, heut' magst du deine Füße in meine Schuhe stecken, aber dazumal bin ich noch selber barfuß gegangen, hab' dir nicht helfen können, und wir haben allzwei nicht gewußt, daß es eine arge Sach' ist, wenn man mit nackten Füßen den Schafen nach über Stoppelfelder laufen, über Steinhaufen klettern, über Brennesseln springen muß. Hatten denn die Schafe und die Ziegen Stiefel an? Stiefel nicht, aber Schlappschühlein wohl.

Nur nicht erst auf die Kälte warten. Wir liefen und hüpften wie die Lämmlein, bis die Sonne den Reif aufleckte, als ob er Zucker gewesen wäre. Hätten wir dazumal nur von jenen Dichtern schon was gewußt, welche aus Tautropfen Diamanten machen, wir hätten uns leicht ein warmes Gewand kaufen mögen; in mancher Morgenfrüh' hing jeder Grashalm voll von Diamanten. Aber so schön vermochten wir uns das Schäferleben nicht auszumalen, als jene poetischen Leute es können, die noch nie mit nackten Füßen in Reif und Tau gestanden haben.

Ein Höslein hattest du an, von dem ich gesehen, daß es nicht mehr ganz tadellos war, wenn deines Vaters langer Zwilchrock die zweifelhaften Stellen nicht verdeckt hätte.

[220] Deine Mütze, die – wenn die Sonne schien – mehr schadete als nützte, hättest wegtun mögen, denn sie zwängte die dichten buschigen Haare ein, die sonst dem Gesichte Schatten zu geben imstande gewesen wären. Ei, was lag dir am Schatten, du blasser Waldbauernbub, blicktest ja ganz geflissentlich in die Sonne hinein, wolltest ein gebräuntes Gesicht haben, wie der Knierutscherjakob.

Wenn man die Schafe aus dem Stalle läßt und so lange sie noch hungrig sind, laufen sie ganz gottlos über die Weide hinaus – das weißt. Jedes will das vorderste sein und den ausgiebigsten Bissen erhaschen; erst später kommen sie zur Ruhe und ist der Heißhunger gestillt, so grasen sie behaglich. –

Und das letzte, Halterbübel, gab für dich die rechte Zeit. In den Himmel magst schließlich auch nicht immer hineingucken – das macht dumm. Du steigst auf einen Steinhaufen, wärmest dir dort an den besonnten Platten die Hände, die Füße und was sonst noch zu wärmen ist, und dann – ja jetzt hebt ein anderes Kapitel an – du zerrst aus den Weiten des vielsäckigen Rockes ein Buch hervor, legst es auf dein lebendig Lesepult, die Knie, und hebst zu blättern an. –

Ja, das war derselbige Junge. Mit den Leuten ging er nicht allzugern um, sie waren meist recht roh oder bissig – mögen keinen, der nicht in allem so ist, wie sie sind. So unterhielt er sich mit solchen, die oft weit, weit von ihm waren, vielleicht in prächtigen Palästen, vielleicht längst vermodert. Mit solchen ging der barfüßige Waldbauernbub um und mit solchen saß er auf dem Steinhaufen. Sie waren nicht die dümmsten, sie wußten über alles zu sprechen, von allem zu erzählen, bei allem zu raten, waren oft recht spaßhaft noch dabei. Die ganze Welt ist nicht voll Stoppelfelder und Steinhaufen und alle Leute gehen nicht barfuß.

[221] Meere und Schiffe, Urwälder und Städte gibt es, wundervolle Kunstwerke und allerlei Unglaubliches. – Wenn der kleine Bursche des Nachts in seiner Strohkammer schlief, so träumte er davon.

Jetzt auf dem Steinhaufen, da las sich's besonders von der Wienerstadt gut. Vom Stefansturm, von der Türkenbelagerung, vom Volkssänger Augustin, vom Kaiserhaus, vom Kaiser Josef, der unter das Volk gegangen war, um dessen Leiden und Wünsche zu erfahren; der unter die Bauern gegangen war, um zu sehen, wie sich so ein Pflug angreift. – So lieb gewannst du den guten Kaiser Josef, daß du das Buch an die Wange drücktest, weil der Kaiser Josef selber nicht da war. Bilder waren im Buche und es schien die Sonne drauf; aber du wendest dein Auge drüber hinaus. Dort hinter dem blauen Wechsel liegt die Wienerstadt. –

Wenn der Kaiser zu den Bauern gegangen ist, warum sollte der Waldbauernbub nicht zum Kaiser gehen? In einem oder zwei Tagen wäre er dort – wäre in Wien, ginge ins Kaiserhaus, auf den Stefansturm, ginge zum Donaustrom, wo Schiffe fahren, sähe alles. Spräche dann mit den Wienern, fragte, wie es ihnen gehe, wie sie's trieben, gäbe sich als den Waldbauernbuben aus Alpel zu erkennen, welcher ihre Bücher lese – und schlösse etwa Freundschaft mit ihnen.

Und da ist – du armer kleiner Bursche – ein Sehnen und eine Unruhe in dich gekommen, daß du gar nicht mehr zu lesen vermochtest im Buche, gar nicht mehr zu hocken auf dem Steinhaufen. Mit den langen Ärmeln, die weit über die Finger hinausgingen, hubst du an zu fächeln, jagtest die Schafe heimwärts, liesest zu deiner Mutter.

»Mutter, ich möcht' so viel gern nach Wien gehen.«

»Wirst schon hinkommen, wenn du einmal Soldat bist.«

[222] »Nein, heute. Und ich erzähl' dem Kaiser, wie es uns geht, und daß er auch einmal ins Alpel kommen möcht'.«

»Du Närrisch, was fällt dir denn ein?« rief die Mutter, »wer tät' denn die Schaf' halten und wo nähmst du das Gewand und das Geld her? Wirst jetzt auf Wien gehen!«

»Die Schaf' tät' ich schon in die Hald' (eingezäunte Weide) sperren. Den Rock liehe mir der Knierutscherjakob, die Hosen hab' ich selber und das Geld hab' ich auch selber & #x2014 weil ich ja vorgestern mein Lampel verkauft hab'.«

Darauf die Mutter: »Du bist gar so viel trotz (kühn), Bub! Aushalten wollt' ich dich nicht; man weiß ja alleweil nicht, wie man mit dir dran ist. Man versteht's nicht. Meinetweg' kannst schon gehen, gleichwohl ich mich genug werde grimmen (sorgen) müssen um dich. Frag' den Vater.«

Der Vater aber sagte: »Du Halbnarr!«

Hub das Waldbauernbüblein an zu murren & #x2014 es könne nicht allfort schafhalten, es wolle ihm keine Ruh' geben, es müsse Wien sehen; nachher möchte es schon wieder daheim bleiben und brav arbeiten.

»Was tät' denn das nutzen?« rief der Vater unwirsch, »möcht' wissen, was du z' Wien zu tun hättest! Willst zum Kaiser um Geld, so geh'! Glaub' nicht, daß er dir eins gibt, ehvor tragst du eins ins Wien. Und nicht einmal eine Wallfahrt kunntst dabei verrichten.«

»Eine Wallfahrt kunnt er just wohl dabei verrichten,« redete die Mutter drein. »Nicht weit von Wien ist ja Mariaschutz, da soll er ein Gebitt machen, daß doch die Saukrankheit einmal aufhören möcht'. Heut' hat mir die Alte auch schon brennheiße Ohrwaschel.«

»Das ist schon wieder ganz was anders,« sagte der Vater, »wenn er eine Kirchfahrt will verrichten und sein eigen Lampelgeld dabei brauchen – ich geb' keinen Groschen & #x2014 [223] so mag er meinetwegen schon gehen. Aber Bub, daß du mir übermorgen wieder daheim bist, sonst kunnt ich dir für nichts gutstehen.«

Die Bewilligung in aller Form.

Und jetzt war's eine Freude! In zwei Stunden war alles fertig. Die Schafe staken in der Halde und der Hirt in des Knierutscherjakobs Gewand. Noch während auf dem Tische Suppe und Sterz stand, auf daß er sich für die Reise satt esse, redete ihm die Mutter zu, die Nacht noch daheimzubleiben und erst am nächsten Morgen zu wandern. Vergeblich Bemühen. Der kleine Bursche packte auf und sagte: »Jetzt geh' ich.«

Und die Mutter sprach: »Hast alles?«

»Ja.«

»Geh' nicht zu geschwind und trink' nicht zu jäh', und sei schön ordentlich, wenn du unter fremde Leut' kommst.«

»Bet' fleißig,« setzte der Vater bei.

Und dann ging er & #x2014 der Hirtenbursche & #x2014 fort von seiner Elternhütte in den Waldbergen & #x2014 ging in eine große Stadt & #x2014 er ahnte nicht wohin.

An einem hellen Maitag war's, als ich von dem Berge niederhüpfte und hinausging die Waldstraße des Alpsteigs gegen das breite Mürztal. Wer nach dem Kleide frägt: ein dunkelgraues Linnenhösel hatte ich an und Kuhlederschuhe, hübsch mit eisernen Nägeln beschlagen, daß die Sohle geschützt war, und trug eine braune, grün ausgeschlagene Lodenjacke. Der Brustfleck war aus rotgefärbter Leinwand, das Hemd aus grauer; dieses hatte am Halse einen breitumgeschlagenen Kragen, der mit einem blauen, etwas wulstigen Tuche zusammengebunden war, so daß der Hals nicht [224] viel dünner aussah, als der Kopf. Auf dem Kopfe saß meines Vaters Hut, der ging mir bis über die Augen herein und tanzte stets ein weniges, so oft ich mich rasch wendete. In der einen Hand trug ich das Bündel mit dem Brote und dem Eierkuchen, den mir die Mutter mitgegeben hatte, trotz meines Sträubens; mir war es nicht recht faßlich, wie man in Wien an das Essen denken könne. In der anderen Hand trug ich den Stock, den ich das einemal fest in den Boden stieß, das anderemal lustig in den Lüften schwang, so wie es die Handwerksburschen machen, wenn sie die Welt durchwandern.

Fröhlich kam ich an Krieglach und Langenwang vorbei. Heute würdigte ich diese Orte, die sonst meine Städte gewesen waren, kaum eines Blickes. Wer nach Wien geht! – Als ich ins obere Tal kam, ging die Sonne unter und ein blauer Dunststreifen lag über den Weidenbüschen der Mürz.

Ich sprach bei einem Bauer zu, bei dem ich nicht ganz unbekannt war, weil er mit meinem Vater öfters im Viehhandel stand. – Ob ich über Nacht im Stalle schlafen dürfe?

»Habt ihr jetzt zur Anbauzeit denn nichts zu tun daheim, daß du so herumgehst?« fragte der Bauer.

»Ich geh' zum Kaiser Josef!« antwortete ich trotzig.

Sah mich an. – »Der Bub – den kenn' ich,« sagte er zu seinen Leuten, »der hat kuriose Flausen im Kopf, der ist alles imstand'. Der red't mit dem Kaiser, wie unsereiner mit dem Viertelrichter. Von dem hören wir was, wenn er nach Wien geht – werdet es schon sehen. – Na ja freilich kannst schlafen im Stall.«

Das war die erste Nacht in der Fremde. Das Heu hatte schon einen anderen Duft, als wie jenes daheim in Alpel. – Ich kannte einen Oberländer, der Soldat war und gar sehr an Heimweh litt. Er hatte aber nichts daheim, weder [225] Vater noch Mutter, noch Geschwister, noch Haus und Hof, noch einen Schatz. Er wußte lange selbst nicht, warum er sich so sehr nach seinen Bergen sehnte; endlich, als er einmal über ein ungarisches Moor ging, wo er gemähtes Gras roch, wurde es arg – wurde ihm klar, er habe das Heim weh nach dem Alpenheu. –

Am anderen Morgen – es stand noch das weiße Mondkipfel am Himmel – war ich schon auf der Straße. – Das Mondkipfel in die Milch der Milchstraße tunken & #x2014 wäre das nicht ein gutes Frühstück? –

Am Gansstein stand ich still und blickte hinan zur Felswand, die über den Tannenwald aufragt. In diesem Felsen soll ein großer Schatz verborgen sein – ein Sonntagskind könnte ihn heben. Wozu auch, hatte ich doch mein Lampelgeld in der Tasche!

In Mürzzuschlag schnalzten schon die Fuhrleute durch den Markt, und beim Fleischhauer und beim Bäcker gingen Weibsbilder mit Handkörben aus und ein. Am Eckhause saß ein Weib, das hatte Semmeln und Äpfel. Äpfel im Mai – das muß eine gute Gegend sein!

Bei Spital gab mir ein Reisender, dem ich mich angeschlossen, den Rat, daß ich fechten solle.

»Mit wem denn?« fragte ich, und als ich wußte, wie er's gemeint, antwortete ich: »Nein, das mag ich nicht. Ich hab' mein Lampelgeld.«

Endlich bin ich zum Semmering gekommen. Dort habe ich an die Eisenbahnfahrt gedacht, die ein paar Jahre früher mit meinem Oheim Jochem so kecklich unternommen worden. Ich hatte Heimweh nach dem Oheim, wäre der bei mir, es würde sicherlich wieder gefahren – so arg wir auch dazumal aufgesessen waren.

[226] Ich schritt die Höhe hinan und freute mich der Lärchenbäume, die an beiden Seiten des Weges standen und mir heimlich waren, weil solche auch in unserem Walde wuchsen. Oben, wo der große Kaiserdenkstein steht, setzte ich mich ein wenig ins Grüne und trocknete mein Angesicht. Ob sie auch dem Kaiser Josef, wenn er einmal gestorben sein wird, so ein Denkmal setzen? Da müßt' wohl auch der Pflug hinauskommen!

Hier ist die Grenze. Wie liegt das Österreicherland so tief unten! Und dort weit draußen hinter den Bergen die graue Ebene mit den kleinen weißen Punkten. Dort steht sicherlich die Wienerstadt.

Als ich jenseits hinabschritt, war die Straße recht einsam und ich hörte nichts, als manchmal einen fernen Pfiff herüber von den wilden Wänden, in denen der Eisenbahndrache seine Höhlen und Löcher gebohrt hat. In solcher Fremdheit wurde mir schier bange.

Bevor man noch in das Tal von Schottwien hinabkommt, steht rechts, abseits von der Straße, eine Kirche mit zwei Türmen – Mariaschutz. Ich ging hin, um die von meinen Eltern ausgedungene Andacht zu verrichten. Ich habe seither für mich selber kaum einmal so stark gebetet, als damals für die Säue daheim, welche uns eine böse Krankheit dahinzuraffen drohte, eine Krankheit, die etliche Tage früher bei einem der Nachbarn das ganze hoffnungsvolle Schweinevölklein unter die Erde gebracht hatte. Ich bedauerte einen solchen Verlust allerdings auch darum, weil er uns für das nächste Jahr den Weihnachts- und Osterbraten kostete, zumeist aber darum, weil ich das Leid meiner Mutter erwog, deren einziges Glück es war, uns zuweilen einen guten Bissen auf den Tisch zu bringen. Als ich der Mutter gedachte, hub ich an zu flennen, schämte [227] mich aber dann vor der lieben Frau auf dem Altare, weil sie leicht vermuten konnte, ich weine um die Säue.

Dann saß ich unter der Linde und das Herz war mir so weich geworden, daß ich sann, wie es wohl wäre, wenn ich nun wieder umkehrte?

Aber das Wien! Das Kaiserhaus und der großmächtige Herr, der es mit uns Bauersleuten so gut meint!

Ich wanderte weiter. Wanderte durch Schottwien, und zwar eiligen Schrittes, bevor von den drohenden Hängen ein Felsblock niederginge; wanderte an Gloggnitz und anderen Orten vorüber, sah merkwürdige Häuser und Schlösser mit kirchturmhohen Rauchfängen. Jetzt zog auch wieder die Eisenbahn neben der Straße hin und sie war so glatt und eben wie früher, und man sah es ihr nicht an, daß sie aus unterirdischen Wildnissen herabkam.

Hinter Gloggnitz fiel es mir ein, das Lampelgeld wäre auch nicht unvergänglich und der reisende Mensch müsse alles probieren auf der Welt. In einem Bauernhause hielt ich um Mittagsessen an und bekam Sauerkraut. Es schmeckte, ich sagte schön Vergelt's Gott, und dachte bei mir: Jetzt wenn ich nur noch einen Speckknödel hätte! Bei dem nächsten Hause hielt ich wieder um Mittagsessen an und bekam ebenfalls Sauerkraut. Es schmeckte etwas minder, aber ich sagte Vergelt's Gott und ging. Als ich hierauf in schöner Beharrlichkeit beim Nachbar das drittemal um Essen bat, fluchte mich der Hausherr zur Türe hinaus; ein »Bettelgesindel« bekam ich nachgeworfen – an dem hatte ich lange zu würgen, es sättigte mich und ich habe das Fechten nicht wieder versucht.

Ost und oft gingen Landjäger mit glänzenden Spitzhauben an mir vorbei. Weiß noch heute nicht, wie es zuging, daß mich keiner angehalten hatte; ich hätte in meiner Lodenrocktasche [228] nur ein Papier gehabt, und zwar die »Sieben Himmelsriegel, sieben kräftige Gebeter, die den, der sie an der Brust trägt, zu Wasser und zu Land von allen Gefahren behüten«. Weiß nicht, ob sie befriedigt hätten, aber, so meinte nachher, als ich die Sache zu Hause erzählte, die Muhm' Kathel: »Hättest nur die Himmelsriegel nicht bei dir gehabt, wurd'st schon gesehen haben, wie dich die Standarn angehalten und zusammengepackt hätten!«

Die Straße war heiß, die Felder ringsum waren grau vor Staub. Die Kuhlederschuhe wetzten die Fersen wund – aber das wird alles gut sein, sehe ich nur erst den Stefansturm.

Als ich zu den Häusern und Gärten kam, auf deren Ortstafel das Wort »Neunkirchen« stand, waren die Berge weit zurückgetreten und mit ihnen auch die Sonne. Die Pappeln, die an der Straße standen, warfen lange Schatten. – Herberg nehmen? Nein – ein rechter Waldbauernbub kommt vor Mitternacht leicht noch nach Wien.

Auf der schnurgeraden Straße, die über das Steinfeld führt, ging ich hin. Links die Bergkette mit den rötlichgrauen Wänden, die sich immer weiter zurückzogen; rechts die Ebene, auf die das Firmament niedergesunken war. Die Straße war still und verlassen, nur an der Bahn, die zur linken Hand mit ihren Strängen hinzog, brauste bisweilen ein Eisenbahnzug vorbei. Ach, was müssen die Leute für Geld haben, die so lustig eisenbahnfahren können! Da rutscht just einer gegen Wien hinaus. Wenn der Zugfuhrmann wüßte, wie mich der Schuh wetzt, er nähme mich mit; eines solchen Bübels wegen dürft's doch nicht um soviel schwerer gehen.

Dann kam der Föhrenwald. Die Sonne war trüb hinter den blauen Bergen niedergegangen; es hub an zu [229] dunkeln und ich sah es ordentlich, wie hinter der weiten Ebene die blaue Nacht herauskam. Leibhaftig! Daheim im Gebirge war der Tag da, oder es war die Nacht da – aber so von weitem herankommen hatte ich die Finsternis niemals gesehen!

Jetzt wird doch bald wo ein Dorf stehen oder ein Haus auf dem handebenen Boden. Nicht? Föhrenwald und Föhrenwald. Dort wird er aus, dort heben die Felder an. Ja, aber nur schmale Streifen, Heidestreifen, dann wieder Föhrenwald. Die Bäume waren klein, aber langästig, zwischen den rötlichen Stämmen sah man tief in die Dunkelheit hinein. Mein Schuhwerk war schneeweiß vor Staub, aber ich vergaß, daß es mich gedrückt hatte, ich vergaß, daß ich müde gewesen war – ich ging und ging.

Die Sterne waren ausgegangen; es waren Bekannte von daheim darunter, es war die Romstraße da. – Wenn ich in Wien gewesen bin, dann gehe ich auch einmal nach Rom und richte beim heiligen Vater einen schönen Gruß aus vom Kaiser Josef. – Wenn der grünfunkelnde Stern dort noch um eine Klafter höher steigt, so ist die Geisterstunde da. Die Geisterstunde mitten in einem großen, fremden Wald... Daheim werden sie jetzt von mir reden. – Mein, wo wird der Peterl schlafen? wird die Mutter sagen. – Oh, wird der Vater antworten, der hockt schon lang wo in einem warmen Nest. Dem, wenn er schon z' Wien ist, läßt der Kaiser ein Bettstadel aufschlagen im Dachboden...

Dieses Wien ist doch weit weg. Wenn nur noch ein Wirt auf ist, bis ich hinkomm'!

Hie und da sah ich ein Licht flimmern, bald blau, bald weiß und bald rot, aber es war kein Gespenst und es war kein Wirtshaus, es war von der Eisenbahn. – Was den [230] Stock betrifft, so hielt ich's für geraten, ihn nicht zu fest auf die Straße zu stoßen. Möglichst still hinschleichen, daß man nichts Schlimmes aufweckt!

So ging es denn fort durch die Nacht und durch den Wald und immer durch Nacht und Wald und Heide. Es war mir angst und bang.

Endlich tauchten vor mir in der Ferne kleine Lichtlein auf. Es wurden deren immer mehr und zuletzt lag ein langer Streifen von Lichtern, und über demselben ragte dort und da eine dunkle Masse empor. Nun war ich plötzlich frisch – jetzt stand ich vor Wien. Vor Wien, wie einst der Türke; aber ich ziehe ein und belagere es mitten in der Stadt. – Sie sind sicherlich noch alle auf und sitzen in ihren Häusern beisammen um den Tisch oder sie spinnen und erzählen sich Geschichten.

Ich brauchte noch eine Weile, bis ich hinkam, aber endlich schritt ich über lauter steinerne Platten, und um mich ragten die dunkeln, hohen Häuser. Auf freier Straße brannten Laternenlichter aus eisernen Kerzen hervor und sie waren so groß und breit, wie ein großer Schwalbenschwanzfalter, wenn er die Flügel ausstreckt. – Hinter gläsernen Wänden, die noch viel schöner beleuchtet waren, als daheim zu Weihnachten das Krippel in der Kirche, lagen Backwerk, Würste, Tücher und anderlei Dinge. Und da gingen Leute herum, links und rechts, auf und ab, und so oft ich an einem vorbeikam, hob ich die Krempe meines Hutes ein wenig und sagte: »Guten Abend.« Aber es hörte mich keiner; das war ein Geräusch überall, noch spät in der Nacht.

Jetzt stand ich vor einem Wirtshause, das hatte auf seiner Wand mit großen Buchstaben aufgeschrieben: »Zum goldenen Hirschen«. In das ging ich hinein und bat um Herberge.

[231] Der Wirt sah mich an, und als ob ich ihm zu groß gewesen wäre, sagte er: »Kein Platz.«

Ich stand da. Und ich verwett' was drauf, daß ich jetzt zu flennen anhub; wenigstens weiß ich, daß die Wirtin daherkam und mich dem Hausknecht überlieferte, mit dem Bedeuten, daß er mir in irgendeinem Winkel des Hauses eine Liegerstatt anweisen möge. Der Hausknecht übergab mich einer Magd. Diese wollte die Aussicht über den Jungen nicht übernehmen und führte mich zum Stallknecht.

Der Stallknecht fettete seine Peitsche ein und sagte zu mir: »Ich merk', dich schummeln sie im ganzen Haus herum.« Da brach ich in helles Gröhlen aus.

»Du Lapp!« rief er, »hier zwischen den Rössern legst dich nachher aufs Stroh – gibst halt Obacht, daß du im Schlaf dem Braunen nicht unter den Bauch kugelst, sonst bist des Mauses. – Seh', magst ein Stückel Speck?« Er aß Speck und Brot und ich war sein Gast. Dann schlief ich zwischen den stampfenden und schnaubenden Rössern.

Und am anderen Morgen, als anstatt der Stallaterne durch ein trübes Fenster der Tagesschein fiel, sah ich, wie zwischen mir und dem Braunen ein Scheidebrett ausgerichtet worden war, das mich vor Gefahr beschützt hatte.

Ich kleidete mich an und fragte meinen Herbergvater, was ich schuldig wäre fürs Dableiben.

»Geh' nur, geh',« antwortete der Stallknecht, »wirst soviel Geld nicht im Sack haben.«

Aber ich legte einen Kupferbatzen auf die Wandleiste, wo er seine Kleiderbürste, den Tabaksbeutel und das Rasierzeug hatte.

Hierauf fragte ich ihn, was er mir raten könne, daß ich in Wien zuerst anfangen solle.

»Willst nach Wien?« sagte er.

[232] Da mag ich ihn angeglotzt haben.

»Bin doch schon da!«

Es ist schrecklich, wenn so ein Stallknecht auflacht aus seiner ganzen Brust. Mir ging's durch Mark und Bein, als er lachte und mir sagte, daß ich nicht in Wien, sondern in Wiener-Neustadt wäre und daß ich noch eine starke Tagereise bis zur Kaiserstadt hätte.

Umkehren? Nein. Ich machte mich in Gottes Namen wieder auf die Wanderung. Als ich ins Freie trat, war das Straßenpflaster so glänzend, daß die Leute, die mit Regenschirmen hin und her eilten, sich fast darin spiegelten. In den Dachröhren rauschte es und von dem grauen Himmel rieselte es nieder. – Macht alles nichts; regnet es, so ist's kühl zu wandern.

Noch einen Blick auf die zwei Türme, die hoch oben durch eine Brücke verbunden waren – des weiteren hatte diese Stadt, die nicht Wien war, für mich keinen Wert.

Hinaus ging's auf schlammiger Straße in den trüben Tag.

Ich kam zu einem Laubwald, in welchem ein zerstreutes Dorf lag – Theresienfeld. – Kommt der Name von Maria Theresia, der Mutter des Kaisers? – Wie immer, ich nahm hier mein Frühstück, eine Schale Rindssuppe. Die gab neuen Mut. Dann ging's wieder fort und fort.

Was doch des Vaters Hut wert ist – und schon gar in der Fremde! Wie auch der Regen rieselte, der kleine Knirps unter den breiten Krempen blieb trocken weit hinab, und hätten die Füßlein nicht immer nach vor- und rückwärts schlagen müssen, sie wären auch noch geborgen gewesen. Aber schwer wurde dieser Hut und noch tiefer sank er über die Augen herab.

Ein Kälberwagen knarrte daher; den Fuhrmann bat[233] ich um Unterstand, da hob er mich unter das Gedache zu den armen, gebundenen Tieren hinaus. – Kälber, kommt ihr etwa auch aus Steiermark? und fahrt nach Wien? Ihr wäret besser daheim geblieben auf den Weiden, für euch ist die Kaiserstadt kein guter Platz. Der Gedanke wurde mir so unheimlich, daß ich wieder auf die Straße sprang und in Regen und Schlamm weiter watete.

Wie waren in dieser Gegend die Wolken träge und schwer, sie lagen ganz auf dem Erdboden! Ich zählte die Straßen- und Meilensteine, las die Tafeln und Wegweiser und immer öfter und öfter zeigte sich der Name »Wien«. Darum wurde ich an diesem Tage weder hungrig noch durstig noch müde. An Dörfern, Märkten und Städten muß ich vorbeigezogen sein, ohne sie vor Regen und Nebel gesehen zu haben. Endlich zur Nachmittagszeit erhob sich ein Luftzug, der zerstreute die regnenden Nebel; sie schoben sich in dichten Ballen an den fernen Bergen zusammen, sie lagen in langen Streifen auf der weiten Ebene und der Himmel wurde blau.

Aber die Gegend war öde. Dort in der Weite gab es noch manchen Turm, manchen Schlot, manches Schloß, manche Ruine. Aber in der Nähe nichts, als gelblich-rote Erde und Ziegelbrennereien. Kaum ein Baum, ein Strauch; nur die traurige Heide. Ich hätte nicht geglaubt, daß das ebene Land, welches mir stets als eine schöne, fruchtbare Gegend vorgeschwebt hatte, so ödweilig sein könne. Und die große Stadt, sollte sie denn nicht zu finden sein? Hier war ja fast die Spur verloren. – Nur rüstig weiter. Die sehr breite und mit vielen schweren Fuhrwerken belebte Straße ging etwas bergwärts, einer sanften Höhung zu, auf der eine Säule stand. Als ich näher kam, wuchs die Säule und zeigte allerlei Zacken und Statuen. Und hinter derselben aus der Talung huben seltsame Dinge an aufzutauchen. [234] Zuerst ein Turm, dann ein zweiter, dann Dächer, dunkle Gründe, dann eine Kuppel um die andere, dann Türme und Türme, Zacken und Spitzen, so weit das Auge reichte, ein dunkelgraues Meer, inmitten aufragend hoch eine schwarze, schlanke Nadel.

Nun – das war Wien, das war's! – – War zwar anders zu sehen, als ich mir gedacht hatte. – Weiße Häuser, frische Gärten vor denselben, schöne Schlösser mit goldenen und silbernen Zinnen, Kirchtürme, einer nach dem anderen mit zinnoberroten Zwiebel köpfen – das war mein Wien gewesen. Hier aber die verworrene, unabsehbare Masse von schwarzen Flächen, Giebeln, Würfeln, Schiefecken, tausendfältig ineinander verklemmt, verschoben und dazwischen finster ragende Massen, dort und da ein Knopf, eine Scheibe funkelnd. Und über all dem ein mattblauer Rauchschleier, der alles noch mehr verwischte und verwirrte. So habe ich's gefunden.

Ich hatte mich auf eine der steinernen Stufen gesetzt, welche die Säule umgaben und hatte hinausgeschaut. Ein seltsames, dumpfes Geräusch war in der Luft und da unten sott und kochte es, summte und brauste es, daß es gar nicht zu sagen ist.

Jetzt trat die Abendsonne hervor und da hub es auf dem weiten, dunkeln, vielgestaltigen Grunde herrlich an zu glitzern, zu funkeln. Und das war die Kaiserstadt. Da stand der Türke, da ist die wilde Revolution gewesen und die Pest, und da hat der liebe Augustin gesungen. Ich hatte wohl davon gelesen! Das ist die Stadt des guten Kaisers Josef. – Welches nur das Kaiserhaus sein mochte und wie ich es morgen würde finden können aus all den anderen heraus? Und dann & #x2014 was ich sagen würde, wenn ich vor ihm stünde?...

[235] Arges Peitschenknallen der blaukitteligen Fuhrleute schreckte mich aus meinem Sinnen. Ich stand auf, ordnete meinen Anzug in den nötigsten Stücken, bog den im Trocknen steif gewordenen Filzhut hübsch zurecht, reinigte im Gras die Schuhe und stieg dann hinab in das wilde Meer der Weltstadt.

Wie es jetzt kam, ist freilich nicht zu beschreiben, denn die es lesen, werden kaum jemals in der Lage gewesen sein, den Eindruck und die Stimmung kennen zu lernen, welche in dem Waldbauernbüblein wirkten, als es einzog in die Wienerstadt. Der Knabe hatte wohl Märchen gehört von Glanz, Zauber und Wunder – aber das war ein Stilleben gewesen in seiner kleinen Seele. Hier die Pracht, die Wunder, die fieberhafte Bewegung und der Lärm. – Diese Paläste, von denen man in der Nacht nur die strahlenden Spiegelwände herunten sah, nicht aber das obere Ende und wie hoch sie in den nächtigen Himmel hinaufragten. Und der Schwarm von Menschen zu Fuß, zu Wagen, zu Pferde, dieses Rasseln, Schrillen, Klirren und Klingen, dieses Hasten, Rennen, Johlen, Schreien durcheinander. –

So gelangte ich durch eine breite Straße (wahrscheinlich die Wiedener Hauptstraße) hinein. Die Gassen wurden immer enger und immer lebendiger – endlich aber war's mit einemmal weit. Ein Platz mit Bäumen, ein Wald mit vielen tausend Lichtern – es war, als ob diese Wiener Bäume lauter Flammenblüten hätten. Ich glitt mit der Menge dahin. Es ging über eine hohe Brücke, es ging durch ein dunkles Tor, wo des Hallens und Schallens kein Ende war. Und als nun vollends die Nacht eingetreten war und nur die hundert Lichter über den gläsernen Wänden blendeten, wußte ich nicht mehr, ob ich im Freien war, oder in den langen Gängen [236] eines Palastes. Die Kärntnerstraße war's. Und das Gedränge fand ich hier derart, daß ich mich in einen Wandwinkel drückte und dort ein wenig abzuwarten beschloß, bis der ärgste Haufen vorüber sei. – Waldbauernbub, das geht nicht vorüber, oder du hättest bis in die späte Nacht warten müssen. So hast auch du dich bald wieder vorangemacht, und als du sahest, daß deine höflichen Grüße von niemandem erwidert wurden, daß die Leute – sonst alle so vornehm gekleidet und weiß im Gesichte – wie toll aneinander vorüberschossen, sich sogar anrannten, drängten und schoben und stießen, da hast du gedacht, du könntest es auch so machen – und damit bist du weitergekommen. Freilich wärest du, trotz deiner schwerbeschlagenen Schuhe, auf den glatten Steinen ein paarmal schier ausgeglitscht und hättest der nächsten Glaswand was angetan. Freilich warst du plötzlich drin unter Roß und Wagen und hast dir schon gedacht, mitten in der Wienerstadt bist hin, aber die Stadtrösser sind gescheit, die treten kein Bauernbübel nieder; wärest du nur erst zwischen den Stadtleuten glücklich durch.

Endlich gingen die Häuser etwas auseinander, um einem noch größeren – schon dem größten Gedränge Platz zu machen. Und da standen ganze Reihen von Fuhrwerken, die warteten gewiß, bis einer aufsaß. Und die Wagen glänzten, wie am Fronleichnamstag die gewichsten Stiefel des Schulmeisters in Krieglach; und jeder Wagen hatte voran zwei Laternlichter, als ob die Rösser ihre Augen hinten hätten.

Über all dem tausendfältigen Gewühle ragte eine ungeheure finstere Masse auf. Das war kein Haus, dazu war es zu riesig und schwarz, kein Berg, dazu war es zu schmal & #x2014 es ging unabsehbar und einsam hinauf in die Nacht.

»Jetzt muß ich schon fragen, was ist denn das?« redete ich einen an.

[237] Zweimal fragte ich, bis er mir Antwort gab.

Weit tat ich die Augen auf und wahrscheinlich auch den Mund. Diese schwarze Wucht war die Stefanskirche! Es war unerhört. Ich suchte den Eingang und fand ihn. Da drinnen war es kühl und dunkel und fast still. Dort und da ging ein Menschlein herum zwischen den schwarzen Pfeilern; dort und da glimmte eine Ampel vor einem Bildnis. Ich hatte gar keinen Maßstab für die Schönheit und Größe dieses Baues, mir war er nur fremd und unheimlich. Trotzdem fühlte ich, daß es eine Kirche war und als solche ein heiliger Ort. Müde und erschöpft setzte ich mich in eine Bank und ruhte und träumte. Ich dachte an das ferne, liebe Daheim zwischen den Wäldern, und wie ich nun versetzt war mitten in das Wirbeln und Wogen der großen Stadt – ganz allein, ganz allein! Fast eine Trauer war es. – Wäre nur erst die Nacht vorbei und ich könnte mich umsehen und doch zum Kaiser kommen! – Einstweilen bat ich meinen Schutzengel um seinen Beistand, und dann ging ich wieder hinaus in das Gewühle und in das Schimmern der Lichter.

Ich ging durch Gassen und Gassen, durch breite, belebte, durch entlegene, finstere; ging durch Tore und über Brücken, gleichviel wohin. Wollte vor allem wissen, wo denn diese Stadt ihr Ende habe. Überall Häuser und Lichter und Menschen. Menschen, fremd in Kleidung, Sprache und Gebärde. Alle sind so gescheit – und von Krieglach-Alpel weiß gewiß kein einziger was.

Da kam ich an einem Bau vorbei, aus demselben strahlten Lichter, hallten Gesänge. Das war Gottesdienst in einer Kirche. Ich zog den Hut ab und trat durch das Tor hinein. Ja freilich war das feierlich und viele brennende Luster hingen nieder – viel schöner, wie daheim in der [238] Christnacht, aber der Priester am Altare & #x2014 ich erschrak fürchterlich, erschrak vor mir selber, daß ich denn ein Narr geworden. – Der Priester hatte einen hohen schwarzen Hut auf, und alle, die da waren, beteten und sangen, hatten ihre hohen, schwarzen Hüte auf dem Haupte. Du wunderliche Sach'! – Als der Schreck vorüber war, kam mir das Lachen; eine Weile vermochte ich es zurückzuhalten, allein als der Priester so ernsthaft seine Hände ausbreitete und ein so spaßhaftes Geschrei anhub und als die anderen dieses Geschrei nachmachten, brach mein Gelächter aus. Da nahm mich ein schwarzbärtiger Mann am Arm, führte mich hinaus und sagte: In der Synagoge müsse man sich anständig betragen.

Als es denn herauskam, daß ich in einem Judentempel gewesen war, erschrak ich noch einmal und machte meinem Schutzengel Vorwürfe, daß er nicht besser auf mich acht gegeben hatte.

Aus einem anderen Bau hörte ich lustige Musik und Gesang. Das war ein Schauspielhaus, ich merkte es bald. Mit dem Manne, der das Geld nahm, verhandelte ich um den Preis. Wie beliebig, ich konnte fünf Gulden zahlen, oder auch nur dreißig Kreuzer. Die Wahl fiel mir nicht schwer, doch erkundigte ich mich, wie lange ich um dreißig Kreuzer drinnen bleiben dürfe. Als ich erfuhr, daß ich bis zu Ende bleiben und alles sehen und hören könne, ging ich, den Hut schon in den Händen tragend, wohlgemut die vielen Treppen, die man mir wies, hinauf und plötzlich sah ich vor mich in einen Abgrund hinab, in dem nachgerade alles von Gold und Silber war. Aus den Wänden wuchsen goldene Äste heraus, darauf brannten Lichter und aus den hundert Wandfenstern sahen schöngeputzte Leute hervor, lächelnd und gar lebendig. Die Männer waren kohlschwarz bis auf die weißen Gesichter. An diese Gesichter setzten sie Dinge, in der Art, [239] wie ich mir Doppelpistolen dachte, und zielten damit nach allen Richtungen herum. Die Weiber hatten an den Händen breite Flügel, mit denen sie in einemfort flatterten, wie unsere Hühner daheim, wenn sie Eier legen wollten. Von der merkwürdig prächtigen Decke hingen goldene Kronen mit leuchtenden Kugeln nieder, die machten hell, wie der Tag. Und unten statt des Fußbodens waren lauter Menschenköpfe und viele weiße Scheiblein darunter, die bei näherer Betrachtung auch Menschenhäupter waren, nur keine Haare aufhatten.

Jetzt hub plötzlich eine Musik an und so laut, daß ich schier erschrak. Darauf begann die einzige Wand, in der keine Leute hockten, sich zu bewegen und ging in die Höhe. – Jetzt waren euch auf einmal die Berge da. Weiße Jungfrauen kamen daher, sie waren fromm und schön, wie daheim die Mägdlein am Kranzeltag; sie haben ein Lied gesungen und ich meine schier, es ist ein heiliges gewesen. Aber die Bravheit hat nicht lange gedauert – jählings sind die langen Kleider weg und zu hüpfen und zu springen heben die Dirndeln an, gar wie besessen. Meiner Tag hatte ich noch nicht gesehen, wie so nackte Jungfrauenfüßlein ausschauen. Und sündhaft lang waren sie, und ich fand's schier wieder zum Verwundern, daß mich mein Schutzengel ins Haus gelassen hatte. Verhext war die ganze Sach', denn plötzlich waren die Tänzerinnen blutrot über und über, und gleich darauf schien eine so helle Sonne auf sie, daß alle anderen Lichter matt waren, und wie ich just zu jubeln anheben will über diese Pracht, da rauscht die Wand nieder und die Leute erheben sich. – Ich bin noch eine Weile stehengeblieben, in der Meinung, es würde noch was zu sehen geben, aber die Leute drängten bei allen Löchern hinaus und die Kronen verloschen.

[240] Bald hernach stand ich auf der Gasse und überlegte, was nun zu machen. Hungrig war ich, müde war ich. Die Uhr des nächsten Turmes schlug zehnmal. – Für heute laß es genug sein; wo wirst du schlafen die Nacht? – Es fügt sich doch wieder gut, dort an der Ecke steht ein großes Wirtshaus. Durch die Fenster sah man's, wie die Leute an weißgedeckten Tischen aßen und tranken, Zeitungen lasen und Tabak rauchten.

Das Vorhaus allein schon war viel lichter und schöner als in Krieglach beim Kirchenbäcken das Extrazimmer. Ein schwarzgekleideter, sehr fein herausgeputzter Herr kam, der hatte sein weißes Sacktuch über der Achsel hängen. – Was ich wolle?

»Dableiben möcht' ich halt.«

»Ein Zimmer?«

»Ist mir schon recht, wenn Ihr eines entraten könnt.«

Er führte mich über zwei breite Treppen und in ein Zimmer, in dem es eine Herrlichkeit war. Lauter gepolsterte Sessel und auch eine solche Bank. Und ein Spiegel, der war größer wie ich selber, ich hatte ihn zuerst für eine Tür gehalten, durch welche ein Bauernbub auf mich zukam.

Der Herr zündete zwei schneeweiße Kerzen an, da fiel mir glücklicherweise die Frage ein, wieviel ich denn für all das zahlen müsse.

»Per Tag drei Gulden achtundvierzig.«

»Na,« erklärte ich, »nur für die Nacht allein hätt' ich's mögen, aber es ist mir auch um die Halbscheid noch zu teuer. Dreißig Kreuzer will ich hergehen.«

Da wurde der Herr rot im Gesichte – ich hatte in Wien noch keinen mit so guter Farbe gesehen – und schob mich zur Tür hinaus. Sollte er mich für einen reichen Viehhändlerhuben aus Oberösterreich gehalten haben, so hätte [241] er sich freilich geirrt. Jetzt stand ich auf der Gasse; sie war still und dunkel; ein Wald auf den Bergen tut sich nicht so ödweilig, und wenn auch kein einziger Mensch darin ist.

Bisweilen ein vornehmer Wagen rollte vorbei.

Eine Frau, die aber einen Flor über dem Gesichte hängen hatte, kam auf mich zu; als sie den Flor hob, sah ich, daß sie sehr jung und schön war. Ich hatte sie gebeten, mir eine Liegerstatt zu verschaffen.

»Gern,« flüsterte sie.

Als wir eine Strecke mitsammen gegangen waren, fragte sie, ob ich Geld habe.

»Ja,« antwortete ich, »ich hab' ein Lampel gehabt und das hab' ich verkauft, und davon hab' ich noch mehr als wie die Halbscheid.«

»Das ist nicht viel,« sagte sie, »das mußt du fleißig aufsparen.«

Und sie huschte davon.

Jetzt stand ich wieder verlassen. Ein Mann trillerte und taumelte vorüber; den wollte ich ansprechen, aber als ich sah, daß er selbst eines Beistandes bedurfte, und wie er sich hinter einen Brückenpfeiler auf den Erdboden legte und darauf liegen blieb, ließ ich mir das einen Fingerzeig sein und dachte, so machst es auch und da legst dich gleich nieder.

Ein altes Frauchen, das schon früher an mir vorübergehumpelt war, kam wieder des Weges und fragte, was ich denn hier mache? Hub ich zu weinen an: »Keine Nachtherberg kann ich finden.«

Auf der Stelle nahm sie mich mit.

Sie führte mich in eine Gegend, wo die schönen Pflastersteine aufhörten und wo viel kleinere Häuser standen als die anderen waren. Sie führte mich in einen Hof und über eine finstere Stiege hinaus. Bald waren wir in ihrer Stube; [242] die alte Frau zündete eine Lampe an – das war freilich nicht so hell als im Schauspielhaus. In der Stube war ein eiserner Ofen, auf dem stand ein Topf. Die Frau nahm ihn und goß Suppe auf zwei Teller und legte von den Semmeln, die sie geholt hatte, eine vor mich hin, auch einen Löffel dazu; nun sollte ich essen.

Bei den Bauern ist der Brauch, daß, wenn sie zu Gaste sind, sie von allem, was sie essen, den Rest in der Schüssel lassen. Da war ich nun in Verlegenheit, denn der Teller war gar flach, und wollte ich etwas übrig lassen, so blieb nichts für meinen Löffel. Der Hunger half mir endlich über alle Bedenken hinaus.

Als wir gegessen hatten, fragte mich meine Gastfrau nach Stand und Heimat. Ich erzählte ihr alles, von meiner Mutter weg bis zu ihr.

Da sagte sie folgende Worte: »Bei meiner Seel', du bist mir ein recht leichtsinniger Bursch'. Von deinen Eltern so fortlaufen! Was willst denn in Wien, wenn du kein Geld hast und keinen Bekannten? Zugrunde kannst gehen, das kannst davon haben. Eine solche Stadt ist nicht wie ein steirisches Dorf; da gibt's schlechte Leut', und wenn du liegen bleibst auf der Straßen, kein Mensch kehrt sich darnach; und wenn du verhungerst, so schleppen sie dich in die Totenkammer und schneiden dir den Leib auf, zu sehen, woran du gestorben bist. Und kein Mensch weiß, wo du hingehörst und deine Vater und Mutter daheim können sich die Lungen herausschnaufen und suchen und fragen nach dir, und das Herz herausweinen. – Kind, daß du ihnen den Kummer hast angetan! – Den Kaiser aufsuchen, das sind Albernheiten. Jetzt legst dich da aufs Sofa und schlafst dich aus. Und morgen früh gehst mir schnurgerade heimwärts. – So, und nun mach', daß du zur Ruh' kommst!«

[243] Ich schluchzte noch lange in mein Kopfkissen hinein, doch endlich kam der ruhsame Schlaf.

Am nächsten Morgen aber, als ich wieder frisch und munter durch die reichen, rauschenden Gassen und über die Brücken und hohen Mauergänge zog und die helle Sonne hineinschien auf die Türme und Paläste und der Stefansturm frei in die Himmelsbläue aufragte – da war vergessen, was die alte Frau gesagt hatte. – Ich bleibe in Wien und gehe zu meinem Kaiser.

Rasch wandelte ich an allem vorüber und fragte nach dem Kaiserhaus. Nach manchem Hinundhersuchen stand ich auf jenem Platz neben dem eisernen Reiter, der damals noch allein stand, und sah vor mir das gelblich-graue Gebäude mit den unzähligen Fenstern. Da drinnen wohnt er? Wenn er nur daheim ist und nicht wieder in allen Ländern herumzieht wie ein Handwerksbursche. Und wenn er daheim ist, was reden? Frisch fragen, wie es ihm geht, was die Frau macht, und daß er doch so gut sein und keinen Krieg anheben sollt', und der Schmiedhofer Hansjörgel wär' jetzt auch bei den Soldaten, und wenn sie den niederschießen, so hätten sie im ganzen Alpel keinen, der das Metzgern verstünd'! – Für übel halten kunnt er's nicht.

Ich ging durch das dreifache Tor. Da war ein großer Platz mitten im Kaiserhaus, und da standen erschrecklich viele Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren. Dort, wo ich durchgehen zu müssen glaubte, standen zwei baumstarke Männer mit weißen Riemen über der Brust und ungeheuren schwarzen Pelzhauben auf den Köpfen. Zwei bärtige Kerle mit finsterem Gesicht, mit Säbel und Gewehr, just zum Dreinfahren. Ich wollte schier nicht zwischen ihnen durch, [244] doch als ich sah, daß auch andere unbehelligt aus und ein gingen, wagte ich's und die beiden Torsteher blieben starr wie Holz.

Ich ging über breite Steintreppen empor, ging in schneeweißen Gängen entlang, so daß meine Schritte in den Mauern widerhallten. Da waren hohe, braune und vergoldete Flügeltüren der Reihe nach. – Ja, wenn man nur wüßte, welches des Kaisers Zimmer ist!

»Was machst du da, Junge?« fragte ein heranschreitender Herr mit Glasaugen und einer Stirne, die fast bis zu dem Scheitel hinausging.

»Wenn ich bitten darf, den Herrn Kaiser tät' ich gern ein wenig heimsuchen.«

»Den Kaiser? Seine Majestät? Ja, mein Lieber, das wird wohl etwas schwer gehen.«

»Oh,« sagte ich, »das geht leicht, mit dem Kaiser Josef darf jeder reden, auch der Bauersmann – hab's wohl gelesen.«

»Kaiser Josef?« fragte der Herr. Da habe ich ihm erzählt, wie ich von Steiermark hergekommen wäre, um den Kaiser Josef zu sehen.

Er sah mich lange an, war ernsthaft, lächelte und wurde wieder ernsthaft. Ich bin ganz zutraulich geworden und habe vieles erzählt, was mir des guten Kaiser Josefs wegen auf dem Herzen lag.

Der Herr setzte sich auf eine Bank, nahm mich an der Hand und fragte:

»Knabe, du bist ein sonderbarer Kauz. Da du aber schon nach Wien gekommen bist, um Kaiser Josef den Zweiten zu sehen, so muß man dich auch zu ihm führen. Warte, jetzt haben wir neun Uhr. Um zehn Uhr stellst du dich vor [245] den Eingang der Kapuzinerkirche, verstehst? Ich werde mich dort einfinden, dann wollen wir zusammen gehen.«

»Da bin ich wohl recht froh,« antwortete ich, »ein bissel scheuen tu' ich mich aber auch, wenn's Ernst wird.«

»Kaiser Josef tut dir nichts zuleide. – – Übrigens, Junge, komm' jetzt einmal mit mir.«

Er führte mich treppauf, treppab, führte mich über Fußböden, belegt mit blumigen Tüchern, durch Gänge und Säle, schloß endlich eine Flügeltür auf, und jetzt waren wir in einem Tempel. Aber alle Wände waren voll von Büchern; auf den Tischen lagen offene Bücher, Bilder, in Glastruhen bemalte Schriften und sonst allerlei Papier.

»Das ist die Josefinische Bibliothek,« sagte mein Begleiter. Ich blickte ihn an, war seinem Worte gegenüber hilflos.

An einer Ecke des Saales stand die Weltkugel mit den Gewässern und Ländern der Erde, wie mein Führer mich unterwies.

»Wenn das die ganze Welt ist,« sagte ich, »so wird wohl auch Krieglach-Alpel darauf sein.«

»Freilich, aber das kann man mit freiem Auge nicht mehr sehen, da müssen wir etwas anderes nehmen.«

Und er schlug eine große Landkarte auf. – »Steiermark, Mürzzuschlag, Krieglach – Alpel, siehst du?«

Ich guckte und ich sah, und da war noch ein schwarzes Pünktchen, und bei dem stand's geschrieben. »Waldbauer!« Da jubelte ich auf. – Mein Heimathaus im Kaiserhaus! Und da ist der Wald, und da sind die Felder, und da ist die Weide, wo ich die Schafe hüte! Alles ist da – o du merkwürdiges Wien!

»Gut,« sagte der Herr, »es ist, wie du mir erzählt hast, und nun spaziere noch ein bißchen in der Stadt herum und [246] um zehn Uhr warte bei der Kapuzinerkirche. Du wirst sie leicht erfragen.«

So verließ ich das Haus, kam glücklich wieder an den zwei ungeheuren Pelzmützen vorüber, kam in einen Garten hinaus, wo ich mich auf den Besuch beim Kaiser vorzubereiten suchte. Mir war unstet zumute. Es ist doch ein hoher Herr und kann mit seinen Untertanen machen, was er will. Aber ich rief alle Geschichten, die ich von ihm in den Volksbüchern gelesen hatte, in meine Erinnerung zurück – es ist ein edler, ein gescheiter, ein gütiger Mann. Mit neuem Mute suchte ich die Kapuzinerkirche auf.

Ich stand nicht lange dort, so kam jener Herr aus dem Kaiserhause heran und mit ihm ein geistlicher Bruder. Dieser schloß das Tor eines Gewölbes auf; dort zündete er ein Kerzenlicht an und führte uns hinab über eine finstere Treppe. – Wäre denn der Kaiser Josef heut' im Klosterkeller? Das tät' mich doch wundern.

Ich hielt mich stets nahe an meinen bekannten Herrn. Nun schritten wir langsam zwischen großen, steinernen und erzenen Blöcken und Kästen hin. Vor einem solchen – er sah aus wie eine riesige Totentruhe – blieben wir stehen. Der Herr nahm mir still den Hut vom Kopf, dann legte er seine Hand auf das Erz und sagte: »Hier, mein Junge, in diesem Sarge ruht unser Kaiser Josef.«

Gestorben schon vor vielen Jahren.

So habe ich ihn gesucht, den großen Kaiser, den wir nimmer vergessen können, den das Volk so lieb hat noch heute. – So war ich in der Einfalt des Kindes, in der Beharrlichkeit einer heiligen Verehrung aus Ziel gelangt, war hinabgestiegen in sein Grab.

Kein Wort konnte ich aussprechen, so hat's mich gepackt. [247] Ich habe kaum einen Blick mehr getan auf den Sarkophag, der von dem Flämmlein des geistlichen Bruders matt beleuchtet war, keinen Blick auf die anderen Särge – davon taumelte ich, die Stiege hinauf und in einem Winkel der Kirche bin ich gelegen in Trauer, daß er gestorben.

Später hat mich jener Herr gefragt, ob ich nicht wünsche, Seiner Majestät dem jetzigen Kaiser vorgestellt zu werden?

»Ist das ein Sohn vom Kaiser Josef?« fragte ich.

»Das nicht, aber das hindert unseren erhabenen Landesfürsten nicht, ebenfalls ein edler Herrscher zu sein.«

»Und geht er auch unter den Leuten herum und fragt, was für Gesetze sie haben wollen?«

Mein Begleiter schwieg. Erst nach einer Weile antwortete er: »Unser Kaiser Franz Josef läßt seine Völker selbst die Gesetzgeber aussuchen und wählen, die sie haben wollen.«

Das wäre wohl auch recht brav, meinte ich, aber mich ihm vorstellen zu lassen, das tät' ich mich nicht getrauen; mit dem neuen Kaiser wäre ich halt doch zu wenig bekannt.

»So lebe wohl, du kleiner Steirer,« sagte mein Begleiter, »und wenn du groß bist, so komm' wieder als braver Mann, da wirst du dem Kaiser schon Freude machen.« & #x2014

Nun war ich fertig.

Ich hatte die Absicht gehabt, auf den Stefansturm zu steigen, um die Stadt anzuschauen, um zu erfahren, ob es denn wahr sei, daß man weit und breit kein Ende von ihr sehe; in den Prater hinabzugehen, um die große Donau und ihre Schiffe zu erblicken; in Schönbrunn den Tiergarten zu besuchen, um zu sehen, ob unter den Elefanten, Löwen und Drachen auch weiße Lämmer wären – aber all das ließ ich nunmehr fahren, meine Freude an Wien war gebrochen & #x2014 Kaiser Josef ist gestorben...

[248] Dienstwillige Leute hatten mir ihre Führerschaft angeboten; einer derselben, als er hörte, daß ich aus Steiermark sei, rief: »Das trifft sich, ich bin auch ein Steirer, bin aus Stuhlweißenburg.«

»Das ist ja in Ungarn,« sagte ich.

»Ei, aus Hartberg wollte ich sagen. Na, das freut mich, kommen Sie doch mit auf ein Glas Wein.«

Er führte mich in eine Vorstadt; führte mich in eine Schenke, die halb unterirdisch lag und mehr von Nachtlichtern als von den hochgelegenen Fenstern beleuchtet wurde. Da ging's nicht gar viel vornehmer zu, als in den Wirtshäusern daheim und die Leute setzten sich gleich zu unserem Tisch und waren freundlich mit mir. Einer meinte, wir sollten uns doch die Zeit vertreiben und zog Spielkarten hervor. – Spielkarten habe ich nie leiden mögen, ich zahlte meinen Wein und ging langsam davon.

Ich trachtete wieder jenem Teile der Wienerstadt zu, in welchem der Stefansturm steht. Da kam ich auf eine Sandheide, auf welcher Soldaten Kriegsübungen hielten. Ich sah ihnen eine Weile zu, dann setzte ich mich auf einen Stein und untersuchte einmal den Inhalt meiner Geldtasche. Ich erschrak sehr. Vom ganzen Lampel war kaum der Schweif noch da.

Traurig war ich und stützte den Kopf in die Hand und sagte zu mir: »Bub, wärst du jetzt daheim. Das Lesen von der Wienerstadt ist lustiger als in ihr so mit leerem Säckel herumzugehen.« –

»He, Bursche, was machst du da?« rief mich plötzlich ein vorübergehender Herr mit einem langen Barte an.

»Warten tu' ich,« gab ich mißmutig zur Antwort.

»Auf wen denn?«

»Auf einen Fünfguldenbeutel.«

[249] »Den kann ich dir nicht geben,« sagte er, »aber fünf Gulden magst haben, wenn du mit mir kommst.«

Das ist ein Spitzbub', dachte ich mir, aber jetzt möchte ich nur sehen, wie weit er's treibt. Neben dem bin ich der Stärkere. Geld kann er mir keins nehmen, und mein Gewand ist ihm zu klein.

»Du trauest mir am Ende gar nicht,« lachte der Bärtige, »aber es geschieht dir nichts und nach einer halben Stunde hast du deine fünf Gulden. Denke einmal, was du dir da alles kaufen kannst.«

Meine Herabgekommenheit machte mich unternehmungslustig. Ich stand auf und ging mit dem Manne.

Dieser führte mich hin über den Sand, dann durch einige Gassen, dann in einen Hof und über etliche Treppen hinauf und in ein Zimmer. An den Wänden hingen allerlei Bilder, die ohne Rahmen waren.

»Nun setze dich auf diesen Stuhl. So!« sagte der Bärtige, »den Stock lehne in den Ellbogen hinein und den Hut setze so!« Den Hut schob er mir in den Nacken zurück, die Haare strich er mir über die Stirn herab bis zu den Augen, als ob er absichtlich einen recht dummen Bauernbuben aus mir machen wollte. Ich strich die Locken nach rückwärts, schob den Hut nach vorwärts.

»Laß doch!« rief der Mann scharf. Da getraute ich mir keine Bewegung mehr zu machen. – Was wird jetzt mit mir geschehen?

»So, mein Lieber,« sagte er, »jetzt bleib' mir ein bißchen sitzen und sieh dir einmal dort die schöne Frau an!« – Er hatte nämlich eine sehr schöne Frau an der Wand hängen.

»Gefällt sie dir?« fragte er, indem er mit dem Bleistift rasch auf dem Papier herumfuhr.

[250] »Ja, die tät' mir wohl gefallen; ist das die heilige Maria Magdalena?«

»Vielleicht die griechische,« lachte er.

Nicht gar lange nachher konnte ich aufstehen und nachsehen, was er auf dem Papier gezeichnet hatte. Da saß ein Bauernjunge auf dem Stein, der hatte den großen Hut auf dem Köpfel und machte verwunderte Augen.

»So, mein Kleiner, nun danke ich dir, und hier hast hu deine fünf Gulden.«

Wie kann denn das sein? Der ist so gut und zeichnet mich auf und läßt mich noch die schöne Frau anschauen und zahlt dafür obendrein das viele Geld!

Ich hielt meine Hände hinter den Rücken.

»Nu, beiß' an!«

»Ja, wenn ich das annehme, so ist es wohl eine Grobheit,« entgegnete ich und habe meinen Augen immer noch nicht trauen wollen.

Auf der Gasse sah ich nach, ob die Fünfguldennote nicht etwa auch mit dem Bleistift gezeichnet wäre, so wie das Waldbauernbübel. Aber es war ein echtes Geld mit Wasserdruck.

So reich, mein kleiner Bursche, bist du noch dein Lebtag nicht gewesen. Jetzt kannst es nobel geben, kannst auf der Eisenbahn bis nach Krieglach fahren. Flott geht's!

Als ob ich keine Füße hätte! So dumm bin ich nicht, daß ich meine zwei Füße nur dann strapaziere, wenn ich mir damit nichts verdienen kann. Jetzt sollen sie mich nach Steiermark tragen, ich zahl' ihnen dafür fünf Gulden. Die fünf Gulden werden sie dem Waldbauernbuben schenken und der wird sich dafür Bücher kaufen.

Ich suchte eine Buchhandlung auf, kaufte mir die Geschichte von Kaiser Josef dem Zweiten und ein Buch über [251] die Stadt Wien. Von den fünf Gulden sind dreiundzwanzig Kreuzer übriggeblieben.

Nun voran! Den Kaiser Josef unter dem rechten Arm, die Stadt Wien unter dem linken – so ging ich davon.

Bei der Spinnerin am Kreuz blickte ich noch einmal zurück auf die Kaiserstadt. Dann wanderte ich fort über die Ebene.

Aber – der Tag war heiß, die Bücher waren auf die Länge nicht leicht und die Schuhe begannen wieder die Ferse zu wetzen. Was der Magen an diesem Tage an Nahrung entbehrte, das gewann die Lunge an Staub, die Füße huben mir an zu zittern...

An demselben Abende fand mich eine Bürgerin von Baden gar erschöpft auf der Bank vor ihrem Hause kauern. Sie führte mich ins Haus und atzte mich mit Speise und Trank. Dann, als sie meine Geschichte erfahren, als sie mir auch einen derben Verweis gegeben hatte, weil ich so sehr auf meine Gesundheit gesündigt, geleitete sie mich auf den Bahnhof und kaufte mir eine Fahrkarte von Baden bis Krieglach. Knabe, hast du auch fleißig gedankt?

Im Mondschein glitt der Zug über das weite Steinfeld, in finsterer Nacht durch die Zwänge des Semmerings, im Morgenrot durch das grüne Mürztal.

Wie kühl und frisch, wie still und rein war die Luft, als ich die Waldstraße hinanwandelte gegen Alpel!

Als ich zu unserem Hause kam, eilte mir die Mutter entgegen und sagte, ich solle nicht zu sehr erschrecken, wenn mein Vater mit dem Stecken auf mich zukäme; es wäre nicht zu vermeiden, er sei arg aufgebracht, daß ich anstatt zwei Tage vier Tage ausgeblieben.

[252] »Ich habe nicht früher zurückkommen können,« versicherte ich, »hab' in Mariaschutz die Kirchfahrt verrichtet.«

»Ja, und dieweilen sind daheim die Säue verreckt!«

»Bin in Wiener-Neustadt gewesen und in Wien, in der Stefanskirche und im Kaiserhaus, aber der Kaiser Josef ist schon gestorben.«

»Geh!« rief die Mutter, »ja, was ist ihm denn widerfahren?«

»Das steht alles in dem Buch; und in dem anderen ist die ganze Beschreibung von der Wienerstadt, da wird der Vater schon losen, wenn ich ihm vorlese.«

»Du, trau' ihm nicht!«

»Nachher hat mich ein Herr abgezeichnet und nachher hat mir eine Frau das Fahrgeld gezahlt, weil ich bin krank geworden.«

»Jesus Maria!« rief die Mutter, »was denn? was denn? daß du mir doch nicht liegen bist blieben auf der Straßen, daß du mir nur wieder heim bist kommen! – Du Lenzel!« schrie sie nach dem Vater, »krank ist er worden unterwegs!«

Der Vater stand an der Haustür und lehnte jetzt den Gertenstab an die Wand.

»Ausschaust mir armselig genug,« brummte er, »geh', iß jetzt eine warme Suppe, nachher leg' dich ins Bett. Wir machen unsere Sach' später miteinander aus.«

»Jetzt ist alles gut,« flüsterte die Mutter.

– – – – – – – – – – – – –

Nach wie vor hütete ich wieder die Schafe, saß auf dem Steinhaufen und las aus Büchern. Erst später, nachdem


Nach wie vor hütete ich wieder die Schafe, saß auf dem Steinhaufen und las aus Büchern. Erst später, nachdem ich aus dem alten Schafhirten ein junger Schneiderlehrling, und aus dem alten Schneiderbuben ein junger Student geworden war, habe ich in den Vakanzen Wien mieder gesehen.

[253] Da habe ich wohl mit Fleiß jene heiligen Stätten besucht, wo einst der einfältige Waldbauernbub' gestaunt und gelitten hatte. Ich fand in der Leopoldstadt die Synagoge und das Theater wieder, fand weit draußen in Erdberg meine gute alte Nachtfrau, fand in Baden die wohltätige Glasermeisterin, Frau Gießl, fand die Hofburg, die Kapuzinergruft wieder. Aber jenen Herrn, der mich in die Josefinische Bibliothek und zum Kaiser Josef geführt, und jenen Bildelmacher, der mich in sein Zimmer (meines Erinnerns in der Gegend der Alservorstadt) mitgenommen hatte, konnte ich trotz meiner Nachforschungen nicht mehr ausfindig machen. Ersterem möchte ich danken, letzteren fragen, ob das Bild des Waldbauernbübleins die Auslagen gedeckt hat.

Jener Herr von der Josefinischen Bibliothek dürfte & #x2014 manches weist darauf hin – der Dichter Friedrich Halm gewesen sein. Der Bildelmacher ist viel später auch entdeckt worden. Es war der Maler Alois Schönn. Und das Bild des Waldbauernbuben ist durch die Hand eines lieben Freundes mein Eigentum geworden. Mein Herr Verleger hat es vervielfältigen lassen und verehrt es den Lesern der »Waldheimat«.

Als ich im Walde bei Käthele war
[254] Als ich im Walde bei Käthele war.

Seit Menschengedenken standen in unseren Wäldern die Lärchbäume nicht so hoch im Preise, als zur Zeit des Eisenbahnbaues durch das Tal. Mein Vater verkaufte an die dreißig Stämme um schöne Banknoten. Aber er gab die schönen Banknoten bald wieder weg, zuweilen gar eher, als er sie hatte. Er nahm beim Kaufmann Mehl und Salz und sagte: »Sobald ich Geld vom Holzhändler krieg', kriegt Ihr's von mir.« Zuletzt sagte er dasselbe sogar den Steuerbeamten.

Aber unser Holzhändler, der alte Klemens Spreitzegger, es ist schon von ihm erzählt worden. Um den war allmählich ein Wald von Kindern und Enkeln herangewachsen. Es war schon Jahre her seit dem Handel, aber das Lärchengeld hatte der Mann immer noch nicht ganz bezahlt. Wohl ein halbdutzendmal ging mein Vater die vier Stunden durch die Wälder zum Alten und bat: »Herr Spreitzegger, seid doch ja so gut und reichet mir heut' das letzt' Zipfel von dem Lärchengeld, meine Kinder brauchen was zu essen.«

Die meinen halt auch, mochte sich der Alte gedacht haben, aber er sagte: »Ich seh's wohl ein, der Waldbauer tät' auch sein' Sach' gern haben, aber wenn mir der Waldbauer alle Säck' umkehren will, so wird er heut' keinen Knopf darin finden. Ich krieg' erst morgen das Geld von der Eisenbahn, nachher will ich dem Waldbauer das Restl schon mit Fleiß und Dank zustellen.«

[255] Meines Vater Herz war kein Stein und er dachte: es klemmt ihn halt, und einen Tag muß ein Christenmensch schon noch warten. Aber es verging ein Tag und es vergingen mehrere, und es vergingen viele Tage, und der gute Spreitzegger kam nicht mit dem Gelde. Da ließ mich mein Vater einmal von der Kuhweide in sein Stübchen rufen und sagte: »Bübel, leg' jetzt dein besseres Jöppel an, geh' hinüber in das Weißbrunntal, wo der Herr Spreitzegger neuzeit wohnt, und sag' ihm, du bliebest so lang' in seinem Haus und tätest essen an seinem Tisch, und tätest schlafen unter seinem Dach, bis er dir tät' das Geld geben. Sei aber schön ordentlich und tu' danken nach jedem Essen, und wenn er dir eine Arbeit schafft und du kannst sie verrichten, so tu's mit Schick und Fleiß, und wenn du das Geld hast bekommen, so steig' nur sein geschwind wieder heim.«

Hierauf legte ich mein besseres Jöpplein an, ging hinüber durch die dichten Wälder in das Weißbrunntal zum alten Klemens. Dieser saß vor seinem Häuschen unter einer dichtbeästeten Fichte und hielt das Pfeiflein in der Hand und nickte mit dem Kopfe auf und nieder, wie die Zweige oben im Winde. Ich blieb von fern stehen und sah ihm zu; der Mann war doch recht alt.

Ich trat endlich zum Alten hin und sagte: »Mein Vater hat mich geschickt und jetzt bleib' ich in Eurem Hause so lang', und ich geh' nicht eher fort, bis Ihr mir das Geld gebt.«

»So geh' hinein in das Haus, Kleiner, und setz' dich auf die Bank, oder geh' hinauf an die Lehne und hilf meiner Enkelin Ziegen hüten.« Er blieb sitzen, nickte mit dem Kopfe und hielt das Pfeiflein in der Hand.

Ich ging in das Haus und saß eine Zeit auf der[256] Bank in der Stube; als mir endlich aber doch die Zeit lang wurde, kletterte ich die Lehne hinan zur Ziegenhüterin. Ein Mädchen mit roten Wangen und lichtblonden Haaren, wohl um einige Jahre älter als ich, saß da oben, es flocht sich mit seinen flinken Fingern, unter Beistand der weißen Zähne, die Haare. Da es mich sah, sprang es auf und floh ins Dickicht.

Als der Abend kam, füllte sich das kleine Haus mit Menschen; es waren Weiber und Kinder gekommen und zwei junge, lustige Holzhauer und ein übermütiger Almhirt, der allweg pfiff, gern auf einem einzigen Fuße stand, tänzelte und die Weiber neckte. Es kam ein Wurzner und eine Ameiseiergräberin und sie erzählten, wo sie an diesem Tage waren und was sie für Beute gemacht hatten. Alle diese Menschen, zum Teile schon betagt, zum Teile noch jung und klein, waren Nachkommen des alten Spreitzegger.

Als sie sich alle um den Tisch zur Abendsuppe setzten, stund ich an der Tür und kaute an einem Finger. Ich empfand doch, daß ich nicht hierher gehörte und getraute mich nicht zum Tisch. Da sagte der Alte: »Waldbauernbub, setze dich neben das Käthele und iß mit uns eine Suppen!« Nach diesen Worten errötete das Mädchen, das ich früher oben als Ziegenhüterin gesehen hatte, dann rückte es ein wenig zur Seite. So setzte ich mich daneben hin und aß; aber mir wollte es nicht recht schmecken, ich schämte mich, daß ich den Leuten wegen so ein paar Gulden an der Schüssel lag.

Nach dem Nachtmahle nahm mich der Almhalter mit in sein Bett; es stand nicht im Hause und nicht im Freien, sondern hinter einer Felsnische unter drei dichten Tannen. Der Mann zog sich aus bis auf das Hemd und pfiff und tänzelte noch immer dabei und kitzelte mich in das Bett und [257] unter die Decke hinein, daß ich laut schrie und kicherte. So war ich mit ihm gleich bekannt und so kauerten wir uns recht aneinander, und er erzählte mir von seinen Kühen und Kälbern, und dabei zog er die Decke immer mehr über unsere Köpfe herauf, und sein mächtiger Atemstrom ergoß sich so sehr auf mein Gesicht, daß ich schier ersticken wollte.

Als ich am andern Morgen aufwachte, flunkerte die Sonne durch das Geäste und der Halter war schon längst davon. Ich stand auf und dachte, heute wird mir der Spreitzegger das Geld wohl geben. Es wurde die Morgensuppe vorgesetzt; das Käthele schnitt Brot hinein und dabei flüsterte es mir zu, ob ich heute nicht mit ihm wolle mitgehen auf die Geißhalde. Ich ging mit und das Mädchen machte mich bekannt mit den Ziegen und mit seinen Spielplätzen. Das Käthele hatte unter einem Felsvorsprung eine Sennerei; aus Baumrinden hatte es einen Stall aufgezimmert, unter diesem stand eine Reihe dürrer Fichtenzapfen, das waren die Kühe. Das Mädchen lehrte mir von diesen Kühen die Namen und schob sie auf die Weide und wieder in den Stall. Auf einmal aber, als es merkte, daß ich mich nicht recht in diese Wirtschaft hineinfinden konnte, wendete es sich ab, hielt die Schürze vor das Gesicht und schämte sich. Als ich ein wenig später wieder an die Stelle kam, waren die Fichtenzapfen über den Hang geschleudert und der Stall zerstört.

Es verging der Tag, der Alte war nicht zu Hause, ich bekam das Geld nicht und blieb. Das Käthele zerrte mich überall mit, und als gegen Abend ein kalter Wind strich, schlug es sein Lodenjäckchen um meinen Kopf und wickelte meine Hände in seine Schürze, daß ich nicht sollte frieren können. Am Abend nahm es mich in den Stall und zeigte mir, wie es die Ziegen melke, und als wir in der Milchkammer[258] standen, strich es mir mit dem Finger Rahm in den Mund.

Am dritten Tage war ich schon um ein Bedeutendes zutraulicher; da pflückte ich dem Käthele Erdbeeren und schenkte ihm ein Sträußchen rotblühenden Klees. »Die Erdbeeren mag ich schon,« sagte sie, »aber den Klee steck' der Geiß zu, ich weiß damit nichts anzufangen.«

»Es wär' aber Honig drin, Käthele,« sagte ich.

Der Alte ging aus und kam heim, aber nie sagte er etwas von dem Gelde. Ich blieb im Hause, wurde zu Tische geheißen, schlief beim Halter und konnte die übrige Zeit machen, was ich wollte. Ich ging immer mit dem Käthele und das führte mich im Walde umher, in jede Schlucht und auf jeden Felsblock, und wußte allweg zu plaudern und erzählte mir sogar einmal im Vertrauen: zuweilen, wenn es so ganz still sei und nur die Hummel brumme oder ein Lüftchen wispere, da gehe Gott durch den Wald. Er sei größer wie der allergrößte Baum, aber er kümmere sich um jedes Reh, und wenn wo eine Ameise krieche, der sie einen Fuß abgetreten, so helfe er ihr weiter, und wenn wo ein Blüml stünde, das nicht aufwachsen kann, weil ihm ein Stein anliegt, so neige sich der liebe Gott auf die Erde und tue dem Blümlein den Stein vom Herzen.

Wenn das Käthele ähnliche Dinge redete, da sah ich es nur so an.

Einmal führte sie mich auf einen Steinbühel, um welchen Rotkiefern und Wacholder wuchsen, legte ihre beiden Hände auf meine Schulter und sagte: »Das freut mich, Waldbauernbub, daß du in unser Haus und zu mir in den Wald gekommen bist.« Nach diesen Worten geleitete sie mich von dem Steinbühel wieder herab. Weshalb ich aber da war, das wußte sie nicht.

[259] Vergaß ich es ja doch endlich selbst. Ich lebte in dem Hause des Spreitzeggers wie daheim, nur waren die Leute freundlicher mit mir und ich durfte nicht so arbeiten, als ich es an der Seite meines Vaters gemußt.

Da kam eines Tages durch den Holzschläger von meinem Vater der Auftrag, ich möge doch endlich das Geld heimbringen, das Steueramt wolle nicht mehr länger warten und habe ihm einen Soldaten ins Haus geschickt, der ohne den Steuerbetrag nicht fortgehen wolle und der, weil er ein junger Bursche, der Kuhmagd schon ganz den Kopf verrückt habe und mit ihr heimlich die Butter verzehre. Das sei eine zuwidere Belagerung und ich möchte doch kommen und das Haus befreien. – Ich trug dem Alten unser Anliegen vor. Dieser nickte stetig mit dem kleinen Kopfe und machte mir dann in bittendem Tone den Vorschlag, er wolle die Exekutionsmänner austauschen, mich heimgehen lassen und den gefährlicheren Soldaten in sein Haus nehmen, bis er zahlen könne. Das brachte mich auf, denn ich konnte dadurch nur verlieren, ohne das Geld heimzubringen. Ich murmelte daher zu Boden starrend und den Hut tief in die Stirne gedrückt: »Ich will unser Geld haben.«

Da sprang der Alte auf, einen Schritt gegen mich und stieß die Worte hervor: »Vom Erdboden herausgraben kann ich's nicht! Willst mir die Haut abziehen? Ich bin alt und hab' eine Familie; du kennst von der Welt noch nichts, wie das Essen. Wenn ihr glaubt, ich will euch was abstehlen, so verkaufet mein Haus, da steht's! und jagt die Kinder hinaus zu den Tieren des Waldes und scharrt den alten Mann in die Erden!«

Das traf mich. Niederfallen hätt' ich mögen vor dem Greis und ihm sagen, daß ich's so nicht gemeint. Ich [260] schlich davon und wollte heim zu meinem Vater und ihm sagen, ich hätte das Geld wohl bekommen, aber ich hätte es untertwegs in dem Gesträuche verloren, und ich wolle dafür arbeiten Tag und Nacht und er möge mich strafen, wie er wolle.

Als ich sonach durch die Schlucht ging, rief mich das Käthele an. Es stand hoch auf einem Baumstrunk und sagte mir, ich möge auch hinaufkommen, denn man sehe von dort aus ins Land, wo die Feigen wachsen. Da mußte ich denn freilich hinauf; allein, als ich oben stand bei dem Käthele, grollte es, daß ich so langsam geklettert sei, es seien in der Weile die Bäume so hoch gewachsen, und nun könne man nicht mehr in das Land der Feigen sehen. Ich stellte mich, als hätte ich dem Käthele alles aufs Wort geglaubt, vergaß aber dabei auf mein Heimgehen.

Als wir eine Weile beisammen gestanden waren, lispelte sie: »Ich will dir was sagen, Waldbauernbub,« und zerrte mich mit sich fort, zwischen den Bäumen und durch Gesträuche, fort und fort, bis wir hineinkamen tief in den Hochwald. Dort blieb sie endlich stehen, blickte verwirrt um sich und ließ sich auf einen verwitterten Strunk nieder. Ich stand vor ihr; sie faßte meine Hände und legte sie in ihren Schoß. Dann neigte sie das Haupt vor gegen meine Stirne und flüsterte: »Du bist mein lieber Waldbauernbub!« – Sie war gerötet, sie ließ alle Haarsträhne niedergleiten über ihr Antlitz, daß ich es nicht hätte sollen sehen können, wie sie glühte.

Gleich darauf erhob sie sich und wir gingen zurück durch den Wald, durch das Gesträuche, wie wir gekommen waren.

An demselben Abend lud mich der alte Holzhändler ein, daß ich mich zu ihm auf das Fichtenbänklein setze. Als [261] ich es getan hatte, sagte er, daß ich heute wohl nicht mehr fortgehen könne, da der Weg zu meinem Vaterhause lange durch unwirtliche Waldungen führe. Ich blickte ihn an, da fuhr er in den Sack, zog ein abgegriffenes Büchlein hervor und aus demselben eine Geldnote: »Da nimm, Waldbauernbub, ich laß deinen Vater grüßen und ich laß mich bedanken, daß er mir so nachgewartet hat, bis ich's jetzt zahlen kann. Ich hab' ihm deswegen auch um zwölf Groschen mehr zugelegt.«

Ich getraute mich an demselben Abend bei dem Mahle kaum einen Bissen zu essen und in der Nacht lag ich mäuschenstill neben dem Halter – ich war bezahlt, ich hatte kein Recht mehr, das Bettgewand zu zerstrampfen.

Am anderen Tage stand ich gar zeitlich mit dem Halter auf und eilte meiner Heimat zu.

Es war auch schon die höchste Zeit; der Exekutionssoldat hatte im Kuhstalle und in der Butterkammer bereits schauderhaft gewirtschaftet. Nun erhielt er den Steuerbetrag und damit den Laufpaß.

Bei meinem Vater erntete ich nicht die Ehren, die ich für das Aufbringen des Geldes zu beanspruchen geglaubt hatte.

»Dalkerter Bub,« sagte er, »jetzt gehst gleich und tragst dem Klemens Spreitzegger die zwölf Groschen wieder zurück.«

So lief ich denn. Im Walde traf ich wieder das Käthele. Es sah mich nicht an, es spielte mit den dürren Fichtenzapfen und hatte sein Gesicht dicht mit den Haaren verschleiert. Es hatte erfahren, daß ich nur des Geldes wegen so lange bei ihm in dem Wald geblieben war.

Als dem kleinen Maxel das Haus niederbrannte
[262] Als dem kleinen Maxel das Haus niederbrannte.

Ich erinnere mich noch gar gut an jene Nacht.

Ein Knall, als wenn die Tür des Schüttbodens zugeworfen worden wäre, weckte mich auf. Und dann klopfte jemand am Fenster und rief in die Stube herein: wer des Kleinmaxel Haus brennen sehen wolle, der möge aufstehen und schauen gehen.

Mein Vater sprang aus dem Bette, ich erhob ein Jammergeschrei und dachte fürs nächste daran, meine Kaninchen zu retten. Wenn bei besonderen Ereignissen wir anderen über und über aus Rand und Band gerieten, so war es allemal die blinde Jula, die uns beruhigte. So sagte sie auch jetzt, daß ja nicht unser Haus im Feuer stehe, daß das Kleinmaxelhaus eine halbe Stunde weit von uns weg wäre; daß es auch nicht sicher sei, ob das Kleinmaxelhaus brenne, daß ein Spaßvogel vorbeigegangen sein könne, der uns die Lug zum Fenster hereingeworfen und daß es möglich sei, daß gar niemand hereingeschrien hätte, sondern es uns nur so im Traume vorgekommen wäre.

Dabei streifte sie mir das Höselein und die Schuhe an und wir eilten vor das Haus, um zu sehen.

»Auweh!« rief mein Vater, »'s ist schon alles hin.«

Über den Waldrücken herüber, der sich in einem weitgebogenen Sattel durch die Gegend legt und das Ober- und Mittelland voneinander scheidet, strebte still und hell [263] die Flamme auf. Man hörte kein Knistern und Knattern, das schöne neue Haus, welches erst vor einigen Wochen fertig geworden war, brannte wie Öl. Die Luft war feucht, die Sterne des Himmels waren verdeckt; es murrte zuweilen ein Donner, aber das Gewitter zog sich sachte hinaus in die Gegenden von Birkfeld und Weiz.

Ein Blitz – so erzählte nun der Mann, der uns geweckt hatte, der Schafgiftel war's – wäre etlichemal hin- und hergezuckt, hätte ein Drudenkreuz an den Himmel geschrieben und wäre dann niederwärts gefahren. Er wäre aber nicht mehr ausgeloschen, der lichte Punkt an seinem unteren Ende wäre geblieben und rasch gewachsen und da hätte sich er, der Schafgiftel, gedacht: Schau du, jetzt hat's den klein' Maxel troffen.

»Wir müssen doch schauen gehen, daß wir was helfen mögen,« sagte mein Vater.

»Helfen willst da?« sprach der andere, »wo der Donnerkeil dreinfahrt, da rühr' ich keine Hand mehr. Der Mensch soll unserm Herrgott nicht entgegenarbeiten, und wenn der einmal einen Himmletzer (Blitz) aufs Haus wirft, so wird er auch wollen, daß es brennen soll. Hernachen mußt wissen, ist so ein Einschlagets auch gar nicht zu löschen.«

»Deine Dummheit auch nicht,« rief mein Vater.

Ließ ihn stehen und führte mich an seiner Hand rasch davon. Wir stiegen ins Engtal hinab und gingen am Fresenbach entlang, wo wir das Feuer nicht mehr sehen konnten, sondern nur die Röte in den Wolken. Mein Vater trug einen Wasserzuber bei sich und ich riet, daß er denselben gleich an der Fresen füllen solle. Mein Vater hörte gar nicht drauf, sondern sagte mehrmals vor sich hin: »Maxel, aber daß dich jetzt so was treffen muß?!«

Ich kannte den kleinen Maxel recht gut. Es war [264] ein behendes, heiteres Männlein, etwa in den Vierzigern; sein Gesicht war voll Blatternarben und seine Hände waren braun und rauh wie die Rinden der Waldbäume. Er war seit meinem Gedenken Holzhauer in Waldenbach.

»Wenn einem anderen das Haus niederbrennt,« sagte mein Vater, »na, so brennt ihm halt das Haus nieder.«

»Ist's beim klein' Maxel nicht so?« fragte ich.

»Dem brennt alles nieder. Alles, was er gestern gehabt hat und heut' hat und morgen hätt' haben können.«

»So hat der Blitz den Maxel leicht selber erschlagen?«

»Das wär' 's best', Bub. Ich vergunn' ihm das Leben, Gottseid', ich vergunn' ihm's – aber, wenn er eh'vor hätt' beichten mögen und in keiner Todsünd' wär' gewesen, wollt' richtig gleich sagen, das allerbest', wenn's ihn auch selber troffen hätt'.«

»Da wär' er jetzt schon im Himmel oben,« sagte ich.

»Watsch' nur nicht so ins nasse Gras hinein. Geh' gleim (nahe) hinter mir und halt' dich beim Jankerzipf an. Vom Maxel, von dem will ich dir jetzt was sagen.«

Der Weg ging sanft berganwärts. Mein Vater erzählte.

»Jetzt kann's dreißig Jahr aus sein – ist der Maxel ins Land kommen. Armer Leute Kind. Die erst' Zeit hat er bei den Bauern herum einen Halterbuben gemacht, nachher, wie er sich ausgewachsen hat, ist er in den Holzschlag 'gangen. Ein rechtschaffener Arbeiter und allerweil fleißig und sparsam. Wie er Vorarbeiter ist worden, hat er sich vom Waldherrn ausgebeten, daß er das Sauerwiesel auf der Gfarerhöh' ausreuten und für sein Lebtag behalten dürfe, weil er so viel gern eigen Grund und Boden hätte. Ist ihm gern zugesagt worden, und so ist der Maxel alle Tag, wenn sie im Holzschlag Feierabend gemacht haben, auf sein Sauerwiesel 'gangen, hat den Strupp weggeschlagen,[265] hat Gräben gemacht, hat Steine ausgegraben, hat die Wurzeln des Unkrautes verbrannt & #x2014 und in zwei Jahren ist das ganze Sauerwiesel trocken gelegt und es wachst gutes Gras drauf, und gar ein Fleckel Brandkorn hat er anbaut. Wie es so weit kommen, daß er's auch mit Kohlkraut hat probiert, und gesehen, wie gut es den Hafen schmeckt, ist er um Waldbäume einkommen. Die können sie ihm nicht schenken, wie das Sauerwiesel, die muß er abdienen. So hat er Arbeitslohn dafür eingelassen, und die Bäume hat er umgehauen und viereckig gehackt und abgeschnitten zu Zimmerholz & #x2014 alles in den Feierabenden, wenn die anderen Holzknechte lang' schon gut auf dem Bauch sind gelegen und ihre Pfeifen Tabak haben geraucht. Hätt' selber auch gern geraucht, das ist seine Passion gewest; aber eh'vor er fertig ist mit seiner Wirtschaft, tut er's nit. Und jetzt hat er angehebt, an solchen Feierabenden andere Holzhauer zu verzahlen, daß sie ihm bei Arbeiten helfen, die ein einziger Mensch nicht dermachen kann, und so hat er auf dem Sauerwiesel sein Haus gebaut. Fünf Jahr' lang hat er daran gearbeitet, aber nachher & #x2014 du weißt ja selber, wie es dagestanden ist mit den guldroten Wänden, mit den hellen Fenstern und der Zierat auf dem Dach herum & #x2014 schier vornehm anzuschauen. Ein sein Gütel ist worden auf der Sauerwiese, und wie lang' wird's denn her sein, daß uns unser Pfarrer bei der Christenlehr' den klein' Maxel als ein Beispiel des Fleißes und der Arbeitsamkeit hat aufgestellt? Nächst Monat hat er heiraten wollen, und daß er heraufgestiegen ist vom Waiselbuben bis zum braven Hausbesitzer und Hausvater – Bub, da ruck' dein Hütel! & #x2014 Und jetzt ist auf einmal alles hin Der ganze Fleiß und alle Arbeit die vielen Jahr' her ist umsonst. Der Maxel steht wieder auf demselben Fleck, wie voreh'.«

[266] Ich habe dazumal meine Frömmigkeit noch aus der Bibel gezogen, und so entgegnete ich auf des Vaters Erzählung: »Der Himmelvater hat den Maxel halt gestraft, daß er so aufs Zeitliche ist gegangen wie die Heiden, und der Maxel hat sich 'leicht ums Ewige zu wenig gesorgt. Sehet die Vöglein in den Lüften, sie säen nicht, sie ernten nicht & #x2014«

»Und sie schwatzen nicht!« unterbrach mich der Vater. »Ich kenn' mich nimmer aus, und das sag' ich, wenn's & #x2014«

Er unterbrach sich. Wir standen auf der Anhöhe und vor uns loderte die Wirtschaft des Kleinmaxel und das Haus brach eben in seinen Flammen zusammen. Mehrere Leute waren da mit Hacken und Wassereimern, aber es war nichts anderes zu machen, als da zu stehen und zuzuschauen, wie die letzten Kohlenbrände in sich einstürzten. Das Feuer war nicht wütend, es brüllte nicht, es krachte nicht, es fuhr nicht wild in der Luft herum; das ganze Haus war eine Flamme, und die qualmte heiß und weich zum Himmel auf, von wannen sie gekommen.

Eine kleine Strecke vom Brande war der Steinhaufen, auf welchen der Maxel die Steine der Sauerwiese zusammengetragen hatte. An demselben saß er nun, der kleine, braune, blatternarbige Maxel, und sah auf die Glut hin, deren Hitze auf ihn herströmte. Er war halb angekleidet, hatte seinen schwarzen Sonntagsmantel, den er gerettet, über sich gehüllt. Die Leute traten nicht zu ihm; mein Vater wollte ihm gern ein Wort der Teilnahme und des Trostes sagen, aber er getraute sich auch nicht zu ihm. Der Maxel lehnte so da, daß wir meinten, jetzt und jetzt müsse er aufspringen und einen schreckbaren Fluch zum Himmel stoßen und sich dann in die Flammen stürzen.

Und endlich, als das Feuer nur mehr auf dem Erdengrund [267] herum leckte und aus den Aschen die kahle Mauer des Herdes aufstarrte, erhob sich der Maxel. Er schritt zur Glut hin, hob eine Kohle auf und & #x2014 zündete sich die Pfeife an.

Als ich in der Morgendämmerung den klein' Maxel vor seiner Brandstätte stehen sah, und wie er den blauen Rauch aus der Pfeife sog und von sich blies, da war mir in meiner Brust heiß. Als ob ich es fühlte, wie mächtig der Mensch ist, um wie viel größer als sein Schicksal, und es für das Verhängnis keinen größeren Schimpf gibt, als wenn man ihm in aller Seelenruhe Tabakrauch in die Larve bläst.

Später hat der klein' Maxel die Asche seines Hauses durchwühlt und aus derselben sein Schlagbeil her vorgezogen. Er schaftete einen neuen Stiel an, er machte es an einem Schleifsteine der Nachbarschaft wieder scharf. »Wenn ich noch einmal baue,« sprach er vor sich hin, »so mach' ich's besser. Das obere Stübel ist eh nicht sauber gewesen.« Seither sind viele Jahre vorbei: Um die Sauerwiese liegen heute schöne Felder, und auf der Brandstätte steht ein neugegründeter Hof. Junges Volk belebt ihn und der Hausvater, der Alte, der klein' Maxel, lehrt seinen Söhnen das Arbeiten, erlaubt ihnen aber auch das Tabakrauchen. Nicht zu viel & #x2014 aber ein Pfeiflein zu rechter Zeit.

Als die hellen Nächte waren
[268] Als die hellen Nächte waren.

Ein anderes Mal kam es größer.

Der Der Sommer war heiß gewesen. Das Moos des Waldbodens war fahl und spröde geworden und zwischen den Halmgerippen der Gräser sah man auf den grauen Erdboden. Neben den dürren Nadeln des Waldbodens lagen tote Ameisen und Käfer. Die Steine in den Betten der Bäche waren trocken und weiß wie Elfenbein. Wo dazwischen noch ein Tümplein stand, da starb darin eine Forelle oder ein anderes Tier des Wassers.

Die Luft war dicht und die Berge & #x2014 auch die nahen & #x2014 waren blaß. Die Sonne war des Morgens rot wie das verdorrte Blatt einer Buche, dann blaß und glanzlos, so daß man ihr ins Gesicht sehen konnte. Matt kroch sie hin über die graue Wüste des Himmels, als wäre sie erschöpft vor Durst. Gegen Abend stiegen häufig scharfgeränderte, glänzende Wolken auf; die Leute singen zu hoffen an, aber es kam ein Luftzug und am anderen Morgen waren die Wolken vergangen und der nächtliche Tau aufgesogen.

Draußen im Dorfe wurde ein Bittag um Regen angeordnet. Da strömten aus unserem Walde die Leute davon, nur der alte Knecht Markus und ich blieben im einsamen Hause, und der Knecht sagte zu mir: »Wenn das schön' Wetter gar ist, wird's regnen, was hilft der Bittag! Wenn uns ein Herrgott hergesetzt hat, so wird er keinen schwachen Kopf haben und unser vergessen. Und hat er keinen Kopf, so daß er die Welt nur mit den Händen zusammenstellt [269] und mit den Füßen auseinandertritt, nun, so hat er auch keine Ohren. Wofür hernach das Geschrei! Sagst du's nicht auch, Bübel?«

Leute, was läßt sich drauf sagen! »Der Knecht Markus ist ein alter Spintisierer« – das läßt sich drauf sagen.

Jetzt sprang der Riegelberger Halter zur Tür herein. Er war vor Aufregung sprachlos, durch das Fenster wies er mit beiden Zeigefingern auf den Rücken des Filnbaumwaldes hin. Der Knecht sah es und schlug die Hände zusammen.

Dort hinter dem Waldrücken stieg ein ungeheurer Wirbel von rotem Rauch auf und verfinsterte den Himmel.

»Das kann ein Unglück geben!« rief der Markus, langte nach einer Axt und eilte davon.

Der Rauch flutete immer heftiger auf und wurde immer breiter und dichter. Ich sing doch das Geschrei an, dem der Knecht keine Bedeutung beilegen wollte. Es hatte auch keine, wie sich's wies.

An den sonnigen Lehnen des Filnbaumschlages war's gewesen, wo das dürre Gestrüppe lag. Nahe wo der halbverdorrte Lärchenanwachs begann, war die Flamme entstanden, kein Mensch wußte wie. Zuerst mochte sie leicht hingehüpft sein von Reisig zu Reisig, dann empor von Ast zu Ast mit flatternden Flügeln. Sachte entfaltet das Element seine wilde Gewalt, seine roten, siegreichen Fahnen. Der Wald wird höher und dichter, an dem Geäste hängen lange Moosflechten nieder und die vor wenigen Jahren von einem schweren Hagelschlage geschädigten Stämme sind harzig bis hinauf zu den Wipfeln. Hei, wie die feurigen Zungen lechzen und emporlodern! Und in den Gründen züngeln sie wie ein Schlangengezücht und allerseits beginnt sich ein fürchterliches Leben zu entwickeln.

[270] Die wenigen Holzhauer rennen in Verwirrung herum und fluchen und rufen nach Hilfe. Aber der Wald und seine Hütten sind menschenleer, alles ist bei der Bittprozession. Bis sie nach Stunden endlich kommen, ist der Hochwald im Brande. Das ist ein Fiebern und Zittern in der Luft, ein Krachen und Prasseln weithin; Äste stürzen nieder, Stämme brechen zusammen und sprühen noch einmal auf in den wogenden Rauch. Neu und frisch blasen glühende Luftströme durch das Gehölz; die Flammen erzeugen sich selbst den Sturm, auf dem sie fahren. O gewaltiges, nimmersattes Element! Es zehrt, so lange es lebt, und lebt, so lange es zehrt, es verzehrt die Welt, und wenn sie erreichbar, tausend Welten, und hat nimmer genug. Keine Macht kann so ins Unendliche wachsen wie das Feuer, darum stellt es der Seher als den letzten Sieger über alles dar, als den Herrscher in Ewigkeit.

Die Menschen arbeiteten und arbeiteten; manchen trugen sie halb verbrannt von dannen. Der Knecht Markus sah die Folgen, aber er jammerte nicht und er verzagte nicht, er war die stille, die ruhige Tat. Schon begannen seine harzigen Kleider Feuer zu fangen, da eilte er hinab zum Bachbett und wälzte sich im Sand, bis sich dieser an alle Teile seines klebrigen Anzugs gelegt hatte. Nun war er gepanzert. Äste haute er ab, Bäume hieb er um & #x2014 o Gott, das schlug nicht an. Der glühende Strom brauste weiter; die kahlen Äste in der Runde, die rotnadeligen Zweige harrten schon der nahenden Flammenbraut und huben noch früher zu brennen an, als sie der erste Kuß erreichte.

Nun suchten die Arbeiter, die von allen Seiten herbeigekommen waren, den Flammen einen Vorsprung abzugewinnen und ihnen durch breite Abstockungen eine Grenze zu setzen, aber es teilte sich der Brand in Arme nach verschiedenen [271] Himmelsgegenden. Zur Abendstunde erhob sich ein Wind und zerzauste die mächtigen Feuerfahnen in tausend Fetzen und vervielfältigte überall das Element. Das war ein unheimliches Dröhnen in den Lüften und ein wunderlich Leuchten hin über das weite Waldland.

Erschöpft und ratlos ließen die Männer ihre Hände sinken, die Weiber räumten ihre Hütten aus und wußten mit der Habe nicht wohin.

In tiefen Tälern war es noch ruhig, da hörte man nichts als das leise Flüstern der hohen Tannen, aber der nächtliche Himmel war rosig und zuweilen flog hoch oben ein Feuerdrache dahin. Dann wieder kam eine zwitschernde Vogelschar und die heimatlosen Tierchen schossen planlos umher, und die Rehe und Hirsche kamen erschreckt heran zu den Menschenwohnungen.

»Wie diesen Tieren geht's uns allen!« klagte ein Weib, »keine Menschenmöglichkeit, daß der Wald gerettet wird & #x2014 alles brennt, alles brennt! O Christi Heiland & #x2014 es ist das Jüngste Gericht!«

Tagelang währte der Greuel.

Von unserem hochgelegenen Hause aus sahen wir aus den Wäldern des Filnbaum und der Fresenleiten die Flammen rot und langsam aufsteigen. Die ganze Gegend lag in einem Schleier und scharfer Brandgeruch stach in die Nasen. Unser Berg schien eingewölbt von Rauch, daß es oft schier dunkel war. Und da stand ein großes, trübrotes Rad über uns, das der Rauch umwirbelte, verdeckte und doch nicht ganz vertilgen konnte. Es war die Sonne. Wir sahen aber auch, wie das Feuer allmählich gegen uns heranrückte; es stieg über die Höhen her und es stieg in die Täler nieder, und es stieg endlich an unserem Berghange heran. Wir bedurften des Abends keines Kienspans [272] mehr in der Stube, wir hatten vollauf Licht, denn zehn Minuten weit vom Hause brannte der schöne Kienwald.

Das Vieh hatten wir längst auf die Almweide gejagt und die Einrichtungsstücke des Hause mitten auf das freie Feld hinausgeschleppt. Halb wahnsinnige Menschen kamen herbei. Der Vernünftigsten einer war der uralte Martin, dem die Hütte verbrannt war und der nun mitternächtig beim Scheine des Waldbrandes Preiselbeeren pflückte.

Mein Vater kletterte auf den Dächern unseres Gehöftes herum und mit einer langen Stange, an deren Ende er einen nassen Lappen gebunden hatte, schlug er die Funken tot, die herangeflogen kamen und sich auf das Dach gesetzt hatten.

In der fünften Nacht, als wir in einer Ecke unserer ausgeräumten Stube kauernd schliefen, wurden wir plötzlich von einem lauten Tosen geweckt, und der alte Markus, der auf dem Dache Nachtwache hatte, rief: »Das ist schon recht! Das ist schon recht!«

Ein Wettersturm hatte sich erhoben und wütete in dem brennenden Walde, daß es eine schreckbare Pracht war. Als ob ein wüstes Gewässer dahinbrauste zwischen den Stämmen, so toste und dröhnte es. Aber das Feuer wurde in die entgegengesetzte Richtung von unserem Hause geworfen, und das war es, was dem alten Markus so recht war. Die Flammen waren wie auf wilder Flucht; sie übersprangen ganze Waldpartien, zündeten an neuen, entlegenen Stellen.

Als sich der Orkan gelegt hatte, kam ein Regenguß. Der Regen währte tagelang und die Wolken stiegen träge auf und nieder. Lange noch mischte sich mit ihnen der Rauch der kohlenden Strünke & #x2014 endlich aber war alles Feuer ausgelöscht. Über alles legte sich der feuchte frostige Nebel & #x2014 es war die herbstliche Zeit.

[273] So ist die Begebenheit hier erzählt.

Doch endet der Wald mit seinem Untergange nicht, in ihm ist die Urkraft.

Der Nebel des Herbstes spann den Schnee; im Winter sahen wir von unseren Fenstern aus weit mehr weiße Flächen als sonst. Aber erst als der Lenz kam, sahen wir, was der Waldbrand angerichtet hatte. Überall verkohlter Grund, rostfarbige Steine, halbverbrannte Wurzeln, und darüber ragten die schwarzen Strünke einzelner Baumstämme. & #x2014 Nun kamen die Leute und reuteten. Sie stachen den schwarzen Rasen um, sie säeten Korn in das Erdreich; den Obdachlosen wurden neue Hütten gebaut. Und als der Frühherbst kam, war's eine Herrlichkeit. Kein Mensch in unserem Waldlande hatte je eine so große goldgelbe Pracht gesehen, als es das Kornfeld war, das sich über die Berge hinzog. Wir mußten alle zusammenhalten, die Flut der Halme, wovon einer sein schweres Haupt auf die Achsel des anderen legte, einzuheimen. Ich erinnere mich noch an das Wort, das bei dieser Gelegenheit der Pfarrer sprach: »Der Herr schlägt die Wunden, aber er spendet auch den Balsam, sein Name sei gelobt!« & #x2014 Am nächsten Tage schickte er seine Knechte, um von der reichen Ernte den Zehent zu holen, und er hat recht getan.

Gegen dreißig Jahre lang gab der Grund des verbrannten Waldes den Menschen Brot. Dann kam die Landflucht der Menschen und neuerdings sproßt auf den Berghöhen der junge, grüne Wald. Neues unendliches Leben webt darin & #x2014 eine üppige Pflanzenwelt, ein lustiges Tierreich, eine helle Gottesmorgenfreude.

Am Waldbrunnen
[274] Am Waldbrunnen.

Das alte Waldhaus auf dem Berge füllt in meinem Kopfe mehr Raum aus, als die übrige Welt. Es gehört aber auch der ganze Berg dazu, mit allem was drum und dran ist. Ich versichere euch, es war eine Welt, und nicht eine von den schlechtesten. Es lebten in ihr keine Philosophen, die sie schlecht machten. Das Haus stand sehr hoch oben, fast am Rande des Himmels, und täglich, sobald die Sonne ausging, beschien sie den Berg von oben bis unten. Ich habe seither keinen goldenen Berg mehr gesehen. Die Mutter hatte ein braungebundenes Gebetbuch mit Goldschnitt. Wie dieser, so leuchtete unser Berg empor mitten im dunkeln Waldlande. Das Haus stand auf flacher Hochmatt, vor demselben herab lag steil das erste Riegelfeld, dann kam ein Holzzaun mit etlichen Steinhaufen, weiter herab lag das zweite Riegelfeld, das war noch steiler, böschte sich untenhin aber in einen Rain aus. Unterhalb des Raines begann der Wald, der abwärts ging und immer abwärts bis ins schattige Wiesental.

Gott, wie oft bin ich gesessen auf diesem Raine! Ich habe dort gewacht im Sommer, daß die Kühe nicht aus dem Walde heraufstiegen in das Kornfeld, ich habe dort gewacht im Herbste, daß die auf dem Stoppelfeld weidenden Schafe sich nicht verliefen in den Wald hinab.

Meine Zeit habe ich mir dabei vertrieben mit Sammeln der Tannenzapfen, die von den hohen Bäumen herabgefallen [275] waren, oder mit Hirschenschnitzen aus Baumrinden, wie ein anderer meiner Jugendstandesgenossen, der weltberühmte Meister Defregger. Der Weidknecht Franzel war kein übles Bürschel, aber dieses mein Hirschenschnitzen mußte ihm zuwider sein. Eines Tages, als er mit der Jungmagd unterhalb am Raine beim Waldbrunnen einen Fichtenbaum in Blöcke zerschnitt, dabei durstig wurde, mit seiner Hutkrempe aus dem Brunnen Wasser schöpfte und das Dirndl fragte, ob es auch trinken wolle, legte dieses die Säge ins Moos und antwortete: »Ja, du, Franzel, mir ist es gleich recht, das Trinken, mir ist eh' so viel warm, weißt.« Er bog die mit Wasser gefüllte Hutkrempe zu einem Schnabel und hielt ihn dem Dirndl an die roten Lippen. Und als sie dann ein wenig so nebeneinander dastanden, rief der Knecht plötzlich zu mir herauf an den Rain: »Rotzbub, fauler! Hast denn du keine Arbeit, den ganzen Herrgottstag, daß du auf dem Rain herumkugelst, dieweil die Kühe auf dem oberen Feld das Korn fressen!« & #x2014 Arglos bin ich gegangen.

Der Waldbrunnen stand in einem Kreise von ruppigen Tannen und Fichten auf moorigem Angerlein, wo im Erdreich die Fußlöcher der Kühe waren, die hier her gekommen, um zu trinken. Der Brunnen rann fast armdick unter einem buschigen Hange zwischen grünbemoosten Steinen aus der Erde und wurde durch ein Holzrinnlein in den langen Trog geleitet, der aus einem Baumstamm gehöhlt und dessen eine Kopf schier in das sumpfige Erdreich versunken und vermuhrt war. Der Trog war mit Flechten und Moosen bewachsen, so daß das glasklare Wasser drinnen wie in einem grünen Samtbette lag. Unter dem Troge rann das Wasser in einem schmalen sandigen Bächlein zwischen Germen, Wildlattich und Waldkresse davon. Dieser Platz und dieser [276] Brunnen waren immer, auch in den sonnigsten Sommertagen, in einer kühlen feuchten Dämmerung und das kalte reine Wasser war bekannt weit und breit, so daß jeder, dessen Weg in der Nähe vorbeiführte, zum Brunnen herabstieg und trank, entweder frei aus dem Troge, wie unsere Rinder, oder aus dem Hutschnabel, wie der Weidknecht und die Jungdirn, oder aus der hohlen Hand, wie unsere klugen Vorfahren, so lange sie noch keinen Krug erfunden hatten.

Beim Waldhause oben war wohl auch ein Brunnen, er stand mitten im Hofe, hatte einen schönen großen Trog und einen zierlichen Ständer darüber; in den Ständer waren drei kronenartige Ringe hineingeschnitzt, auf der Spitze war ein wohlgeformter Knauf; der Brunnen hatte alles, nur kein Wasser. Das heißt, bloß zeitweise. Im Frühjahre, wenn der Schnee schmolz, im Sommer, wenn die Regenzeit war, gab es Wasser genug aus dem Rohre, aber wenn Dürre war, da tröpfelte es nur und brauchte mehrere Stunden, bis der grünglasierte Krug voll wurde. Im Winter fror das Wasser ganz ein. Da nahm der Vater wohl das Brunneisen, einen viele Klafter langen, zusammengereiften Draht, warf es an einem Ende ins Herdfeuer, und wenn es glühte, tat er's auseinander und stach damit ins Brunnenrohr, so tief es ging. So trieb er's oft den ganzen Vormittag. Manchmal brachte diese Arbeit Wasser, manchmal nicht. Die Haustiere aber mußten im Winter täglich zweimal aus dem Stall zur Tränke geführt werden, durch tiefen Schnee hinab bis zum immer eisfreien Waldbrunnen. Das war die Arbeit des Buben – meine Arbeit. Bei diesem »Wassern« habe ich mancherlei Schmerzen gehabt, offene und heimliche. Es fror mich in den Zehen, es fror mich in den Fingern, es fror mich in den Ohren und in der Nase. Aber die Kühe und die Stiere und die Kälber [277] beeilten sich gar nicht, sie standen der Reihe nach am Troge, so viele ihrer auf einmal dort Platz hatten und schlürften mit Behagen das kalte Wasser, ein Winterdurst, den ich gar nicht begreifen konnte. Hatten sie getrunken, so hing manchmal, wenn wir wieder über den kalten Riegel hinaufkamen, von den Schnauzen ein Eiszäpflein hinab, was aber gar nicht hinderte, daß unterwegs die munteren Stierlein schalkten mit den Kalben und dabei trotz meiner Winke mit der Gerte nicht vom Flecke wollten. Mein innerer Schmerz bestand in der Furcht vor Geheimnissen. Denn an den Winterabenden war es beim »Wassern« zumeist schon kohlrabenfinster. Pfiff in den Bäumen der Wind, so war es unheimlich, und rührte sich kein Zweiglein, kein Lufthauch, so war es noch unheimlicher. – Und so wie ich mit den Tieren, gingen andere mit den Wasserbutten zum Waldbrunnen hinab, um den Hausbedarf zu holen. Einmal hatte der Knecht so eine gefüllte »Wasserbutten« im Vorgelaß des Hauses stehen lassen, in der Nacht darauf gab es einen Knall und am nächsten Morgen lagen die Taufeln des Gefäßes auf der Erde und das gute Waldbrunnwasser stand in Gestalt der Butten da, es war zu einem Eisklumpen geworden. Daraus erhellt, daß es in unserem Hause auf dem Berge manchmal kälter war, als unten beim Waldbrunnen, dessen Trogspiegel nie eine Eiskruste aufwies.

Einmal hatte ich am Waldbrunnen ein großes Herzeleid. Im Herbste war's, ich hatte unten im Wiesental aus dem Fresenbach ein Forellchen gestohlen. Es war ohnehin selten genug, daß es mir gelang, mit den Händen so ein Schwänzlein unter einem Stein oder Rasen hervorzufangen. Nun hielt ich das Tier im Wasser fest, daß es einstweilen noch trinken konnte, und dachte nach, wie man das schöne Fischlein lebendig hinaufbringen könnte zum Haus auf dem [278] Berge, um es dort im Hofbrunnen zu hegen und zu pflegen zu meiner und der Geschwister Ergötzung. Es muß nur Wasser haben unterwegs, sonst braucht es nichts. Und Wasser hat es doch, wenn ich dem Wässerlein entlang anwärts gehe, das da durch den Wald herabrinnt. Man hält es unterwegs manchmal hinein und läßt es wie in einem Wirtshause trinken. So geschah's. Ich lief mit der in der Hand schwänzelnden Forelle den Berg hinan und hielt sie von Zeit zu Zeit in ein Wassertümplein, damit sie sich den Durst löschen konnte. Anfangs machte sie darin noch das hufeisenförmige Maul auf und zu und bewegte die Ohren, wofür ich die Kiemen hielt. Ich lief dann wieder was das Zeug hielt, aber der Berg ist hoch und allmählich wurde das Schwänzlein matter, krampfhafter, und wenn ich das Tier ins Wasser hielt, wollte es nicht mehr saufen. Ich versuchte ein anderes Mittel, das Buben bei ohnmächtigen Fischen anzuwenden pflegten, ich blies ihm ins offene Maul Atem hinein. Das schien ihm aber gleichgültig zu sein. Endlich kam ich zum Waldbrunnen. Das ist ein tiefes, klares, frisches Wasser, das wird ihm schon taugen, da wird es sich bald erholen. Nur um ein geringes weniger atemlos als der Fisch angekommen warf ich ihn sofort ins Wasser. Er tauchte langsam in die Tiefe, legte sich dort seitlings auf den grünen Samt hin, daß der weiße Bauch mit den roten Sternlein obenauf war, tat Augen und Maul auf und bewegte sich nicht. Am Ende ist er tot? Dann wird er in diesem guten Wasser gewiß wieder lebendig, wenn man ihm nur Anregung dazu gibt. Ich griff vorsichtig hinein, richtete den Fisch auf, wie Fische stehen, kitzelte ihm die Flossen, schob ihn ein wenig voran, ja machte ihm mit dem Finger das Maul auf und zu, wobei sich richtig die »Ohren« bewegten. Aber als ich das liebe Fischlein wieder [279] ausließ, um zu sehen, ob es auf eigenen Flossen stehen könne, legte es sich neuerdings auf die Seite und war wieder tot.

Ich stand vor dem Troge, schaute ins Wasser und fing an traurig zu werden. Dann riß ich ein herzförmiges Lattichblatt vom Stengel, legte das kalte weiche Leichlein drauf und trug es vollends hinan zum Waldhause. Dort hat die Mutter den Fisch ausgeweidet, gewaschen, mit Salz bestreut und in die Glut des Herdes geworfen. Und siehe, in der lichtguldenen Holzkohlenglut ward die Forelle wie lebendig, wenigstens begann sie mählich den Schwanz zu heben und sich zu ringeln. Den Ring aber nahm die Mutter mit der Feuerzange heraus, dann blies sie die Asche weg und legte ihn auf den Teller. Und hernach habe ich aus lauter Traurigkeit um das Fischlein dasselbe aufgegessen bis auf das zartbegrätete Rückgrat und auf den Kopf, aus welchem mich die runden verkalkten Äuglein ganz verliebt anblickten.

Am Waldbrunnen aber, wo solche Ereignisse sich zugetragen, stand dann einmal die Jungmagd und wusch sich. Sie wusch die Hände, das Gesicht; die dunkeln Flecklein und Sommersprossen gingen nicht mehr weg; sie wusch sich die Augen – die blieben rot und trüb, und dann setzte sie sich auf den Trogrand und schaute starr zu Boden.

Freilich hatte er sie heiraten wollen, der Franzel, sie war mit ihm schon zweimal ausgerufen worden von der Kanzel. Anstatt des dritten Ausrufes am Sonntage vor der Hochzeit verkündete der Pfarrer das folgende: »Gestern nachmittags um fünf Uhr ist im Ländholz der beim Waldbauern bedienstete Knecht Franz Zeilhofer beim Graßschnatten verunglückt in seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahre. Lasset uns für seine arme Seele ein Vaterunser und ein Ave-Maria beten.« Der Franz lag dieweilen in der Vorlauben [280] unseres Hauses schlank und blaß auf dem Brett. Die Jungmagd stand bei ihm und strählte mit einem Kamm sein weiches nußbraunes Haar quer über die Stirn herab und steckte ihm ein Rosmarinsträußlein zwischen die über der Brust ineinander gelegten wachsweißen Finger. – Morgen wäre ja der Hochzeitstag...

Und wie hat sie sich zugetragen, die Geschichte seines frühen Todes? Der Ländbauer im Tale hatte meinen Vater gebeten: »Gelt, Nachbar, du bist so gut und borgest einen Knecht, daß er mir Graß (Reisig) von den Fichten schnattet, ich bin schon alt und kann nit mehr hinauf und meine Weibsleute wollen nit hinaus. Und im Stall brauch' ich schon die Streu.«

Sagte mein Vater zum Weidknecht: »Franzel, du bist ein flinker Steiger. Kannst dir für deinen kommenden Ehestand ein Vergeltsgott erwerben, wenn du am Samstagfeierabend dem alten Ländhofer ein paar Graßbäume schnattest.«

»'sselb' will ich schon tun,« antwortete der Franzel, der immer ein williger Mensch war und der hoch auf dem Fichtenwipfel eins zu jauchzen gedachte, so lange er noch Junggeselle täte sein auf der Welt im sonnigen Abendschein. Und als der Feierabend kam, ging er hinab in das Ländholz, schnallte die doppelzackigen Steigeisen an die Füße und stieg an. Und als er hoch auf einem schlanken Fichtenbaume war und munter die langen Äste abhackte, daß sie rauschend niederfielen aufs zarte Heidekraut, da kam der Nachbar Kniepler mit einem Beil daher und schrie hinauf: »Wer hat dir's geschafft, in meinem Wald Graß zu schnatten?«

»Das ist dem Ländhofer sein Wald!« rief der Franzel herab.

[281] »Du Lügenmaul, du verdammtes!« darauf der Kniepler, »dort drunten ist die Grenze und dieser Baum gehört mein. Wirst herabsteigen?«

»Na,« antwortete der Franzel, schnattete weiter und begann zu pfeifen.

»Wo er eh mein Feind ist! Ich will dir herabhelfen, du Froschkeule, du! Ich komm dir hinauf!«

»Komm nur herauf,« sagte der Franzel, »auf diesem Wipfel haben zwei Vögel Platz,« und pfiff weiter.

Da hat den Kniepler, der ein wilder, halbverrückter Mensch war, die Wut gepackt. Hinauf stieg er nicht, weil er sich nicht getraute, aber etwas anderes begann er. »Wart' nur!« keuchte er und hub an, den Fichtenstamm zu behacken mit dem Beil. »Wart' nur, dir will ich das Herabsteigen ersparen. Hängen wirst nit bleiben in der Luft, das weiß ich.«

Bei jedem Hiebe, den er dem Stamm versetzte mit dem scharfen Stahl, ging ein leises Zittern hinan den Schaft. Ein Kreuzschnabelpaar, das zuhöchst im Wipfel genistet hatte, flatterte auf und umkreiste kreischend die Krone. – Der Narr wird doch den Baum nicht fällen wollen, mag der Franzel sich gedacht haben. Und als er sah, daß der Kniepler ernst machte, begann er sich auf seinem Wipfel zu schaukeln, so daß der Bogen immer größer wurde, den der schlanke federige Baum durch die Lüfte schnitt. Der Franzel hatte die Absicht, durch das Schaukeln einen Wipfel der nebenstehenden Bäume zu erreichen, sich auf den selben hinüber zu schwingen, wie es die Eichkätzlein machen. Aber die Entfernung bis zum nächsten Wipfel war immer noch zu groß. Es währte eine halbe Stunde und länger, der Kniepler hieb eifrig los, die Späne flogen, der Stamm hatte bereits eine große Scharte. Das hohle [282] Dröhnen im Stamme zeigte dem Franzel oben wohl an, daß das Beil schon an den Kern kam. Da wurde er still und dachte vielleicht nach, was jetzt zu tun sei, ob er um Gnade bitten solle oder das Äußerste abwarten. Für ersteres war's vielleicht auch schon zu spät, denn im Schafte begann es zu knistern. – Schaukeln tat er nicht mehr, der Franzel, aber sachte, ganz sachte sing der Baum mit ihm an, sich nach einer Seite zu neigen, zuerst stoßweise, ruckweise, dann ein schmetterndes Schnalzen und ein Hinsausen durch die Luft...

Wild schwirren die Vögel um den fallenden Stamm. Dieser streift eine alte Lärche, der Franzel hascht hin, erfangt sich am Lärchenast, aber die Steigeisen des Burschen sind tief ins Fichtenholz gehackt, so daß der Franzel einen Augenblick an beiden Bäumen hängt. Da bricht der Lärchenast und nieder mit dem krachenden Baum stürzt der Franzel. Mit dumpfem Schall schlägt sein Körper auf den steinigen Boden, wo er regungslos liegen bleibt.

Am späten Abend, als es schon dunkelte, kam der Kniepler langsam an unser Haus herangeschlichen und brachte in weinerlicher Art die Nachricht vor, unser Weidknecht sei beim Großschnatten im Ländholz vom Baume gefallen, er habe ihn dort gefunden. Wir gingen gleich mit Laternen hinab, da waren schon Leute dort; sie zeigten auf den Toten, auf den umgehauenen Baum und fragten den Kniepler eindringlich, wie das habe geschehen können?!

»So!« begehrte der Bauer überlaut auf, »glaubt's etwa, ich hätt' die Fichten umgehackt?« So hatte er sich zum guten Teil schon in jener Nacht verraten. Das Geständnis legte er am zweiten Tage ab, vor dem Kruzifix im Gerichtssaal zu Leoben.

Und so ist der Franzel gestorben. Man hat ihn hinaufgetragen [283] zum Waldbrunnen. An diesem Brunnen hat einst sein Blut geblüht und an diesem Brunnen ist es abgewaschen worden.

– – – – – – – – – – – – – –

Als nach solchen Geschichten mehr als vierzig Jahre vergangen waren, da ist aus der Ferne ein ältlicher Mann gekommen und hat gerastet am Waldbrunnen. Vieles hatte sich in der Gegend geändert, Haus um Haus war zur Erde gesunken und die Leute in sie hinein. Nur diese alten Tannen und Lärchen standen noch so wie einst und die Germen und Wildfarren wucherten auf moorigem Boden. Der Brunnentrog war noch immer nicht ganz vermodert, nur hatte er sich noch enger in den Boden eingeschmiegt, noch dichter in den grünen Mantel des Mooses gehüllt, wie es uralte Greise tun, wenn es sie fröstelt. Die Quelle aber rann so aus dem Gestein wie ehedem, in ewiger Jugendfrische.

Die Wacht am Rain
[284] Die Wacht am Rain.

Das kleine Königreich meines Vaters hatte auch eine Armee, um seine Grenzen zu beschützen. Und diese Armee war ich, etwa von meinem achten bis fünfzehnten Lebensjahre. Siebenjährige Dienstzeit.

Die Grenzraine des an siebzig Joch weiten Besitzes waren teils mit Holzstangenzäunen, teils mit Hecken bestanden, teils mit Steinhaufen gemärkt, teils durch einen Bach gezogen. Großenteils aber lag die Grenze zwischen uns und dem Nachbar fast ohne sichtbare Linie da, nur daß von Strecke zu Strecke ein aus der Erde ragender Stein oder ein Baumstock die Berainung anzeigte, die seit Urgroßvaters Zeiten haarscharf genau an der gleichen Stelle sich hinzog. Zu Urgroßvaters Zeiten soll es wohl einmal ein Nachbar versucht haben, etliche Grenzsteine auf unsere Wiese hereinzusetzen; der mußte diese seine Grenzerweiterung ganz kurios wieder richtigstellen – nachher als Geist. Und wie schwer sich ein Geist tut, der ohne Knochen und Muskeln Steine ausgraben, weitertragen und wieder einsetzen soll, das kann man sich denken. Andere Grenzüberschreitungen kamen wohl auch zu meiner Zeit vor. Es ging des Nachbars alte Magd im Frühherbst mit dem Handkorb und sammelte auf unserem Gebiete Pilze und Beeren. Kein Mensch wies sie zu rück, ja, wir wußten nicht einmal, daß die Waldfrüchte, die auf unserem Boden von selbst wuchsen, unser Eigentum [285] seien, dachten auch nie darüber nach. In der Waldheimat hat derlei wohl seit jeher als gemeinsamer Besitz gegolten, so wie ja der Durstige von der Quelle trinkt, ohne zu fragen, wem sie gehört. Auch wenn des Nachbars Knecht mit der Axt über den Rain herkam, um in unseren Stauden Gerten zu schneiden oder von einer Fichte einige Äste für Hausbesen herabzuhacken, weil ihm unsere Hecken und Bäume etwa gelegener und brauchbarer waren, als die auf seinem Grunde: so empfanden wir das nie als einen unberechtigten Eingriff in unser Eigentum. Wir machten es ja umgekehrt auch so.

Deshalb also war kein Grenzschutz vonnöten, nicht einmal ein, wie der zugewanderte Schweizer sagte, drei Käse hohes Bübel, das gleichzeitig Feldmarschall und Regiment sein mußte. Aus einem anderen Grunde bedurfte meines Vaters Königreich der Wacht am Rain.

Im Herbste, wenn das Heu im Stadt, das Getreide in den Scheunen war, ließen wir das Vieh auf Wiese und Feld, damit es die Futterreste grase, ehe der Schnee kam. Und dieses Vieh übertrieb die Genußsucht, den Ehrgeiz und respektierte keine Grenzen. Nicht das Futter lockte es so sehr auf fremde Gebiete, als vielmehr der Haß und die Liebe. Hier stieg ein Ochse über die Grenze, brach, wenn's sein mußte, den Zaun, um in der Nachbarsherde Händel zu suchen. Da fuhren sie mit hochgereiften Schweifen brüllend gegeneinander, stießen mit den Schädeln zusammen; jedes der ringenden Tiere ist drauf aus, dem andern ein Horn ins Auge oder in den Hals zu rennen und gleichzeitig pariert jedes mit kluger Kopfwendung den Stoß. Trotzdem geschieht bisweilen Unheil, ein Hornbruch, ein Beinbruch, wenn sich die Kämpfer nicht gar abstechen. So ein Ochse hält auf Ehre und will der Stärkere sein. So verachtend jedes einzelne[286] Vieh der Herde auf den Händelstifter blickt, der rauflustig über den Rain herkommt, so wohlgefällig und ehrerbietig schaut es auf ihn, wenn er als Sieger dasteht. Und der zuschanden gerannte Gegner bleibt liegen, wo er liegt. Kurz, die Tiere sind oft gerade so niederträchtig wie die Leute.

Deshalb die Wacht am Rain. Der drei Käse Hohe mit dem Birkengertel genügt, um die stärksten, wütigsten Rinder in ihr Bereich zu bannen. Ein wutschnaubender, drei Zentner schwerer Ochse, der es mit der ganzen Nachbarsherde aufnimmt, läßt Kopf und Schweif hängen, wenn das achtjährige Knäblein mit der Gerte droht. Ist das Dummheit oder Klugheit? Es mag letzteres sein. Des Ochsen von Menschen stets beherrschte Vorfahren haben ihm einen Instinkt vererbt, der ihm sagt: Du! Mit diesen winzigen Zweifüßlern fange nichts an. Da zögest du den kürzern, wenn nicht heute, so morgen!

Aber auch die Liebe lockt das Vieh zum Überschreiten der Grenze. Die Herde hat ihre Jungmännerwelt, die über die Grenze liebäugelt, wenn auf der Nachbarswiese ahnende Kalben und lebenslustige Kühe weiden. Und sie wollen herüber, diese vierfüßigen Herren mit den schwerschlotternden Halsfahnen. Das ist nicht immer im wirtschaftlichen Sinne der Herdenbesitzer, die nur zu gewissen Zeiten eine Zusammenkunft der verschiedenen Geschlechter begünstigen können, im übrigen aber strenge auf Zucht und Ordnung halten. Deshalb stellen sie am Rain eine Wacht auf.

Diese Wacht also war meine Sache, viele Jahre lang.

Meine Heldenhaftigkeit mit der Gerte ist schon angedeutet worden, so muß leider auch von meiner Unverläßlichkeit berichtet werden. Parteihistorie würde statt Unverläßlichkeit ein viel strengeres Wort gebrauchen, wenn nicht gar von – Hochverrat sprechen. Eines Tages, während [287] auf unserer Wiese unsere Kuhherde weidete und auf des Nachbars Weide das junge Stiervolk, verließ ich meinen Posten am Rain. Es schien die Sonne so scharf und der nahe Wald hatte so weiche, laue Schatten, und die Tiere graseten so unbefangen vor sich hin, graseten an jeder Seite sachte von der Grenzhecke weg, um sich immer mehr voneinander zu entfernen. Diese Kriegslist durchschaute ich nicht, ging in den Wald hinein, um unter dem wohligen Tannenschirm in dem schönen Erbauungsbuche von den sieben Schwaben zu lesen. Es ging zwar etwas langsam mit dem Lesen, aber nach einer Weile war ich doch aus der Geschichte beinahe klug geworden: Ein Rathaus hatten sie sich gebaut, die sieben Schwaben, und als sie hineingingen, war es ganz finster drinnen. Dem, meinten sie, sei leicht abzuhelfen, man müßte eben das Tageslicht in Säcken hereintragen. Das taten sie, doch als sie drinnen die Säcke ausleerten, kam wieder nichts heraus, als eitel Finsternis. Nun hielten sie eine Ratssitzung und erörterten die seltsame Erscheinung, wieso denn das komme, daß gerade in diesem neuen Hause alles finster sei, mitten im Tage? Bis es einem der Herren, es war ein Gelehrter, nach tiefgründigem Forschen einfiel, ob die auffallende Dunkelheit nicht etwa davon komme, weil das Haus keine Fenster habe? Sie hatten beim Baue der Fenster vergessen. Dann ist der Antrag gestellt worden, an den Wänden probeweise Fenster auszubrechen, der mit Stimmenmehrheit auch zur Annahme kam. – So ungefähr stand's im Buche. Ganz klar war die Sache nicht, kümmerte mich aber einstweilen nicht weiter drum, sondern sah nach meinem Berufe am Rain. – O schreckbares Ereignis! Auf unserer Wiese gab es einen grausigen Tanz. Sie war voller Kühe, Kalben, Ochsen und Stiere; die Nachbarlichen waren alle herüber und wirbelten mit den Unseren[288] schaudervoll durcheinander. Die einen bekämpften sich mit Köpfen und Hörnern auf Leben und Tod, die übrigen besprangen sich und ritten eines auf dem andern herum, ganz sinnlos, ganz dumm. Ich habe mich ihrerstatt geschämt.

Das erste war, daß ich in den kreisenden Knäuel mein Buch schleuderte. Aber aus den sieben Schwaben machten sie sich gar nichts. Meine Gerte brach bei dem ersten Hieb auf den wahnsinnigen Stier entzwei. Vom verdorrten Ahornbaum riß ich einen erklecklichen Ast ab, mit demselben drang ich aufs Schlachtfeld ein – und die Herden stoben auseinander. Die Heldentat war groß. Doch mein Vater, als er draufkam – vom Hausberge aus hatte er's gesehen – sprach nichts von einer Heldentat, sondern von einer sträflichen Unverläßlichkeit. Das Zuschlagen, meinte er, der auf kein Tier schlagen sehen konnte, wäre nie notwendig geworden, wenn ich stets am Rain gewacht hätte.

Derselbe Grenzrain, der über die Wiese ging, zog sich durch den Wald hinauf bis zu jenem Brunnen, wo aus der sandigen Erde Wasser quoll und über eine morsche Holzrinne in den Trog floß. Da geschah es unterweilen, daß an diesem Troge unsere Hausdirne Wäsche ausschwemmte, während jenseits des Raines des Nachbars Knecht Brennholz klob. In solchen Stunden schickte auch mich mein Vater gerne zum Brunnen, um dort Kresse zu sammeln, den die Mutter zu einem köstlichen Salat bereiten konnte; oder ich sollte mit einer Haue das Wassergräblein tiefer furchen, das unterhalb des Brunnentroges heraus und am Rain dahinlief. Manchmal wollte die Dirn mich fortschicken durch das junge Waldbestände hin, um auszuspähen, ob nicht irgendwo eine Wildtaube niste oder ein Has im Pfeffer sitze. Ich folgte ihr nicht, denn der Vater hatte mir aufgetragen, am Brunnen zu arbeiten, wo auch die [289] Dirn Wäsche schwemmte. Einmal jedoch, als von jenseits herüber hell die Holzaxt klang, vertraute mir die Dirn an, daß weiter unten im Dickicht ein großes Kuckucksnest sei – fünf Junge wären darin, kohlschwarzgefleckte Kerle, ganz kleine. Doch jammerschade, wenn ein's keinen davon erwischen könnte! Da lief ich durch das Dickicht hinab, fand ein leeres Rehnest, fand einen hohlen Baumstock mit Käfern, fand eine Gruppe gelber, halbverfaulter Pilze – aber das Kuckucksnest fand ich nicht. Ärgerlich ging ich zum Brunnen zurück, und dort fand ich auch die Magd nicht. Die Wäscheranzen lagen noch auf dem Trogkopf und tröpfelten ihr letztes Wasser aus. Ob die Dirn nicht etwa zum Holzklieber hinübergegangen sei, um ein bißl zu plaudern? dachte ich und ging hinüber. Drüben sah ich den Scheiterhaufen und die Axt und eine blaue Barchentjacke, die am Baume hing; aber es waren weder der Nachbarsknecht noch die Hausdirn da. – Sie werden heimgegangen sein, dachte ich und ging ebenfalls heim. Und die Hausdirn war auch zu Hause nicht.

Darüber wurde der Vater aufgebracht, viel zorniger, als es sich um ein Körblein Waldkresse auszahlt, und er sagte mir's hart ins erschreckte Gesicht hinein, ich sei zu nichts zu brauchen. Ich hätte das Vieh auf Schaden gehalten und ich hätte die Dirn auf Schaden gehalten. – So ungefähr weiß ich die Worte noch und habe sie doch damals nicht verstanden. Man muß zum mindesten sechzehn Jahre alt werden, bis man so was versteht. Man hört's auf der Bauernschaft und sieht's und versteht es doch nicht. Man ist gleichgültig dafür. Erst als im großen Siebzigerjahr im ganzen Lande die »Wacht am Rhein« gesungen wurde, ist auch mir jene Wacht am Rain wieder eingefallen, die ich einst so »tapfer« gestanden bin und von der ich gerne [290] erzähle, um zu erinnern, daß die Einfalt kein guter Wächter ist.

Freilich bin ich auch nicht dafür, daß man, wie die sieben Schwaben, das Licht sackvollweise in die Kindsköpfe trage, um sie frühzeitig aufzuklären über die Geheimnisse des Raines. Ich war an die zehn Jahre, als ein übermütiger Holzknechtbub mir den er sten Sack voll Licht ins Gehirnkastel schüttete. Darauf dämmerte es bloß. Richtig eingeheizt hat mir erst viele Jahre später ein Nachbarsmadel. Da wäre ich gerne wieder Wacht am Rain gestanden, aber nun stand der Vater selber dort. –

Beim lieben Vieh
[291] Beim lieben Vieh.

Allmählich aber hub eine andere Zeit an, und ich sag' ja immer, man sollte die liebe Jugend nicht zum lieben Vieh stellen. Das liebe Vieh wird allzu gescheit. Erzählen wir was davon.

An einem Samstag war's, im Hochsommer, so in den Nachmittagsstunden, da hob der Herrgott die Rute und peitschte uns Alpelbauern tüchtig durch. Ein scharfer Hagel kam und vernichtete das reifende Korn und den grünen Kohl bei Putz und Stingel. Es war ein harter Schlag und nur jene Glücklichen, die unter der Erde ruhten, hatten ihn nicht gefühlt – die Erdäpfel.

Mein Vater hatte sieben Kinder, worunter ich dasjenige, welches am meisten brauchte, weil ich das größte war. – Arme Leute haben auch ihre Lieb' zu den Kindern im Herzen, aber die Sorge legt sich darüber und erstickt sie schier, und nur selten bäumt sie – die ja stark ist wie der Tod – sich empor und schreit mit einer alles übertönenden Stimme nach dem Kinde. Mein Vater hatte manchen Versuch gemacht, sich meiner zu entäußern, auf ein Jährchen oder zwei, bis ich selbst die Kraft hätte, auf heimatlichem Grunde mein Brot zu graben. Aber es nahm mich niemand, nur daß mich die Nachbarn zuweilen als Botengeher zum Krämer, zum Arzt, zum Amtmann benützten und mich dafür denselbigen Tag verköstigten.

[292] Als nun an jenem Tage plötzlich die Hungersnot da war, sah der Vater seine Sieben mit nassen Augen an und lachte dabei. Sein Gelächter war derart, daß ihm die Mutter in den Arm fiel und rief: »Mußt nit so, Mann, mußt nit so! Kommt's darauf an, so hab' ich dir übermorgen alle Kinder weg; nicht eins siehst mehr im Haus.«

Und am zweiten Tag zum Abend kam die Mutter müd' und matt nach Hause. Sie machte gar ein heiteres Gesicht – und das war mir heute bei ihr nicht in Richtigkeit.

»So,« sagte sie, als sie auf der Stubentürschwelle saß, die wir, wenn die Tür just zu war, gern als Lehnstuhl benützten, »so, Schüsseln sind gefunden, Kinder; sie stehen mitten auf dem Fremdleuttisch, jetzt müßt's halt lange Arm machen, daß ihr was mögt derlangen. Du, Peterl, gehst in den Hefelrainhof zum Vieh, wo du schon einmal auf Aushilf' bist gewesen. Kennst dich ja aus beim Vieh. Morgen früh kommt der Postl und nimmt dich mit. Dich, Jackerl, braucht der Grabelbauer zum Schafhalten. Kannst gleich morgen anheben. Die Plonerl brauchen sie beim Riegelberger fürs jung' Kind; den Polderl –«

»Jegerl, Jegerl, aber Bäurin!« unterbrach der Vater die Mutter, »hörst nit bald auf! Willst mirs denn alle verhausen?«

»So!« sagte die Mutter, »dir ist's nit recht! Ja meinst; es geschieht mir leicht?«

Die vier Kleineren blieben daheim bei den Erdäpfeln, wir drei Größeren gingen »in Dienst«. Wie es dem Jackerl beim Schafhalten und der Plonerl beim Kinderwiegen ergangen, das mögen sie selber dartun, oder die Wißbegierigen müssen warten bis auf den Tag, wo alles offenbar wird.

Ich ging in den Hefelrainhof zum Vieh. – Hätte ich[293] damals schon den schönen Namen Stallwart erfunden gehabt, ich hätte mein Geschick viel leichter ertragen als so, da mich jeder im Hause den Ochsenbuben hieß und auch danach behandelte. Für den Ochsenbuben ist alles gut, insonderheit wenn er noch so klein und untüchtig ist, als ich es war. Ich war auf mich selbst gestellt, konnte mich, den unter den Fittichen der Mutter vier Schuh hoch Gewordenen, zu den barschen fremden Leuten nicht schicken und sah es bald ein, daß ich in dem ganzen großen Hefelrainhof nur zwei Freunde hatte – meine steten Begleiter bei Tag, meine Stubengenossen bei Nacht – die Pöll Foich.

Pöll Foich, so hieß das vierjährige Zugochsenpaar meines Dienstherrn, das ich zu füttern und zu pflegen und bei den Fuhrwerken auf Weg und Feld zu leiten hatte. Mein Bett hatte ich im Stall über ihrer Krippe hängen, ihr gegenseitiges Lecken, ihr Reiben an der Krippenecke und ihr gemütliches Wiederkäuen war mir das Traulichste, was ich außer dem Essensruf auf dem Hefelrainhofe zu hören bekam, und ihre natürliche Wärme ersetzte mir in den Winternächten vollauf den Ofen.

Bei solch engem Umgange mit den beiden Recken konnte es nicht fehlen, daß ich allmählich ihre Charaktere durch und durch kennen lernte.

Der Pöll war eine schöne kräftige Gestalt. Er war lichtgrau von Farbe, hatte große, pechschwarze Augen und um dieselben einen ziemlich breiten, gelblichen Rand, dann eine Schnauze, auf welcher, gute Gesundheit deutend, stets Tröpfchen standen, und auf dem Oberkiefer zwei breite Zähne, welche seine Mannbarkeit ankündeten. Seine Mannbarkeit! Mein Himmel, welche Ironie des Schicksals! Die Hörner des Pöll waren dick und etwas nach vor- und aufwärts gebogen, grau und rauh an der Wurzel und schwarz[294] und glatt an den Spitzen, die sehr scharf ins Weite standen. Der Pöll trug sie gern hoch, er wußte, was er an seinen Hörnern besaß. Er war aus dem Dorfe gebürtig; seine erste Kindheit lebte er am Busen der Mutter, von welchem er aber schon in der fünften Woche seines Lebens gerissen wurde. Seinen Vater hatte er nie gekannt; derselbe, ein rüder, wüster Geselle, soll – so sagt man – zahllose Weiber betrogen haben und der Ahne einer weitverzweigten Sippe geworden sein.

Von der Mutter weg kam der Pöll, ganz wie ich, auf den Hefelrainhof, wo er seine Erziehung genoß. Ein aufgeweckter Junge, trieb er's lustig mit den Kälbern und Füllen auf der Weide, und kaum noch die ersten Stummel seiner Hörner hervorguckten, versuchte er sich schon im Rennen und Gaukeln und stieß manchen älteren Genossen in die Flucht. Sonst aber war er ein sanfter Charakter und hatte ein gutes Herz; jedesmal, wenn er glaubte, einem Kameraden wehgetan zu haben, ging er freundlich auf ihn zu, beleckte ihn an den Ohren, unter den Hörnern, am Halse und überall, wo jener selber sich nicht lecken konnte. Jedem sah er fröhlich ins Auge und jeder hatte ihn lieb. Und die Kalben blickten verschämt durch die Zäune auf den Jüngling und senkten züchtig ihre Häupter und fraßen taunasses Gras – da ihnen so warm ums Herz war.

In seiner Kindheit war der Pöll semmelfalb gewesen und alle hatten ihn das Falcherl, den Falben, genannt. Mit den Jünglingsjahren aber wurde seine Farbe dunkler und fast grauschwarz bis auf den weißen Streifen, der wie Reif längs seines Rücken lag. Sehr kräftig und schön entwickelte sich der Nacken, und die Hörner wuchsen immer kühner und freier aus ihrem Grunde. Der Hefelrainhofer tätschelte den Jungen gern mit der Hand, schob ihm Heu [295] in die Schnauze und sah dabei nach, wie es mit den Zähnen stünde, die er sich für eine gewisse Angelegenheit zur Richtschnur sein ließ, und nannte ihn sein »braves Pöllerl«.

Da war's zur selben Zeit, an einem wohligen Juliabende, daß der Pöll an der Zaunschranke stand, als hinter derselben in ehrsamem Schritte die Rinderschar des Ziselhofes vorüberzog. Voran ging im Bewußtsein ihrer Würde die braune schwerbeeuterte Glockenträgerin, wohlgesättigt von der Halde. Als sie den jungen Pöll am Zaune stehen sah, hielt sie ihren Schritt an und blickte zu ihm hinüber. Sie erkannte den Sohn und eine Herzensfreudigkeit wurde in ihr lebendig darüber, daß der Junge noch am Leben war und so wohl aussah, während manches ihrer Kinder mit großen, wütigen Hunden von ihr fortgehetzt worden.

Aber der Pöll hatte kein Auge für seine Mutter. Ein anderes war es, was heute sein volles Interesse in Anspruch nahm. Etwa die dritte oder vierte in der Reihe, schritt in jungfräulicher Züchtigkeit eine Kalbin heran, die nur einmal ihren Kopf nach ihm wendete, dann sich mit dem Schweif eine Bremse vom Rücken schlug und gleich den anderen von hinnen wandelte.

Der Pöll ging seinerseits den Zaun entlang und ließ die holde Erscheinung nicht aus den Augen. Ein bisher ungekanntes Gefühl wurde in seinem Herzen wach. Er brüllte dumpf, eine Träne rann aus seinem Auge, und es mag ihm in diesem Momente wohl zumute gewesen sein, wie einem Menschenjüngling, der ein lyrisches Gedicht macht. Plötzlich jedoch sah er etwas, wovor seine ahnungslose Seele erbebte. Durch die Herde heran drängte sich der Grull, ein schwarzer Geselle mit sehr dickem Halse. In männlicher Stolzheit nahte er sich der schönen Kalbin. – Der Pöll kannte ihn wohl, den Grull; die beiden waren einige[296] Zeit Kameraden gewesen auf dem Hefelrainhofe, hatten in einem und demselben Stalle gewohnt und waren sogar Freunde geworden. Der Grull war ein Jahr älter als der Pöll, aber um vieles unternehmender und leidenschaftlicher. Er war Realist vom Heu bis zum Stroh, während in Pöll bisweilen doch auch die zarten Saiten des Ideals erklangen. Der Pöll träumte zuzeiten von sprossenden Kohlgärten und Blumenbeeten, von peitschenloser Freiheit auf ungemähten Wiesen und Kleefeldern und mancherlei Dingen, die dem irdischen Vieh zumeist wohl unerreichbar sind, während sich der Grull nur an das hielt, was ihm augenblicklich nahe lag und er hierin auch voll zu genießen verstand.

Da hatte eines Tages der Nachbar Ziselhofer an dem stämmigen und praktischen Burschen Gefallen gefunden, denselben gegen ein fettes Schlagrind eingetauscht und zu seiner Herde heimgeführt, die an dem neuen Genossen sehr viel Freude fand.

Und wie mußten sich die beiden Freunde wiedersehen! Der Grull ging gerade auf die anmutsreiche Kalbin – Morlo, rief sie der Hirt – zu, und diese blieb stehen und wartete auf ihn. Er gaukelte einmal mit den Hörnern, dann beleckte er ihre Wange – Menschen würden sagen, er küßte sie – und legte sein dickes Haupt auf ihren Nacken. – Da wurde es dem armen Pöll grau vor den Augen, heiße Glut, wilde Eifersucht tobte in seiner Brust, er rannte mit den Hörnern gegen den Zaun und suchte die Stangen zu durchbrechen, um das holde Wesen vor dem Lüstling zu schützen. Jetzt stand der Hirt da und ein Peitschenriemen, der noch erklecklich viele Knoten haben mußte, pfiff dem Pöll wie eine giftige Schlange um die Ohren, daß er erschreckt zurückwich.

Als er sein Haupt wieder wendete, war der Zug vorüber; [297] die Glocke hörte er noch schellen von weitem; er aber stand auf der Heide, einsam und allein.

Jedoch – was ein finster Geschick ihm versagte, das schien ein freundlicher Zufall zu gewähren. Sein Herr, der Hefelrainhofer, kaufte eines schönen Tages die Kalbin Morlo an. Auf der freien Weide wurde sie zur Herde des Hefelrainhofers gelassen. Sie war schüchtern und etwas verzagt; der weibliche Teil der Herde schien sie zu meiden, zu höhnen oder gar mit den Hörnern zu verfolgen; der männliche Teil machte sich neugierig und übermütig an sie heran. Der gute Pöll hielt sich stets etwas abseits, tat als grase er unbekümmert auf seinem Fleck – doch sein ganzes Denken und Fühlen war sie. Er sann nach, ob es nicht möglich wäre, in der Abenddämmerung den Bretterzaun des Gemüsegartens der Bäuerin zu durchbrechen, die Morlo mit in denselben zu locken, unbeirrt von allen anderen mitten unter köstlichen Kräutern und Blumen ihr seine Liebe zu gestehen und so den verhaßten schwarzen Buhlen für immer aus dem Felde zu schlagen.

Langsam und auf Umwegen nahte er sich nun der braunen Kalbin. Herangereift zur vollen Weiblichkeit, war sie weder kokett noch affektiert, in reizender Naivität hob sie ihr Haupt, wendete es dem Jüngling zu und sie blickten sich ins Auge. Sie fanden sich und sollten nun zusammen sein alltäglich auf der blumigen Flur und in der schattenkühlen Halde. Dann wollte er sie umfangen mit seinen Armen, auf denen er sonst – unter dem Fluche des Geschlechts – zu Vieren durchs Leben schreiten mußte.

Hoffnung schwellte sein Herz. – Da war's an dem Tage, daß ein fahlbärtiger Mann in den Hefelrainhof kam; derselbe hatte eine übermäßig fettige Lederhose, ein narbiges Gesicht und zwei kleine, nebelgraue Äuglein, die nicht [298] viel Gutes ahnen ließen. Er trug einen Strickballen an den Hosenhäller geknüpft mit sich, ferner einen braunen Salbentiegel, einen Handblasebalg und einen zweischneidigen Eisenkolben, den er in der Küche des Hauses sogleich ins Feuer steckte.

Und zu gleicher Stunde kam der Hefelrainhofer auf die Weide, sah sich nach dem Pöllerl um und lockte ihn schmeichelnd mit einer Handvoll Hafer mit sich. Der Pöll freute sich über das Wohlwollen seines Herrn, und in der Meinung, daß ihm schon das Hochzeitsmahl gedeckt sei, trabte er dem Bauer nach.

Du armer, ahnungsloser Junge!

Kaum daß er in den Hof eintrat, wurde er von mehreren Knechten an den Hörnern gepackt, auf einen Strohbund hin zu Boden geworfen, an beiden Füßenpaaren mit Stricken gebunden – und er, ganz betäubt im ersten Schreck, erwartete nichts anderes als den Gnadenstoß ins Herz. Es kam schlimmer. Mit plötzlicher und schreckvoller Klarheit sah der Pöll die schändliche Verschwörung gegen ihn, hinter welcher sicherlich der falsche Grull steckte. Er brüllt wie ein Löwe, doch ergeben mußte er sich der brutalen Gewalt, es vergingen ihm die Sinne.

Als der Arme wieder zu sich kam, lag er in der Dunkelheit seines Stalles auf frischem Stroh. Er fühlte, sein Wesen war gebrochen, Lieb' und Leben ihm vergällt. Er knirschte mit den Zähnen, er stieß mit der Stirne an die Krippe, daß darunter die Mäuse aufschreckten – aber er war ohnmächtig.

Nach acht Tagen war der Pöll insoweit wieder geheilt, daß er auf eine Stunde ins Freie wanken konnte. Sonnig lagen die Gefilde vor ihm da, aber nicht erfreute ihn der Sang der Vögel, nicht der Duft der Blumen und nicht das [299] saftige Gras. Traurig blickte er hinüber auf die Au, wo die Herde fröhlich weidete und wo Morlo, die braune Kalbin, mit – dem schwarzen Grull koste und schäkerte.

Laut stöhnte er auf und wühlte mit seinem Vorderfuß in der Erde, als wollte er dem siegreichen Nebenbuhler das Grab graben, oder sich selbst in den kühlen Grund betten. Dann kam eine tiefe Abspannung und Gleichgültigkeit über ihn und weltverachtend legte er sich in die Sonne hin und schloß die Augen.

Zur selben Zeit war's, daß der unglückliche Pöll einen neuen Stallgenossen erhielt. Es war ein lichtsalber, gutmütiger Ochs, im gleichen Alter mit dem Pöll, und auch mit gleichem Geschicke. Sein Name war Foich (so viel als der Falbe, der Falche). Er war in der Wiesau geboren, kam frühzeitig unter fremdes Dach und überhaupt hatte seine Jugend große Ähnlichkeit mit der unseres Pöll. Nur war der Foich von glücklicherer Charakteranlage als jener; er war phlegmatischen Temperaments, genoß ruhig, was die Weide und der Trog ihm boten, hatte weiters keine Wünsche und Pläne und ließ sich von des Lebens Lust oder Not nicht eben sehr aufregen. Eine gelbgraue Kalbin, die mit ihm auf einem und demselben Hofe war, sah er nicht ungern, doch als er merkte, daß sein Kamerad, der Zingg, mit Leidenschaft ihr nachhing und darüber sehr mager wurde, verzichtete er willig. Trotzdem verfiel auch er dem bösen Fatum, dem kein Ochse hienieden entgeht, und mit gebrochener Manneskraft kam er auf den Hefelrainhof, wo er den trostlosen Schicksalsgenossen fand.

Der Pöll kehrte sich anfangs nicht an den neuen Kameraden – er grollte allen Wesen und zumeist denen, die sich, wie der Foich, mit gleichgültigem Behagen der Niedertracht der Welt ergaben. Doch ging allmählich, wie an [300] seiner äußeren Hautfarbe, die seit der Katastrophe lichte grau und endlich völlig weiß wurde, auch in seinem Innern eine Änderung vor, er zog sich von der Welt zurück, begann sich mehr und mehr dem Foich anzuschließen. Die beiden wurden sich an Gestalt immer ähnlicher, nur daß der Foich sehr glatte und weiße Hörner hatte, welche etwas nach rückwärts standen, während jene des Pöll, trotz alles Feilens und Schabens des Oberstallknechtes, grau und rauh blieben und immer mehr und kecker nach vorn wuchsen. So waren beim Foich auch die Augenringe und der Rand um die Schnauze herum schneeweiß, was stets auf Gutmütigkeit und Befähigung zur Fettleibigkeit weist, während die gelblichen Augenränder des Pöll auf Trotz und Tücke schließen ließen.

Als die beiden vollständig genesen waren, kam eine neue Prüfung. Der Altknecht und der Feldbub führten sie eines Morgens aus dem Stall und legten auf ihre Nacken ein schweres Holzjoch, welches sie so stramm zusammenhielt, daß keiner sein Haupt weder nach links noch nach rechts zu wenden vermochte. Der Foich hielt ruhig still; der Pöll hingegen war empört über diese neue Grausamkeit und bäumte seinen Nacken, daß das Joch ächzte und dem armen Foich fast die Hörner abgedreht wurden. Das brachte dem Widerspenstigen einen Schlag mit dem Peitschenstab ein, worauf er noch unsteter wurde, mit den Hörnern gegen die Unterjocher dreinzufahren suchte, mit den Nasennüstern heftig schnaubte und schäumte. Ein zweiter Schlag über die Stirne, da tat der Pöll einen Ruck, krachend brach das Joch, und, das eine Stück noch an die Hörner gebunden, rannte er wild schnaubend und mit hochgeschwungenem Schweife davon.

Der Foich stand da und sah verwundert dem so wütend [301] gewordenen Kameraden nach. Dieser wurde mit vieler Mühe eingefangen, hart geschlagen und endlich durch vier handfeste Knechte in ein neues Joch gespannt. Dann wurden beide förmlich davon geschoben; der Pöll wollte nicht gehen und der Foich konnte nicht, weil er ja an den anderen geschmiedet war; manchen Hieb mußte der gute Foich sich gefallen lassen, den gewiß nur der widerspenstige Pöll verdiente, der das eine Mal sich fest wie eingewurzelt gegen das Vorwärtsgehen einstemmte, das andere Mal wieder in wilden Sprüngen voranschoß, den armen Foich zurückdrängend oder mit sich fortreißend.

So kamen sie hinaus auf das Feld und dort wurden sie an den Pflug gespannt. Jetzt war an ein rasendes Vorwärtsspringen nicht mehr zu denken, denn der Pflug schnitt tief und schwer die Furche und hielt das ungefüge Paar in gutem Zaum. Nach mancherlei Befreiungsversuchen und trotzigen Gesten sah es endlich der Pöll ein, daß es am wenigsten Schläge und andere Beschwerden gab, sobald er ruhig und gleichmäßig in der Furche dahinschritt.

Und so wurden die Pöll Foich ein paar gute Arbeiter auf dem Felde des Hefelrainhofers. –

So standen die Dinge, als ich, von dem Hagelschlag aus der Heimat vertrieben, in den großen Bauernhof kam. Durch näheren Umgang mit den beiden und durch freundschaftliches Interesse, welches wir uns gegenseitig zuwendeten, war ich der erste und vielleicht der einzige, welcher die Pöll Foich in ihrer ganzen seelischen Bedeutung würdigte. Ich striegelte ihnen täglich die Streukrümchen und die ausgehenden Haare vom Leibe, ich beschnitt allmonatlich ihre Klauen und Hörner und stutzte die langen Haarbüschel ihrer Schweife.

In Kostsachen mußten sie mit Heu und Stroh und dem [302] Hausbrunnen vorlieb nehmen, nur des Abends bekamen sie die »Lecken«, einen aus kleinen Futterabfällen und Heugesäme bereiteten Brei, in den ich jedesmal erklecklich viel Salz streute, wofür mir die beiden Pfleglinge stets sehr dankbar waren. Mir gegenüber ließ der Pöll von seiner Verbissenheit nichts spüren, gerade als hätte er's gewußt, daß auch ich einer der Übervorteilten war – nicht in allen Dingen, so wie er, jedenfalls aber in dem, was das Joch betraf. – Die Pöll Foich hatten sich nun recht aneinander gewöhnt, und zur Winterszeit oder an Feiertagen, wenn die Last der Pflichten nicht gar zu sehr auf sie drückte, waren sie sogar aufgeweckt und streichelten einander sehr oft mit der Zunge.

Als jedoch wieder das Frühjahr kam, ging von neuem die Plage an. Der Pöll zog seinen Pflug, aber ungern, und zuweilen blickte er knirschend hinüber auf die nahe Au, wo Kühe und Kalben in idyllischer Freiheit herumgingen, lagen, standen und hüpften, und wo die längst zur Kuh gewordene Morlo mit dem Grull ein beschaulich Eheleben führte.

Doch schien auch das Leben des schwarzen Buhlen nicht geradezu kampflos abzugehen. Eines seiner Hörner war gebrochen. Der Grull war ein leidenschaftlicher Ringer und Raufer geworden. Jeden harmlosen vierfüßigen Gesellen, den er auf der Weide traf, er mochte vom Ziselhofe sein oder vom Nachbarhofe kommen, oder von weiter her, stänkerte er an, begann Händel, hub in die Erde zu graben, mit den Hörnern zu gaukeln und zu drohen und arg zu brüllen an und ruhte nicht eher, als bis einer oder der andere ächzend auf dem Boden lag. Zumeist waren es Liebes- und Eifersuchtshändel mit solchen, die sich der Morlo zu nähern suchten, oder mit solchen, denen er selbst ins [303] Gäu ging, denn er war ein durchaus lockerer Geselle, der Grull, und huldigte dem Prinzipe der Vielweiberei – aber nur für sich allein.

So hatte er bei einem letzten Ringen sein linkes Horn eingebüßt und nun sah er recht abenteuerlich aus und verwahrlost, aber bei dem schönen Geschlechte hatte er immer noch Glück.

Der Pöll, wenn er manchmal auf die Weide geführt wurde, ging mit einem dumpfen Gebrumme an dem Grull vorüber, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, wie sehr der andere auch bestrebt war, mit ihm anzubinden. Der Pöll hielt sich überhaupt nicht gern unter der Herde auf; er suchte sein grünes Gras abseits und ging seine besonderen Wege. Doch mußte der Hirt gerade auf ihn am meisten acht haben, denn er durchbrach, wo er sich unbeachtet wußte, die Zäune und ließ es sich auf einem nachbarlichen Kornfeld wohl sein, oder er hub mit den langen Hörnern geschickt die Wegschranken aus und wanderte davon und wäre sicherlich längst in die Fremde gezogen, wenn man den paßlosen Vierfüßler nicht allemal noch irgendwo aufgehalten und zurückgeliefert hätte. So hatte sich der Pöll befreit von dem Vorurteile seiner Standesgenossen, als könne der kräftige Ochs einen Stangenzaun nicht mit Leichtigkeit niederwerfen, und so gab es für ihn auf räumlichem Gebiete keine Weg-und Grenzschranken mehr. Arg war es besonders des schlechten Beispiels wegen. Er hieß niemals einen mit sich, war's zufrieden, wenn er allein gehen konnte, aber die Herde ahnte seine Wege und folgte ihm nach durch die niedergerannten Zaunschranken aufs Korn-oder Kleefeld oder auf die ungemähte Wiese des Nachbars.

Klagen liefen ein über den bösen Pöll und seine Verwüstungen, [304] und weil es für solche Übeltäter in unserem Staate noch kein Gericht gibt, so wurde nicht der Pöll, sondern der Hefelrainhofer mit Strafen bedroht, insofern er den Bösewicht nicht unschädlich mache.

Jetzt band der Bauer dem Pöll eine Stange so über die Hörner, daß sie zum Aufbrechen von Zäunen ungeeignet werden sollten, und ließ ihn nachher auf die Weide. Allein das war dem Gemaßregelten gerade recht, jetzt verrichtete er die Sprengwerke mit der Stange und schonte dabei die Hörner. – Versuchte es der Hefelrainhofer noch einmal, es dem Ochsen an Intelligenz zuvorzutun, und schnallte ihm ein Brett vor die Augen, so daß der Pöll gar nicht vor sich hinsehen konnte, sondern nur hart an den Boden nieder, wo das schlechte Gras wuchs. Der Pöll sah's ein, das war ein großer Nachteil. Zuerst stand er da und ging nicht einen Schritt vom Fleck. Als es ihn zu hungern begann, suchte er sich etwas Gras und stieß dabei an einen Baum. Der Baum war ihm willkommen, denn an diesem suchte er sich nun der fatalen Augenblende zu entledigen; da ihm das aber nicht gelang, so wollte er mit seinem Kameraden, dem Foich, ein Kopfrennen anfangen, um das Brett auf solche Weise zu zertrümmern. Doch der Foich verstand ihn nicht und hub an, den Kampflustigen begütigend zu lecken.

Zwei Wochen lang ging der Pöll mit der Blende auf die Weide; als wir ihn aber hierauf für ein Waldfuhrwerk einspannen wollten, sahen wir, wie sehr er abgemagert und entkräftet war, und der Bauer sagte: »Mit dem Augenband geht's auch nicht. Den muß man im Stall behalten oder ihm einen eigenen Wächter beigeben. Wär der Racker nur besser bei Fleisch, ich wollt' ihn am liebsten zum Fleischhauer führen.«

[305] So weit kam's mit dem Pöll, und wie einen von der Strafanstalt entlassenen Spitzbuben mußte man ihn bewachen, so oft er ins Freie kam. Berüchtigt war er in nah und fern, und wenn irgendwo auf ein Getreidefeld oder in einem Garten eingebrochen wurde, so mußte es der Pöll gewesen sein, und hielten wir ihn auch verschlossen hinter dreifachen Türen.

Im Spätherbst vor dem Einschneien konnten wir seinen Zwang etwas lockern. Da läßt man alle Herden auf die abgeweideten und abgeernteten Wiesen, Felder und Matten, und durcheinander mit den nachbarlichen Rindern, wie sie eben durcheinander wollen. Da konnte der Pöll nicht mehr viel Schaden tun, und so banden wir ihm weder Stange noch Blende an den Kopf.

Menschen und Tiere freuten sich der letzten sonnigen Tage und ich selbst war im Hefelrainhofe schon so angewöhnt, daß ich mich kaum mehr viel zurücksehnte in mein Vaterhaus, wo Vetter Schmalhans immer noch Küchenmeister war. Da wurden eines Tages die friedlichen Herbst tage schrecklich unterbrochen. Eine Botin vom Ziselhofe kam atemlos gelaufen – oben im Waldanger unter einem Raine liege der Stier, der Grull, tot in seinem Blute!

Wir alle eilten dem Waldanger zu. Es war so. Mit arg zerschürfter Haut, einem gebrochenen Vorderfuße und einer tiefen Wunde am Halse lag der Grull mit hervorgestreckter Zunge und verglasten Augen zwischen Binsengebüsch auf dem Moor. Ein Mord! Der Unglückliche mußte sich wacker gewehrt haben, oben auf dem Anger war streifenweise das Gras weggeschürft und lagen kleine Haarbüschel herum. Dann war er, wie die Blutspuren zeigten, über den steilen Rain geworfen worden.

Wer war der Mörder? Ein Racheakt mußte es gewesen [306] sein, des war alles einig, denn der Grull hatte unter dem männlichen Geschlechte seines Stammes viele Feinde gehabt. Aber welchem von ihnen konnte eine solch schreckliche Bluttat zugedacht werden? Wie man auch Umschau halten mochte in den Herden, alle – darunter auch die zahlreichen Witwen – glotzten harmlos drein, und waren kaum erschüttert von dem Ereignisse. Vor allem mußte der Tote fortgeschafft werden. Ein trauriges Begräbnis blieb erspart. Die Leute der Gegend hielten zu Ehren des Getöteten manch ein sattsam Mahl, zu dem er selbst den Braten lieferte.

Als wir an dem Abende des Unglückstages unsere Herde sonderten und in den Hof leiteten, war – der Pöll nicht darunter.

Sofort stieg Verdacht auf! Wo ist er? Weshalb kehrt er nicht heim? – Ach, es war im Grunde eigentlich nicht so auffällig, wenn man den Ausreißer kannte. Wir sollten bald Gewißheit haben. Noch in der Nacht brachte der Waldbachköhler den Pöll an einem Strick in den Hof und schrie, daß die Wände gellten und wir alle aus dem Schlafe fuhren: »Den Mörder haben wir da! Er hat wollen auf die Fischbacher Seite hinüber!«

Mit einer Spanlunte leuchteten wir dem Eingebrachten ins Gesicht; dieses sah erschreckt und unstet drein und die scharfen vorgebogenen Hörner waren blutig.

Es bedurfte weiters keiner Beweise mehr. Der Pöll wurde zum Foich und zu mir in den Stall getan, der Köhler bedankt, das Haus legte sich wieder zur Ruhe.

Am anderen Tage zahlte der Hefelrainhofer fünfundvierzig Gulden an den Ziselhof für den getöteten Grull, mit der Bedingung, daß ihm die Haut überlassen werde. Als er mit der geleerten Brieftasche heimkam, nahm er die schärfste Peitsche hervor, die in der Ochsenkammer aufzufinden [307] war, führte den Foich aus dem Stall und schloß sich selbst in denselben zum Pöll ein. Der Pöll stand ganz ruhig vor dem leeren Heutrog und wartete auf Futter, als wisse er nicht, daß heute strenger Fasttag sei. Der Bauer stand ruhig vor dem Pöll und machte sieben Knoten in seine Peitsche. Und als die Knoten fertig waren, ließ er sie niedersausen auf den Körper des Verbrechers. Da begann der Tanz um die Krippe, die mitten im Stalle stand. Mächtig pfiff die Peitsche, wüst fluchte der Bauer und der Pöll schoß polternd im dunkeln Stalle um, stieß an Wand und Barren und hub zu brüllen an. Gewehrt hat er sich glücklicherweise nicht.

Erschöpft hielt endlich der Bauer ein. Der Pöll stand an die Wand gedrückt und schnaufte.

»So, mein Pöllerl, und jetzt, daß du's weißt, du kommst dein Lebtag nicht mehr aus Tageslicht,« mit diesen Worten verließ der Hefelrainhofer den Stall und schlug die Tür hinter sich zu.

Lebenslängliche Haft! – mehr noch; der Pöll war zum Tode verurteilt!

Schon am nächsten Tage begannen wir, ihm Kräuter und Erdäpfeltränke, seines Heu ohne Stroh, Kleienlecken, Rübenspalten, gekochte Kohlstengel usw. zu füttern und für den Übeltäter begann ein Leben, wie er es selbst in seinen kühnsten Träumen sich nicht zu hoffen gewagt hatte. Andere wurden an den Pflug und an den Wagen gespannt, um all das herbeizuschaffen, was seinen Tisch so gut und teuer machte.

So ging es monatelang; aber selbst in der Gefangenschaft und im Wohlleben schien der Pöll seine Bosheit nicht ablegen zu wollen. Er wurde nicht fett. Er fraß und soff und lag auf der Haut und wurde nicht fett. Als ob [308] er's gewußt hätte, daß ihm seine Magerkeit allein noch das Leben eine Zeitlang erhalten konnte.

Ganz anders der Foich. Trotzdem er bisweilen noch mit einem fremden Genossen ins Joch mußte und durchaus keine besondere Köstigung genoß – er gedieh und wurde von Woche zu Woche beleibter. – Das macht das gute Gewissen. Und da der Bauer die gute Art des Falben sah, setzte er ihn in den wohlverdienten Ruhestand und begann ihn mit größerem Fleiße als bisher zu füttern.

Und als die älteste Tochter des Hauses heiratete, war es der gute, sanftmütige Foich, der es übernehmen mußte, den Festbraten zu stellen.

Der Pöll aber lebte noch lange fort, stets gefüttert und gepflegt, aber er blieb mager, so daß der Hefelrainhofer von neuem Lust bekam, das »zaundürre Rindvieh«, wie er sich in seinem Zynismus auszudrücken beliebte, noch einmal um die Krippe tanzen zu lassen und dazu mit der Peitsche den Tanz zu pfeifen.

Mittlerweile waren gesegnete Jahre gekommen und ich sollte wieder heim ins Vaterhaus. Was aus dem unglücklichen Pöll weiter geworden, ist mir nicht bekannt; nun wird er wohl schon längst gestorben sein.

Ich habe diese wahre Geschichte einmal einem Naturforscher erzählt, als neuen Beleg der Ähnlichkeit des Seelenlebens zwischen Menschen und Tieren. Und ich hatte noch die tiefsinnige Bemerkung beigefügt, wie es doch seltsam sei, daß, wie der Mensch, so auch das Tier hinausgestoßen werde in das Leben, um schuldig und unglücklich zu werden.

Hierauf gab mir der Naturforscher zur Antwort: »Lieber Freund, das Unglück Ihres Helden war, daß er für einen Ochsen zu gescheit gewesen ist.«

Auf der Alm gibt's ka Sünd'
[309] Auf der Alm gibt's ka Sünd'.

Ich sag's ja immer, für einen zehnjährigen Hirtenknaben auf der Alm ist es schwer, Mensch zu sein.

Ich meine nicht etwa mich, denn ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt, oder vielleicht schon vierzehn, kurzum, in dem Alter, wo der Mensch am allergescheitesten ist.

Daher steckte ich an jenem heißen Sommertage beim Kornschneiden die Sichel in eine Garbe und versicherte den Oberknecht, daß es sehr nötig sei, auf die Alm zu gehen und nachzusehen, ob bei einer solchen Hitze die Kühe nicht etwa schon die Klauenseuche hätten.

Der Oberknecht gab noch der Befürchtung Ausdruck, ob nicht etwa ich die Seuche an den Klauen hätte, weil mir in denselben die Sichel auf einmal so unbequem geworden wäre! Ich dachte: dumm ist auch unser Oberknecht nicht, und ging meines Weges.

Als ich hernach oben über die Almen hinging in der weichen, sonnigen Luft, da sah ich vor mir im Federgrase plötzlich den Giglgoggbuben liegen. Er lag auf dem Rücken, reckte die Knie empor und sah in den Himmel hinein. Das war der mit den zehn Jahren.

»Giglgoggbub!« rief ich ihn an. Da schob er sich erschreckt über.

»Was hast du denn jetzt gedacht?« fragte ich ihn.

»So!« entgegnete er träge, »habe ich was gedacht?«

[310] »Mein Lieber!« verbesserte er sich dann, »ich hab' freilich zu denken genug. Vielleicht kannst du mir sagen, was ich anfangen soll.« Und indem er sich halb aufrichtete und mit einem Ruck des Hauptes das braune Haar aus der Stirne schnellte, daß man seine blauen, treuherzigen und gar schalkhaften Augen sehen konnte, sagte er: »Weißt, Lenzischer (vom Lenz der Sohn), daß ich eine Todsünd' haben muß?«

»Zu was brauchst denn du, kleinwinziger Knirpsl, eine Todsünd'?« war mein Aufbegehren.

»Ja, bis morgen früh brauch' ich eine Todsünd'! Ich werd' zur Firmung nicht angenommen, wenn ich nicht früher beichten geh'. Läßliche Sünden hab' ich mir schon einen Haufen zusamm'studiert, aber läßliche Sünden wären nur für Kinder was, sagt unser Michel – man soll auch ein paar Todsünden darunter haben. So simulier' ich jetzt schon hin und her und bis morgen früh muß ich Todsünden haben.«

»Da ist noch eine ganze Nacht dazwischen,« tröstete ich.

»Woher nehmen und nicht stehlen!« rief der Junge, der ein besonders dreistes, fürwitziges und wiederum überaus einfältiges Bürschlein war. »Wie hast denn du's angestellt?«

»Wie werd' ich's angestellt haben?« war meine Entgegnung, »ich hab' den Katechismus hergenommen und hab' mir fürs erste einmal die sieben Todsünden herausgelesen. Wenn man sie nur einmal beim Namen kennt, nachher geht's schon; weißt Giglgoggbub, das ist wie bei deinen Kühen, wenn du sie beim Namen lockst, so kommen sie.«

»Gelt, Lenzischer,« sagte er jetzt und berührte mit den Fingerspitzen meinen Arm, »gelt, du hilfft mir ein wenig, schau, weil ich alleweil auf der Alm sein muß und nichts [311] lernen kann. Und wenn ich schon einmal beichten geh', so will ich kein kleiner Bub nimmer sein. Und da hätt' ich ganz recht, sagt der Michel.«

Da hat er ganz recht, dachte ich mir, und einen halberwachsenen Burschen muß man schon ein bissel aufputzen – eine Feder auf dem Hut und ein paar frische Todsündlein in der Haut. Über Nacht werden sie ihm wohl nicht schaden und morgen legt er sie ja doch wieder ab.

»Zum Beispiel die Hoffart,« meinte ich, »was sagst denn dazu?«

»Du bist unten bei den Leuten und hast leicht reden,« sagte er mißmutig.,»vor wem soll ich denn da heroben hoffärtig sein?«

»Du kannst dir's eben nicht anschicken,« war meine Entgegnung, »so wollt' ich mich an deiner Stell' doch einmal kerzengerad hinstemmen vor meine Kühe und sagen: Ihr Hascherln, Ihr! Da habt Ihr einen so großen Schädel und keinen Verstand drin! Ich herentgegen hab' ein kleinwinziges Köpfel und treib' euch hin, wo ich will und trink' euch das Euter aus, wann ich will und bin ein Herrgottssakermenter gegen euch Kreaturen, weil ich ein Ebenbild Gottes bin und ihr seid Vieher! – Das ist eine Hoffart, wie du sie auch unten nicht schöner finden wirst.«

»Ist mir zu dumm,« sagte der Giglgoggbub drauf.

»Oder der Geiz!« schlug ich vor, »was sagst du denn zum Geiz?«

»Vom Geiz hab' ich schon was gehört,« meinte der Bub, »aber das ist eine Sünd' so mehr für reiche Leut'.«

»Da hast du recht,« gab ich zu, »bei einem Halterbuben möcht' der Geiz in der ersten Nacht schon verhungern. Diese Todsünd' frißt zu viel, die lassen wir den Reichen. Aber friß einmal du, ist ein lustiges Geschäft und hast [312] gleich Fraß und Völlerei beisammen – eine prächtige Todesünd'!«

»Du Narr!« sagte der Giglgoggbub, »das müßt nicht einmal eine Todsünd' sein; die täte ich und wenn sie eine dreigöttliche Tugend wär'! Und hätt' sie schon lange getan, wenn die Schwaigerin den Schlüssel zur Butterkammer nicht alleweil im Kittelsack hätt'.«

»So nimm ihr den Schlüssel weg,« rief ich, »kannst gleich raufen mit ihr, über und über wild werden, und kehr' die Hand um – hast den Zorn!«

»Der Zorn wäre auch wieder eine,« überlegte mein Junge, »da hätte ich nachher gleich zwei auf einmal.«

»Drei kannst haben auf einmal, wenn du g'scheit bist.«

»Drei sind mir zu viel;« sagte der Bursche entschieden.

»Also willst du mich in der Butterkammer mithalten lassen?« war meine etwas unredlich einlenkende Frage.

»Ja, Schnecken, wenn du magst!« spottete mein Bürschlein, »wenn ich mit der Schwaigerin schon einmal um den Schlüssel raufen muß, so will ich nachher das Butterschlecken auch allein haben und keinen Menschen mithalten lassen – gar keinen!«

»Was sag' ich denn? Dann hast die vierte – den Neid.«

Der Giglgoggbub besann sich ein wenig, dann sagte er: »Nein, die Butterkammer erspar' ich mir auf ein andermal. Der Michel sagt, wenn der Mensch einmal ausgewachsen ist, nachher braucht er um den Schlüssel nicht mehr zu raufen.«

»Freilich nicht, weil die Schaigerin im voraus weiß, daß sie unterliegt.«

Nach einer Weile, als er, mit einem abgerissenen Rispenhalm [313] spielend, so ein wenig um seine Nase herumgefuchtelt hatte, bis er niesen mußte, sagte ich: »Helf' Gott, Giglgoggbub!«

Dagegen hatte er nichts einzuwenden.

»Was hast sonst noch für Sünden, Lenzischer?« fragte er.

»Ja, mein Lieber, jetzt sind nicht mehr viel da. Etwan noch die Unkeuschheit?«

»Pfui!« rief der Giglgoggbub und spuckte in einem weiten Bogen vor sich hin.

»Weißt du wohl auch, was damit gemeint ist?« gab ich ihm zu bedenken.

»Du wirst mir's nicht sagen müssen, Gott sei Dank!« versetzte er entrüstet. »Wie nachst Herbst die Christenlehr' ist gewesen, hab' ich's schon gelernt. Die Unkeuschheit ist das, wenn der Mensch zu der Stalldirn geht.«

Nun begriff ich seinen Abscheu, denn die Stalldirn im Giglgogghause war wohl sicherlich sechsmal so alt als der Halterbub, war auch etwas unsäuberlich in ihrem Aussehen, trotzdem fand sie es nötig, alljährlich am Fronleichnamstag durch einen grünen Kranz auf dem Kopftüchel – denn Haar hatte sie keines mehr – öffentlich zu bezeugen, daß es ihr bislang noch gelungen sei, ihre Jungfrauenwürde zu bewahren.

Also abgelehnt.

»Jetzt haben wir nur noch eine und das ist die Faulheit.«

»Auf die bin ich selber gekommen,« antwortete der Bub, »deswegen hab' ich mich da ins Gras gelegt, und wenn du mich nicht davon hättest aufgestört, kunnt ich jetzt die schönste Sünd' fertig haben. Bei der dummen Rederei kommt doch nichts heraus.« –

Dieses Gespräch ist an jenem heißen Sommertage auf [314] der Alm sozusagen geführt worden von mir Altklugem halb im Spaß, vom Giglgoggbuben halb im Ernst gemeint. Es ist zu nichts gekommen, weiß auch nicht, wie er sich die Nacht über vorbereitet hat und vermute fast, daß bei der Sach' der Wille fürs Werk hat gelten müssen.

Darum sage ich, für einen Hirtenjungen auf der Alm ist es schwer, Mensch zu sein, weil er nicht Schick und Gelegenheit dazu hat. Er wächst auf wie ein Tannling und lebt so gottlos unschuldig wie das liebe Vieh. Trotz aller Begierden, die in ihm brennen, kann er kein Gesetz übertreten, weil außer den einfältigen Aufträgen des Almbesitzers keines da ist. Also ist mir bei jener Begegnung mit dem Giglgoggbuben das Wahrwort klar geworden, daß es »auf der Alm ka Sünd' gibt«.

Keine schwere wenigstens, denn solche vermögen es nicht, in die Höhe zu steigen, sie bleiben in den Tälern und Ebenen und nisten sich in großen Städten ein. Unter vielen Menschen kommen sie am besten fort und wachsen sich oft zu wahren Prachtexemplaren aus. Bei den allermeisten Sünden ist es wie mit dem Heiraten: »Eins kann's nit richten, 's müssen zwei dazu sein.« Wenigstens zwei, so beim Lügen und Betrügen, beim Stehlen und Morden usw. Es müssen Zwei dazu sein. »Der A – dam war ein Gerechter, als die Eva kam, wurde es schlechter!« dichtete ein alter Dorfschulmeister, und dieses Gedicht, welches unser gottbegnadetes Geschlecht ein für allemal von A bis zum Z behandelt, schließt mit dem letzten Menschen:

»Der Vorletzte mag auf der Hut sein, der Z – dam wird wieder gut sein.«

Ich will in einer so gefährlichen Sache nicht weiter dozieren; kein Mensch glaubt's, wie schwer es ist, sich zwischen lauter Sünden durchzuwinden, ohne sich das Röcklein unsauber [315] zu machen. Aber noch erzählen muß ich, daß ich erst vor kurzer Zeit meinen Giglgoggbuben wieder gesehen habe.

Das war aber kein dummer Giglgogg mehr, das war ein kräftiger hübscher Mann, der neun Jahre bei den Soldaten gewesen und jetzt Förster in den Graf Meranschen Revieren ist. Seine blauen munteren Augen hat er immer noch. Wir wurden bei einem Glase Wein bald wieder gut Freund und ergötzten uns an den Erinnerungen, »wie es dazumal halt so lustig gewesen«. Unsere Stimmung war endlich so weit gekommen, daß ich ihn fragen zu dürfen glaubte, ob er seither draußen in der Welt das wohl gefunden, woran er damals auf der Alm so großen Mangel gelitten.

»Todsünden, meinst!« lachte er. »Wie die Maikäfer fliegen sie da draußen herum; 's mag wohl sein, daß mir eine oder die andere bisweilen anbumst (angeprallt) ist. Wie das schon geht, du weißt es ja.«

»Ich weiß es,« war meine Antwort, »sie bumsen nur an, und wenn man sie nicht selber fängt, so fahren sie wieder zurück, Akkurat wie die Maikäfer.«

»Und eine habe ich doch gefangen,« vertraute er mir schelmisch, »das ist dir aber schon eine ganz picksüße!«

»So? – wo denn?«

Beugte er sich zu mir vor, machte mit dem Finger einen kurzen Deuter so ein wenig über die Achsel zurück und schmunzelte: »Da oben auf der Alm!«

Als ich ins Paradies ging
[316] Als ich ins Paradies ging.

Noch nichts habe ich erzählt von Eustach Weberhofer. Das war jener jugendliche Mann, der – um wieder einmal zurückzugreifen – in den Fünfziger Jahren an einem Sonntagsmorgen in langem schwarzen Rock durch die Kirche von Sankt Kathrein schritt. Er hatte ein rundes wohlgefärbtes Gesicht, zwei kluge blaue Augen drin und quer über die Stirn das blonde Haar gekämmt. Er machte durch die Kirche würdevolle und ziemlich weit ausgreifende Schritte; seine Wanderschaft ging von der Sakristei, wo er dem Pfarrer das Meßgewand angezogen, nach dem Kirchenchore, wo er im nächsten Augenblicke, wenn der Priester zum Altare trat, schon an die Orgeltasten drücken mußte.

Das war der »Schulmeister«, wie man damals den Schulleiter oder den Oberlehrer noch nannte, im Gegensatze zum Unterlehrer, der kurzweg »Lehrer« hieß. Mir gefällt das Wort »Schulmeister« auch sehr gut, man braucht's ja nicht im Sinne wie Schuster- oder Gerbermeister zu verstehen; auch den großen Künstler nennt man Meister, und selbst die Jünger Jesu heben den Herrn »Meister« genannt. Mein Eustach Weberhofer hat sich gar nicht gekränkt darüber, daß die Bauern von Sankt Kathrein scharfweg »Schulmeister« zu ihm sagten, bekam er doch gerade als Schulmeister Zehent an Korn, Wolle, Butter und was so eben vorhanden ist. Wer oft »Schulmeister« sagte, der dachte auch oft an ihn, und das war ihm nicht zuwider.

[317] Mein alter Schulmeister Michel Patterer war damals schon Oberlehrer bei den lieben Engelein, denen er wohl die Noten lehrte, damit sie zu Weihnachten über dem Krippel vom Blatt weg das Gloria in excelsis Deo! singen konnten. Ich hatte schon allerlei Wissenschaften im Kopfe, kannte alle Buchstaben und wußte sie sogar derart zusammenzustellen, daß sie manchmal einen recht guten Sinn, manchmal auch einen schönen Unsinn gaben. Die zwölf Monate des Jahres wußte ich auch, wenngleich nicht der üblichen Reihe nach. Begriff nicht, weshalb so viel Aufhebens, wenn Juli und August im Winter kamen, waren doch unsere Dienstboten, die Julie und der August, auch im Winter gekommen.

»Dir ist der alte Schulmeister zu früh gestorben,« sagte einmal der Nachbar Thomerl, und an das dachte ich, als nun der Mann mit dem freundlichen Rundgesichte durch die Kirche schritt. Ich war zu jener Zeit ein manchmal recht ungeschickter Ochsenführer beim Ackern und da nun mein Wunsch, wieder in die Schule gehen zu dürfen, von der Mutter dem Vater unterbreitet wurde, sagte dieser: »Meintswegen soll er was Herrisches lernen, für die Ochsen ist er eh' zu dumm.«

Also sing ich an, nach Sankt Kathrein zum Eustach Weberhofer in die Schule zu gehen. Da ging's ein bissel anders zu wie beim alten Patterer! Erstens gab es Bänke wie in der Kirche; zweitens lichte Fenster, hinter deren schöngeflochtenen Eisengittern stets ein paar Holunderzweige fächelten; drittens hatte der Schulmeister nicht die lange Tabakspfeife in der Hand, sondern ein braungelbes »Staberl«, zum »Hosenausstauben«. Wer hätte gedacht, daß das freundliche Rundgesicht mit den blauen Augen so martialisch scharf dreinschauen konnte, wenn fünf und sechs – zwölf waren, oder wenn die sieben Sakramente mit[318] »erstens Hoffart, zweitens Geiz« anfingen! In meiner Nähe hat sich wegen Unfleiß oder Widerspenstigkeit manches Strafgericht vollzogen, mir geschah nichts. Ich war ein armes Hascherl aus dem Alpel herab, von dem nicht viel verlangt werden konnte, und wenn es sich um schwierige Fragen aus der Sprachlehre oder der Mathematik handelte, übersah er mich. Allerdings duckt man sich nach Tunlichkeit, aber doch wieder nicht so auffallend, daß es etwa eine gegenteilige, eine herausfordernde Wirkung üben könnte. Beim alten Patterer war von einer Sprachlehre gar keine Rede gewesen, vielleicht galt dort die Meinung, die Muttersprache müsse man von der Mutter lernen und nicht aus dem Buche. Einmal fragte mich hier zu Sankt Kathrein in der Religionsstunde der Pfarrer nach den vier letzten Dingen. Ich nannte sie auf das Verläßlichste, denn gerade über den Tod, das Gericht, den Himmel und die Hölle hatte ich oft meinen Schafen gepredigt von der Felsenkanzel auf der Hochweide. Mehr Erfolg als auf der Hochweide hatte ich mit den vier letzten Dingen hier. Der Katechet nickte mit dem Haupt und der Schulmeister sagte ihm leise und mit leichtem Zucken des Kopfes, das ihm beim Sprechen eigen war, einige Worte. Er verriet, daß ich jener Bauernbursch wäre, der Geistlich werden wollte. Der Pfarrer lachte und sprach, wie er die Welt kenne, seien, um studieren zu können, die zwei ersten Dinge besser, als die vier letzten. Wetten will ich, er hat mit den zwei ersten Dingen Protektion und Geld gemeint. Da diese Dinge nicht vorhanden waren, so führte ich nach wenigen Wochen wieder die Ochsen vor dem Pfluge her, eine Leistung, zu der die zweimonatliche Schule in Kathrein mich nicht wesentlich gefördert hatte.

Wenige Jahre später – hier wird wieder vorgegriffen[319] – saß ich nochmals in der Schulstube zu Kathrein, doch nicht mehr als gewöhnlicher »Trivialschüler«, sondern als jemand, der bereits einen gesellschaftlichen Rang einnimmt. Ich war Lehrling und besuchte die Sonntagsschule, welche in der Stunde zwischen dem Mittagsessen und dem Nachmittagsgottesdienste abgehalten wurde. Und da lernte ich den Schulmeister erst näher kennen.

Weberhofer war einer jener wenigen glücklichen Lehrer, denen man es ansieht, daß sie nicht am Bewußtsein eines verfehlten Berufes kranken, daß sie die Wichtigkeit ihrer Aufgabe erkennen und durch die Ausübung derselben befriedigt werden.

Menschlich näher rücken durfte ich ihm, als, nachdem er sich aus Birkfeld eine junge Frau geholt hatte, kleine Buben gekommen waren und als diese kleinen Buben Höselein brauchten und ich gerufen ward, mit Schere und Nadel dieses immerhin bescheidene Bedürfnis zu stillen. Da durfte ich bei Tische knapp an Seite des Schulmeisters sitzen, und nun merkte ich, daß er war, wie auch andere Leute, daß er lachen konnte und scherzen, daß er seinen herzigen Knäblein sogar die Höselein aufknöpfeln konnte, und zwar zu anderen Zwecken, als er das manchmal bei störrischen Schulbuben zu tun gezwungen war. Und in dem Maße, als er niederstieg, ließ er mich aufsteigen. Die Kirchenschlüssel vertraute er nur an und zu den Tageszeiten durfte ich am Turmstrick ziehen und die Glocke läuten. Und gar mancher in der Gegend, der spottend meckerte, so oft er des lustigen Schneiderleins ansichtig ward, zog nun vor meinem Läuten den Hut vom Kopf und betete. Und ich dachte dazumal, wie es doch das unsagbarste Glück sein müßte, eine hellklingende Glocke zu läuten, die man hören könne in weiten Landen.

[320] Der erste, der mich auf diesen Weg verwies, war also mein Eustach Weberhofer an jenem Tage, da er mir den Turmschlüssel in die Hand gab: »Peter, 's hat sieben geschlagen, geh' läuten zum Englischen Gruß!«

Es ist also kein Wunder, daß ich den Mann, vor dem ich bisher nur Ehrfurcht hatte, nun anfing, abgöttisch zu lieben. Daß er auch der erste war, welchem eines Feierabends, als er meinem Lehrmeister den Lohn ausgezahlt, einfiel: Der Lehrling dürfte auch ein Silberzehnerl vertragen, das betone ich allen Ernstes mit besonderem Nachdruck. Denn es war fast die einzige Ehrengabe, die ich während meiner Lehrjahre erhalten. »Trinkgeld!« sagen Leute, die nichts als an ihre Gurgel denken können. Nur meinen vertrauten Freunden gestehe ich's, wozu jener Erstling verwendet worden ist. Und weil du, lieber Leser, zu denselben gehörst, so wisse, daß ich mir von dem Zehnkreuzerstücke – Zeit gekauft habe. Wenn Zeit Geld ist, so wird Geld wohl auch Zeit sein können. Ich bekam für mein gutes Geld sechs Nachtstunden in Gestalt zweier Unschlittkerzen, bei deren Lichte ich lesen und schreiben konnte, eine Beschäftigung, für die am Tage keine Zeit war. Zwei Kreuzer bekam ich noch heraus und davon wurden Zwetschgen gekauft. Die nahm mir der Blaser Hansel hernach weg, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen: erstens, weil er die Zwetschgen haben wollte und zweitens, weil er stärker war als ich. Und das ist der Rechenschaftsbericht über den ersten Silberling.

Alles währt nur eine Weile und auf einmal wurde der Herr Schulmeister abgerufen ins Paradies. Denn anders kann man die Gegend nicht nennen, die weit »unten auf dem Lande«, am Fuße des Kulm liegt, ein blühender, üppiger Obstgarten, so weit das Auge reicht! Puch heißt [321] das Dörfchen im lieblichen Hügelgelände, wohin Weberhofer versetzt wurde, und das war etwas anderes, als die kalten, steilen und steinigen Berge um Kathrein am Hauenstein.

Der Abschied war für mich nicht einmal aufregend, so ein unfertiges Menschenkind weiß ja gar nicht, was Scheiden bedeutet. Fast erstaunt war ich, als der Geschiedene nachher – nicht mehr da war. Im Schulhause und in der Kirche ging ein anderer Mann um, der einen großen Schnurrbart hatte wie ein Husar, im Schulzimmer oft so schrecklich polterte, daß im Holzschoppen draußen die Hühner aufflatterten, und der auf dem Kirchenchor mit den Musikanten so laut schrie, daß alle Andächtigen sich die Krägen umdrehten, um zu sehen, was da oben los sei. Und das war der neue Schulmeister.

Wie kam mir da das Verlangen nach dem alten! Zwar neun Fußstunden war es bis hinaus ins Pradies, und da reiste fast plötzlich der Entschluß, ihm nachzuwandern. Der Mathesel war auch dabei.

Der Mathesel war einer der Schulgenossen, ein ganz kleines Kerlchen, aber stramm und unternehmend. Sein Gesicht war voller Sommersprossen, auch im Winter, sein Haar mochte ihm die Mutter, ein Holzknechtweib, kämmen wie sie wollte, es stand borstig nach allen Seiten hinaus. Er verstand es trotz seiner kurzen Beine, ganz respektabel große Schritte zu machen, und wo es einen Graben zu überspringen, einen Baum zu erklettern, einem anderen Buben die Beine zu stellen gab, da war er der flinkeste und der fixeste. Leicht gereizt konnte er kratzen und boxen und beißen und würgen wie ein wildes Tier und selten gab es bei ihm einen Tag ohne Blutvergießen. Wir nannten ihn »das Löwerl«. Seine Eltern hatten mit dem [322] wilden Jungen nichts anzufangen gewußt und darum ihn in die Schule gegeben zum Eustach Weberhofer. Und das war dem Löwerl gerade recht, so flink wie im Wald über Stock und Stein sprang er über die Schulbänke, jeden Knaben rempelte er an, dem einen fuhr er mit seinen knochigen Fingern in die Haare, dem andern riß er das Halstuch los, den dritten warf er zu Boden und knortzte pfauchend auf ihm herum; dem Schulmeister, als der ihn darob einmal scharf zwischen die Beine nahm, riß er mit den Zähnen einen Fetzen aus der Hofe. Es war nichts mit ihm anzufangen. Ruhig und zahm wurde er nur, wenn's Musik gab. Wenn irgendwo ein Waldhorn klang, oder eine Klarinette, da horchte er auf; wenn der Schulmeister geigte, da war er ganz Ohr und konnte sein Auge nicht wenden von den kundigen Fingern, die Saiten und Fiedelbogen behandelten. Und eines Tages fragte der Schulmeister das Löwerl, ob es nicht Musik lernen wolle? Das Löwerl faltete die braunen Hände: »Bitt' gar schön, Herr Schulmeister!« Vor allem war er fürs Blasen; der Schulmeister schenkte ihm eine Klarinette, lehrte ihn die Noten und wie man am Instrumente mit Fingern oder Klappen die Löcher zu und auf tut. Der Junge packte es gar nicht ungeschickt an, hatte ein gutes Gehör und verstand sehr zarte und wohlklingende Töne hervorzublasen.

Und jetzt war's aus der Weise, den ganzen Tag hörte man das helle Gedudel einer Klarinette, einmal hinter dem Schulhaus, einmal unten auf der Wiese, einmal oben im Wald. Aus diesem verjagte ihn eines Tages der Jäger, denn das schauderliche Gepfeife verscheuchte alle Hafen. Am nächsten Tage traf das Löwerl mit dem Knaben des Jägers zusammen, da gab es Kampf; das Löwerl verbiß sich so wütig in des Gegners Jacke mit den Hornknöpfen, [323] daß es sich die zwei vorderen Oberzähne zuschanden biß. Und jetzt konnte der Junge nicht mehr Klarinette blasen. Der Jammer war grenzenlos; den Schulmeister dauerte er. »Du, Mathesel,« sagte er, »wenn du mir's versprichst, daß du nimmer raufest und wild bist, dein Lebtag nimmer, so probieren wir's mit der Geige.« Der Junge versprach's bei allen drei Gotten. »Oho!« sagte der Schulmeister, »wir haben nur einen, und wenn du mir's bei dem verprichst, so bin ich reichlich zufrieden.«

Also lernte der Knabe auf der Geige spielen, und um dieselbe Zeit wurde der liebe Eustach Weberhofer übersetzt nach Puch am Fuße des Kulm.

Der Mathesel, als er gleich mir sah, daß der fortgezogene Schulmeister nicht mehr da war, machte es kurz. Er nahm seine Geige und wanderte gen Puch. Ich ging mit ihm. Der Weg über Berg und Tal war uns fremd, doch weil er weiterhin eine breite Straße wurde, so verfehlten wir ihn nicht. Unterwegs, in der Nähe von Birkfeld, wurden wir hungrig. Der Mathesel stellte sich vor ein Haus und kratzte auf der Geige. Zuerst meldete sich drin ein Hund, bald darauf auch eine Katze und endlich ein Weibsbild. Dieses sprach ein äußerst abfälliges Urteil über das Ständchen, als es aber die zwei kleinen unschuldigen Büblein sah, die da heraußen standen, bis über die Knie hinauf weiß vor Straßenstaub, entspann sich zwischen diesen und der Hausbewohnerin eine kleine Unterhaltung, die in einem Topf Milch mit Schwarzbrot gipfelte. Hernach zogen wir wieder fürbaß, und der Mathesel war nicht wenig stolz darauf, sein Brot nun schon mit Musik verdienen zu können.

Gegen Abend kamen wir gegen das weltfremde Puch. Die Gegend war fast unheimlich vor lauter Herrlichkeit.

[324] Hin und hin lange Strecken waren wir sozusagen eingewölbt von Äpfeln, Birnen und Zwetschgen, die über uns auf den Bäumen hingen. Und zwischen den Bäumen durch, über Gärten, Bohnenranken, Kürbis-und Maisfelder her blauten die fernen Berge. Wir nahmen uns nicht Zeit, eine der großmächtigen »Melonen« zu kosten, die neben dem Wege, an kriechendem Geschlinge herumlagen, wir stürmten auf das Dörfchen ein und auf das Schulhaus. Das Schulhaus war ganz anders, wie jenes zu Sankt Kathrein, aber der Schulmeister und seine Frau und seine Knaben sahen hier genau so aus, wie dort. Sie waren nicht wenig erstaunt, als solche Gäste anrückten, wovon der Musikant sofort erklärte, er sei da und wolle dableiben. Die Einwilligung seiner Eltern hatte er auch mit, und so kam der Herr Weberhofer zu einem kleinen aber schneidigen Hauswaschel, der tagsüber Kuh und Ziege hütete und abends nach Noten die Geige strich.

Am nächsten Tage sing ich schon frühzeitig an, mich zu schämen. Alles andere war bei der Arbeit, der Schulmeister beim Buchstabieren, die Schulmeisterin beim Bohnenklauben, die Büblein beim Turmbau, den sie im Hofe aus Steinchen ausführten und das Löwerl beim Ziegenhüten. Ich allein lehnte beschäftigungslos umher und hatte Wahlweh, ob ich noch länger dableiben oder doch vielleicht wieder nach Hause wandern sollte. Dieser Zwiespalt wurde geschlichtet; nach dem Mittagsessen sagte der Schulmeister in seiner weichen aber nachdrücklichen Art: »Peter, willst heute nachmittag mein zweiter Knecht sein? Kraxen auf den Buckel nehmen, Korn tragen!«

Die Werbung nahm ich sofort an und nun stellte es sich heraus, daß – als ich sein zweiter Knecht wurde – er selber sein erster war. Denn gleich mir nahm er eine [325] »Kraxen auf den Buckel«, und wir huben an, in der Gegend umzugehen, von Bauernhaus zu Bauernhaus, wie sie zwischen Gärten, Schachen, Feldern und Wiesen standen. Der Schulmeister genoß damals noch einen Überrest des Zehnten, den der Bauer von Feldfrüchten, Obst usw. zu liefern hatte. Und so gingen wir jetzt aus zu dieser Erntesammlung. Zwei, drei Korngarben bekamen wir fast bei jedem Hause auf die Kraxen, dort und da auch etwas zu trinken. Am erfreulichsten war mir, daß der Schulmeister seinen »zweiten Knecht« nicht mehr wie einen Schulbuben behandelte, sondern ihn den Leuten als seinen jungen Freund aus Sankt Kathrein vorstellte. Es war ein heißer Tag, aber die Rasten waren gar nicht ersprießlich. Denn so oft wir in Häuser einkehrten und Apfelwein tranken, wurden unsere Kraxen voller und schwerer. Besonders schlimm war es in einem hinter dem Walde abseits gelegenen Höfel. Da gab's eine kleine runde Bäuerin, welche ein paar Dirnlein in die Schule schickte. Die war mir gleich zuwider. Sie schaute uns gar so treuherzig an und wischte sich alle Augenblicke mit der Schürze den Staub von den Händen, obschon keiner dran war, und trippelte so geschäftig hin und her und bewirtete uns mit Brot und Honig. Der Schulmeister mußte mich erst lehren, wie man Butter und Honig auf Brot streicht. Er ermunterte mich, nur recht zuzugreifen, der Honig sei gesund für die Brust, das Brot mache groß und die Butter fett. Weberhofer war ein Bauernsohn aus Heilbrunn im Gebirge und hatte das Honig- und Butterstreichen wohl auch erst später gelernt. Als wir uns rechtschaffen gelabt hatten und hinausgingen zu unseren Kraxen, sah ich gleich das Unheil. Der Schulmeister schmunzelte und sagte leise zu der Bäuerin: »Bist wohl recht brav. Solche sollt's halt mehr geben, wie du bist!« – Ich dank'[326] schön! Die Kraxen waren bis oben bepackt mit schweren Korngarben, und noch legte sie auf jede ein Bündel Flachs. Wir hatten schon aufgeladen, da mahnte sie, noch ein Randel Geduld zu haben, sie hätten ein Sauerl abgestochen – und brachte einen ganzen Schinken herbei, den sie in große Lattichblätter wickelte und mir auf die Kraxen legen wollte. »Tu' ihn da herüber auf die meinige,« sprach der Schulmeister, »der Bub ist zu schwach beim Sterzl für so viel Gottesgab'.«

»Und die paar Kaiserbirnen dürft's mir wohl auch nit verschmähen. Die Kinderln daheim werden eh' gern ein bissel naschen.« So die Bäuerin, einen Korb voll großer, gelber Birnen mir auf die Kraxen stellend.

Mein Gott, dachte ich mir, wenn dieses Weibsbild nur nicht gar so wohltätig wäre!

Und in der Tat, kaum waren wir unter unseren Lasten fünf Minuten gegangen, so mußten wir im Walde unsere Kraxen schon auf einen Scheiterstoß stützen. Mein Lebtag habe ich keinen Schulmeister je so schwitzen gesehen, als damals meinen Gefährten, aber sein rundes Gesicht schaute gar munter drein.

»Wir hätten halt doch zweimal gehen sollen,« meinte ich schnaufend, denn ein junger Freund kann ja wohl was sagen.

»Meinst!« entgegnete der Schulmeister, dieweil er sich mit dem blauen Sacktuch die Sintflut vom Angesicht abzuleiten suchte. »Morgen könnte leicht ein anderer Wind gehen – kein so warmer wie heute. Der Mensch muß ernten, so lange schön' Wetter ist. Die Leute sind nicht immer gut aufgelegt, sein gleich muß man die Hand aufhalten, wenn sie geben wollen. Trägt man sich schon einmal halb zu Tod', so kann man dafür nachher viele Monate [327] lang rasten. Alle Tag ist nicht Kirchtag. Wenn du Schulmeister werden willst, das mußt du merken.«

Wir machten uns wieder auf den Weg, doch zeigte sich's bald, daß es nachgerade gar nicht ging. Nach vorn und hinten purzelten uns die Sachen von der Kraxen. Nun entschloß sich der Schulmeister, seine Kraxen teilweise abzuladen auf einen Steinhaufen und den andern Teil, bei welchem vor allem der Schweinsschinken war, heimzutragen. Ich mußte mittlerweile bei dem Steinhaufen Wache halten, bis er wieder zurückkäme und wir die übrigen Lasten gleichmäßig verteilt nach Hause tragen könnten.

Während ich Wache hielt, kam ein Falot des Weges, blieb stehen, stützte sich hinterwärts mit seinem Knotenstock und schaute die großen Kaiserbirnen an.

»Sind sie 'leicht dein?« fragte er mich mit gröhlender Stimme.

»Nein, die sind des Pfarrers,« war meine Antwort, in der Meinung, an Kirchengut würde er sich doch nicht vergreifen.

Das Ungeheuer streckte seine sehr lange braune Hand aus dem fransigen Ärmeln hervor nach den Birnen und sagte: »Die muß man kosten; bei einer Pfarrerstafel hab' ich eh' schon lang' nit mehr gespeist.«

Wer weiß, was sich zugetragen hätte, wenn nicht der Schulmeister durch den Hohlweg dahergekommen wäre mit seiner leeren Kraxen. Der Vagabund verzog sich sachte, und wir trachteten nun, die Schätze in volle Sicherheit zu bringen.

Am nächsten Morgen war's zum Abschiednehmen. Mich rief meine Pflicht zurück in die Werkstatt, der Mathesel blieb. Erst nach Monaten kam er nach Hause, und nun konnte er schon mitfiedeln helfen auf dem Kirchenchor an [328] den Sonntagen und im Wirtshause am Kirchweihfeste. Wenn gerauft wurde, so zuckte es ihm wohl noch in den Händen. Da griff er hastig nach dem Bogen und fiedelte. Die Sommersprossen waren nicht mehr zu sehen und auch sein Haar borstete sich weniger, sondern legte sich hübsch glatt über die niedere Stirn herab bis zu den Augenbrauen. Man nannte ihn noch immer das Löwerl, ich glaube, bis heute ist dem braven Holzarbeiter die stolze Benennung geblieben. Ein Löwe, bezähmt durch die Musik.

Ich habe nach dieser Zeit den Schulmeister Weberhofer in Puch nur noch ein paarmal gesehen. Wie sich der Menschen Wege und Schicksale eben verzweigen und mit anderen Kreisen und Verhältnissen verflechten, so war es auch hier – sein »zweiter Knecht« bin ich wohl nie mehr gewesen, sein jüngerer Freund bin ich verblieben. Vor zwanzig Jahren, während meiner schweren Krankheit, gerade an dem Tage, als meine Sanduhr abgelaufen wäre, wenn der Engel sie nicht noch einmal umgekehrt hätte, ist der gute Eustach in seinem achtundsechzigsten Lebensjahre gestorben.

Es war am 16. Dezember 1892.

Fast hätte er mich mitgenommen zu einer anderen Erntesammlung – im jenseitigen Paradiese.

Nur bis zum K-
[329] Nur bis zum K–

Die kleine, arme Threserl! Die keine Mutter hatte und keine Großmutter, wohl aber eine Urgroßmutter, welche als Pfründnerin der Gemeinde von Haus zu Haus ging, um für sich und ihre Urenkelin Lebensmittel zu sammeln. Die alte Trauschin war sie geheißen. Sie ward oftmals, nicht bloß von ihrer Gicht, sondern auch von ihren Mitmenschen erinnert, daß sie schon stark über achtzig Jahre alt sei. Aber sie starb nicht, hingegen war sie besorgt, soweit es möglich, niemand im Wege zu stehen und sich stets bescheiden in den Winkel zu ducken, in welchem ohnehin niemand war, als Mäuse und Spinnen. Das war im halbeinsinkenden Haarstübel des Grenggbauers. Das tagsüber Erbettelte genossen sie dort des Abends zusammen, die Trauschin, die Threserl und die Mäuse. Die Spinnen hatten ihre ergatterten Fliegen, und so war in dem Haarstübel eitel Wohlleben.

Die alte Trauschin war aber ein sehr hochfahrendes Weib; als die kleine Threserl sieben Jahre alt wurde, schickte sie das Kind in die Schule, daß es die gelehrten Sachen: Lesen, Schreiben und Rechnen, lernen sollte. So wurde die Threserl zur Zeit, als unser alter Wanderschullehrer beim Holzbauer die Schule aufgeschlagen hatte, meine Schulgenossin, die sie an zwei Jahre lang blieb, ohne daß sie jemals ein Wort zu mir sprach. War ihr etwas recht, so nickte sie hastig mit dem Köpfel, war ihr etwas nicht recht, so tat [330] sie mit ihrem kleinen spitzen Ellbogen einen Stoß nach rückwärts, aber nur, wenn niemand dahinter stand. Sie war sehr gutmütig, und wenn sie von schlimmen Kameraden geneckt wurde, so gab sie der Luft einen Ellbogenstoß, und es war wieder gut. Ein dunkelblaues, dünnes Kittlein hatte sie an, im Winter wie im Sommer, und wenn sie gefragt wurde, ob ihr nicht kalt sei, so schüttelte sie den Kopf, an welchem das rote, verfrorene Näslein war. Wir hatten sie gern, denn wenn man ihr was antat, so verklagte sie niemanden beim Schulmeister, und wenn man ihr auf die Zehen trat, so stieß sie mit dem Ellbogen nach rückwärts, und das tat uns nicht weh. Sonst war sie in allem sehr ordentlich, klug und gefällig, in manchem aber stolz.

Eines Tages wurde ihr von einer Schulgenossin vorgeworfen, daß sie ein Bettelkind sei. Die Threserl sagte nichts darauf, erst nach der Schule, als längst kein Mensch mehr an das arge Wort dachte, ging sie zu der Schulgenossin und sagte ihr ganz ruhig und leise ins Gesicht: »Es ist den Leuten ihre Schuldigkeit, daß sie uns aushalten, die Ahne, weil sie nicht mehr arbeiten kann, und mich, weil ich noch nicht arbeiten kann. Betteln tun wir nicht.« Wir anderen wußten zur selben Stunde nicht, was die Threserl gesagt hatte, wir sahen nur, wie ihre Schulgenossin plötzlich im Gesicht feuerrot wurde.

Was das Lernen des Mädchens anbelangt, so sagte der Schulmeister, wenn er darüber befragt wurde, nichts als: »Es ist halt ein Kreuz!«

Die Threserl hatte es nämlich nach dem ersten Schuljahre im A-B-C nur bis zum K gebracht. Das L merkte sie sich nur bedingungsweise, nämlich, wenn sie das K wieder vergessen durfte. Mit dem Schreiben und Rechnen ging es nicht anders. Zwei und zwei wäre vier, das wußte [331] sie, nachdem es ihr der Schulmeister eine Woche lang, jeden Tag mehrmals mit unermeßlicher Sanftmut gesagt hatte. Dann kam der Sonntag. Als am Montage wieder gefragt wurde, antwortete die Threserl: »Zwei mal zwei ist –«, da blieb sie stecken.

»Ist vi –« half ihr der Schulmeister drein.

Da sagte sie: »Zwei mal zwei ist viel.«

So hatte der gute Mann wohl recht mit dem Seufzer: »'s ist halt ein Kreuz!«

Weil denn das gute, kleine Dirndl gar so einfältig war, so haben wir es eines Tages überlistet. Wir halfen alle zusammen und der Schulmeister half auch mit.

Es war am Tage des heiligen Nikolaus. Jedes von uns, die wir des Morgens in die Schule kamen, hatte die Säckel voll Sachen, die der Nikolo in der Nacht gebracht und in die Schuhe gesteckt hatte. »Was hast du bekommen?« fragte eins das andere: »was hat er dir gebracht?«

Wir zeigten einander unsere Schätze: Äpfel, Nüsse, Lebkuchen, Obstbrot und dergleichen, und betrieben untereinander einen schwunghaften Tauschhandel.

Als denn auch die kleine Threserl – sie blieb immer gleich klein – gefragt wurde, was ihr der Nikolo gebracht, war sie über eine solche Frage schier erstaunt. Was soll denn ihr der Nikolo bringen?

Jetzt hub sie uns an zu dauern, denn unsere Herzen waren an diesem Tage warm vor Freude. So machte einer von uns den Vorschlag, wir sollten die Threserl beschenken. Er, der es sagte, war auch der erste, der ihr den Apfel in die Hand drücken wollte. Das kleine Dirndl machte aber die Hand zur Faust, noch bevor etwas drinnen war, und stieß mit dem Ellbogen nach rückwärts.

»Sie nimmt nichts,« sagte der Junge verblüfft.

[332] »Sie nimmt nichts,« murmelte eins dem andern zu, und das hörte der Schulmeister.

Er ging hinaus in die Küche, wo die Holzbäuerin Garn spann, kam wieder herein und sagte: »Wo ist denn die Threserl?«

Sie zeigte mit dem Finger auf.

»Threserl,« sagte der Schulmeister, »die Bäuerin täte dich ein wenig brauchen draußen in der Küche. Es sind ihr die Hühner aus der Steigen gekommen und du möchtest ihr sie einfangen helfen.«

Das Dirndl ging hinaus. Und als es draußen war, nahm der Schullehrer von der Wand den alten Buttenhut, wie wir den Zylinder nannten, den er von einem Dechanten geschenkt erhalten hatte. Wir meinten anfangs, er wolle ihn aufsetzen und es wäre die Schule aus. Der Lehrer aber sagte: »Der heilige Nikolaus hat den kleinen Fehler, daß er gerade den ärmsten Kindern nichts einlegt, weil er glaubt, diese könnten ihre Sachen von andere u guten Kindern zusammenbetteln. Nun will und kann die Threserl nicht betteln. Obst hat sie gewiß auch gern und wer weiß, wie lange sie schon keinen Lebkuchen mehr gegessen hat. Ich stelle meinen Hut auf den Tisch.«

Mitten auf den Tisch, um den wir mit unseren Bücheln herumsaßen, stellte er den Buttenhut. Wir verstanden und jedes warf Lebkuchen, Nüsse, Birnen und allerhand hinein, bis die schwarze Butten voll war und sogar einen hohen Gupf hatte. Dann faßte der Schulmeister den Hut mit beiden Händen und stellte ihn hinten hinauf in den Ofenwinkel.

Nach einer Weile waren draußen die Hühner glücklich in der Steigen. Die kleine Threserl kam herein und setzte sich still an ihren Platz.

[333] Bald hernach sagte der Lehrer: »Jetzt wollen wir aber doch einmal sehen, was unsere Threserl alles kann. Sie soll uns einmal in ihrem Taferl das A zeigen.«

Die Threserl zeigte richtig auf den ersten Buchstaben hin.

»Brav!« sagte der Schulmeister, »und jetzt auch das e, den kleinen mit dem Fensterl.«

Sie fand ihn.

»Gut!« rief der Schulmeister mit gehobener Stimme. »Und jetzt noch das i.«

– Aha! dachte sich die Threserl, das i, das wird der mit dem Kopf sein. Wenn das i keinen I-Punkt hätte, es wäre schwer zu erkennen. Sie suchte es wohl ein Weilchen – da ist es.

Nun nahm der alte Schulmeister eine Prise – denn damals schnupfte noch jedermann, besonders der sich mit Gelehrsamkeit abgab – und sagte: »Weil die Threserl alles so brav kann, so wird gewiß auch ihr der heilige Nikolaus was gebracht haben. Wenn man nur wüßte, wo er's hingestellt hat!«

»Auf den Ofen!« riefen mehrere.

»Schaut ihr in euere Bücher,« verwies er die Vorlauten. »Auf den heißen Ofen wird der Nikolo etwas stellen! Daß es gebraten würde, was schon gebacken ist!«

– »Mir scheint,« unterbrach er dann sich selber, »hinter dem Ofen ist heut' wieder die Katz! Es spinnt schon wieder so. Geh', geh', Threserl, jage sie hin aus.«

Als das Dirndl diensteifrig in den Ofenwinkel hinaufkroch, um die Katze zu suchen, sagte sie plötzlich halblaut: »Da ist was.«

Sie deutete auf den gefüllten Zylinder.

»Aha!« schmunzelte der Schulmeister, »aha! Was hab' ich denn gesagt? Ein ganzer Hut voll guter Sachen steht [334] da oben – für die Threserl. Wart', Dirndl, ich lang' dir sie herab. So. Das gehört alles dein. Pack' an. So, so.«

Da war das kleine Dirndl wohl ein wenig überrascht. Mit seinen veilchenblauen Rundaugen schaute es drein und faltete die Hände, denn bitten muß man um alles, auch wenn man sich's mit der Bravheit verdient hat.

Nach der Schule hub sie denn alsbald zu knuspern an. Sie aß aber nicht viel, tat das Gutding in ihr Sacktuch, band es sorgfältig ein und trug es der Ahne heim.

Die Trauschin merkte freilich wohl, wie das einfältige Kind überlistet worden war, sagte aber nichts, sondern freute sich der Menschen, die ausnahmsweise einmal so gutherzig betrügen.

So weit wäre alles gut gegangen mit der kleinen Threserl. Denn, daß sie die Lese- und Schreibzeichen nicht zu lernen vermochte, das ist kein Unglück für ein Dirndl, welches nicht einmal genug erlebt und zu sagen hat, um die Zunge ordentlich zu beschäftigen. – Ich könnte die Geschichte somit enden lassen und es wäre vielleicht das beste, aber meine Zuhörerinnen wollen alle wissen, wie sich die Threserl später zurechtgefunden hat, als die Ahne schon unter dem Rasen lag und die erwachsene Threserl darauf stand wie ein stilles, freundliches Blümlein.

Ja, da machte sie auch noch die Hand zur Faust, bevor etwas drinnen war und stieß mit dem Ellbogen an, und stieß ihn denen Burschen scharf in die Seite, wenn sie sonst nicht weitergingen. Nun war aber einer, der stellte sich so zu ihr hin, daß sie ihm mit dem Ellbogen nicht beikonnte. Es war der Dockferdl, der einmal in der Stadt auf der Hochschule gewesen. Er hatte damals ein enges Beinkleid angehabt und hohe Stiefeln, welche über die Knie [335] hinauf Schaufeln machten, und ein Tellerchen auf dem Haupt, welch letzteres ohne weitere Kopfbedeckung war, und einen dicken, weißknopfigen Prügel in der Hand, der für einen Spazierstock zu kurz und zu plump gewesen, und den der Musensohn »Totschläger« genannt. Und er hatte eine Hundspeitsche, zu der er sich endlich auch einen großen Hund anschaffte. Er trank zuweilen sein Bier aus Stiefeln, und wer ihn etwa mit einem unvorsichtigen Auge anblickte, den forderte er aufs Messer. Sein breites Gesicht war für solche Händel das Notizbuch. – Dieser Mensch ist nur über unsere arme Threserl gekommen.

Schuld daran waren die Professoren, die ihn allemal geworfen hatten, so oft er ihnen seine Weisheit nicht darlegen wollte. Da machte er sich lange Ferien, zog im Lande umher, und weil er im unteren Mürztal einen Verwandten hatte, so kam er häufig auch in unsere Gegend. Es gefiel ihm nämlich bei uns die Natur.

Weil der Dockferdl im Gesichte so viele Schrammen hatte, so empfand die gute Threserl Erbarmnis für ihn und sie stieß ihn nicht mit dem Ellbogen. Er konnte auch so munter scherzen, so freundlich plaudern, sie hätte es nie geglaubt, daß ein vornehmer Herr mit einem niedrigen Bauerndirndl so leutselig sein könne. Als sie schon näher mit ihm bekannt war, bat sie ihn eines Abends, daß er – wenn er einmal Geistlicher sei – für sie eine heilige Messe lesen solle. Weiß Gott, wie lang ihre arme Seele im Fegefeuer sein müsse.

»Wer wird an so etwas denken!« sagte der Ferdl. »So jung und schön, und solche Gedanken!«

»Ferdl!« hauchte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich werde den heurigen Winter nicht überleben.«

»Oho!« lachte der Ferdl auf.

»Du lachst jetzt,« sagte sie, »ich weiß es aber gewiß.«

[336] Er lachte weiter.

»Ich bin auch willig,« sagte sie, »ich hab's verdient. – Nur du sollst nicht so traurig sein, meinetwegen, das ist mein Kummer.«

»Na, na, na, na!« machte der Ferdl und klopfte ihr auf die Achsel. Wird sicherlich ein guter Trost gewesen sein, denn die Threserl hat nichts mehr vom Sterben und Traurigsein gesagt.

Gegen den Spätherbst hin, als alle Vögel schwiegen und alle Blätter gilbten, konnte es den Naturfreund natürlich nicht mehr fesseln in unserer Gegend. Er zog in ein schöneres Land, hatte aber zwei Denkmäler hinterlassen: das eine in dem Herzen der Threserl, das andere auf der Schiefertafel des Wirtes zu Sankt Kathrein.

Ich kann mich nicht erinnern, ob darauf ein besonders strenger, ungesunder Winter folgte. Gegen Weihnachten hin beklagte sich der Pfarrer sogar, daß er dies Jahr nicht auf seine fünf Leichen gekommen wäre. Statistisch erwiesenermaßen verringern sich in so sterbträgen Zeiten auch die Kindstaufen. Und zu Hohn und Spott noch ewig die blöden Witze vom runden Pfarrerbäuchlein!

Im Jänner, bald nach Neujahr, hatte der dreiundneunzigjährige Almhofer – überhaupt ein braver Mann – das Einsehen und starb. Im März darauf kam der Stockbergmartin unter den Kohlenwagen. »Ein unnötiger Tod!« sagten die Leute, »der hätte noch vierzig Jahre leben können.«

Ein Grübler aber meinte: »Es muß sich die Ziffer wieder ausgleichen und der Tod will seine Ursach' haben.«

Gegen Ende April, als von den Bergen das letzte Schneewasser niederrann, wurde eines Tages aus dem Dorfe eine Frau geholt in den Zeilhof zu einer jungen Dienstmagd. – Wenige Stunden später kam der Bote um den [337] Arzt und um den Geistlichen. Die junge Dienstmagd hörte man herzzerreißend schreien, so daß sich vor dem Zeilhofe Leute ansammelten.

»Das müssen höllische Schmerzen sein, wenn die einmal schreit!« sagten sie zueinander.

Am Frühmorgen des nächsten Tages waren die Schmerzen vergangen. Die junge Magd lag in ihrem Bette, blaß wie Kreide, und redete laut. So viel und so laut hatte sie noch niemand sprechen gehört. Sie bat um Verzeihung, wenn sie jemanden beleidigt hätte, sie nannte das Kleid, das man ihr anziehen solle – ein weißes Linnengewand war's, das sie noch von der Ahne hatte – sie gab jedem die Hand und bat um ein kurzes Gedenken, endlich hob sie die Hände und rief aus: »Ferdinand! Ferdinand! Du bist mein Verderben. Sonst könnte ich als reine Jungfrau sterben!«

Das waren ihre letzten Worte gewesen, die sie verständlich gesprochen. Ein paar Stunden später läutete auf dem Turm das kleine Glöcklein.

Von all dem hätte ich nichts erfahren, denn ich arbeitete in anderen Gegenden umher. Da trat der Heldenmarxel in unsere Stube, brannte sich eine Pfeife an und fragte, ob ich mich noch erinnern könne an die kleine Threserl, die mit uns einst in die Schule gegangen wäre?

»Das Barfüssel mit dem blauen Kittelein?« fragte ich.

»Dieselbige,« sagte er, »der wir einmal den Nikolo haben gespielt.«

»Und die wir immer ausgelacht haben, weil sie es im A-B-C nur bis zum K hat gebracht? wo ist denn die jetzt?«

»Im Zeilhof liegt sie auf der Bahr,« sagte der Marxel. »Und ich bin heut' deswegen da. Du und der Zetelzenz und der Grabenbergernatz und ich, sonst weiß ich keinen [338] mehr, die wir zusammen in die Schul 'gangen sind. Wie ich gehört hab', daß sie die Threserl nur gleich so hineinschieben wollen, weil sie aus solchem Anlaß gestorben – der fremde Student soll schuld sein – und auch kein Geld da ist: so hab' ich mir gedacht, wir vier sollten zusammenstehen, daß unsere Schulkameradin ein ordentliches Begräbnis kriegt.«

»Ich bin dabei.«

»Und die anderen zwei hab' ich auch schon,« sagte der Marxel. So ist es hernach gewesen, daß am Tage des ersten Mai alle Glocken haben geläutet, daß der Pfarrer bei der Einsegnung den schwarzen, goldverbrämten Kirchenmantel hat angehabt, und daß wir vier Junggesellen den Sarg der Threserl auf den Kirchhof haben getragen.

Und als ich hinabschaute auf die tannenhölzerne Totentruhe; die tief im engen Grabe stand und halb schon mit schwarzer Erde bedeckt war, da dachte ich ihr nach: Arme Threserl! So wie du es dazumal im kleinen A-B-E der Schule nicht weiter hast gebracht, als bis zum K, so bist auch im A-B-C des Lebens bloß gekommen bis zum K – . Und dein heißes Ziel ist L gewesen. Das ist der Buchstabe, mit welchem Schriftkundige jenes Wort beginnen, dessen Inhalt allen zu Lust und Leid, vielen zum Segen, manchem zum Verderben wird.

Das K der Threserl lebt noch.

Als ich eine Schlacht gesehen
[339] Als ich eine Schlacht gesehen.

Die Zeit war der 24. Juni 1859, ich ein Bursche von sechzehn Jahren. Burschen von sechzehn Jahren streifen bisweilen im Walde umher, ohne selbst zu wissen warum. So streicht im Mai der Blütenstaub der Föhre...

Ich ging durch dunkeln Wald der Lichtung entgegen, und als ich in der Lichtung stand, wieder in die Dunkelheit des Gestämmes hinein. Dort war mir's zu wenig hell, hier zu wenig finster. Eine große Wildnis wollte ich um mich haben, eine Wildnis, wie sie in der Geschichte von der heiligen Genoveva stand. Die Bäume sollten uralt und wüst sein, vom Sturme zerrissen, vom Blitze gespalten; der Boden sollte bedeckt sein von wildem Gestein und Gesträuche, Wunderpflanzen darunter, Früchte, die den Menschen verzaubern und zu dem machen, was er sein will. Was ich damals sein wollte, das wußte ich freilich nicht; vielleicht ein Eidechschen, das die Klüfte und Höhlungen des Gefelses durchgleiten konnte; vielleicht ein Fröschlein, das in die Tiefe des Waldwassers tauchen konnte: vielleicht ein Eichhörnchen, das auf den Wipfel des höchsten Fichtenbaumes klettern konnte; vielleicht eine Wildtaube, die über den Wald in sonnigem Schimmer hinfliegen konnte; vielleicht ein Geier, der die Wildtaube fressen konnte. Nur kein sechzehnjähriger Junge sein, außer es wären die Erdbeeren [340] schon reif. Oder auch vielleicht ein Falke, der vom Baumwipfel aus einen Lug ins Land machen kann, einen Lug ins Leben, das anders ist... Einstweilen suchte ich nach Erdbeeren. Und wäre dabei schier über einen Ameisenhaufen gestolpert. Ich schritt dann den glatten Sandweg hin, der zwischen den Fichtenbäumen auf der Hochebene des Berges entlang zog, und auf welchem einige Wochen früher wieder die fremden Völkerscharen nach Mariazell gewallt waren. Es war zur Nachmittagszeit, aber es war nicht sonnig und es war nicht schattig; der Himmel hatte sich, so viel mir noch im Gedächtnis ist, mit einer leichten weißen Schicht überzogen. Einmal stand ich still und horchte. Mir war zu hören gewesen, gerade als ob in weiter Ferne ein Kanonenschuß gedonnert hätte. Es war ja Krieg in Italien und auf dem Kirchplatz zu Krieglach war zur selben Zeit ein großes Papier an die Wand genagelt, auf welchem der Kaiser seine Völker rief, das Vaterland zu schützen. Etwa hatten unsere Soldaten verspielt und der Feind kam schon ins Steierische herein.

Des weiteren blieb es still auf der Bergeshöhe; ich schritt fürbaß und in jener religiösen Stimmung, in welcher ich mich damals so häufig befand, dachte ich darüber nach, ob denn der Welsch wohl auch ein Christ sei und ob – wenn zwei Christenvölker miteinander Krieg führen – sich nicht der Papst zu Rom ins Mittel legen solle, und wenn er mit Gütigkeit nichts ausrichte, Bannstrahlen werfen möchte über die Aufrührer.

Mein Philosophieren fand ein rasches Ende; vor mir am Wege auf einem erhöhten Stein hockte Marianne Schober, ein Mägdlein, mit dem ich in Zwist lebte. Sie war so viel trotzig geworden – und als ich das gemerkt, war ich's auch geworden. Wir kamen nicht selten zusammen – wir [341] riefen uns gegenseitig was zu, und sagte ich »ja«, so sagte sie »nein« und meinte sie »weiß«, so behauptete ich »schwarz«.

Die hockte nun auf dem Stein und rief mir zu: »So klotz' (trotte) doch nicht just auf den Tierlein daher! Siehst es denn nicht?«

Ich blickte zu Boden – er war ganz braun vor lauter Ameisen. Sogleich wollte ich auf die Seite treten – aber nein. Gerade weil sie's nicht will, trete ich die Tierlein zusammen.

Sie kehrte sich nicht weiter dran, sondern sagte: »Meiner Tag hab' ich so was nicht gesehen, meiner Tag nicht. Raufen tun sie miteinander und umbringen tun sie sich, daß es ein Graus ist.«

Jetzt wurde auch ich aufmerksam. So weit man auf dem Wege fortsah, war er voll brauner Ameisen und dort, wo die Marianne hockte, begegneten sie sich und schlachteten einander ab. Wunderbar war es und unbeschreiblich ist es.

Es waren die Völker von zwei Ameisenhaufen, die, wie ich später sah, mehrere hundert Schritte voneinander entfernt lagen. Der eine war am Fuße eines Lärchenbaumes, der andere mitten im Heidekraut hoch geschichtet. Beide waren verödet, denn die Bevölkerung mochte zum Teile in den Tiefen der Wohnungen verkrochen sein, zum größten Teile war sie auf dem Felde, stand in Waffen. Die Aufregung und das hastige Hinundherrennen war ganz großartig, die Wut, mit der sie sich anfielen, fürchterlich. Hunderte von Toten, Zerrissenen lagen auf dem Boden. Hunderte von kämpfenden Gruppen belebten die Walstatt. Die Ameisen verfolgten einander, sprangen eine auf die andere, umklammerten sich, wälzten sich kämpfend auf dem [342] Boden oder standen aufrecht wie ringende Menschen. Viele suchten die Feindin durch Gift (Ameisensäure) zu betäuben oder mit den Beinen ihr den Hinterleib vom Vorderleib zu reißen oder ihr mit der Lanze des Fühlers den Kopf zu durchbohren, oder sie mit den Kiefern totzubeißen. Am häufigsten waren zwei fest aneinander verklemmte und mit ihren Kiefern verbissene Feinde. Beide getötet lagen sie noch so und waren sie von den anderen gar nicht mehr auseinanderzubringen. In Ketten von sechs bis zwölf Ameisen waren sie aneinandergeklammert. Manche fielen sich wütend an, ließen aber sofort wieder los – das mochten Freunde sein, die sich in der Hitze des Gefechtes nicht gleich erkannt hatten. Ich entdeckte keinen Unterschied zwischen den Ameisen der beiden Heere – aber sie mußten ihre Leute wohl kennen; daß einer den Freund getötet hätte, schien nicht vorzukommen, wenigstens fuhren sie mit großer Entschiedenheit nur auf Bestimmte los, die Richtung, von welcher sie gekommen, war längst nicht mehr zu erkennen. Auch Gefangene wurden gemacht und dieselben mit einer gewissen Sorgfalt und Schonung ihres Lebens aus den Reihen der Kämpfer geschleppt.

Über die ganze Breite des glatten Waldweges hatte sich der Kampf ausgedehnt. Gegen den Rand hinaus lagen zwei Steine, zwischen welchen eine etwa zwei Zoll breite Gasse durchlief, die von Seitenflügeln beider Armeen fleißig als Durchgang benützt wurde, um ins feindliche Lager hinüberzugelangen. Plötzlich aber fiel es einem Teile ein, diesen abseitigen Durchweg zu verrammeln; etliche hundert Ameisen liefen wie auf Kommando aus der Schlachtordnung und huben an, Steinchen, Holzsplitter und dürre Fichtennadeln, wie sie auf dem Wege lagen, herbeizuschleppen, welche sofort wieder andere in Empfang nahmen, die damit im [343] Paß zwischen den deiden Steinen eine Barrikade bauten. Um so mörderischer entbrannte der Streit auf den anderen Linien; jetzt wich das eine Korps auf Spannbreite zurück, jetzt schien das andere weichen zu müssen – aber der Kampf blieb unentschieden.

Als wir eine Weile zugesehen und unsere Meinungen ausgetauscht hatten, wobei Marianne für die Heidelkrautarmee Partei ergriff, während ich es mit dem Lärchbaumheere hielt, sagte ich: »Gut, so wollen wir sehen, ob die deinen oder die meinen siegen.«

»Und wir werden es auch sehen,« antwortete die Marianne scharf, »die deinigen werden schön sauber davongejagt – siehst du, dort laufen schon ein paar – das sind lauter Traumichnit.«

»Oho!« rief ich, »die deinigen werden niedergestochen und aufgefressen. – Schau, wir saugen ihnen schon das Mark aus.«

»Weil ihr Schandvieher seid,« sagte die Marianne entrüstet.

»Harb' dich, wie du willst,« entgegnete ich, »wenn du verspielst, so werde ich dir schon eine Kriegslast auslegen.«

»Werd' sie auch tragen,« sagte sie trotzig.

»Wenn du verspielst, so mußt du mir dasselbig Ding geben, was ich am Philippitag haben hab' wollen.«

»Sollst es haben,« rief sie, »aber wenn du verspielst, da bin ich schon in Verlegenheit, was ich dir abverlangen soll; was ich möcht', hast du nicht, und was du hast, mag ich nicht.«

»Damit reißest du mir gar keinen Possen,« versetzte ich, »wenn nur ich meine Sach' krieg', die ich am Philippitag haben hab' wollen.«

So die Verhandlungen, während die Ameisen wacker [344] weiterkämpften. Der Himmel war düster geworden; jener Kanonenschlag, den ich früher gehört zu haben meinte, hatte sich wiederholt und war zu einem Donnern der Wolken geworden. Ameisen, die an der Schlacht nicht unmittelbar beteiligt waren, schienen über das Wetter einigermaßen unruhig zu werden, sie schlugen den Rückweg gegen das Nest ein. Aber andere liefen ihnen nach, betasteten die Flüchtlinge mit den Fühlern und brachten sie wieder in die Schlachtordnung.

Hie und da war ein Wurm, ein Käfer unter das Scharmützel geraten, er wurde über und über getreten, aber des weiteren geschah ihm kein Leid. Nur ein großer Hirschkäfer, der sich im Vollgefühle seiner herkulischen Gestalt, wie es schien, absichtlich mitten in den Kampf gewagt hatte, war rasch von Ameisen umringt, die ihn, mit ihren Lanzen stechend, mit ihrem Gift bespritzend, mit ihren Kiefern beißend davontrieben, bis er, so gut er's noch vermochte, das Weite suchte.

Eine Heuschrecke war von ungefähr auf das Schlachtfeld gehüpft; sofort schoß eine Ameise auf ihren Rücken und in demselben Augenblicke hüpfte der Springer wieder davon und entführte so einen Streiter vielleicht seinem Verderben.

Am traurigsten waren die sterbenden Ameisen zu sehen, die mit zermartertem Leibe, mit ausgerissenen Beinen langsam verendeten. Wohl wurden solche und auch die Toten möglichst bald vom Kampfplatze entfernt und gegen einen abgelegenen Ort, abseits vom Wege, hinter einen halbvermoderten Baumstrunk geschleppt, wo sie in gleichmäßigen Reihen zur ewigen Ruhe gelangten. – Bei einer anderen Gelegenheit war es, als ich sah, wie die Ameisen ihren Toten ein Grab ausgruben und sie in dasselbe verscharrten. Dazu war nun im Drange des Kampfes freilich keine Zeit.

[345] Wir, ich und die Marianne, hockten noch immer an beiden Seiten des Weges und sahen mit Staunen dem wilden Morden der kleinen Wesen zu. Ein seines Knattern war im Gewühle zu hören, und so oft ich näher hinhorchte, bekam ich einen Spritzer der scharfen Ameisensäure ins Gesicht. Also auch auf uns, die Ungeheuer, war ihr Augenmerk gerichtet, während sie das gar nicht hinderte, mit immer neuer Gier und mit immer neuen Mitteln auseinander loszustürmen. Um manches Stückchen Baumrinde, um manches Sandkorn drehte sich der Streit und manches Klötzchen Holz, manches Büschchen Moos wurde als Verschanzung benützt und auf Leben und Tod verteidigt. Ich war damals noch so sehr Ebenbild Gottes, daß ich das Tier bei weitem nicht zu meinesgleichen zählte, ich ergötzte mich daher baß an dem seltsamen Schauspiele, das mir der Waldweg darbot, ergötzte mich um so mehr, als ich endlich die Partei Mariannens immer mehr zurückweichen sah, so daß ich den vereinbarten Tribut mit Sicherheit zu gewärtigen hatte. Der eine Flügel der Unterliegenden löste sich bereits in eine wilde Flucht auf und die Meinen stürzten in Massen voran, um Beute zu machen – da hub es hoch in den Bäumen an zu rauschen und große Tropfen fielen nieder und schlugen manche der siegenden Ameisen in den Sand.

Ich erhob mich und verlangte von dem Trutzmädel die Sache, welche ich am Philippitag von ihm hatte haben wollen. Die Marianne riß zornig ihr Busentuch auf, zog ein Ding, das sie am Halse hängen hatte, hervor, warf es mir vor die Füße und lief davon. – Ein kreuzergroßes Messingblättchen, ein Amulett, das ich allerdings am Philippitag ein wenig gesucht haben mag. Ob ich das hatte haben wollen? Nun hatte ich es und der Wolkenbruch war auch da.

[346] Am anderen Tage hatte ich die Stelle der Schlacht wieder besucht; hatte keine einzige Ameise und nur wenige tote Körper mehr gefunden. Und an demselden Tage war der Gemeindebote mit dem Steuerbogen zu uns gekommen.

»Leut', ihr bringt einen um, mit den Steuern!« rief mein Vater aus.

»Nur Geduld,« antwortete der Bote, »sie werden schon noch wachsen. Telegramm ist da, gestern in Italien große Niederlage.«

Der Warzenkrieg
[347] Der Warzenkrieg.

Die Milch war ausgelöffelt. Die Schüssel, die so groß war, daß man in ihr Zwillinge hätte baden können, zeigte auf ihrem gelblichten Grunde den schwarz gemalten »Süßen Namen« 1. Sonst, wenn manchmal die Milch so dünne gewesen, daß die Buchstaben schon erklecklich früh durch die bläuliche Flüssigkeit schimmerten, nannten die boshaften Knechte das eine »Süße-Namen-Suppen«. Heute hatte es keine »Süße-Namen-Suppen« gegeben, denn wir waren mitten im Sommer, und da brachten die Kühe viele und fette Milch nach Hause.

Wir saßen noch um den Tisch herum. Der Vater kratzte vom Brotmesser die Krusten, der Florl stopfte sich eine Pfeife, ich rieb mit dem Ellbogen meine messingenen Hosenknöpfe, um sie für den Sonntag auf Glanz zu stellen. Reden taten wir so nebenbei; weil uns recht wenig einfiel, so sagten wir das wenige mehrmals und es war auch gut. Jetzt trat der Hieselegger Knecht in die Stube, ein hagerer, etwas schief gewachsener einäugiger Bursch mit einem borstigen Schnurrbart, aber sonst ganz sauber beisammen. Er hatte auch schon Feierabend bekommen. Er [348] setzte sich gleich auf eine Bank und sagte etwas zähe: »Hab' doch müssen schauen gehen, was sie beim Waldbauern machen.«

»Wärest um ein fingerlang früher gekommen, so hättest mitessen können,« antwortete mein Vater.

»Vergelt's Gott, hab' mein' Sach' schon eingenommen,« darauf der Knecht. »Wir mögen wohl recht zum Essen schauen, daß wir stark sind heut' bei der Nacht.«

»He he!« lachte unser Florl, »beim Liegen wird man weiter viel Kraft brauchen!«

»Beim Liegen freilich nicht, aber beim Stehen, weißt wohl!« sagte der Nachbarsknecht und beugte seinen struppigen kleinen Kopf vor, als rede er unter den Tisch hinein, weil er etwas schielte. »Und hast zu wenig zum Stehen, so wirst geworfen, nachher kannst eh' liegen. – Daß ich's sag', Raufnacht ist heut', und deswegen bin ich da. Auf dem Härtelanger oben. Müssen alle hinaus. Die Fischböcker kommen. Alle kommen sie. Ist kein Spaß nicht, weißt wohl.«

Unter dem Tische knurrte unser alter Walzel, von der hinteren Ofenbank her schrie ein dünnes Stimmlein: »Raufnacht? Da tu' ich auch mit. Höllsaggra plunzenstern, aus den Fischböckern machen wir Most, heut' bei der Nacht. Jo!«

Mein Vater wendete sich gegen den Ofenwinkel, wo der alte, halblahme und halbblinde Einleger saß, und sagte sehr gemessen: »Schau, der Schurl wird lebig! Dem Schurl erlaub' ich's, daß er raufen gehen darf.«

Wir lachten alle.

»Aber euch erlaube ich's vielleicht nicht,« sagte er bei. »Das ist eine Unform, raufen und nicht wissen, wegen was.«

[349] »Wir wissen's schon,« sagte der Hieselknecht.

»Kann mir's denken, daß es wieder um nichts geht,« darauf der Vater. »Oder um Narrheiten. Unter der Woche alleweil das Greinen über die harten Arbeiten, und am Samstagfeierabend, wenn sie rasten kunnten, strichen sie wild herum, wie Zigeuner, und reißen einander das Gewand vom Leib und schlagen einander die Knochen marb und die Augen aus. Hast noch nicht genug, Hieselknecht, willst ganz blind sein?«

Reckte sich der Hagere weit herüber gegen den Tisch, und knurrte leise: »Dasmal prügeln wir die Fischböcker, weißt wohl.«

Mein Vater stand auf und ging hinaus. Seine Befehle wurden sonst ohne Gegenrede ausgeführt, denn er war so klug, nur solche zu geben, die leicht ausgeführt werden konnten.

Die Samstagnacht aber läßt sich kein Bursche nehmen in der Waldheimat, und besonders das Raufen war gutes Recht noch in jenen lieblichen Tagen, da es keine bespießten Landwächter gab in den grünen Bergen. Es gab damals manch verknorpeltes Bein mehr, aber manche heimliche Feindschaft weniger. Den alten Schurl hatten sie bei einer Kirchweih lahm geschlagen; wenn er an jene Zeit dachte, da wurde ihm heiß hinter dem Brustlatz, aber nicht aus Zorn, sondern aus Lust, und: Raufen! Das war der einzige Ruf, der den halbblöden Krüppel allemal wieder aufweckte zum Leben, selbst wenn es schon war, als verkomme er an Altersschwäche und Gicht.

Wir gingen nun auch hinaus und mit dem Hieselknecht am Feldraine hin. Die untergehende Sonne legte auf den gegenüberstehenden Berg noch ihr grüngoldiges Licht. Ach, dieser Sommerabendsonnenschein! Dieses weihevolle [350] Ausglühen der letzten Gipfel! Dieser heilige Frieden in den Talern – eine köstliche Nacht zum Raufen!

»Wegen was wird denn gerauft?« fragte unser Florl den Hieselknecht. Dieser kehrte sich schiefeckig um, hustete und sprach sehr feindselig:

»Sie kleinen Buben sollen daheim bleiben. Für kleine Buben ist das nichts. Die sollen fleißig Suppen essen, daß sie stark werden.«

Das ging mich an. Ich aber tat nichts desgleichen, und wie ich bisher hinter den beiden Burschen gegangen war, so ging ich jetzt neben ihnen einher, damit der Hieselknecht nur einmal sehe, daß beim Waldbauern die kleinen Buben mindestens so groß wären, wie beim Hieselegger die großen Knechte. Ein aufgeschossener Zaunstecken! Natürlich! Weil ich keine Jacke und keine Weste anhatte, sondern in blanken Hemdärmeln war. Milchbart! Natürlich! Wäre der Herr Hieselknecht bei unserer Schüssel gewesen, so hätte er auch einen Milchbart. In drei Jahren war ich zwanzig! Und so ein Bursch' sollt' nicht wissen dürfen, warum gerauft wird?

Der Hieselknecht erzählte es etwas leise dem Florl; damals hatte ich aber noch wohlgewetzte Ohren. Von den Fischbachern ging es her, die in der ganzen Gegend immer nur die Fischböcker genannt wurden, erstens weil sie arge Böcke waren, und zweitens weil es schon so in der Sprache lag.

– Erhoben hat sich die Geschichte am Annenkirchtag, erzählte der Knecht. – Dazumal beim Grabenwirt sind Fischböcker, Stanzer und Alpler beieinand gewest. Und wie der Fischböcker Schuster Stamp schon ein paar Gläser zu viel hat, schreit er hinüber zum anderen Tisch, wo der Zislerfranz aus Alpel mit der Seinigen sitzt: »Franzl, heut' möcht' ich [351] heiraten. Gibst mir dein Madel um fünf Groschen?« Springt der Zislerische auf, und haben wir gemeint, los geht's. Der Schuster Stamp bleibt aber ganz ruhig sitzen und sagt: »Na, na, behalt sie nur sauber für dich. Kein Alplermadel mag ich nit. Die Alplermadeln haben Warzen auf dem Kui (Kinn).« – Wie ein Löw ist er hergefahren, der Franz, denn sein Dirndl hat die Warzen, weißt wohl. Aber die Leut' dazwischen und die Alplerburschen alle zusammengestanden haben den Franz festgehalten, rechts einer und links einer und haben gesagt: »Zislerfranz, sei du jetzt ruhig. Jetzt ist's was anders worden. Jetzt geht's uns all an. Die Alplermadeln, hat er gesagt, der pickend' (klebrige) Schuster! Eine Warzen auf dem Kui, hat er gesagt. Gegerbt wird er heut', daß er morgen aus seiner eigenen Haut Stiefel machen kann.« Natürlich, jetzt gleich die Fischböcker voran und um ihren Schuster Stamp herum, und die Alplerbübelen sollten nur hergehen! Der Grabenwirt dazwischen mit aufgehobenen Händen: »Bitt' euch, liebe Leut', nur in meinem Haus keine Schlacht!« – »Grimm' dich nicht, Wirt,« sagt jetzt der Knittler Thom aus Alpel. »Der heutige Handel, das ist ein großer Handel. Der hat nicht Platz im Grabenwirtshaus. Der muß auf dem weiten Feld ausgemacht werden. In vierzehn Tagen auf dem Härtelanger! Ist's recht?« – »Recht ist's,« sagten die übrigen Alpler und die Fischböcker auch. »Fischböcker, wie viele stellt ihrer?« fragt der Thom. »Das brauchst nicht zu wissen,« antworten die Fischböcker, »ruckts nur an mit eurer Schneiderkurasch –« – »Schneiderkurasch?« schreien drei Alpler zusammen, daß das Haus gellt, der Thom dämpft sie zurück. »Schimpft's, wenn ihr wollt's. Wann g'rauft wird, das wißt's. – Damals,« so schloß der Hieselknecht, »ist bloß geschimpft worden, heut' wird g'rauft

[352] »Ah, so ist die G'schicht,« sagte nun unser Florl, »na, da müssen wir freilich alle zusammenstehen. Warzen auf dem Kui, hat er gesagt?«

»Warzen auf dem Kui hat er gesagt.«

Ich war während dieser Erzählung ein anderer geworden. Sonst immer für den lieben Frieden stimmend, weil man sich beim Raufen, wie die Mutter sagte, die Hosen zerreißt. Vorher hatte ich nur wollen dabei sein aus Neugier und Kurzweil. Nun stand es anders. Die Dirndeln von Alpel Warzen auf dem Kui! Das wird kein Raufen in dieser Nacht, das wird ein Schlachten!

»Wo treffen wir uns nach dem Nachtmahl?« war meine Frage.

»Wir Alpler bei der Massentann,« antwortete der Hieselknecht. Das war genug, ich gehörte in den Heerbann.

»Florl,« sagte der eine auf dem Rückweg, »ich gehe zum Auenhofer hinüber, der hat einen Kugelstutzen.«

»Ja, grad so! Mit Kugelstutzen werden wir raufen!« entgegnete der andere voller Verachtung. »Ich denk', wir Alpler bringen auch noch die Kraft und Kurasch auf zum Rangelringen.«

So lief ich noch eilig zum Riegelsteff hinab in die Köhlerhütte, um mir seinen Schlagring auszuborgen. Als ich vor der Hütte stand, es war schon dunkel, hörte ich drin laut brüllen. »Wegen meiner geht's her!« rief eine klagende Mädchenstimme. »Ins G'red' und in die Schand kommt man, von wegen so einer kreuzweis verschwefelten Warzen da!«

»Bind's ab!« sagte der alte Steff. »Mit dem Faden abbinden, den Faden unter den Dachtraufen eingraben. Bis er verfault ist, wird die Warzen hin sein.«

»Hab's eh' getan, Vater,« berichtete das Dirndl, »hab's [353] abgebunden und den Faden eingegraben, und wie der Faden verfault, ist die Warzen noch größer geworden.« Und brüllte zum Erbarmen.

»Liserl,« sagte nun der Alte beschwichtigend, »mach' dir nichts draus. Wenn sie wegen deiner raufen, so kann's dir nur eine Ehr sein. Nachher wirst bekannt, brauchst nicht mehr zu warten, bis selber einer kommt, kannst dir einen aussuchen. Nur schön gescheit sein, Liserl!«

»Den Franzel derschlagens!« schrie das Dirndl verzweifelt auf.

»Wär' nit schlecht!« lachte der Alte. »Eher derschlagt er ein paar!«

»Nachher wird er eingesperrt!« rief sie.

»Just so, just so,« sagte er, »als ob sie wegen Raufens schon einmal einen angezeigt hätten. Das gibt's nit. Da halten sie all zusammen. Wie die Veitscher auf der Kirchweih unseren Alplermichel all zwei Füße abgeschlagen haben, daß wir ihn haben müssen heimtragen, wie einen Mehlsack, da ist's wohl dem Schneider Kindl eingefallen: Anzeigen die Veitscher! Na, haben wir anderen gesagt, anzeigen nicht, das ist uns zu fürnehm, aber hauen die Veitscher, daß die Schwarten krachen! Im nächsten Jahr haben wir ihnen den Mehlsack dreifach zurückgezahlt und gut ist's gewest. Na na, Liserl, dem Franzel geschieht nichts.«

Als sie sich hierauf beruhigt hatte, trat ich ganz harmlos, als ob nichts wäre, in die Hütte. Die Liserl wendete sich rasch ab und machte sich mit der Schürze im Gesicht zu tun, aber ich sah es doch, das Wärzlein. Es stand am Kinn, gerade neben dem Grübchen. Es war nicht größer, als ein kleines Erbsenkorn. Es schien an einem dünnen Hälslein zu hängen, aber um ganz Alpel hätte ich es nicht mögen wegschneiden. Gar nichts Herzigeres ist zu denken [354] als dieses Wärzlein am Kinne der Liserl. Der Neid war's von den Fischböckern, und nichts anderes! Warzen hatten wohl die Fischböcker auch, aber keine so sauberen Dirndeln dran.

Den Schlagring borgte er mir gerne, der Riegesteff, aber zu groß war er für meine Finger. »Steck' ihn über die Faust!« riet er, da sah ich erst, wie das Ding zu brauchen war.

Ein paar Stunden später standen wir zusammen an der Massentanne. Unten am Bach stand eine Mühle; in das vom Flosse niederstürzende Wasser schien der ausgehende Mond, so daß es war, als rinne ein goldener Strom auf die schlechte Mühle des Waldbauern. An der Mühle hatte einer ein paar Dachlatten losgerissen und trug sie über der Achsel, wie lange Speerschäfte. Andere hatten Stöcke und Knittel bei sich und der Grabner Wendelin einen kurzen Strick mit Knoten. »Der,« sagte er, mit Stolz seine Waffe schwingend, daß es pfiff, »der kitzelt hübsch gesalzen und macht keinen Beinbruch, der ist ein guter Kamerad.«

Unser waren an dreißig. Fast ganz Alpel war beisammen in seinem jungen Burschenblut und Mut. Der Feldzugsplan wurde entworfen, und als wir schon ansteigen wollten, kam über die Wiese her ein Ding getrudelt; schnaufend, mit zwei Stöcken kam es heran, und als einer mit dem Streichholz unter den alten Filzhut hineinleuchtete, war darin das knochenspitzige Gesichtlein des alten Einlegers Schurl. Und er wolle auch mit zum Raufen! Jo. Da ihn aber weder seine Beine noch die jungen Helden tragen wollten, so machte der Hieselknecht den Vorschlag, der Alte sollte in der Mühle bleiben, leere Mehlsäcke in Wasser einweichen und sie als kalte Umschläge bereithalten für die Blessierten. So wurden wir seiner los und dann [355] begann der Anstieg durch den finsteren Wald. Dort und da brach eine Mondspange durch, dort und da schwebte ein Johanniswürmchen hin zwischen das Gestämme, dort und da glühte das grünliche Auge eines feindgierigen Burschen. Das waren unsere Lichter, sonst alles finster.

Je höher wir hinauf kamen, je leiser traten wir auf den Boden. Nach einer Stunde nahten wir dem Härtelanger, der auf der Höhe lag, zu welcher von der anderen Bergseite herauf die Fischböcker kommen sollten. Der Anger war so groß, wie etwa drei Dorfkirchhöfe nebeneinander, er war fast eben und hatte kurzes weiches Federgras, das taufeucht, wie im Silberreife schimmerte. Der Anger war ringsum von hohen Tannen umstanden, über deren starrem Wipfelgezacke der stille Mond aufstieg. Wir hielten uns an den Waldrand auf der Alplerseite, die im schwarzen Schatten lag, und der Florl flüsterte noch, der Grabner Wendelin solle seine funkelnden Augen in den Sack stecken, daß sie uns nicht zu früh verrieten an den Feind. Ich hatte einen langen Stecken bei mir, war aber noch nicht im klaren, in welcher Weise ich damit meine Heldentaten vollführen würde. Jedenfalls war ich einer der allerwütigsten. In die Avantgarde ward ich aber nicht kommandiert. Der Zislerfranzel, der als die eigentliche Ursache des Feldzuges einer der Heerführer war, schickte mich vielmehr in einen hohen Tannenbaum empor, daß ich von oben spähen und horchen solle, was im Lager des Feindes vorging. Am oberen Ende des Angers stand ein uralter Stamm, den stieg ich an. Durch das Riesengeslechte des Geästes war es keine Kleinigkeit hinauszukommen. Endlich saß ich in einem verlassenen Geierneste und hielt Rundschau über den weiten Wald, der mit dem Milchschimmer des Mondes überhaucht war. Dort und da stand eine schwarze Kuppel auf, oder eine scharfe Lanze, [356] oder eine mehrgestaltige Gruppe besonders hoher Bäume. Aus dem weiten Talkessel, in den ich niederblickte, schimmerte ganz matt ein winziges, weißes Blättchen heraus. Das war die Kirche zu Fischbach. Aber es schien fern und halb versunken, wie in einem Märchenlande. – Meine Kameraden hatten sich ganz in den Wald zurückgezogen. In meiner Nähe quixte oder flatterte manchmal etwas. Ich fürchtete mich und spähte nach dem Feinde, um nötigenfalls bei ihm Zuflucht zu finden. Lange war keiner zu sehen und zu hören. Endlich nahm ich doch etwas wahr. Von der Fischböckerseite gegen die unsere kroch ein großer schwarzer Molch über den Anger. Ich steckte zwei Finger in den Mund und tat einen Pfiff. Da wurde es bei den Alplern unter den Bäumen lebendig, der Molch wendete sich und kroch rasch zurück.

Von unserem Lager schritt ein Mann über den Anger, ich glaube nach seiner vorgeneigten Gestalt war es der Hieselknecht. Am Fischböcker Waldrande blieb er stehen, horchte und schrie dann in das finstere Gestämme hinein: »Seid ihr da?«

»Ja,« antworteten nach der Reihe unzählige Stimmen.

»Wie viele sind euerer?«

»Haben wir euch gefragt?«

»Meine Kameraden lassen euch sagen, ihr sollt an den freien Anger vortreten!«

»Ja, Schnecken mit Salat!« spotteten sie. »Wer Schneid hat, der soll nur hergehen.«

Der Hieselknecht schritt zurück in sein Lager und berichtete: »Ihrer mindestens sechzig müssen sein.«

»Gut ist's,« sagte der Franzel, »kriegt jeder von uns zwei. Nur zuwarten. Auf den Anger müssen wir sie hervorkommen lassen.«

[357] Sie warteten zu. Und die Fischböcker warteten auch. Die Fischböcker hatten ein kleines Anliegen. Damals wußte ich es nicht, aber heute weiß ich es.

Von den Fischböckern waren zuerst drei Mann hinaufgegangen gegen den Härtelanger. Dann waren noch zwei nachgekommen, und dann nichts mehr. Nicht einmal der Schuster Stamp war erschienen. Dieses kleine Heer hatte nun einen viel größeren Zorn auf seine eigenen Fischböcker, als auf den Feind. Sie fühlten sich verlassen und verraten, und doch mußte die Fischböckerehre gerettet werden. Auf die Frage des Hieselknechtes hatten sie nun eine Unzahl von Stimmen nachgeahmt, der Wald barg jene, die nicht da waren, und somit stellten sie nach außen hin eine gewaltige Heeresmacht dar.

Der Mond stieg höher und noch höher und stand endlich so hoch, daß am Angerrande kein Schatten mehr war. Da begannen die Alpler sachte vorzurücken. Die Fischböcker hatten ihren Nachtwächter bei sich, der aber trug heute die Laterne nicht in der Hand, sondern im Kopfe. Der Nachtwächter, der gleichzeitig auch die Ortspolizei zu machen hatte, war ein kleines, gemütliches Männchen, denn nur ein solches paßte für die immer rauflustigen Fischböcker; mit einem baumstarken Bengel hätten sie in jeder Nacht angebunden. Den geschmeidigen Kleinen ließen sie ruhig seine Sprüche ausrufen und im übrigen taten sie, was sie wollten.

»Kameraden,« so sprach nun der Nachtwächter zu den Seinen. »Was gebt ihr mir, wenn ich die Alpler verjage?«

Zuerst lachten sie.

»Was gebt ihr mir?«

»Geh', Polizei, troll' dich!«

Der andere sagte: »Gebt ihr mir nichts, so tu' ich's umsonst. Fürs Vaterland!«

[358] »Sind jetzt nicht aufgelegt zum Spaßmachen.«

»Paßt's auf, sie werden sich bald verlaufen.«

Und der Nachtwächter schlich im Walde um den Anger herum und kam in das Lager der Alpler.

Der Zisterfranzel hatte eben gesagt: »Ich glaub', es sind ihrer nicht viele, weil sie sich nicht herfürwagen.«

Zupfte der Fischböcker Nachtwächter ihn am Ärmel, winkte ihn ein wenig beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Freilich sind ihrer nicht viele, der Fischböcker. Verhöllt wenig sind ihrer und just die Schwächeren. Und weißt du auch warum?«

»Nau?«

»Ja, da kannst du mir etliche Maß Wein zahlen, wenn ich dir's sagen soll, warum heut' so wenig Fischböckerburschen heroben sind auf dem Härtelanger.«

Weil das mit gar geheimnisvoller Miene vorgebracht war, so horchte der Franzel näher hin.

»Viel Ehr',« fuhr der Nachtwächter fort, »wird nicht herausschauen, wenn die Alpler Burschen die Stärkeren sind, heut' da heroben! Die Fischböcker Burschen sind's derweil anderswo.«

Mehrere hatten sich in die Runde gestellt, und auf die dunkle Rede fiel es dem einen und dem andern ein, daß es freilich nur der leidige Neid gewesen, wenn die Fischböcker sich über die Alplerdirndeln lustig machten. Und nun hörten sie auch schon das Flüstern des Nachtwächters: »Meine lieben Alplerbuben, ich sag' euch's, stark sein ist nicht genug, der Mensch muß auch gescheit sein. Wie das gemeint ist! He, was glaubt ihr? Eine schöne Nacht das, gelt? Eine prächtige Samstagnacht zum Raufen, gelt? – Alplerebuben! Derweil ihr heute da aufs Raufen wartet, gehen [359] die Fischböckerburschen zu eueren Dirndeln fensterln! – Nichts, nichts, will nichts gesagt haben!«

Und verschwunden war er im finsteren Walde.

Die Flöhe in den Köpfen bissen bei etlichen sehr ausgiebig, und mancher Bursch' verlor sich. Der Knittlerthom jedoch sagte: »Zu der meinigen soll nur einer kommen, die hat heut' Zahnweh, da kratzt sie.« Er blieb im Heere.

Der Stochelsepp und der Hieselknecht meinten, sie hätten jetzt keine, so waren sie außer Sorge und blieben im Heere.

Der Weberleopold gestand, er hätte zwar eine, sie dürfte auch nicht Zahnweh haben, aber er bleibe auf dem Anger, das Raufen sei ihm lieber, als das Fensterln. Ähnlich auch andere.

Somit war die List des Nachtwächters großenteils mißlungen. Die alplerische Kriegsmacht war zwar etwas zusammengeschrumpft, stand aber noch guten Muts auf dem Anger und drang vor gegen den andern Waldrand. Und die Fischböcker wollten aus ihrem Dunkel nicht heraus und sie wollten nicht.

»Letfeigen!« schrien wir hinein.

»Ja, geht's nur her!« antwortete im Dickicht eine Stimme. Wir Alpler waren schon aufs äußerste empört über eine solche Feigheit und plötzlich rief der Hieselknecht: »Suchen wir's! Fangen wir's!« Alles fuhr in das finstere Gestämme hinein. Hart prallten sie aneinander, und nun begann der Kampf. Mancher traf mit seinen Hieben einen Baumstamm, mancher einen harten Schädel, mancher auch die vom Schöpfer selbst für solche Fälle bestimmte sehr zweckmäßige Zielscheibe. Man hörte das Strampfen der Füße, das Schnaufen der Lungen; das Brummen der Köpfe fühlten die Betroffenen wohl selbst, ich fühlte nichts davon, weil ich etwas abseits stand und meine Kraft hübsch [360] für die letzte Entscheidung aufsparen wollte. Man hörte auch manches hell herausgeschriene »Auweh!« und dazwischen Flüche, und dann wieder ein klingendes Auflachen. Besonders einen hatten die Alpler in ihre Mitte bekommen, den sie gründlich bearbeiteten. Der Hingeworfene knirschte seine Empfindungen in das kühle Moos hinein, mußte aber, von zehn Armen niedergehalten, seinen Rücken mit allem Zubehör dem Feinde preisgeben. Da die übrigen Fischböcker schnöde geflohen waren, so wollten wir unseren schrecklichen Haß an diesem einen Opfer verlodern lassen.

»Nau,« fragte der Franzel, als sie müde waren, den Unterlegenen, »was ist's, haben die Alplerdirndeln Warzen oder nicht?«

»Ochsen seid's!« antwortete der andere, sich jähe aufrichtend und mit den Fingern Gras und Erde aus seinem Munde kratzend.

»Herr Jesseles!« schrie der Florl, »das ist ja kein Fischböcker nicht, das ist ja unser Hieselknecht!«

Und haben also die guten Alpler damals auf dem Härtelanger nächtlicherweile einen Mißgriff getan und anstatt eines Fischböckers ihren Hauptmann durchgebläut. Dieser soll der Meinung gewesen sein, er sei in die Hände der Feinde geraten, hat sich nach Kräften zwar gewehrt, hat aber nicht geschrien, und die wirklichen Fischböcker sind derweil abgefahren.

Und hierauf sind wir siegreich heimgekehrt. Der alte Schurl in der Mühle wartete schon hochgespannt mit seinen kalten Umschlägen, die dem Hieselknecht recht zustatten kamen.

»Aber diese groben Fischböcker!« klagte der Alte bei Besichtigung der Striemen, Flecken und Beule. »Ist nur gut, daß du ein Aug' schon hin hast, sonst hätten sie dir's gewiß herausgeschlagen. O diese verdeixelten Fischböcker! [361] Jo. Habt's ihnen's aber doch recht heimgezahlt, Buben! Gelt?«

Wir hatten uns das Wort gegeben, nichts zu verraten. Der eine aber bestrebte sich, im Laufe der Zeit die Niederlage wettzumachen, und in der Gegend werden heute nur wenige Burschen und Männer umsteigen, die es nicht erfahren haben, daß der hagere Hieselknecht wieder ganz gesund geworden ist.

Der Zislerfranz hat sein Warzendirndel geheiratet. Ob am Ende nicht sie den Warzenkrieg weitergeführt haben? Ich weiß es nicht.

Fußnoten

1 In Schüsseln und an Töpfe pflegen die Buchstaben eines heiligen Namens, kunstreich ineinander verschlungen, gemalt zu sein.

Ereignisse eines Faschingtages
[362] Ereignisse eines Faschingtages.

Bin doch begierig, ob man mir die Geschichte glauben wird. Man braucht sie aber gar nicht zu glauben, sondern bloß zu wissen. Und manche meiner Heimatsgenossen wissen tatsächlich von der Geschichte. Ich war damals ein Mensch in dem Alter, in welchem man von artigen Leuten »Jüngling« und von wahrheitsliebenden »dummer Junge« genannt wird. So kam der »heilige Faschingdienstag«; diesen Festtag haben wir immer strenge gehalten, und also rüsteten wir uns auch diesmal zum Freiballe, der beim »Goldenen Löwen« in Krieglach abgehalten wurde.

Ich besaß ein nagelneues Steirergewand und im Hosensacke eine gegerbte Schweinsblase mit fünfzehn Groschen Geld. Reicht das aus für zwei Portionen Braten, zwei Maß Guldenwein, eine halbe Maß Glühwein, zwei Schalen Kaffee, für Spielleut'geld auf ein paar Steirische, einen Gestrampften und noch etliche Zigarren? – Das reicht schlechterdings nicht dazu aus. Also verkaufte ich an den Hochbrunnerknecht eine Lodenjoppe, da der Sommer vor der Tür war, übrigens ohnehin nicht gedacht wurde an das Morgen, sondern nur an das Heute, welches Faschingdienstag hieß. Und als ich nun soviel Mammon beisammen hatte, um für mich und eine erst zu gewinnende Tänzerin die obengenannten Güter erwerben zu können, heißt es auf einmal, der Grabenkathel wäre ihr Kind gestorben, selbes werde am [363] Faschingdienstag begraben und ich sei dazu auserlesen, das Trühlein auf den Kirchhof zu tragen.

Die Grabenkathel war ein armes kränkliches Weib, das sonst im Tagwerk arbeitete, um das sich aber in seiner Krankheit niemand eigentlich kümmerte, nicht einmal der eigene Mann, der Grabenhesch, welcher in einer anderen Gegend als Holzknecht arbeitete und oft wochenlang gar nicht nach Hause kam. Doch das nun verstorbene Kindlein mußte die Gemeinde begraben, und sie tat es eigentlich recht gerne, weil sie nur froh sein konnte, für die Zukunft einen armen Eingeborenen weniger in Sorge zu haben. Wie aber gerade ich zur Ehre kam, an einem solchen Tage drei Stunden lang (denn so weit war der Weg bis zum Kirchhof) eine Leiche im Arm zu halten, das leuchtete mir nicht ein. Daher begehrte ich auf und rief: »Wie komm'ich dazu?«

»Du kommst dazu, weil du ein langer Bengel bist,« antwortete der Gemeinderichter. Das empfand ich nun wie eine wirkliche Auszeichnung. Andere Bursche, die auch zum Begräbnisse geschickt worden waren, weil jedes Haus gepflogenheitlich eine leidtragende Person beizustellen hatte, sahen einander jetzt so an.

Der Hochbrunnerknecht, der Franzel, trat vor und sprach: »Mir scheint, der Waldbauernpeter will nicht recht. Könnt's auch leicht wegwerfen das Trühel, wenn ihm schwach wird. Ich geh' ohnehin zum Freiball nach Krieglach und will's schon tragen.«

»Ist auch recht,« sagte der Richter, »so pack's halt in Gottes Namen!«

Ich habe im selbigen Augenblick den Schimpf so tief empfunden, daß ich das heilige Fürnehmen machte: dem Franzel schlag' ich heut' beim Löwen, bis wir lustig geworden [364] sind, all' zwei Füße ab. Nachher soll er sehen, wer schwach wird.

Im nämlichen Augenblick aber sank die arme Grabenkathel nieder auf das bereits geschlossene Särglein und schrie: »Forttragen wollen sie dich mir, du mein einziges Glück auf der Welt! Bist gleichwohl im Himmel bei unserer lieben Frau, so sei mein' Fürbitt, daß sie auch mich bald zu sich nimmt. Bin so ganz und gar verlassen auf dieser Erden!« Und begann so wüst zu klagen, daß ich all meine Rachegedanken vergaß und nur noch denken konnte: die Leute sollten doch gut auseinander sein in einem solchen Jammertal. –

Der Franzel schlang nun um das fichtenholzweiße Trühlein einen Riemen, hing sich dasselbe über die Achsel, dergestalt, daß er es im Arm über der Brust tragen konnte. Ein schwarzbraunes Dirndel, Verwandte der Grabenkathel, kam mit einem papierenem Blumenstrauß herbei, an welchem ein weißes und ein rotes Band war, und diese Herrlichkeit steckte sie dem Franzel auf den Hut. Es ist ein alter Brauch in jener Gegend, daß Leichenträger solche »Totenbuschen« tragen; bei erwachsenen Personen müssen die Blumen weiß, die Bänder schwarz sein, bei Kindesleichen wollen die roten Blumen und Bänder andeuten, daß keine Trauer sein soll, wenn ein unschuldiges Kind früh aus dieser Welt geht. Und in Wahrheit, als der Franzel nun mit dem Särglein und den flatternden Bändern gleich einem Hochzeiter so vorausging durch den großen Kreßbachwald hin und unser etliche plaudernd hinterdrein, da war von einer Trauer nicht viel wahrzunehmen. Zwischen den Vaterunsern trieben wir Schelme miteinander ein bißchen Schabernack. Neben mir ging der junge Bumshöfer, der fragte das schwarzbraune Dirndel, ob er es heiraten dürfe? [365] »Ja, auf wie lang?« gab es ihm fragend Antwort. »Die Mannerleut' sind so viel falsch. Das sieht man wieder bei meiner Muhme, bei der Grabenkathel. Was hat er ihr vorgeschwatzt, der Hesch, vom Liebhaben und Treusein und Brav-Zusammenhalten in Freud und Leid! Weil sie kränklich ist worden und keine rechte Unterhaltlichkeit mehr daheim, hat er sich nach dem Holztagewerk lieber ins Wirtshaus gesetzt, als ins traurige Grabenhäusel. Ledigerweis' ist ihm der Weg bei der Nacht nicht zu weit gewesen bis zu ihrem Fenster; verheirateterweis' vergißt er auf Weib und Kind, zur Not, daß er bisweilen ein paar Groschen Geld schickt, er selber kommt gar nicht mehr. Nicht einmal jetzt, wo das Kind gestorben ist, laßt er sich sehen, der Nichtsnutzige, laßt sein Weib im Elend allein.«

»Weiß er es wohl, was geschehen ist daheim?« fragte ich.

»Das ist keine Ausred'!« fuhr die Schwarzbraune drein, »er soll sich umschauen nach seinen Leuten, wenn er ein ordentlicher Ehemann sein will. Himmlischer Vater, behüt' und bewahr' mich vor einem solchen Mann!«

»Du,« flüsterte ich dem Bumshöfer zu, »ich glaub', das ist nicht die richtige Zeit zum Brautwerben. Wart's ab. Ehevor sie ledig bleibt, kriegst sie gewiß.«

»Kannst recht haben,« antwortete er und stimmte rasch in das laufende Vaterunser ein. Nach drei Stunden waren wir im Tale und unser kleiner Zug trabte betend durch das große Dorf. Vom »Goldenen Löwen« heran klang uns lustiges Pfeifen- und Geigenspiel entgegen und zu den mit Tannenzweigen bekränzten Fenstern heraus erscholl manch kecker Juchschrei. Zum Haustor gingen in Hemdärmeln, die Pfeifen im Munde, Mannsbilder singend und lärmend aus und ein, einer davon blieb stehen, als er den nahenden [366] Zug sah, und rief: »Nu, was ist denn das für eine Maschkerad'! Am Faschingtag Leut' eingraben, das ist keine Mode!«

»Ja, ja!« schrie ihm unsere Schwarzbraune zu. »Geh' nur her! Gehörst eh' dazu! Leicht willst es wissen, wen wir im Trühel haben!«

Der Mann stutzte ein wenig, nahm mit ungefüger Hand die Pfeife aus dem Munde und sagte: »Die schwarzbraun' Sefferl ist dabei?«

»Ja, die ist auch dabei,« antwortete sie, »wenn du selber nicht gehst zu deinem Kind, so müssen wir dir's halt nachtragen.«

Jetzt fiel ihm die Pfeife aus der Hand. Der Franzel war mit seiner kleinen Last stehengeblieben. Der andere starrte darauf hin und murmelte: »Schier Angst kunnt sie einem machen, die dumme Dirn'. – Wem – wem gehört's denn zu – das da drin?«

Antwortete der Franzel: »Hesch, es ist dein Kind.«

Der Hesch stand da wie ein Baumstrunk und rührte sich nicht. Nur der buschige Schnurrbart zuckte, sonst schien sein Gesicht schier versteinert zu sein.

»Schon vorgestern ist es gestorben,« berichtete ihm nun die Schwarzbraune. »Im Hals hat's was bekommen, erstickt in ein paar Stunden. Haben wohl gleich nach dir ausgeschickt, haben dich nicht gefunden. So, daß du es weißt. Und trösten magst dich selber, wenn du willst.« Der Hesch wendete sich schwerfällig um und wankte in den Wirtshof hinein, gegen die Scheuer hin. Der Leichenzug ging dem Friedhofstore zu und ich schlich dem Hesch nach. – Der hat's jetzt tief! so war mein Gedanke. Mag ja sein, daß er ein Nichtsnutz ist, aber jetzt hat er's doch. So eine Stund' wie[367] die, ich dank' schön! Sein Weib daheim hat nur den Schmerz, der hat auch die Reue. Man soll ihn nicht allein lassen in solcher Stund'.

In der Scheuer kauerte er an der finstersten Ecke und ich hörte die Stöße seines Atems. So heftig stieß es ihn, daß ich glaubte, es müsse ihm die Brust zersprengen. Ich blieb einige Schritte vor ihm stehen und dachte: Er soll sich nur ausweinen, ist ja ein Glück, daß er noch kann. Auf einmal – ich erschrak fast – sprang er zu mir heran und rief:

»Ein Kind, wie Gott kein lieberes vom Himmel hat gegeben! – Aber in mir ist der leidige Teufel! Es ist nicht anders, es ist nicht anders! – Die ganze Wochen im Holzschlag nichts denken, als: am Sonntag siehst es wieder. Und hab' ja auch mein' Kathel gern. Aber wie ich heimkomm' in die dunkle Hütten und sind' alleweil nur Sorg' und Elend, hat's mich bald nicht lang gefreut. Der Mensch will nach harter Arbeit am Sonntag ja doch ein bissel Aufheiterung. Und geh' ins Wirtshaus. Die erste Zeit bleib' ich nur ein Stündel, laß mir auch allemal eine Flasche füllen fürs Weib daheim. Nach und nach bleib' ich länger. Gute Kameraden gibt's auch. Spielkarten gibt's auch. Allerhand Unterhaltlichkeit im Wirtshaus. Mein Holzschlag ist ja näher dem Dorf als dem Kreßbachwald. Denk' ich mir: Wozu den weiten Weg heimwärts und wieder den weiten Weg auswärts! Bleib' Sonntags über im Dorf und schick' ihr das Geld, was du an Schuhen ersparst – ist just so gut, ist besser. – Schandkerl, der ich bin!« Die Faust schlug er sich an die Stirn. Vom Tanzboden her klang die Musik, das Jauchzen der Lustigen.

»Das sind Faschingtage!« rief der Hesch aus, während er mit heftigen Schritten durch die Scheuer schritt. »Bin [368] seit Sonntag so herum – von einem Dorf zum anderen, von einem Wirtshaus zum anderen. Der Arbeitsmensch muß seine Aufheiterung haben, natürlich! Alleweil dieselbe Ausred'! – Morgen ist Aschermittwoch, da wollte ich denn einmal sehen gehen, wie es daheim ausschaut. Just ein rechter Tag. Und was das Bübel macht. – Und jetzt kommt mir das Bübel schon entgegen. Das will den Aschermittwoch auf dem Kirchhof zubringen – ha, ha! – Schweigen sollt ihr, verdammte Kratzen da drinnen!« schrie er wütend gegen das Haus, von dem die Geigenklänge herübertönten. »Peter, Peter!« sagte er und packte mich an meiner Hand. »Gut muß es mir gehen, daß ich schon die Musikanten verachte!«

Ob er nicht mit auf den Kirchhof kommen wolle? war meine Frage, denn zwischen den Musikklängen durch hörte man das Kirchenglöcklein. »Jetzt auf den Kirchhof?« begehrte er auf. »Du meinst mir's gut. Daß mich der Leut' Augen totstechen täten! – Nein. Ich schleich' mich da hinten über die Felder, und nachher, wenn sie sich verlaufen haben...«

Der Holzknechthesch ist aber an demselbigen Tage nicht mehr gesehen worden auf dem Kirchhof. Einen anderen Weg hat er gefunden, der war noch besser – der Weg durch den Kreßbachwald ins Hochgebirgstal zu seinem Weibe. –

Der kleine Leichenzug hatte sich auf dem Friedhofe nicht gerade lange aufgehalten. Sie kamen – eins nach dem anderen – ins Löwenwirtshaus und der Hochbrunnerfranzel schlenkerte immer noch seine Arme aus, die ihm vom langen Tragen etwas steif geworden waren. Wir setzten uns zusammen an einen Tisch in der Gaststube, während über unseren Köpfen unter den Füßen der oben Tanzenden die Dielen schwankten. Der kugelrunde Wirt kam herbeigewackelt und kreischte: »Brav, meine lieben Leut', daß ihr die Traurigkeit [369] ein bissel wollt hinabschwemmen. Was schafft's für einen, ordinari oder bessern?«

»Bessern!« bestellte ich.

»Bist ein Schaf!« raunte mir der Hochbrunnerische zu, »er hat ja nur eine Gattung, sagst: ordinari, so ist er billiger, sagst: bessern: so ist teuerer.«

Wir junge Leute in Hemdärmeln, aber die Hüte auf dem Kopf und Zigarren im Mund, machten uns heimisch im Wirtshaus zum Löwen. Bald nachher fingen wir an zu schnabulieren und zu süffeln. Ja, ja, süffeln ist schon das rechte Wort, denn für ein Trinken war es zu anhaltend und für ein Sausen zu zahm. Wir stießen auch mit den Gläsern zusammen, anfangs ließen wir das Tote leben, das wir auf den Friedhof getragen hatten, später sogar uns Lebendige! Als der Bumshöfer und die Schwarzbraune zusammenstießen, da sprangen einige Tropfen Wein auf den Tisch und natürlich kam darauf der alte Spaß von der Taufe. Die Schwarzbraune machte ein trotziges Gesicht und meinte, sie stoße mit Männern nur an, um ihnen die Gläser in Scherben zu rennen. Ob sie die Gläser mit ihrem Göscherl ersetzen wolle? gab ich ihr zu bedenken, da antwortete sie, das wären keine Reden für einen solchen Tag! stand auf, bezahlte an der Tür ihren Teil der Zeche und ging davon. Der junge Bumshöfer saß und lehnte noch eine Weile so herum im Wirtshause. Das sei der langweiligste Faschingstag, den er je erlebt! klagte er und endlich war der Bursche nicht mehr zu sehen. – Anders hatte sich's beim Hochbrunnerfranzel geschmiedet. Die junge schneidige Wirtin aus unserem Walde, die am Kreßbach ihr wohlangesehenes Haus besaß, war erschienen. Auf einem Steirerwäglein war sie angefahren gekommen, hatte den Braunen selbst geleitet, und dabei mit der Peitsche geknallt. Jetzt trat sie mit ihrem frischen Rundgesichte [370] ins Haus, ließ die kecken Äuglein von einem Burschen zum anderen fliegen.

»Welcher hat denn die größte Schneid?« rief sie heiter in die Stube, »mit dem will ich tanzen!« Alles drängte sich an sie.

Die Kreßbachwirtin schaute aber auf den Hochbrunnerfranzel her und sagte: »Der dort gefällt mir am besten. Der hat sogar einen Buschen auf dem Hut.«

»Ja, einen Totenbuschen,« spotteten andere drein; nichts will ich wetten, ob ich nicht auch selber unter diesen »anderen« gewesen bin. »Einen Totenbuschen!«

Darauf sie: »das macht nichts, wenn nur der Bursch' recht lebendig ist! Na, komm' her, probieren wir's.« Winkte den Franzel zu sich. Der ging nicht ungern, sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn flink auf den Tanzboden und rief den Musikanten zu, sie sollten auf ihre Unkosten einen Steirischen aufspielen!

Als dieses Paar unter den gemütlichen Klängen des »altweltischen Landlers« sachte dahinreigte, da schauten wir anderen einmal so süßsäuerlich zu und schüttelten unsere Köpfe. Daß die junge Kreßbachwirtin herlebig war und mit ihrer heiteren Mutwilligkeit die Welt nur so frisch vor sich hintrieb, war längst bekannt; daß die unterschiedlichen Freier, die es bei ihr versucht, auf die lustigste Weise abgefertigt zu werden pflegten, so daß sich niemand mehr an sie wagen wollte, war auch bekannt, aber daß sie selbst zu einem hinging und ihn hernahm vor allen Leuten, und es »mit ihm probierte«, das war etwas Neues.

Als das Stückel aus war, stellte sich die Kreßbachwirtin stramm vor den Franzel hin und sagte: »Lebendig bist mir genug. Magst, so heiraten wir zusammen.«

[371] Der sonst hübsch kecke Franzel war im Gesicht glutrot geworden vor lauter Schamhaftigkeit, und er schämte sich fast dessen, daß ihm so »g'schamig« zumute war. Er trat etwas zurück und antwortete auf ihre Frage bescheidentlich:

»Ja, das wär' schon recht, heiraten, wenn ich nicht ein armer Bauernknecht wär' und sie nicht die Kreßbachwirtin.«

»Oh Lapperl du!« lachte sie und zwickte ihn am Kinn, »wenn wir zusammenheiraten, bist du ja nicht mehr der Bauernknecht, nachher bist ja der Kreßbachwirt! Der Kreßbachwirt und die Kreßbachwirtin werden doch zusammenpassen, nicht?«

»Die foppt mich ordentlich!« brummte der Franzel und verlor sich im Gedränge.

Mein Sinn ging nun ebenfalls nach einer Tänzerin, aber die jungen und hübschen waren stets alle »in der Hand«. Daß meine menschliche Gestalt nicht die leuchtendste war, wußte ich wohl und in diesem Be wußtsein fehlte es mir auch stets an Courage; allein auf mein neues Steirergewand hatte ich gebaut und auf das Klimpern mit den paar Groschen in der Hosentasche. Es hatte nicht die erwartete Wirkung. Da wurde ich im Gewoge zufällig an ein ältliches Weibsbildchen gedrängt.

»Oho!« zirpte dieses, »druck mich nicht zu tot! Was doch diese Mannsleut' zudringlich sind!«

»Ist nicht gern' geschehen,« also entschuldige ich mich und trachtete hinweg.

»Nu, meinetwegen,« flüsterte sie, »komm', tanzen wir eins miteinand'!«

Ziemlich willenlos folgte ich ihr, der Raum war aber derart überfüllt, daß wir nicht drankommen konnten, daß wir aus dem Kreise immer wieder herausgedrängt wurden. Meine Kleine – sie hatte in ihrem spitzen Gesichte eine [372] Menge zarter Runzeln – trippelte ungeduldig mit beiden Füßen, endlich, da es nicht vorwärts ging, sagte sie: »Komm'!« und zerrte mich durch mehrere Gänge in eine große Kammer, da war es still und duster, allein mein Weibsbildchen zog aus dem Kittelsack eine Mundharmonika, nahm sie zwischen die Lippen, mich kühnlich in die Arme und bei selbstgeblasener Polka strampften wir etlichemale in der Runde herum.

»Das ginge ja prächtig!« meinte sie, »wozu die kostspieligen Musikanten, wenn man selber sein Zeug bei sich hat! Die seine Mundwetzen und einen so netten Tänzer dazu!«

Nach mehreren mißlungenen Fluchtversuchen entkam ich ihr endlich durch ein Nebenpförtchen, sprang durch ein Fenster hinab in den Hof und flüchtete ins Gastzimmer. Dort war es tabakrauchdunstig und leer, denn alles hatte sich auf dem Tanzboden versammelt. Nur der Hochbrunnerfranzel saß da und war sehr verdrießlich.

»Der, wenn ich kunnt, der möcht' ich was antun!« knirschte er, auf die Kreßbachwirtin anspielend, »mich so zum Narren zu halten vor allen Leuten!«

»Wenn nur du dich selber nicht zum Narren hältst, Franzel!« war mein Bedenken. »Wenn du gescheit bist, können wir Waldbauern aufs nächste Jahr unsern Faschingwein bei dir trinken.«

»Sei halt du so gescheit!« trumpfte er mich ab.

»So gescheit wär' ich schon, aber so schön bin ich nicht.«

Wir hatten noch kaum ausgeredet, kam sie selber zur Tür herein und gerade auf den Franzel zu.

»Von den Feineren bist du keiner,« sagte sie zu ihm und setzte sich daneben hin. »Daß ein richtiger Bursch seiner Tänzerin ein Glas Glühwein zahlen soll – ich glaube, davon weißt du nichts!«

[373] »Um ein Glas Glühwein ist mir die Kreßbachwirtin just auch nicht feil!« war seine Antwort.

»Franzel,« sprach sie nun, und ihre Stimme war eine leisere und eine andere, »warum sagst denn nicht du zu mir, wie ich zu dir? – Im Spaß und im Ernst, Franz, sag's aufrichtig, magst du mich oder nicht?«

Für mein Leben gern hätte ich den zwei Leutchen noch weiter zugehört, aber der Franzel winkte mir mit den Augen, und ich dachte, einen besseren Gefallen kann man ihm nicht erweisen, als daß man sie jetzt allein läßt. Leise nahm ich meine Jacke von der Wand, schlich zur Tür hinaus, und weil ich beim »goldenen Löwen« die erhoffte Unterhaltlichkeit doch nicht mehr fand, so machte ich mich auf den Heimweg.

Über der Schneelandschaft lag Nebel, und Nebel spann in den Ästen der Bäume, die nun stundenlang zu beiden Seiten des Weges standen. – Ich dachte so für mich hin, wie manch ein Mensch eigentlich schrecklich verlassen sein kann auf der Welt. Just an Tagen der Lustbarkeit fühlt man's am meisten. Ich habe auch gar keinen Schick zum richtigen Lustigsein so wie andere; wenn's gerade recht laut und toll ist um mich und alles einladet zum Mitjauchzen und Springen, tut mir leise – ganz leise das Herz weh, und ich weiß nicht warum. Jung und gesund – ich weiß wirklich nicht warum. Und wenn mir so ums Herz ist, da bin ich doch lieber im stillen Wald, als in der lärmenden Gesellschaft. Sie sollen machen, was sie wollen, und wenn gleichwohl einer sagt, mir könnt' schwach werden – deshalb will ich ihm keinen Fuß abschlagen. Als es schon dunkelte, hörte ich hinter mir Schlittengeschelle. Stand zur Seite und sah nun ein braunes Rößlein vorbeitraben. Auf dem Schlitten, in härener Decke wohl verwahrt, saß die junge [374] Kreßbachwirtin und der Hochbrunnerfranzel. Sie sahen mich nicht stehen, lachten einander ins Gesicht und da waren sie auch schon vorüber. Den Buschen hatte er nicht mehr auf dem Hut, ich wußte es aber doch – mit dem Leichlein aus, – mit dem Lieblein heim!

Als ich am Grabenhäusel vorüberkam und zum niedrigen Fenster einen Blick hineintat, sah ich, wie an der Wand die Ampel brannte, am Herd die Kathel kauerte, und am Tisch der Hesch tiefgesenkten Hauptes saß. Daneben stand die Wiege, halb gefüllt mit Stroh – sonst nichts drin. Ein traurig Bild – ich ging vorüber.

Der Hesch – ein sonst baumstarker Mensch – ist vom selbigen Tage an schwer krank gewesen viele Wochen lang. Ein Nervenfieber, kein Mensch hat ihm Wiedergenesung verhofft. Aber seine Kathel – wohl auch selbst abgehärmt und krank, doch ihres eigenen Leidens vergessend – hat ihn gewartet und gepflegt voll Geduld und Herzensmut, bis er endlich in den Tagen der Maien wieder gesessen ist vor der Hütte, in einer fast süßen Kraftlosigkeit die laue Luft des Waldes hat getrunken und in seinem Herzen unermeßlich selig ist gewesen. Da hat er einmal seinen Arm um den Nacken des Weibes gelegt und gesagt:

»Katharina! Das Unglück hat mich zu mir selber gebracht und zu dir, jetzt erst bist du mein geworden. So oft ich aus Wirtshaus und an die Spielkarten denke, wird mir übel. Das ist vorbei. Alle Sonntage nur bei dir. Heut' wär' ich unter der Erden, nur deine Liebe hat mich festgehalten auf der Welt. Mein Mutter hab' ich gern gehabt, das weißt. Bei der Seel' meiner Mutter versprech' ich dir's: Von jetzt an nur bei dir daheim!«

Sie drückt den vor Aufregung Bebenden sanft auf seinen Sitz zurück und sagt: [375] »Tu' dich nicht so auseinander, Hesch, ich glaub' dir's, du bist ja mein lieber Mann.«

Das war im Mai. Im Juni, als man das große Fest der Apostel Petrus und Paulus beging, waren in der Gegend zwei Hochzeiten. Der Bumshöfer und die Schwarzbraune, der Franzel und die Kreßbachwirtin.

Denn die Schwarzbraune, wie sie die Bekehrung des Hesch gesehen, war zur Ansicht gekommen: Gar so schreckbar schlecht, wie es manchmal ausschaut, sind die Mannsleute eigentlich doch nicht! – Und der Franzel hat gemeint, besser als im Bauerndienst ist es doch, der Kreßbachwirt sein, ein frisches Weib haben und in Arbeitsamkeit und Redlichkeit wirtschaften.

Ein Jahr später ging eines Tages wieder ein Zug vom Waldgebirge gen die Pfarrkirche zu Krieglach hinab. Aber kein weißes Trühlein wurde getragen; drei kleine, winzig kleine, aber durch und durch lebendige Kinder brachten sie daher zur heiligen Taufe. Das eine war vom Bumshöferhofe, das andere vom Kreßbachwirtshause, das dritte vom Grabenhäusel...

[376] O du schöne, süße Samstagsnacht!

Als ich jung noch war! Vom »armen Jungen« spricht man. Was leuchtet und klingt denn ununterbrochen herüber in diese wahnwitzige, steinkohlenrauchrußige Welt, als lauter Pfingstmorgen und Hochsommermondnächte aus dem Waldland! Hochsommermondnächte klingen? Und wie sie klingen! Heute hätte ich die Worte, kann sie aber nicht singen, damals konnte ich singen und hatte keine Worte.

Am Abend vor dem Sonntag, wenn wir uns schon alle ins Bett gelegt hatten, senkte ich mein Haupt nicht ins Strohkissen, sondern hielt es ein wenig in die Höhe, horchend, ob sie schon schnarchten. Und als ringsum alle Raspeln in vollem Gange waren, stand ich wieder auf – ganz behendig – kleidete mich an, rasch aber leise – und huschte hinaus durch die Dachluke. Zur Tür hinaus wäre ein bequemerer Weg gewesen, aber diese Tür winselte in ihren Angeln, gleichsam, als wollte sie Vater und Mutter wecken: Waldbauernleute! seid wachsam, euer Knab' schleicht um! – Der gute Vater hatte ja alles schon vergessen und meinte, auch die Zwanzigjährigen müßten in den Hochsommermondnächten gerade so gut schlafen und raspeln, wie die Fünfzigjährigen. Wann war denn das? Wo ist denn das?

Auf der Schachenwiese, wo die Ahorne stehen und wo zwischen den Ahornen in engen moosberandeten Rinnen ein Wasser rieselt: dort kamen wir zusammen: der Heidenmaxl [377] und der Graneggerhansjörgl und der Zettelbacherzenzl und andere, wie sie eben aus ihren Dachluken und Kammerfenstern und Wandspalten auch so hervorgehuscht waren. Kein einziger hatte die Erlaubnis zum »Gaffeln«, keiner war um eine solche Erlaubnis eingekommen – und doch waren sie da. Und nun huben die Waldbauernburschen an, verworfen zu sein. Sie legten einander die Arme um den Nacken und gingen hinaus über die flachen Felder. »Das Landleben hat Gott geben, so heiter und froh!« Zu zwei Stimmen sangen sie es und zu drei, und als der jungen Herzen Lust zu groß ward, da sangen sie keine Worte mehr, sie sangen nur Gesang und das Jodeln und Jauchzen klang in den Wäldern nach und hallte in den Wänden der Höfe, die dort und da herumstanden im freien Hage. Und wenn nun die Alten wach wurden, so brummten sie wohl gutmütig über die »Teuxelsbuben, die halt schon gar kein' Fried' geben mögen bei der Nacht!« und freuten sich an der Bravheit des eigenen Sohnes, der gescheit ist und ruhig in seinem Bette schläft. Und derselbe brave Sohn stößt gerade den allerhellsten Juchschrei aus, der draußen klingt...

Unten im Engtale ist der Hauch eines Nebelstreifens, am hohen Himmel steht der Mond in seiner klaren mildleuchtenden Scheibe. »Er ist nicht weit, er ist nicht nah, er ist da!« sangen sie. Auf dem kurzen Gras der Matten lag sein silbernes Licht, und schwarze Schatten der Burschen strichen darüber hin. Ein feuchtkühler Heuduft machte fast rauschig. Sternlein sprühten im Grase, bläuliche Funken zuckten in den Büschen, die Bäume standen mit ihren finsteren Zackerarmen und Wipfeln in einer fast drolligen Schauerlichkeit da. Gott, wenn man nicht einmal geschauert hätte vor den Geheimnissen der Nacht, wo wäre ihr Reiz? – Ganz leise huben sie wieder an:


[378]

»Wann ich geh,

Geh ich schnell,

Wann ich sing,

Sing ich hell,

Wann ich jauchz'

Gibt's ein' Hall'

Zu mein' Dirnderl im Tal!«


Laut ausschallten die letzten Worte, und das war das erste Anklingen an den eigentlichen, den Burschen selbst fast unbewußten Zweck dieser nächtigen Flüggezeit. Doch sie waren nicht allein wach. Unter dem Halmwerk rieselte wie ein ewiges Wässerlein das Zirpen der Grillen und vom jenseitigen Berge herüber klang zart und rein dreistimmiges Jodeln anderer Burschen, denn alle gesunden Knaben im weiten Waldlande sind heute eines Sinnes.

Der Zettelbacherzenz legte den Finger an den Mund: »Hört's, Buben, hört's, da ist der schwarz' Peterl dabei. Ich kenn' seine Stimm'!«

Unter den drei fernen Stimmen war eine so weich und schwingsam, vom blaudämmernden Mollton bis hinein ins hellste weiße Licht. Anders kann ich diese Klänge nicht beschreiben. Jetzt das innige Ineinanderschmiegen der drei Stimmen, jetzt das Emporklingen einer Schallrakete, daß allen Zuhörern ganz anders ward hinterm Brustfleck. Freilich, das war der Gesang des schwarzen Peterl und dem eilten wir jetzt zu. Talab, über die Wiesen und Wässer, bergauf im schwarzen Walde, und bald standen wir wieder auf mondheller Hochmatte, wo die Nachbarssänger waren.

»Was wollt's denn ihr da?« ließ uns ein ruppiger Bursch, der Pomperer Franz, an, dieweilen er seine Beine stramm auseinanderspreizte und die Hände in die Hosensäcke bohrte.

[379] »Wir haben auch euch nit gefragt, was ihr wollt's!« gab von unserer Seite der Heidenmaxl scharf zur Antwort.

»Freilich streiten werden wir! Oder gar raufen, versteht sich! Ich denk', wir wollen all' dasselbe. Singen wollen wir. – O du schöne, süße Samstagnacht!«

Der so sprach, das war der schwarze Peterl. Er war freilich schwarz in der Nacht, aber nicht schwärzer, als die andern. Er war ein schmaler, schlanker Stab, der da kerzengerade auf der Erde stand, den rechten Arm in die Seite gestemmt, den linken – . Der schlanke junge Knab' mit der einzig schönen Stimme hatte keinen linken Arm. Nicht einmal einen linken Ärmel zeigte seine Jacke, schnurgerade war die Linie herab von der Achsel bis zum Fuß. Und weil er auch keinen Hut auf hatte, sondern eine Zipfelmütze, so schien ihm der Mond jetzt so hell ins Gesicht, daß aus diesem fast wieder ein Mond ward, der auf uns andere das Licht gab. So weiß war sein Gesicht, aber für einen Vollmond zu schmal. Die runden Augen, und das Stumpfnäschen und der dreieckige Mund – sollten das Adam und Eva sein, wie im wirklichen Mond? – So närrische Sachen waren mir eingefallen, als ich mich nun nahe zu ihm stellte. Der Bursche war mir lieb, nicht allein, weil er ein so freundliches Gesicht hatte und so schön singen konnte, als noch vielmehr, weil das ein ganz merkwürdiger Mensch gewesen ist.

Vor so und so viel Jahren war eines Tages um die Weihnachtszeit beim Zeilbergbauern ein fremder Mann eingetreten, der hatte einen langen schwarzen Bart und ein kleines blasses Büblein bei sich. An der Stubentür stehenbleibend; sagte er mit langsamer und etwas singender Stimme das Christtagsevangelium auf und als er damit zu Ende war, piepste das Büblein: »Amen! Gloria in excelsis Deo!«

[380] Hierauf bekamen die beiden etwas zu essen. Als der Schwarzbärtige hernach Lodenmantel und Rückkorb wieder aufgepackt hatte, wendete er sich zur Zeilbergbäuerin und sprach: »Du schönes und gutes Muttergottesweib! Da habe ich ein Christkindel bei mir. Was gibst dafür!« Und schob ihr das Knäblein zu.

»So, ein Kinderschacherer seid Ihr!«

»Wenn du's nit willst kaufen, du Fromme, Unbefleckte du, so schenk' ich's dir!«

Aber sie nahm es auch nicht geschenkt. Sie hatte zwar selber keines, sie wußte auch nicht, was das ist, ein Kind. Ihr Leben war das Kochen und das Scheuern und das Waschen und das Fegen; das trieb sie jeden Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Und als ihr Mann schon im Bette lag, scheuerte sie noch den Fußboden blank, auf welchem sein erdkrustiger Schuh etwa eine Spur hinterlassen. Nun, am heiligen Abende wusch und kochte sie erst recht, und als der Festkuchen in der Pfanne bräunlich-fett erglänzte, war der Mann mit dem langen Barte fort; an der Tür stand aber noch der Knabe, sog an seinem Finger und schaute mit runden Augen auf das prasselnde Herdfeuer hin, auf die geschäftige Bäuerin und auf den bräunlich-fetten Kuchen.

Es ist nicht aufgekommen, woher der Evangelisinger gekommen und wohin er gegangen war. Es ist nicht aufgekommen, wem das Kind gehörte. Dieses Kind wußte nur zu erzählen, daß es immer und ewig »mit dem Vater evangeligesungen« und Gloria in excelsis Deo gesagt, und daß es darauf immer etwas zu essen bekommen hätte. – Als alle Nachforschungen sich als vergeblich erwiesen hatten, führte der Zeilbergbauer den Knaben zum Dorfrichter und wollte es bei dem so machen, wie der Langbärtige es bei [381] ihm gemacht hatte. Der Dorfrichter sagte: »Oho, dableiben!« und hielt ihn am Arme fest. »Dir ist er eingelegt, du wirst ihn behalten und erziehen.«

»Da werd' ich ihn halt ins Wasser schmeißen,« antwortete der Bauer.

»So dumm reden sollst nit, Zeilbergbauer,« beschwichtigte hierauf der Richter. »In paar Jährlein hast an ihm einen waxen Halterbuben, wieder in paar Jährlein einen starken Knecht.«

»Den waxen Halterbuben und den starken Knecht kannst du haben, Richter!«

»Wenn's schon nit anders ist, so soll halt dieweilen das Dörfel zusammenschießen für den fremden Vogel, bis er zum Gemeindeboten oder zum Nachtwachter, oder zum Totengraber oder zu so was gut ist.«

So ist es hernach ausgemacht worden. Aber trotz des »Zusammenschießens« wollte den Knaben keiner nehmen und verpflegen; man wisse nicht, was aus so einem Kuckuck werden kann, man wolle keine Verantwortung leisten für so was. »Wer steht mir denn gut,« rief ein Ortsgesessener, »ob er mir nit eines Nachts mit der Brieftaschen davonlauft oder gar das Haus über dem Kopf anzündet!« So redeten sie eine Weile hin und her, bis dem lustigen Gebersepp der Einfall kam: »Aber Jesses, Leutel, wann ihn schon keiner willig nehmen mag: ausspielen!« – Das Kartenbüschel her, um den Ratstisch gesessen. »Schwarzpeterl! Wem er in der Hand bleibt, der muß den Buben ein Jahr behalten. Nachher, wenn's Jahr aus ist, spielen wir wieder.«

So ist es geschehen, das arme Knäblein ist auf dem Eichelbuben, als dem »Schwarzpeterl« gestanden und dieses Blatt ist dem halbblinden Schusterzanggel in der Hand verblieben. – Das war just nicht schlecht geraten. Der Schusterzanggel [382] war ein armer Mann, und solche Leute sind nicht die Unbarmherzigsten. Er brachte den Knaben seiner alten Schwester heim, wie man einen Taschenfeitel oder einen Feigenkranz heimbringt, den man im Spiel gewonnen hat. Die alte Schwester schlug zuerst ihre Hände zusammen über die Frevelhaftigkeit, ein Menschenkind auszuspielen wie einen Sack Nüsse. Dann nahm sie den Kleinen unter Seife und Kamm in die Arbeit, und dabei knurrte sie: »Hat's bei uns derweil für zwei g'längt, wird's für drei auch g'längen. Und ihner Zusammenschießen brauch' ich gar nit.«

Die zwei alten Leute huben nun an, ihr Knäblein sauber herauszuputzen, ja sogar es in die Schule zu schicken. Und als der Lehrer davon sprach, daß der Kleine sich brav aufführe, gar nicht dumm sei und besonders Neigung für Musik zeige, da bildeten sie sich einen großen Fleck ein.

Als das erste Jahr zu Ende ging, schwieg der Schuster Zanggel sein still, und die Gemeinde machte auch keine Anstalt, den Knaben aufs neue auszuspielen. Der Name »Schwarzpeterl« aber ist ihm geblieben, obschon er auf den heiligen Adalbert getauft gewesen sein soll. In den Frühherbsttagen, wenn die Schulvakanzen waren, huben bei den Bauern die Nachfragen an, ob der Schwarzpeterl nicht zu haben wäre zum Viehhüten. Da wurde er zu den Höfen ausgeliehen, zuerst gegen ein Vergelt's Gott, später gegen einen Sack Kartoffeln oder ein Scheffel Korn, an die Schustersleute zu entrichten. Der Knabe war anstellig, gutmütig und immer heiter und jetzt fiel dem Zeilbergbauern wieder das Ausspielen ein. »Was soll denn immer nur einer den Nutzen haben vom Bengel?«

Einem merkwürdigen Fehler war der Schwarzpeterl anfangs verfallen gewesen, von dem die Schustersleute erst viel später sprachen, als er schon lange abgewöhnt war.

[383] Wenn niemand sonst zugegen, ging er in das Vorratskämmerchen, nahm sich Weißbrot, strich Butter drauf, aß es und trank Rahm dazu. Der weiße Schnurrbart an der Lippe ward eines Tages zum Verräter, allein der Junge sagte rasch: »Amen, Gloria in excelsis Deo!« und glaubte, die Sache damit beigelegt zu haben. Der Zanggel mußte es ihm dreimal sagen und das drittemal aufschreiben – mit dem Buchstäbchen auf den Rücken, daß alles Unerlaubte verboten ist. Nie hat er sich dann aber auch einen Buchstaben besser eingeprägt als diesen.

Eine ganz ungeahnte Verwendung für den Schwarzpeterl hatte der Schulmeister gefunden. Er unterrichtete ihn im Gesang, und nun konnte der Knabe sein »Gloria in excelsis Deo!« des Sonntags auf dem Kirchenchore singen. Die Tochter des Schulmeisters tat noch ein übriges und lehrte ihn das Zitherspielen. Und das war seine Freude. Und jetzt war das arme Schusterhäusel auf einmal voll Musik geworden.

Mittlerweile war der Junge soweit erwachsen, daß er sich nach Erwerb umsehen mußte, um sich und seine Zieheltern zu ernähren. Ein Bauernknecht zu werden wäre ihm schon recht gewesen, doch von einem Bauernknechte konnten zwei alte Schustersleute nicht leben; er müßte nur – wie ihm der Heidenmichel riet – Tabakraucher werden, denn Tabakraucher hätten immer Geld, nur daß er es nachher an statt zu verrauchen, dem blinden Zanggel geben könnte.

Draußen im Tal die Eisenbahn braucht Leute und sie pfeift das Geld, welches sie von Wien mitbringt, nur gleich so zur Lokomotive heraus. Der Bursche bewarb sich um einen Bahndienst an der Station Mitterdorf und erhielt ihn leider. Schon in der zweiten Woche seiner Eisenbahnzeit hat sich das Unglück zugetragen. Bei Glatteis hatte [384] er zwischen mehreren Zügen hindurch über die Bahn zu gehen, um drüben einen Waggon auszukoppeln, er strauchelte, fiel hin und eine rasch vorüberfahrende Maschine schnitt ihm den linken Arm weg. Als man ihn aufhob, sagte er, es wäre weiter nichts geschehen, nur die Hand schmerze. Die Hand lag aber sieben Klafter weit draußen an der Böschung. Er blutete nicht stark, denn der kurze Stumpf an der Achsel war fast keilförmig geguetscht. Dann schlief er ein, der Schwarzpeterl, und als er erwachte, lag er in einem großen Zimmer, von Leuten umgeben, die sich mit ihm beschäftigten. Daneben auf der Bank in einem großen Waschbecken lag eine Menschenhand. Der Peterl tat einen Blick darauf hin, einen unsteten, traurigen Blick, denn jetzt wußte er wohl, was es gegeben hatte. Als ihm dann noch ein großer, abgesprungener Knochen aus der Gelenkshöhle genommen worden war, konnte die Heilung beginnen, die in einigen Wochen sich vollzog. Und nun sollte der Bursche wieder aufstehen, umhergehen und zusehen, wie er sich fortbringt. Die Eisenbahn gab eine kleine Albfertigung, aber die Schustersleute wehrten mit den Händen ab: Gott verhüte es, daß sie ein Blutgeld nähmen! – So nahm's der Bursche und ließ sich davon ein graues Steirergewand machen, mit grünen Aufschlägen; er erspart ja schon dabei. Er erspart den linken Ärmel.

Nach dieser Wendung hub der Schwarzpeterl an, in der Gegend zu hausieren, aber nicht wie einst mit seinem Gloria in excelsis Deo! sondern mit der Bitte um Arbeit. Man beschäftigte den guten Burschen, wo und wie es möglich war, denn sie hatten Mitleid mit ihm und sie hatten ihn lieb, weil er immer noch so gemütlich war. Außer Kost und Gewandung bekam er von den Erkenntlichsten auch noch Tabaksgeld, welches der alte Zanggel fleißig vernebelte.

[385] Dieses bißchen Rauch und dieses bißchen Peterl, sonst war ihm ja nichts übriggeblieben von der lieben Welt. Die Stimme des Burschen hatte nicht gelitten, nur daß sie noch weicher und lieblicher geworden war; und wenn sie im Kirchenchore so recht innig klang, da dachten die Leute: »Mein Gott, der Einhandel! – Aber das Zitherspielen!« Er durfte nicht dran denken, daß jemand war, in irgendeinem Hause dieser Berge, der sein Zitherspielen schon gar besonders gerne gehört hätte.... Ihm zuckten ordentlich die Finger, und ihm war, als könne er die Finger noch auf die Tasten setzen alle fünf, aber wenn er hinschaute, war keine Hand da. Arbeiten hingegen gab es mancherlei, die er verrichten konnte, Garbentragen, Holzklauben, das Vieh hüten, bei Kohlenbrennereien mittun, kleine Kinder wiegen. Zu letzterem war er besonders geeignet, weil sein Singen die Kleinen so leicht in den Schlummer brachte und weil sein schmales blasses Gesicht so gutmütig und schalkhaft dreinschaute, wenn sie wieder aufwachten, daß sie ihre junge helle Freude an ihm hatten.

Zu Allerseelen ging er auf den Kirchhof und besuchte das Grab. Nicht Vater und nicht Mutter lagen dort, und auch sonst kein Mensch, der ihm nahe gegangen. Und dennoch stand er still am Friedhofzaun unter der Birke und betete ein Vaterunser. Dort unter dem Rasen lag sein linker Arm... Und wenn er nach dem Vaterunser nicht gleich davonging, sondern ins Denken kam, da war dem Burschen, als stünde er vor seinem eigenen Grabe, und er dachte der Hand nach, was sie ihm gewesen war und getan hatte, wie kundig sie auf der Zither gespielt, wie er ihr einmal mit der Sichel in den Mittelfinger hieb, daß sie blutete und wie nachher das schreckliche Rad – die arme Hund! – Ganz so, wie man einem lieben Menschen nachdenkt. – [386] Also das ist die Geschichte vom Schwarzpeterl, der nun in der Mondnacht auf der silberhellen Hochmatte dastand wie ein schwarzer Stab und im Vereine mit dem Hansjörgel das Lied sang: »O du schöne, süße, sternhelle Samstagsnacht!« welches schließlich in den Jodler ausging: »O du schöne, o du süße, o du schöne süße dulieh, dulioh, dulieh!«

Nach diesem Gesange machte sich der Bursche ein wenig abseits gegen den Holzzaun hin, und als er über denselben steigen wollte, lief ihm der Pompererfranz nach, faßte ihn am Joppenflügel und sagte: »Oho, Peterl, wohin denn?«

»'s ist Zeit zum Schlafengehen. Laß mich aus.«

»Bist nit jetzt im Grundelhof?« so der Pomperer.

»Freilich im Grundelhof,« so der Peterl.

»Du hörst, der Weg über den Zaun führt nicht zum Grundelhof, der führt zum Moosebner.«

»Wenn er zum Moosebner führt, so werd' ich halt zum Moosebner gehen,« entgegnete der Einarmige.

»Schwarzpeterl,« knirschte der Pomperer und hielt ihn fest, »zum Moosebener gehst du mir nit, daß du's weißt! Die Moosebner Luiserl gehört mein

»Seit wann denn?« fragte der Peterl.

»Noch ein Wort, und du liegst auf dem Steinhaufen, daß deine Trümmer gewiß kein Mensch mehr zusammensucht, gewiß keiner!«

Die Moosebner Luiserl war ein armes braunhaariges Dirndl, eines böhmischen Deichgräbers Tochter, die im Moosebnerhof diente. Der Deichgräber war gestorben, sie hatte keinen Verwandten und Schutzhaber auf der weiten Welt. Nur den Peterl hatte sie heimlich gern, und er sie, und wir anderen wußten das. Und als der Peterl und der Pomperer nun um dieses Dirndl stritten, waren wir anderen [387] auch da, und der Maxl sagte keck: »Ich denk', Pomperer, so spielen wir nit! Du hast eh deine Heubachjula, die du heiraten willst! Was brauchst denn auch noch dem Peterl seine Luiserl?«

»Das geht dich nichts an!« fuhr der andere auf.

»Das wird uns wohl was angehen, mein Lieber!« sagte der Hansjörgel, und ich sagte es auch. »Wenn sich zwei gern haben und ein dritter mischt sich drein! Mir wäre das zu dumm. Und zu schlecht. Und wenn du glaubst, daß sich der Peterl nit wehren kann, weil er nur einen Arm hat, so bist stark auf dem Holzweg. Der Peterl hat mehr Arme, als wie du, wenn's auf Ernst ankommt. Auslaß ihn!«

Als der Pomperer sah, daß sich alle Arme gegen ihn erhoben, mit Ausnahme seiner zwei eigenen, ließ er den Peterl los und stahl sich bald darauf davon, hinaus durch die Büsche. Der Schwarzpeterl ging hinab gegen den Moosebnerhof. Wir anderen auch unserer Wege, teils singend, teils schweigend und nachdenklich. Nicht lange hernach und jeder war auf seinem besonderen Steige. Als ich an ein schönes stilles Gehöfte kam, war's auch nicht das meines Vaters. O du schöne, süße, sternhelle Samstagsnacht! – Wenn ich tagsüber an diesem Hofe vorübergegangen, hatte der Kettenhund allemal einen Bissen Brot in den Mund bekommen, so waren wir gute Bekannte und er sagte nichts. Vor dem Hause rieselte der Brunnen sein glitzerndes Silberkettlein in den Trog. Das mondschimmernde Fenster war leicht zu finden. – O du süße, o du schöne, süße dulieh, dulioh, dulieh!

Bald nachher trug es sich zu, daß der Schwarzpeterl einige Zeit in unserem Waldbauernhause war. Wir hatten den Weber auf der Ster, und der brauchte einen zum Garn haspeln. Dazu war der Einhandel ganz recht. Mit den Haspeln und Spulen ist nicht immer gut auszukommen. Wer [388] da weiß, was schon ein einziger Faden für Tücken hat! Und erst hundert Fäden! Durcheinander, ineinander, gegeneinander, ein unlösbares Gewirre, und doch soll keines sein. Die Weber leiden alle an Gelbsucht, der Schwarzpeterl aber blieb weiß und rot im Gesicht und sein Auge blieb veilchenblau und sein Schnurrbärtlein nußbraun. Er verrichtete seine Arbeit mit so großem Fleiß und Geschicke, daß der Weber selbst ihm versprach: »Peterl, du kannst dich drauf verlassen, ich nehme dich bei guter Löhnung zum Gesellen, sobald dir dein linker Arm wieder nachgewachsen ist.« Der Bursche schaute auf derlei Späße gutmütig drein; solcher Spott ist freilich traurig, aber nur für den, der ihn macht.

Einmal des Abends, als ich mit meinem Ochsengespann vom Felde heimkam und den Tieren das Joch von den Hörnern löste, kam der Peterl auf mich zu, betastete mich an der Hand und sagte: »Dir vergess' ich's auch nit.« Mir war's unklar, was er da meinte, der Hansjörgel klärte mich am nächsten Sonntage auf. Der Peterl habe ihm mitgeteilt, sein Lebtag und in die Ewigkeit hinein und durch dieselbe auf der anderen Seite wieder hinaus könne er keine besseren Kameraden haben, als den Hansjörgel und den Marxl und den Zenzl und mich. Wegen damals – mit dem Pomperer. – Ich wußte natürlich schon seine märchenhafte Geschichte, und da er ein so lieber Kerl war, so schwante mir, es müsse mit ihm noch einmal eine wunderbare Wendung nehmen. Jener Evangeliumsänger, der Mann mit dem langen schwarzen Barte, müsse eines Tages erscheinen und den Burschen wieder zu sich nehmen und etwas unerhört Großes aus ihm machen.

Und dann war's im Herbste, am Tage des heiligen Gallus. Sah ich den Peterl unten am Bache kauern zwischen Weiden, deren spitze Blätter schon gelb geworden waren.

[389] Ich dachte, er halte dort die Angelschnur ins Wasser und warte auf Forellen. Ich ging zu ihm hinab, weil es ein Vergnügen ist, zu sehen, wie die weißbauchigen Fische gleich lebendigen Fragezeichen an der Schnur schlängelnd herausgeschleudert werden. Aber er angelte nicht. Er lag, den Arm um einen Stein geschlungen, das Gesicht ins Moos gepreßt. Als er mich sah, wollte er auf und davon, ich vertrat ihm den Weg. »Gut, so geh' ich da!« rief er schrill und wollte ins Wasser springen.

»Was ist dir geschehen, Kamerad?«

»Mir?« rief er, »mir geschehen?« lachte er wild. »Laß mich allein. Mir hilft niemand.« Und dann – weil ich ihn doch nicht davonließ – brach er los: »Meinen liebsten Menschen hab' ich unglücklich gemacht. Hätt' ich ihm's lieber gelassen, dem Pompererbuben, der hätt' sie heiraten können. – O du verfluchte Samstagsnacht!«

Mehr hatte er nicht zu sagen gebraucht. Merkte gleichwohl auch, daß es da keinen Trost gab. Der Fisch im Wasser konnte nicht stummer sein, als ich auf das Bekenntnis. Ein armes Blut, ein Krüppel und solche Pflichten!

»Peter,« sagte ich endlich fast grollend. »Geh' hinauf. Da beim Bach hast nichts zu tun. Geh' hinauf, der Weber hat gerufen.«

Da ist er langsam hinausgegangen gegen das Haus.

Als wir anderen in einer nächsten Samstagsnacht wieder zusammenkamen auf den Hochmatten, sangen wir nicht, sondern besprachen uns, was da mit dem Peterl und der Seinigen zu machen wäre.

Der Pompererfranz schupfte die Achseln: »Was wird denn da zu machen sein? Nichts. Er ist ja nicht angenagelt in Alpel, wenn's ihn scheniert.«

[390] »Wir reden ja nit von ihm, wir reden von ihr!« sagte der Hansjörgel.

Der Pomperer tat einen Lacher. »Von ihr! hi hi!«

In der Gegend wurde es bald laut. »Jetzt kunnten wir ihn ja wieder einmal ausspielen,« meinten die Bauern, »jetzt stehen auf dem Eichelbuben zwei oder gar drei!« Die alten Schustersleute sannen hin und sannen her, wie sie es denn einrichten sollten in ihrer Hütte, daß die Menge Leute Platz hätte. Der Zanggel war bereit, oben unter dem Dache zu schlafen auf Brettern, seine Schwester wollte sich mit Stroh im Keller ein leidliches Nest bauen neben den Kartoffeln. Wenn der Kartoffelhaufen nur nicht gar so klein wäre!

Zur Magd Luiserl hatte der Moosebner gesagt: »Na, Dirn! Zu Neujahr kannst dir einen anderen Platz suchen, weißt eh, warum?« Sie sagte nichts darauf, als: »Ja, Bauer, ich werde schon gehen.«

Als es gegen Weihnachten ging, und der Peterl eines Tages ins Heidenhaus kommen sollte, wo es Arbeit für ihn gab, kam er nicht. Vom Zanggelhäusel war er fortgegangen. Zur selbigen Zeit kam eines Morgens im Moosebnerhause auch die Luiserl nicht zur Frühsuppe. Die Bäuerin ging in die Kammer, um nachzusehen, ob der Dirn was fehle. Sie war nicht da und das Bett stand aufgeschichtet wie am Vorabende. –

Anfangs war keine große Nachfrag' nach den zwei Leutchen, allmählich hub man doch an zu reden und ein wenig nachzuforschen. Man fand keine Spur. Nur jemand wollte gehört haben, daß um die Weihnachtszeit im Dorfe Fischbach zwei Bettelleute herumgesungen haben sollen vor den Häusern. Er, ein junger blasser Mensch mit nur einem Arm, habe das Evangelium gesungen, sie ein noch fast kindisch [391] junges Weibsbild, mit vielen Tüchern eingewickelt bis auf die Nasenspitze, habe allemal darauf »Amen, Gloria in excelsior Deo!« gerufen.

Und das war die letzte Nachricht. Ich denke, sie sind in ihrer Einfalt und Liebherzigkeit ganz harmlos ins allertiefste Elend hineingegangen und in der Verlassenheit ödesten Wüste haben sie sich selbst noch das Sterbelied gesungen:

»Gloria in excelsior Deo!«

Als ich zum Pfluge kam
[392] Als ich zum Pfluge kam.

Das ist eines der kürzesten, aber der wichtigsten Kapitel, es führt mich aus der ersten kindlichen Jugend und aus der Hirtenzeit hinaus zur zielbewußten Arbeit und zur jungen Mannbarkeit. Einer, der schon in den Samstagnächten umstreicht, hat hohe Zeit, das Ackern zu lernen.

Es bedurfte vieler Ränke, bis ich's vom Rinderhirten zum Pflüger brachte. Ich mußte mir den Fuß verstauchen, daß ich den Tieren nicht mehr entsprechend nachlaufen konnte; ich mußte auf der Weide Vogelnester entdecken, wodurch mein jüngerer Bruder geneigt wurde, an meiner Statt das Hirtenamt zu übernehmen; ich mußte endlich den Knecht Markus, der sonst den Pflug geleitet hatte, gewinnen, daß er versicherte: 's wär' ein bequemes Zeug, ließe sich handhaben wie ein Taschenfeitel und ich – der junge Bub – sei reichlich stark und geschickt genug, den Pflug zu führen.

Und ich stand da und streckte mich, daß ich dem langen Markus mindestens bis an die Achsel langte, und ich schüttelte einen Zaunstecken, daß er ächzte – zum Beweise meiner Reise für den Pflug. Aber mein Vater lachte und rief: »Geh', du bist ein Prahlhansel! Wär' not, es tät' dir noch alle Tag ein anderer dein Hösel stäuben. Na ja, und jetzt will er den Ausge wachs'nen spielen. Ist recht, pack' nur an – wird nicht lang' dauern!«

Auf dem Acker war's gesprochen. Der Markus stand zurück und ich packte den Pflug bei den Hörnern.

[393] Der Pflug in der Gegend meiner Heimat ist zwar nicht mehr der gekrümmte Baumast der Wilden, sonst jedoch ein unvollkommenes, plumpes Werkzeug. Der Bauer zimmert ihn selbst aus Birkenholz, die Eisenteile dazu nur holt er sich vom Schmied und die Räder vom Wagner. Die Hauptstücke des Pfluges sind: das Sech, Pflugmesser, welches den Rasen senkrecht durchschneidet, der Arling oder die Schar, welche denselben wagrecht abledigt, so daß eine Rasensohle entsteht, welche vierseitig und etwa eine Spanne breit und eine halbe Spanne dick ist. Dann ist das Mull-oder Tauchbrett, welches die abgeschnittene Sohle aus der Furche emporhebt und umlegt, so daß die Rasenseite nach unterwärts zu liegen kommt. Weitere Teile, vermittelst welcher diese Hauptstücke am Grindel befestigt sind, heißen die Griessäule, die Sohlschwelle, die »Katze«. All diese Vorrichtungen müssen doppelt vorhanden sein, da die wechselweise Hin-und Herfahrt auf bergigem Acker solches bedingt. Voran liegt der Pfluggrindel auf der Räderachse, an welche zumeist ein Paar Ochsen gespannt ist. An der Rückseite des Pfluges stehen drei Hörner oder Sterzen, die Handhaben, hervor, durch welche der Pflug von einem kräftigen Manne geleitet wird. An der Leitung dieses »Pflughabers« liegt es, die Rasensohle breit oder schmal, die Furche tief oder seicht zu machen; diesem Manne obliegt es, am Rande des Ackers den Pflug gut einzusetzen und auszuheben, auch muß er es vermögen, auf steinigem Boden vor jedem größeren Steine den Pflug herauszureißen, denn die Ochsen sind nicht plötzlich zum Stehen zu bringen und der unbewachte Pflug würde gar bald in Trümmer gehen.

Außer diesem Pflughaber ist zum Gefährte auch noch ein Fuhrmann nötig, der die Ochsen leitet, so daß im Paare der eine stets in der Furche, der andere auf dem Rasen [394] schreitet. Dann muß endlich ein »Nachhauer« sein; das ist zumeist eine Magd, welche mit einer Haue dem Pfluge folgt, nicht gut umgelegte Sohlen niederkehrt, fehlerhafte Furchen aushaut – kurz, den Verbesserer des Pfluges abgibt.

Man sieht, daß die Sache nicht einfach ist. Es gehört ein langer Tag dazu, um mit einem Pfluge ein Joch hängigen Ackerlandes umzukehren. Nun, und wie ist's dabei dem jungen Pflughaber ergangen?

Fest hatte ich den Stier bei den Hörnern gefaßt. Es war aber wahrhaftig wie ein Stier. Vom Markus hatte sich das Zeug wie ein Spielwerk handhaben lassen; es war, als hielte er sich nur des Vergnügens wegen an den Sterzen. Jetzt war's eine andere Art. Die Rinder zogen an. Mich schleuderten die Sterzen nach rechts und nach links, der Pflug wollte aus dem Gleise steigen und meine Barfüßlein kamen etlichemal unter die Erdsohle. »Er ist zu gering beim Steiß!« hörte ich den Vater und den Knecht noch lachen; das Wort weckte mich. Es handelte sich um meine Mannbarkeit. Nicht mehr der Halterbub wollt' ich sein, der am Tisch bei der untersten Ecke sitzen mußte, der nirgends ein Wörtlein mitsprechen durfte, der – wußte er was Gescheites – dasselbe mit den Kälbern und Schafen bereden konnte. Mein Sinn stand nach dem Höchsten; groß, stark und selbständig wollte ich sein wie der Weidknecht. Und siehe, der Mensch wächst mit seinen höheren Zwecken! Ich führte den Pflug und schnitt eine leidliche Furche. Die ausgeackerten Regenwürmer hoben verwundert ihre Köpfe, zu sehen, wer heute ackere!

Die Äcker meines Vaters hatten zähe, gelbrote, mit Graswurzeln durchflochtene Erde und die Sohlen waren ein endloser Darm und brachen auf der ganzen Pflugstrecke kaum ein einzigmal ab. Mich freute das, denn so blieb der Pflug [395] stets gleichmäßig in seiner Lage und die Furche war regelmäßiger wie Teichgräberarbeit. Meinen Vater freute das nicht; er hätte viel lieber schwarze und mürbe Erdsohlen gehabt. »Schwarze Erde, weißes Brot!« sagt der Spruch.

Als ich den Pflug das drittemal über den Acker leitete, lugte ich nach der Sonnenhöhe. Ach, diese Uhr stand! Es waren Wolken davor. Und wenn der Herrgott boshaft sein will und es heute nicht Mittag werden läßt...!

Es dauerte lange, bis zur Mahlzeit oben beim Hause die Mutter auf dem Söller stand, wie einst die Ahne, zwei Finger in den Mund hielt und einen Pfiff ausstieß, den der Waldschachen so prächtig nachmachte. Ich ließ die Handhaben los und gestand mir's: so schön habe die Mutter noch nie gepfiffen.

Dann ging's zum Mittagsessen. Ich hütete mich wohl, die Erde mir von den Händen zu reiben, denn eben diese Kruste gab mir das Ansehen: ich war nicht mehr der Halterbub, ich war der Pflughaber, hatte die gleichen Rechte mit den Knechten; ich saß neben dem Vorknecht und bestrebte mich, gewichtige Reden zu führen. Man sprach über meine Leistung; da schwieg ich, denn meine Leistung verstand sich von selber.

Es ist ein kleines Ding aus der Jugendzeit, es ist kaum groß genug, daß man's so laut sagt; aber für den Landmann ist's ein wichtiger Tag, wenn er das erstemal seine Hand an den Pflug legt. Das Schwert, das Kreuz ist Gegenstand großer Abhandlungen; ich halte auch den Pflug für ein Symbol der Welterlösung. Den grauen Erdstaub, der damals an meiner Hand kleben blieb und mit dem ich zum Mittagsessen ging – ich möchte ihn nicht gern verwischen – er ist mir altem Bauer das, was dem Schmetterling der Goldstaub.

[396] Und so mag ich's wohl noch sagen, daß ich im selben Jahre den ganzen Acker umgebaut habe, daß mein Vater mit frommer Hand das Korn in die Erde gestreut hat und daß im nächsten Frühjahre das Korn in erfreulichster Grüne gestanden ist.

»Seit zehn Jahren hab' ich kein solches Kornfeld mehr gehabt,« hatte mein Vater hierauf gesagt. Im Hochsommer, als die schweren Halme zur Reise neigten, schlug der Hagel die Frucht in den Erdboden hinein. –

Alles das mußte anders werden, und wie unerwartet und seltsamlich, das sollen der »Waldheimat« dritter und vierter Band erzählen.

[397][398][3]

Dritter Band: Der Schneiderlehrling

Am ersten Tage
Am ersten Tage.

Wir lebten noch alle beisammen, wie uns Gott zusammengetan hatte. Aber das sollte nun ein Ende haben. Versuche waren genug gemacht, es ging so nicht und es ging so nicht.

»Für einen Bauersmenschen ist er zu kleber (zu schwächlich, zu nichtig), wird halt ein Pfarrer oder ein Schneider müssen werden.« Das war das Endziel der Beratung, welche eines Abends in der Stube des Waldbauern abgehalten wurde, und wobei ich, auf dem umgelegten Melkzuber reitend, den Vorsitz führte.

»Zu kleber nicht,« meinte ich, wurde aber sogleich zurückgewiesen, als mein Vater sagte: »Was hilft denn 's Reden! Wenn so ein siebzehn Jahr alter Stock einmal auf einem alten Melksechter kann reiten, ohne daß die Daubeln einbrechen – nachher weiß man's eh.«

Ich schnellte vom Zuber empor; als sich später mein jüngerer Bruder darauf setzte – knack, waren die Daubeln eingeknickt. – Mein Bruder blieb in der Wirtschaft und ich als »Schwächling« mußte nach einem harten Gesetze, welches der Kampf ums Dasein aufgebracht hat, aus dem Hause.

Meine Mutter ging nun bei den Geistlichen um, Hilfe heischend, daß ich in die Studie kommen könnte. Der alte Dechant von Birkfeld war ein ehrlicher Mann, der sagte [5] meiner Mutter folgendes: »Tu' die Waldbäuerin das bleiben lassen. Wenn der Bub sonst keine Anzeichen für den Priester hat, als just, daß er schwach ist, so soll er was anderes werden. Schwache Priester haben wir eh genug.«

»Aber zum Beichthören und Predigen, meint der Bub, wollt' er nicht zu kleber sein,« bemerkte die Mutter.

»Was weiß der jung' Lapp vom Beichthören und Predigen! – fürs eine gehört eine gute Stimme, fürs andere ein guter Magen. Er soll ein Handwerk lernen.«

Beichthören und Predigen! Ich bin heute noch der Meinung, meine Natur hätte beides ausgehalten; bin sogar der Meinung, daß ein wahrhaftig Pfäfflein in mir steckte, welches ja in meinen ersten poetischen Erzeugnissen genügende Spuren hinterlassen hat, und welches erst viel später unter meinen Welterfahrungen zeitweilig umgebracht worden ist.

Nun, so ging denn meine Mutter von jenem Herrn Dechanten zum Schneidermeister in Hauenstein: sie hätte einen Buben, der ein Schneider möcht' werden.

Was ihn auf diesen Gedanken brächte?

Na, weil er halt soviel kleber wäre.

Stand der Meister auf und sagte: »Jeder Mist will heutzutage Schneider werden. Ich will der Waldbäuerin nur sagen, daß der richtige Schneider ein kerngesunder Mensch sein muß. Einmal das viele Sitzen; nachher zur Feierabendzeit, wenn sich andere Leut' ausruhen können, das weite Gehen über Berg und Tal, wie es in unserer Gegend schon sein muß, und den ganzen Zeug mitschleppen, wie der Soldat seine Rüstung. Hernach die unterschiedliche Kost: bei einem Bauer mager, beim anderen feist; in einem Haus lauter Mehlspeisen, im anderen wieder alles von [6] Fleisch; heut' nichts als Erdäpfel und Grünzeug, morgen wieder alles Suppen und Brei. Ein Magen, der das aushält, muß in b'sonderer Gnade Gottes stehen. Und red' ich erst von den unterschiedlichen Leuten, mit denen man sich abgeben muß: Da eine bissige, brummige Bäuerin, der kein ordentlicher Zwirn feil ist; dort ein geiziger Bauer, der mit seinen närrischen Späßen den Handwerker erheitern und satt machen will. Wieder wo anders ein Betbruder, der einem mit dem Hausgesinde die längsten Abende Psalter über Psalter vorleiert. Drauf ein alter Polterer, ein jähzorniger Knopf oder sonst ein unsauberer Patron. Und die ungezogenen Bauernknechte und die ungekämmten Weibsleute – in jedem Haus eine andere Schwachheit. Und all die Leut' soll der Schneider mit einem Maße messen! Es ist viel verlangt. Ja, meine liebe Waldbäuerin, und was die Hauptsach' ist: Kopf muß einer haben! Was der Schöpfer an einem krummen, buckeligen, einseitigen Menschenkinde verdorben hat, das soll der Schneider wieder gut machen. Die Leute verlangen von ihren Kleidern nicht allein, daß sie den Adam zudecken, sondern auch, daß sie eine saubere Gestalt herstellen. Und der Schneider muß nicht allein den Körper seines Kunden, er muß auch seinen Charakter kennen lernen, muß, sozusagen, das ganze Wesen erfassen, um ihm ein Kleid zu geben, das paßt! Und wie er den Menschen kennen muß, den er nach außen hin vollendet, so muß er den Stoff kennen, von dem er den Anzug zu verfertigen hat. Manches Tuch dehnt sich, manches kriecht zusammen, dieses hält Farbe, das andere schießt ab. Wer das im vorhinein nicht weiß, der macht ein Unding zusammen. Kurz, der Kleidermacher muß Menschen- [7] und Weltkenner sein. Ja, meine gute Waldbäuerin, ein Kleberer tut's sicherlich nicht.«

»Ist aber sonst ausbündig (vernünftig), der Bub,« wagte meine Mutter zu bemerken.

»Macht er ein bissel Figur?«

»Letzt' Zeit her ist er rechtschaffen in d' Höh' geschossen, aber halt soviel g'füg' (dünn, schlank), soviel ein g'füg' Bürschel.«

»Na,« sprach der Meister, »werde ihn halt einmal anschauen. Nächst Erchtag soll er zum Alpelhofer kommen; dort wird er mich finden.«

»Bitt' gar schön, wenn's es tät. Bitt' gar schön!«

»Wird sich schon weisen. Behüt' Gott, Waldbäuerin.« –

So bin ich am nächsten Erchtag in heller Morgenfrüh zum Alpelhofer gegangen. Lange stand ich auf dem Antrittstein der Haustür und dachte: Wie wird es sein, wenn ich wieder heraustrete? Eine fast feierliche Stimmung lag um das Haus, welches auf dem Berge zwischen Eschen und Kirschbäumen stand, und in welchem die Entscheidung meines Schicksals saß.

Sie saß am großen Tische, saß in Gestalt eines kleinen, feinen Männleins im schwarzen Anzuge und weißer Wäsche: Ein Männlein mit feinrasiertem Gesichte und einer Glatze, die gerade so groß war, daß sie dieses Gesicht recht offen und würdig gestaltete. Das war der Meister. Er war ein Hagestolz und lebte ganz allein in einem Berghäuschen, wo er für sich selbst kochte und sich pflegte, oder er arbeitete in irgendeinem Bauernhause der Gegend, und war so im Laufe des Jahres in vierzig oder fünfzig Bauernhäusern daheim. Ziemlich weit ab, in der Fischbacher Pfarre, hatte er seine alte Mutter, die er jährlich [8] mehrmals besuchte und ihr Geld brachte. Er selbst war auch nicht mehr jung, war aber in Ehren und Sitten ein Freund der Frauen. Ja, seine Artigkeit gegen die Weiber ging so weit, daß er sich für keine entscheiden wollte, aus Besorgnis, die anderen zu kränken. Er arbeitete auch in Frauenkleidern und ermaß recht gut, daß, wenn er verheiratet wäre, die Hälfte dieser Kunden ausbleiben könnte. So blieb er einstweilen unbeweibt. In guten Zeiten hielt er sich einen Gesellen, oft auch einen Lehrjungen; als aber die Gewerbefreiheit aufkam, wollte jeder Geselle selbst Meister sein, und mein guter Meister Natz – so hieß er – saß zumeist allein und bewältigte seine Arbeit allein.

Nun, da ich in die Stube trat, saß er am Tisch und nähte. Vor ihm lag das Handwerkszeug, daneben zugeschnittenes Lodentuch und an der Sitzbank hing das Bügeleisen.

»Gelobt sei Jesus Christus,« sagte ich.

»In Ewigkeit,« antwortete er langsam mit tiefer Stimme.

Ich blieb an der Tür stehen. Es war alles still. Er zog die Nadel auf und nieder; nur die Wanduhr tickte, und mein Herz pochte dem Augenblicke entgegen.

»Was willst denn?« fragte mich nach einer Weile der Schneider.

»Schneider werden möcht' ich halt gern,« antwortete ich zagend.

»So bist du derselbe,« sagte er, und blickte eine Weile auf mich her. »Im Gottesnamen, geh's an. Setz' dich her, nimm Nadel und Zwirn und nähe mir diesen Ärmling zusammen.«

[9] So tat ich – aber es ist leichter gesagt als getan. Da staken im Kissen an die dreißig Nadeln aller Größen, da lagen Zwirnknäuel verschiedener Feine und Farbe. Und die beiden krummgeschnittenen Tuchstreifen, wie werden sie behandelt und zusammengetan, daß sie ein Ärmling werden? Ich warf fragende Blicke auf den Meister. Er tat nichts desgleichen, als wisse er mehr als ich. So hub ich denn an. Ich fädelte ein und legte den Loden aufs Knie und machte einen Stich. Der Faden schlüpfte durch. Der erste Stich war mißlungen. An den Wangen erglühend, forschte ich der Ursache nach und kam endlich drauf, daß von mir vergessen worden war, in den Faden einen Knoten zu machen. Ich schlang also mit großer Mühe ein Knötlein und beschäftigte all meine zehn Finger dabei. Hierauf nähte ich mit Erfolg, aber auch mit Hindernissen. Es verwand und verdrehte sich der Zwirn, es staute sich die Nadel am Finger, es verschob sich der Loden und ließ sich mit jedem Zug hoch in die Lüfte ziehen, es riß sogar der Faden.

Mittlerweile kam der alte Alpelhofer in die Stube und rief:

»Zum Dunner, jetzt ist ein junger Schneider herkommen!«

»Ja,« sagte mein Meister.

Wie mir das Wörtlein wohlgetan hat! Im Vollbewußtsein meiner Ungeschicklichkeit hatte ich von Minute zu Minute erwartet, daß der Meister mich fort schicken werde! aber dieses Ja war wie eine Anerkennung und Einsetzung.

»Das ist brav,« sagte der Alpelhofer und ging wieder davon.

[10] Als ich ein paar Stunden so herumgenäht hatte, ohne daß mein Meister auch nur eine Silbe zu mir gesprochen hätte, und als ich endlich mit dem Ärmling fertig zu sein wähnte und mit dem Auge fragte, was nun zu beginnen sei, antwortete er: »Jetzt trenne den Ärmling wieder auf – bis auf den letzten Stich alles auf und ziehe die Fäden sauber aus. Achtung geben mußt nur, daß du den Loden nicht anschneidest.«

Und als ich das mit Angst und Schmerz getan hatte und die Teile des Ärmlings wieder so dalagen, wie mir sie der Meister in die Hand gegeben hatte, ließ dieser von seiner Arbeit ab und sprach zu mir folgendes:

»Waldbauernbub. Ich hab' nur sehen wollen, wie du die Sach' angreifst. Just nicht ungeschickt, aber den Loden muß man zwischen Knie und Tischrand einzwängen, sonst liegt er nicht still. Später, wenn du's einmal kannst, wird er wohl auch ohne Einzwängung still liegen, so wie bei mir da. Auf den Finger, mit dem du die Nadel eindrückst – das ist der mittlere, der lange – mußt du einen Fingerhut stecken, sonst kriegt deine Haut gerade so viele Löcher, als wie der Loden. Den Zwirn mußt mit Wachs glätten, sonst wird er fransig und reißt. Die Stiche mußt im Loden so machen, daß einer über dem anderen reitet, das heißt man Hinterstiche – sonst klafft die Naht. Und die Teile mußt du allemal so zusammennähen, daß du sie nicht wieder voneinander zu trennen brauchst, wie dasmal. Und gibt es schon doch einmal zu trennen, so mußt kein saures Gesicht dazu machen, mein lieber Waldbauernbub. Empfindsam sein, das leidet unser Handwerk nicht. Jeder Ochsenknecht wird dich meistern und jeder Halterbub wird dich ausspotten und wird dich fragen, ob du wohl [11] das Bügeleisen bei dir hättest, daß dich der Wind nicht verträgt, und wird, so lang' er deiner ansichtig ist, wie ein Ziegenbock meckern. Laß ihm die Freud', und geh' still und sittsam deiner Wege. Ein gescheiter Mensch schämt sich nicht seines ehrlichen Handwerks, und ein Dummer vermag es nicht zu lernen. Der Schneider studiert nie aus; jede Kundschaft hat einen anderen Leib, jedes Jahr hat eine andere Mode; da heißt's nicht gerade Zuschneiden und Nähen, da heißt's auch denken, mein lieber Waldbauernbub. Aus dem tüchtigen Schneider ist schon manch ein hoher Herr emporgewachsen. Der große Feldherr Derfflinger, der Wiedertäuferprophet Johann von Leyden sind Schneider gewesen; in Amerika gibt es sogar eine Gattung von Schneidern, welche Präsidenten von den Vereinigten Staaten werden. Ich hab' ein Büchel, das will ich dir einmal zeigen, da wirst alle berühmten Schneider darin finden. Deswegen, Waldbauernbub, wenn du in dir wirklich die Neigung und das Talent zu diesem Stande empfindest, so bleibe da, und ich will dir lehren, was ich selber kann.«

Ich neigte dankend mit dem Kopfe.

»Du wirst dich«, fuhr der Meister fort, »von den Beschwerden des Berufes nicht abschrecken lassen. Bereitwilligkeit und Genügsamkeit ist wohl das erste, was ich verlangen muß. Ich will dich so halten, wie mich voreinst mein Meister gehalten hat. In der Wochen arbeiten wir bei dem oder dem Bauer auf der Ster und haben dort Kost und Liegerstatt. Zum Samstagfeierabend gehst allemal zu deinem Vater heim, der hat dir das Sonn- und Feiertagsquartier, die Kost dazu und das Gewand zu geben. Sind wir an Sonn-und Feiertagen zum Mittagsmahl [12] geladen dort, wo wir die Woche zuvor gearbeitet haben, so komm'. Auch in die Sonntagsschul' mußt gehen, weil du bei deiner Freisprechung ein Religionszeugnis brauchst. Deine Lehrzeit dauert drei Jahre; nachher – wenn du brav und fleißig bist – laß ich dich freisprechen und dann steht's dir frei, wenn ich dich brauch', für einen Wochenlohn bei mir zu bleiben, oder in die Fremd' zu gehen. Wenn's dir so recht ist?«

Wem sollte das nicht recht sein?

Später, als der Alpelhofer wieder in die Stube trat, um für das Mittagsmahl Suppenbrot aufzuschneiden, sagte zu ihm mein Meister: »Gelt, Bauer, du bist schon so gut, daß ich meinen neuen Lehrburschen bei dir da anfangen lassen darf?«

»Ja, wegen was denn nicht?« antwortete der Alpelhofer, »mich gefreut's. Wie heißt er denn, der jung' Schneider? Peter? so. Peter – liegt er nit, so steht er. Na, wenn heut' der erst' Tag ist, da müssen wir ihn ja einstallen (installieren). So, da hast einen Löffel, Peter. Schau nur zum Essen, daß du stark wirst. Vom Waldbauern bist ein Sohn? Brav, brav. Geh', Natz, leg' weg jetzt die Arbeit, 's ist zum Essen, Schneider.«

Heute noch sehe ich ihn, den guten Alten mit den blauen Augen und den grauen Haaren. Er war ein großer Mann mit etwas vorgebeugtem Haupte, auf dem Drangsal gelastet hatte; er war nun schon bei den Siebzigen oben, aber noch so stramm und flink und warmherzig in allem, was er tat und sprach. Auch wohlhabend muß er gewesen sein. Seit zweiunddreißig Jahren war er Dorfrichter in Hauenstein; in dieser Zeit ist zu Hauenstein nicht einer wegen Steuerrückständen gepfändet worden, [13] denn der Alpelhofer zahlte allemal vorläufig alles aus seinem Säckel. Ja, die armen Kleinhäusler in der Gemeinde wußten oft gar nichts und erfuhren nichts davon; und erst später, nachdem man den alten Alpelhofer hinausgetragen auf den Gottesacker und daneben im Wirtshause geschwind einen anderen zum Richter gewählt hatte, wunderten sich die paar Kleinhäusler, daß sie nun auf einmal Steuern zahlen mußten.

Als es nun an diesem ersten Tage meiner Schneiderschaft Abend geworden war und auf eine Stunde die »Lichtfeier« eintrat, fragte mich der Alpelhofer: »Petrus, was spricht Paulus?«

Als ich darauf nicht antworten konnte, weil ich es nicht wußte, gab mir mein Meister ein: »Sag' nur gleich: Paulus spricht, wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Herentgegen, wer arbeitet, der mag sich auch was gunnen.«

Hierauf winkte mir der Alpelhofer mit gekrümmtem Zeigefinger, daß ich ein bißchen mit ihm kommen möge. Er führte mich in den Keller hinab und mit einem Kerzenlicht zwischen Rüben- und Erdäpfelhausen hindurch zu einem Holzbänklein. Dort schaffte er ein Gläschen Branntwein zustande, hob es mir in die Hand und sagte: »Petrus, den trink' aus. Auf Glück!«

»Auf Glück, Alpelhofer!« sagte ich und war in meinem Gemüte sehr bewegt. Dann nippte ich von dem guten Geiste, es muß ein Wacholdener gewesen sein, der mir augenblicklich frischen Mut ins Herz goß.

»Schneider werden,« sagte nun der Bauer, »wie ist dir denn das eingefallen? Alleweil in der finsteren Stuben sitzen, in den meisten Häusern lassen die Leut' nicht einmal [14] Luft zu den Fenstern hinein. Wenn du meinst, daß du für Bauernarbeit zu gefüg' bist, hättest nicht können was anderes werden? Ein Almhalter, oder so was, wo du auf freier Weid' wärst gewesen! Na, trink'! Jetzt bist einmal Schneider, so bleib' dabei und schick' dich, und wenn dir das Kreuz weh' tut vom vielen Sitzen, so denk' auf Den da oben, der will's haben, daß der Mensch mit Müh' und Fleiß sein Brot verdient. Kreuzer wirst nicht in Überfluß gewinnen, als Lehrling schon gar nicht. Nur alles schön mit Willen und Geduld, 's wird dir schon einmal besser gehen. Trink', Petrus! – In meinem Haus hast heut' angefangen, so bin ich dir der Pat' fürs Handwerk. Wenn du ein Anliegen hast oder eine Klag', so komm' zu mir, und nur alleweil wohlgemut – trink' aus, trink' aus!«

Während dieser Worte fühlte ich etwas in meiner hohlen Hand. Ich hielt es, bis wir aus dem Keller wieder heraufgestiegen kamen und das Ding in der Faust ganz warm und feucht geworden war. Ein Talerstück war's aus den Zeiten der Kaiserin Maria Theresia. Ich besitze es heute noch und so oft ich es anschaue, kommen mir die Worte zu Sinn: »Nur alleweil wohlgemut.«

In meiner Lehrzeit gab's wenig zu klagen; ich hätte mein Anliegen dem Alpelhofer auch nicht vorbringen können, denn der gute Mann ist schon fünf Wochen nach meinem Eintritt ins Handwerk schlafen gegangen.

Als ich Robinson im Schneiderhäusel war
[15] Als ich Robinson im Schneiderhäusel war.

Mein Meister – der Natz – bewohnte auf der Höhe, wo die Bauerngründe zu Ende gehen und der Almwald beginnt, ein Häuschen, welches seiner vereinsamten Lage wegen das Einschichthäusel hieß, seit unserer Einwohnerschaft in demselben aber die Schneiderkeuschen (Keuschen gleich Gehäuschen) genannt wurde. Ich saß zuweilen nur Werktags in demselben, wenn eine »Hausarbeit« war; der Meister brachte viele Tage und Nächte einsam in dieser Einsamkeit zu. Das kleine Haus war aus Holz fest gebaut, die Tür gründlich zu verschließen und die Fenster so klein und dazu noch vergittert, daß eine Gefahr der schlechten Leute wegen nicht leicht zu fürchten war.

Und hier ist mir denn, einige Zeit nachdem ich in die Lehre eingestanden, etwas Wunderliches passiert.

Eines Montagsmorgens bestellte mich der Meister in sein Häuschen hinüber. Ich hatte von meinem Elternhause mehr als eine Stunde dahin, über Tal und Berg. Doch kam ich zu guter Zeit an und wir rüsteten uns zu einem Gang ins Mürztal, wo wir auf mehrere Wochen Arbeit hatten.

Im Mürztale waren wir Handwerker vom Gebirg stets gesuchte Leute, weil wir billiger arbeiteten und in der Verpflegung weniger anspruchsvoll waren, als die [16] Professionisten vom Tale, die freilich immer sehr verachtend auf uns niedersahen, wenn wir vorübertrippelten, um ihnen ihre nächsten Kunden wegzufischen.

Ich freute mich immer auf das Mürztal, es war so gut dort und der Weg dahin so schön, und alles so fürnehm, neu und frei. Da kamen wir manchmal wochenlang nicht nach Hause.

Vor so langer Abwesenheit mußte alles, was wir nicht mitnahmen, gut verwahrt und verschlossen werden. Nachdem dieses geschehen, goß der Meister Wasser auf die Herdglut, die ihm vorher das Frühstück gekocht hatte, damit kein Funke Unheil stifte. Dann zog er die Hängeuhr auf; das war eine, die nach jedem Ausziehen vierzehn Tage lang ging. Vernimmt der horchende Dieb das Ticken der Uhr, so meint er leicht, es sei jemand zu Hause und unterläßt das Einbrechen.

Bevor der Meister die Fensterläden schloß, sagte er zu mir: »Jetzt geh' nur voraus, 's wird herinnen gleich finster sein. Steig' stad' an, ich komm' schon nach.« Ich wußte wohl, er hatte noch den Haussegen zu beten, durch welchen er sein kleines Hab und Gut, das er hier am Waldrande zurückließ, besonders seinem Namenspatron, dem heiligen Ignatius, empfahl. Auch sprengte er Weihwasser an Tür und Fenster, um somit zum Schutze des Eigentums alles getan zu haben, was der Mensch zu tun vermag. Dabei wollte er stets allein sein, und ich trollte mich also aus dem Stübchen, um noch eilig oben in der Hinterkammer für den weiten Weg eine gutbeschlagene Elle hervorzusuchen. Auch ein Bügeleisen fand ich in der Kammer, welches mir weniger unbequem schien, als der schwere Eisenblock, den ich sonst von Haus zu Haus mitschleppte[17] und damit wohl dem steifen Loden zum Trotze, aber den Leuten zum Spotte war.

Als ich nun mit dem neugewählten Werkzeuge durch das dunkle Gelaß stolperte und über die Stiege hinab der Haustür zu – war diese verschlossen. Dreifach verschlossen und verriegelt, und das Haus war leer, der Meister davon und hatte mich eingesperrt.

Alsogleich erhob ich ein schallendes Geschrei; ich selbst erschrak vor der Stimme, die aus mir fuhr, die gellend an die Wand schlug und die gefangen war, wie ich selber. Der Meister meldete sich nicht, er war fort. Er mußte glauben, daß ich durch den Wald hinauf schon voraus sei. Selbstverständlich ein rasendes Rütteln an der Tür, an den Wänden, und selbstverständlich ein – vergebliches. Ich riß einen der Fensterläden auf und rief hinaus: »Meister, Meister, ich bin noch drin! Ich kann ja nicht nach. Das ist höllisch!« Er hörte mich nicht mehr, mußte schon über den Bühel gegangen sein.

Tief unten in einem Kessel lag die Gegend, lagen die Bauernhäuser, mit ihren braunen Strohdächern fast wie Maulwurfshügel anzuschauen. – Da kannst schreien, wie du willst, Schneiderbub, deine Stimme ist noch leichter, als du selber, die taucht nicht ins Tal hinab, die steigt zu den Wolken auf. – Wie wird der Meister laufen und schnaufen durch den Wald und wird sich denken: Bin doch auch kein Hascherl (Krüppel), aber der, wenn er einmal auskommt, ist nimmer zu erwischen. Hat ja so viel lange Füß'!

Bei dem vorigen Gang ins Mürztal war ich auch so närrisch vorausgeeilt, um mir drüben in Langenwang die Schere schleifen zu lassen, bevor wir auf die Ster[18] rückten. – Was dieser Mensch nur allemal schleifen zu lassen hat? wird der Meister heute denken, und wird nacheilen und springen wie ein versprengter Steinbock, und der Lehrjung' sitzt in der Keuschen und kann nicht nach.

Was ist jetzt zu machen?

Ausbrechen? Möchte nur wissen, wie? Das Türschloß schwer verschlagen, die Fenster eng vergittert. Der Rauchfang? Ein Schneider kann halt alleweil noch nicht dünn genug sein, der Rauchfang ist nicht über eine Spanne weit. – Also hübsch in Geduld warten, bis der Meister wieder zurückkommt.

Ich öffnete alle Fensterläden, daß es wenigstens in meinem Kerker licht war. Ich schritt von einem Gelaß zum anderen und warf in meinem Hirn alles drunter und drüber, ob sich denn im ganzen Haupte des Menschen – man sagt, es sei so mächtig und beherrsche die Welt – kein Mittel vorfinde, um aus der Schneiderkeuschen zu kommen. Es fand sich nichts vor. Sonst entspannen sich in dem Köpflein dieses Lehrjungen oft so gescheite Einfälle, daß die Leute sagten: Der Schneiderbub ist halb verruckt. Aber heute kam's nachgerade darauf an, mit diesem Kopf durch die Wand zu fahren.

Im Häuschen war es grauenhaft langweilig. Stiller als still kann's nicht sein, sagt man. Wenn du aber so eingeschlossen im Einschichthäusel sitzest und hörst gar nichts, als das Tick– tack tick– tack der Uhr, welche mit ihren langsamen Schritten der Ewigkeit entgegengeht, und das Ticken ist so eintönig, daß du es schließlich auch nicht mehr hörst – so ist es stiller als still.

Es wurde endlich Mittag. Der Meister kam nicht zurück. Wohl aber war jählings eine leise Stimme zu[19] vernehmen – der Magen fragte höflich an, was es heute mit der Knödelsuppe wäre?

Da hub ich an zu suchen. Alle Kästchen und Laden waren verschlossen, und als ich die Schlüssel fand und die Behälter öffnete, war alles leer. Aus Besorgnis, daß während der längeren Abwesenheit die Lebensmittel Schaden leiden könnten, hatte der Meister das Möglichste verzehrt und den Rest zur Fankelbäuerin hinabgetragen, auf daß ihn dieselbe benütze und später mit frischen Teilen zurückbezahle. Nur ein großes Stück Brot fand sich in einer der Laden, das war aber schon so hoch betagt, daß ein ehrwürdiger grauer Bart auf seinem Antlitz wuchs. Ferner entdeckte ich in einer Papierdüte ein wenig Reis.

Um Reis zu kochen, braucht man Feuer und Wasser. Dieser Satz gehört zu jenen ewigen Wahrheiten, an denen zu rütteln eine Frechheit ist. Draußen, zehn Schritte vor dem Häuschen, rieselt der Brunnen. Ich durchstöberte alle Winkel nach Feuerzeug: die Flamme ist der beste Gesellschafter in solcher Lage, und der über dem Dache aufsteigende Rauch konnte doch vielleicht jemanden herbeilocken und mir Erlösung bringen. Ich fand im Kasten einige Briefe von Weibern an meinen lieben Meister Natz, in welchen sie versucht hatten, sein Herz in Flammen zu stecken. Und das war auch das einzige Feuerzeug im Gelaß. Aber es war nichts nutz. Kein Stein, kein Schwamm, kein Zündhölzchen. Ich suchte weiter, und sehr unangenehm war es mir, als ich in einem der unverfänglichsten Winkel unter der Ofenbank, in einem Kästchen zwischen den Ziegeln eingeschoben, meines Meisters geheimste Schätze fand; einige Silberlinge, deren Wert ich kannte, aber auch verwelkte, getrocknete Rosen und Haarlocken, [20] deren Wert ich nicht kannte. – Zuletzt, so dachte ich mir, wenn er's wahrnimmt, wie ich da in seiner Wohnung eigenmächtig herumgewirtschaftet habe, läßt er mich noch einsperren!

Da sah ich im dunkeln Winkel am Ofen auf dem Boden etwas leuchten. Mein Meister hatte die Gewohnheit, Zündhölzchen als Zahnstocher zu gebrauchen, nachdem er ihnen die Köpfchen weggerissen hatte. Ein solches Köpfchen lag nun da und leuchtete in blauem, mattem Scheine, ein einziges, winziges Körnchen Feuer, noch verschlossen und kalt und nichtig, aber doch Rettung tragend im Keime, wenn es mir gelänge, ihn zu wecken und zu fördern. Als ich denn sonst nichts mehr vorfand, versuchte ich es mit dem kleinen Kopfe und legte ihn auf den Herdstein, daß ich ihn bearbeite. Aber: so viel Köpfe, so viel Sinne, und hier ging es nicht nach meinem. Wie ich in der linken Hand den Fidibus auch in Bereitschaft hielt und mit der rechten das Phosphorköpfchen kniff, rieb und zwickte, es blieb kalt und finster. Mit einem Nadelzänglein packte ich es, um die Reibung auf dem Steine zu erzielen – da sprang es mir plötzlich davon gegen die Mauer hin, zischte dort auf, und bis ich mit meinem Fidibus nachkam, war es verlodert. Und damit war auch mein Hoffnungsstern verloschen.

In einem Fache des Kastens hatte ich des Meisters Pistole gefunden, welche er sonst draußen vor dem Häuschen häufig abbrannte, damit die Leute aller Stände wissen sollten, daß auch eine Waffe im Hause wäre. Ich fand sie scharf geladen. – Ja, mein lieber Junge, da wäre freilich Feuer drin. Und welches!

Nachmittags hub es zu regnen an. Ich hielt einen[21] Hafen zum Fenster hinaus, denn ich hatte Durst. Aber die wenigen Tropfen, die hineinfielen, machten nichts aus. Da stieg ich zum Dachboden hinan, wo es mir mit schwerer Mühe gelang, eine Dachschindel so zu verschieben, daß Wasser hereinsickerte. Darunter richtete ich nun meinen Hafen auf, und so gewann ich Wasser. Fast gleichzeitig entdeckte ich im Stroh, auf welchem sonst die Gesellen zu schlafen pflegten, einige Eier. – Wer nur diese Eier gelegt haben mag?

Nun, ich trank sie aus und aß einen Bissen des ehrwürdigen Brotes dazu. Dann kamen die Gewissensskrupel: Mensch, jetzt faulenzest du da und verzehrst deinem Meister allen Vorrat, während er im Mürztal sich muß plagen! – Nun suchte ich nach Arbeit, daß ich doch für das Essen auch was nützen könne. Es war wohl ein Stück Tuch in der Lade, aber nichts Zugeschnittenes. Hierauf untersuchte ich den Kleiderschrank des Meisters, ob nicht in irgendeinem Beinkleide ein Loch zuviel, ein Knopf zuwenig wäre. Einen einzigen etwas zweideutigen Ellbogen fand ich, sonst war überall alles recht ordentlich instand gehalten. Da sich hier denn nirgends Gelegenheit bot, mich nützlich zu zeigen, so begann ich in der Küche Holz zu spalten. Unter den Holzscheitern fand ich einen Hausschlüssel.

Ich sprang vor Freude in die Luft, so hoch, als nur einer meines Zeichens zu springen vermag. – O, wie eitel sind die Freuden dieser Welt! An der Tür war ein Vexierschloß, welches mit diesem Schlüssel, wie ich sah, nur von außen geöffnet werden konnte. – Ich begann fast zu wiehern, zu lachen vor Wut. – Wasser war in der Nähe, und ich hatte Durst gelitten; Holz und Feuer [22] war da, und ich fror der finsteren Nacht entgegen; den Schlüssel hielt ich in der Hand und – war gefangen. Alles wie verhext.

Der Abend kam, unten im weiten Kessel lagen die Häuser von Hauenstein, und der Regenschleier hing darüber. Kein Mensch kam des Weges zum Einschichthäusel heran, weshalb auch? Die Leute wußten es: die Keuschen ist leer, die Schneider sind hinüber ins Mürztal gezogen. Und der Meister kam auch nicht. Der sitzt jetzt schon im Mürztal und flucht über den Lehrling: wo er denn heut' steckt, dieser verdangelte Bub! Alleweil zieht's ihn so in die Fremd'; am End' ist er fort, der leichtsinnig Schlingel! – Wie konnte der Mann wissen, welch eiserner Patriotismus mich daheim festhielt! –

Ich verkroch mich endlich in des Meisters Bett.

Der Schlaf war gut. Ich träumte ein schwarzbraun Maidelein. Aber ein Geräusch an der Wand weckte mich auf. Ich horchte; draußen pochte, grub und bohrte es. Einbrecher! Wollen sie gar die Holzwand durchstoßen? Wollen sie die Untermauerung durchbrechen und zwischen den Grundfesten hereinkriechen, um das Gut meines Meisters zu rauben? Dann werde ich den guten alten Brauch wieder aufbringen, werde mich, wie jene Müllerstochter, vors Loch hinstellen und die Räuber nacheinander köpfen. Nachher wird auch das Sprichwort von der Schneidercourage anders gemacht werden müssen. – Gern wäre ich in die Küche gegangen, um das breite Beil zu holen, mit welchem ich tags vorher Holz gekloben hatte, aber ich getraute mich nicht aus dem Bette. – Wenn es wenigstens zu machen wäre, daß, während die hereingekrochenen Räuber bei den Kisten und Kästen sich [23] beschäftigten, ich durch das Loch hinauskäme! Ich wollte sodann diesen Haupteingang schon geschwind verrammeln, daß die Verbrecher gefangen wären und ich frei! – Nun wagte ich mich aus dem Bett und schlich aus Fenster. An der Ecke des Hauses stand wirklich einer und daneben währte das Poltern und Krachen.

In Gottesnamen, ich hüte das Haus meines Meisters, und mein Leben, das gebe ich nicht wohlfeil! In diesem Gedanken bereitete ich, auf den Zehen schleichend, die Axt und die Pistole. Mit Hast warf ich noch einige Kleider um mich, murmelte das Gebetlein von der Reu- und Leiderweckung, machte den ernstlichen Vorsatz, falls ich aus dieser Gefahr doch lebendig hervorgehen sollte, womöglich ein frommer Mann zu werden. Dann öffnete ich leise das Fenster.

Dort stand der Kerl und sah gerade auf mich her.

»Sakerment, wer ist denn draußen?« schmetterte ich. Mitten in der Nacht im Einschichthaus ein solcher Ruf! Er hört sich schauerlich.

»Schelm, ich schieß' dich nieder!« schrie ich noch einmal und ließ krachen...

Das Geräusch des Einbrechens währte fort, auch der Kerl stand noch in seiner ganzen Verwegenheit da. Aber bei dem Scheine des Schusses hatte ich gesehen, wer es war. Dieser alte, gottverlassene Wicht war's am Zaun, der Baumstrunk, dem tagsüber gar die Rindenfetzen vom Leibe hingen und der Moder aus allen Spalten rieselte. Und nachtschlafend' Stund' möcht' er die Leut' erschrecken! Aber der hat jetzt genug für sein Lebtag und mich erschreckt er nimmer.

Als ich hernach, kühn geworden, den Kopf zum Fenster [24] hinausreckte, so weit es ging, gewahrte ich auch die Einbrecher. Ein paar Bretter, die an der Wand lehnten, wurden vom Wind, der gekommen war, um den Regen zu vertreiben, hin und her geschlagen, an die Wand gedrückt und wieder hintan gerissen, daß sie knarrten und ächzten.

Es ist der halbe Sieg, seine Feinde kennen gelernt zu haben. – Ich verschloß das Fenster und legte mich wieder schlafen.

Am anderen Morgen schien draußen die liebe, helle Sonne, daß es ein Jammer war.

»Wenn auch heut' noch niemand kommt, so geht das nicht so gut aus, wie gestern!« sagte ich mit drohender Miene. »Unsereins möcht' einmal was Warmes essen.«

Da sah ich den Feldsteig her gegen das Häuschen einen Mann schreiten. – Also endlich! Ich legte den Schlüssel zurecht, daß ich ihn zum. Fenster hinausgebe und den Vorbeigehenden bitte, mir von außen dieses malefiz Vexierschloß aufzusperren. Als jedoch der Mann näher kam, zuckte ich mit dem Kopfe vom Fenster zurück und stieß einen Fluch in die Wand hinein, wie weder vor noch seither ein solcher hineingestoßen worden sein mochte.

Es war Gori, der blaßbraune Schustergeselle. Der war mein Todfeind. Es hätte nicht sein müssen. Wir hätten in Fried' und gutmütiger Gegenseitigkeit Platz nebeneinander gehabt, wie nur je ein Schuster und ein Schneider hienieden nebeneinander Platz haben können. Aber wir hatten eine gemeinsame Weltanschauung, wir hielten unter allen Jungfrauen eine und dieselbe für die Schönste und Liebenswerteste im Kaiserreiche. Und so war es gerade an einem der letztvergangenen Sonntage [25] gewesen, daß dieselbe eine mit ihrem Vater im Wirtshause war, daß ich mich zu ihrem Tische hinsetzen wollte, und daß der Gori plötzlich vor mir stand und sagte das Sprüchel: »Einer von uns zwei'n ist dahier zuviel!« Der achtzehnjährige Schneiderlehrling kam gegen den fünfundzwanzigjährigen Schustergesellen nicht auf, und noch ehe ich zum Bewußtsein der eigentlichen Sachlage kam, war ich vor der Haustüre. Zur Genugtuung gereichte mir aber, daß gleichzeitig auch der Schustergeselle auf ähnliche Weise nachkam, der Wirt sagte: die Handwerker säßen die ganze Woche über in der Stube und müßten am Sonntage ausgelüftet werden.

So stand's zwischen mir und dem blaßbraunen Gesellen, der jetzt am Einschichthäusel vorbeiging. Er hatte eine Tracht Leisten auf dem Rücken und nebelte mit seiner Porzellanpfeife – ein Weibsbild war drauf – langsam an meinem Fensterlein vorbei. Von dem wollte ich nicht befreit sein und sollte ich sitzenbleiben müssen im Einschichthaus so lang', bis mein Bart neunmal um den Ofen gewachsen!

Dieser kleine Vorgang hatte eine merkwürdige Hitze in mich gebracht; nur zu bald wurde es wieder langweilig. Es war ein und das andere Buch da und manches Blatt Papier; Lesen, Schreiben war ja sonst meine Passion. Doch in solchem Asyl soll's ein anderer versuchen, mit Schöngeistigkeit die Zeit sich zu vertreiben; dem rechten Arrestanten mag's behagen, der weiß, daß mittags der Profoß mit der Suppe kommt; und kommt er mittags nicht, so kommt er abends.

Um die Mittagszeit sah ich einen Bettelmann sich draußen sonnen. – Der, wenn ich ihm den Schlüssel[26] hinauslang', ist gewiß so gut und macht auf. – Hättet ihr's mit ihm gewagt? Und hättet ihr nicht den Hochverrat bedacht, der an dem Meister begangen worden wäre, wenn man die Geheimnisse seines wundersamen Vexierschlosses einem Fremden, vielleicht einem Strolche, preisgegeben? – Nein, auf dieses Äußerste kommt's noch nicht an. Bleibt der Vagabund nur noch ein paar Minuten sitzen auf dem grünen Rasen – er ist ja beschäftigt – so wird alles gut. Rasch schrieb ich auf einen Zettel: »Tue mir die Haselbäuerin doch wen heraufschicken. Der Schneider ist eingesperrt und kann nicht aus.« Das Papier legte ich zusammen, verklebte es mit Wachs, dann rief ich zum Fenster hinaus: »He, Bruder Bettelmann!«

Der sprang auf und da er sah, daß das Haus bewohnt war, murmelte er sogleich seinen Bettelspruch. Ich reichte ihm durch das Fenster ein Vierkreuzerstück hinaus; Geld war in meinem Exil für mich ja ein wertloser Gegenstand. »Aber Ihr müßt so gut sein,« sagte ich, »und dieses Briefel da zu dem Bauernhaus hinabtragen, wo sie den Waschkessel vor der Tür haben, und es der Bäuerin geben. 's ist eine kleine Post, und ich hab' nicht Zeit, daß ich hinablauf'.«

Der Mann versprach's von Herzen gern und torkelte mit meinem Notsignal abwärts gegen den Talkessel, wo die Menschen leben in Geselligkeit und Freiheit und die großen Güter nicht zu würdigen wissen.

Nun verging Stunde um Stunde, und es kam niemand. Ich durchspähte nochmals alle Vorratsräume und genoß zur Jause Pfeffer und Salz, ein Nahrungsmittel, welches gestern noch verschmäht worden war. Als der Abend nahte, begann ich wild zu werden. Ich rüttelte [27] furchtbar an der Türe, ich versuchte, ob denn nicht doch die Dachbretter zu durchbrechen wären. Vergebens. Der Spaß sing an, bedenklich zu werden. Hat's vor etlichen Jahren in Wien nicht Revolution gegeben, der Freiheit wegen?! Ich glaub's, da ist man alles imstand'!

»Schneider!« hörte ich auf einmal draußen schreien. Ich stürzte zum Fenster. Der Tausend, das auch noch!

Haselbauers Marie stand draußen...

»Aufmachen soll ich?« fragte sie.

»Sei so gut, Dirndl. Da ist der Schlüssel. Mein Meister hat mich unversehens eingesperrt.«

»D er ist drin!« rief sie aus. »Den Brief haben wir schon Nachmittag kriegt, wir sind auf dem Feld gewesen und haben nicht Zeit gehabt. Hätt' ich aber gewußt, daß du's bist, so wär' ich jetzt auch noch nicht herausgegangen.«

»Hast was gegen mich, Marie?«

»Gar nit. Du wirst wohl wissen, wegen was.«

»Du tust alleweil so stolz gegen mich!?«

»Mir tragt's den Stolz nicht. Aber dir stund's besser an, du tätest anders.«

»Möcht' wissen, wie du das meinst?«

»Was hast du mich bei den Leuten in Schanden zu bringen?« sagte sie.

»Um Gottes willen, Marie, was hast denn? Wieso bring' ich dich in Schanden? Geh' her da, zum Fenster geh' her und sag's mir's, wieso bring' ich dich in Schanden?«

Anstatt mir zu nahen, ging sie noch einige Schritte vom Fenster hinweg. Ich war so aufgeregt, daß ich mich mit aller Gewalt zwischen dem Gitter hinauszuzwängen suchte.

[28] »So!« sagte sie nun, »das ist keine Schand', wenn du über mich Gedichter machst, daß ich so viel sein und sauber wär', und daß ich dein Schatz sollt' sein, und lauter so närrische Sachen! Und gibst es allen Leuten zu lesen, daß man sich schamen muß, bis unter die Erden hinein.«

Das war ein Schlag für mich.

»Mariel,« sagte ich endlich, »wenn du nur ein bissel tätst hergehen. Mach' auf und komm'. Es wird dich doch nicht verdrießen, wenn man sagt, daß du schön bist!«

»Wenn man den Leuten das erst muß aufschreiben, daß sie's glauben, nachher ist es schon schlecht genug.«

Das schreibe ich heute zur Belehrung für Poeten, welche da glauben, alles und noch ein übriges zu tun, wenn sie ihre Mägdlein besingen. –

»Komm' nur einmal herein, wir werden uns schon ausreden,« lockte ich und streckte den Arm aus. »Aber ausmachen mußt. – Da hast den Schlüssel.«

Sie lachte hell, lachte unter Tränen des Ärgers: »Ich werd' mich hüten, daß ich dich heut' auslaß. So einen Wolfshunger, wie du hast! Da geht kein Mensch sicher!«

»Willst mich umkommen lassen?«

»Bist ein ungeschickter Bub, sperrt der Schlüssel von auswendig, so wird er von inwendig auch sperren. Probier' nur einmal.«

»Probiert hab' ich schon. Es ist ein Vexierschloß.«

»Bist selber schuld, wenn du dich vexieren (narren) laßt. – Ist untenauf kein' Stiften beim Schloß?«

»Freilich wohl, mit der es festgenagelt ist.«

»Bei dieser Stiften druckst an, nachher drehst den Schlüssel um – nachher gehst heraus.«

[29] Mit Macht mußte ich arbeiten, daß ich meinen verklemmten Kopf und Arm vom Fenster zurückbrachte. Dann versuchte ich noch einmal, und zwar nach ihrer Weisung, das Schloß zu lösen und die Türe war offen. Offen war sie in weiten Angeln, und vor mir lag die Freiheit und das Abendrot – und das Mädl lief, was es laufen konnte.

Wie man Haustüren aufsperrt, hat sie mich gelehrt. Aber wer sagt mir, wie man Dirndlherzen ausmacht?

Am nächsten Tage ins Mürztal eilend gedachte ich, meine Heldentaten ein wenig feiern zu lassen. Aber mein Meister wollte nicht mittun. So sank die Robinsoniade in der Schneiderkeusche der Vergessenheit zu.

Ein reisender Handwerksbursch
[30] Ein reisender Handwerksbursch.

Nun muß der lange Christian aus alter Erinnerung hervorgeholt werden.

Der schob eines Tages die Tür unserer Meisterstube so weit auf, daß er seinen kleinen Kopf hereinstecken konnte: »Ein reisender Handwerksbursch bittet gar schön...«

Der Meister steckte alle zwei Hände in die Hosentaschen und fragte: »Was ist Er denn?«

»Ein vazierender Schneidergesell', bitt' ich.«

»Wesweg steht Er nicht in Arbeit ein?« sagte der Meister, und die rechte Hand fuhr unverrichteter Dinge aus dem Sacke zurück.

»Ich bitt', weil ich keine krieg'. 's ist schon überall alles voll von Schneidergesellen.«

Jetzt kam auch die Linke des Meisters, auf die alle Hoffnung gesetzt war, leer aus der Tasche, und der Meister sprach: »Wenn Er will, bei mir hat Er gleich Arbeit. 's ist der Winter da, die Leut' brauchen Gewand.«

Der Handwerksbursche sah, daß er aufgenommen war, mit saurem Gesichte trat er in die Stube; er war länger, als dem hereingesteckten Kopfe nach vermutet werden konnte, und es hing an dem ältlich und gutmütig aussehenden Kopfe ein ziemlich zerfetzter Schneider. Der Meister selbst schien von dem Aussehen seines neuen Gehilfen etwas überrascht zu sein. Das Wanderbuch war aber befriedigend, es stand zwar wenig Arbeit drin, aber diese wenige war durchaus belobt.

[31] »Wo hast denn deinen Ranzen, Christian?« fragte jetzt der Meister.

»Meinen Ranzen? Warum?« versetzte der Geselle mit Befremdung, »brauch' keinen.«

»Du wirst doch eine gute Kluft (guten Anzug) bei dir haben?«

»Soweit ja,« sagte der andere und blickte an sich hinab bis zur Zehe, die aus dem Stiefel hervorguckte, »bin zufrieden, bin alleweil zufrieden.«

»Ruck', Lehrbub, daß er sich setzen kann!« Diese Worte des Meisters waren zu mir gesprochen, und einige Augenblicke später saß der schlottrige Geselle an meiner grünen Seite und sah den Meister ungewiß an, als wollte er fragen, welcher Hausbrauch hier herrsche, ob der Lehrjunge gelegentlichenfalls bei den Haaren oder bei den Ohren zu fassen wäre. – Als er später die gutherzige Weise merkte, in welcher mein Meister mit mir verkehrte, sing auch er an, genossenschaftlich zu sein, heißt das, er bemängelte mir gegenüber die Pflege, welche man uns angedeihen ließ und belustigte sich über den Meister, wenn dieser abwesend war. Ich war für solche Beweise des Vertrauens dankbar, hütete mich aber, dieselben zu entgegnen, sondern tat, wie einem Lehrjungen geziemt: hielt die Ohren offen und den Mund zu.

Nur die Nächte waren nicht ganz ohne Zwiespalt. Zuerst hieß es, ich möchte mit dem neuen Gesellen mein Bett teilen; nur zu bald stellte es sich heraus, daß er nach Gutdünken mit mir teilte, aber so, daß der größte Teil mit Leintuch, Decke und Kopfkissen ihm zufiel. Er lag an der Wand, nur zu Regenzeiten tauschten wir die Plätze, weil an der Wand das Wasser herabrann.

[32] Solange ich wachte, beschied ich mich, aber während ich schlief, taten Arme und Beine im Kampf ums Dasein manches, was hernach von seiten des langen Schlafgesellen ein anderer, ganz unschuldiger Teil des Körpers arg entgelten mußte.

Trotzdem waren wir stets gut Freund, was mir um so erfreulicher schien, als die Erhaltung dieses schönen Verhältnisses ganz in meiner Hand lag. Gab ich in allem nach, so war ich gesichert, und er verlangte nichts Unbilliges von mir, denn im Leben eines Lehrjungen ist alles billig. Zudem besaß der lange Christian einen unschätzbaren Vorzug, nämlich er log – und log, daß es eine Passion war. Wer nie sein Brot als Schneider aß, wer nie die halben Winternächte bei Loden und beim Zwirne saß! – – Was da ein gutes Plaudermaul für ein Kleinod ist! Der lange Christian hatte den Krimkrieg mitgemacht, hatte bei der Revolution eine Rolle gespielt und das keine kleine, denn er war Kossuths Stiefelwichser gewesen. Denn warum? Er hätte es zu ganz was anderem bringen können, aber der Kossuth hatte gesagt: »Loß ich nicht aus, Schwob. Brauch' ich zum Wichsen.«

»Sei jetzt still und tu nah'n!« verwies ihm der Meister bisweilen solch geschichtliche Darstellungen.

»Warum soll ich's denn nicht sagen?« meinte hierauf der Christian immer, »es ist ja so alles nicht wahr.«

Und hub wieder von neuem an.

»Und wenn ich auch hätte dabei sein können,« fuhr er fort, »ich hätte nicht einmal mögen. Da mag einer sagen, was er will, mir geht das Reisen über alles. Das Reisen als Schwalier, natürlich.«

»Jetzt sei still und tu nah'n!« gebot der Meister streng.

[33] Da war er still und tat nähen, und ich ermaß traurig, wie hier die schönsten Reisen und alle Weltwunder schnöde unterdrückt wurden. Ein Gefühl der Bitterkeit wurde in mir gegen den Meister wach. Wenn dieser aber abwesend und wir in der Werkstatt uns selbst überlassen waren, dann wurde alles nachgeholt; bald wurde ich inne, daß der lange Christian auch bei der Entdeckung Australiens dabei gewesen war.

Auf einem Luftballon wären sie hingekommen. – »Geht auf einmal nieder. Auf den Bäumen lauter Schlangen und Paradiesäpfel; Weinberge, wo auf den Reben die Kaffeebohnen wachsen und der Wein rinnt in Brunnen unter der Erde heraus. Löwen und Tiger, selbstverständlich alle besoffen, darum sind die australischen so gefährlich. Und sind auch große Pappeln, denen auf und auf die Wolle wächst und müssen im Frühjahr und Herbst geschoren werden. Das ist die Baumwolle. Und lauter so! Die Leut' sind alle schwarz über und über und brauchen daher keine Kleider. Was ist denn das für ein Land? fragen wir. Antwortet ein Schwarzer: I bitt', das ist Australien.«

Als ich anfangs an einzelnem zweifelte, rief er: »Na ja freilich, bei euch heißt's allerweil: erlogen, erlogen! Das bissel erlogen wird dich doch nicht genieren! Wenn's d'netta alles wahr sein sollt', na bedank' mich, da möchtest saubere Sachen hören. So tapfer wie der Christian, der itzo neben deiner schneidert, hat keiner gefochten!«

»Soldat?«

»Soldat! Gott sei Dank, nein. Ein Fechtbruder bin ich gewesen und wollt', ich wär' es heute noch!« Er seufzte und zog melancholisch einen langen Faden vom Zwirnknäuel.

Meine Bemerkung darauf mußte der Stimmung des[34] Augenblickes nicht ganz gerecht gewesen sein, denn er beugte sich weit gegen mich vor und sagte nach drücklich genug: »Du bist ein junger Lecker, daß du's weißt!«

Ließ ihm's gelten, und so waren wir wieder einig.

»Bist du erst ausgelernt, wirst es auch treiben,« versicherte der Christian. »Was ein ordentlicher Handwerksbursch ist, der geht fechten. Blitzdumm seid ihr Jungen anfangs schon dabei, das ist richtig, und wenn man euch nicht aus Erbarmen zeitweilig was tät' schenken, ihr müßtet verhungern wie die jungen Kälber, wenn sie nicht genudelt werden.«

»Möcht' wissen, wesweg man euch Alten was schenkt, wenn nicht aus Erbarmen!« erlaubte ich mir zu bemerken.

Er krähte laut auf und rief dann: »Das kostet mir einen Lacher! Und aus Erbarmen, wie einem Bettler! Junge, dir fehlt es an Unterricht! Wenn wir Handwerksburschen fechten, so heißt das nagelfest nichts anderes, als wir heben unsere Gebühr ein. Es ist ein Recht von alters her. Sie alle, die Herren Professionisten, die heute prächtige Häuser stehen haben an den Straßen, sie alle haben einstmals gefochten, und tüchtig gefochten. Und wenn du nicht weißt, wozu sie an ihren vornehm geschnitzten Haustüren die Klinken haben, so will ich dir's sagen: daß unsereiner draufdrucken kann, so wie's neuzeit Haustelegraphen gibt, wo der Herr nur zu drucken braucht und die Dienerschaft steht da. Wenn wir dabei den Hut in der Hand halten und freundlich bitten, so ist das Höflichkeitssache, denn der Fechtbruder muß Schwalier sein!«

»Redlich gesagt, aber,« fuhr der lange Christian fort, »die Professionisten, die selbsten haben schnallendruckt, das sind die schmutzigsten. Zu hart Kräften ein ganzer [35] Kreuzer, wenn sie keinen halben im Sack finden, und verstatten sich des lumpigen Kupferlings wegen schon das Recht, das Wanderbuch eine Weil' durch ihre feisten Finger zu wutzeln, oder gar etlich' Sottisen loszulassen, als wär' ein ehrlicher Bursch just ihrer Grobheiten willen auf der Länderpassier. – Überhaupt, Lehrbub, merk' dir's: was an der Straßen steht, heißt nicht viel. In die Seitendörfer muß einer sich schlagen, in die Berggräben muß man hinein, das lohnt sich. Kannst das Mundstückel brauchen, machst den Weibern was vor – lebst wie ein Prinz. Aber nur nicht vergessen, den Finger schön ins Weihbrunnkesserl tauchen, wenn du bei der Tür hineingehst. Steht vor dem Hause, wo die Leut' vom Fenster hinsehen, ein Kruzifix, oder so was, nur fleißig den Mund draufdrucken. Frommheit lohnt sich immer. Bleibst über die Nacht und sitzest auf der Ofenbank, so verzählst was; je größer die Lug ist, je lieber glauben sie's, je gewisser laden sie dich zu ihrem Nachtmahl ein. Mit dem Bauer hebst fürs erst' vom Wetter an; ist trockene Zeit, so gibt's guten Kornbau, ist Regenwetter, so gerät das Futter fürs liebe Vieh. Der Köchin vertraust, du hättest auch schon etwelches verkostet auf dieser Welt und wüßtest, was gut sei, aber so ein Schmalzmus, oder was es ist, wär' dir bislang noch nicht in den Mund gekommen. Wirst sehen, nach solcher Red' wird dein Essen zusehends vermehrt und verbessert. Sind Knaben im Haus, so machst ihnen Vogelsangen, Fischfangen und so was. Mit den Mädeln, und sind sie auch erst halbgewachsen, kann man vom Heiraten reden. Rastest dich tagelang aus und wirst sehen, wie erträglich die Zeit vergeht.«

Darauf erwiderte ich einmal dem langen Schneider: [36] »Freilich vergeht die Zeit, wenn der Reisende so von der Straße abweicht, aber wann kommt er nachher aus Ziel?«

Er ließ die Nadel stecken, wo sie stak und fragte: »An welches Ziel?«

»Wo er Arbeit kriegt.«

Jetzt stützte er seinen spitzen Ellenbogen aufs spitze Knie und sagte: »Was glaubst denn du eigentlich von einem Handwerksburschen? Meinst, er passiert die Länder, daß er Arbeit sucht? Für was stünd' er denn drei Jahr' und länger in der Lehr' und ließ' sich zum Fußhadern brauchen, wenn er nachher kein reisender Handwerksbursch werden wollt'? Jetzt haben wir die Eisenbahnen. Nichts leichter, als aus Ziel zu kommen und Arbeit zu finden. Aber kannst du dir einen reisenden Handwerksburschen denken, der auf der Eisenbahn fährt? Für was, möcht' ich bitten, werden denn neben den Eisenbahnen hin die alten kostspieligen Landstraßen erhalten, als wie für den Handwerksburschen? – 's ist ein Pläsier, kann ich dir sagen, wie kein zweites auf der Welt. Und schon gar in einem Ort, wo an jedem End' die Tafel steht: Hier ist das Hausieren verboten! – Wie sich's da ficht! Lehrbub, du weiß noch nichts.«

»Weshalb ist denn der Christian hernach bei uns eingestanden?«

»Das ist's ja,« flüsterte er, »hab' ich vor der Tür wissen können, daß ich vor einer Schneiderwerkstatt steh'? Nicht einmal ein Schild! So gescheit wäre ich schon gewesen, daß ich alsdann als Tischler oder Schuhmachersgesell' angeklopft hätte'. Und just dasmal ist's nicht erlogen gewesen, akkurat, daß ich ein Schneider muß sein! Dein Meister hat mich frei so viel, als in meinen eigenen [37] Worten gefangen. Andersteils weil jetzt Winter ist und der Mensch seinem Brot nicht gut nachkommen kann, will ich's auf etliche Wochen gleichwohl aushalten. Ein rechter Bursch' muß alles probieren auf der Welt.«

– Auch das Arbeiten! hatte er in Gedanken sicherlich beigesetzt. Übrigens war der Christian in der Arbeit flink, wenn auch zuweilen ein kleiner Schlendrian mit unterlief. Letzteres rügte mein Meister eines Tages auf Umwegen, indem er sagte: »Lehrbub, für Geschwindigkeit nimm dir ein Beispiel an Christian, für Genauigkeit an mir.«

Abends während der Lichtfeier – das ist die Stunde der Dämmerung – war der lange Christian unsichtbar. Erst knapp vor dem Lichtanzünden erschien er wieder und ging mit frischer Lust an die Arbeit.

Da stupfte einmal der Bauer, bei dem wir auf der Ster saßen, meinen Lehrmeister an der Seite, er möge so gut sein, ein »Randel« mit ins Nebenstübel zu kommen, er habe ein klein wenig was zu reden. Und im Nebenstübel soll denn der Arbeitsgeber zum Meister folgenderweise gesprochen haben: »Wenn euch Schneidern bei uns die Kost zu schlecht ist, so tut es mir nur sagen; es ist mir lieber, als wie wenn ich vor der Nachbarschaft zuschanden gemacht werde.«

»Wie denn das?« entgegnete der Meister und sah den Bauer groß an, »die Kost zu schlecht? Bei dir? Doch gar keine Red' von so was. Alles gut und genug.«

»Ja,« sagte der Bauer, »zuweg geht denn nachher dein Gesell zwischen der Lichten in die Nachbarschaft betteln?«

Der Meister wurde ganz blaß vor Schreck.

»Sie reden schon überall davon, daß der Niederberghofer [38] seine Schneider verhungern ließe, und der Gesell', wenn's dunkel wird, mit dem Brotsack ausschleiche. Wenn's so ist, habt ihr bei mir ausgearbeitet.«

Ohne ein Wort der Entgegnung rief der Meister den Christian ins Stübel.

»Möcht's frei wissen, Christian, was du zwischen der Lichten allemal machst?« fragte er mit düsterem Ernste.

»Ich? – Ein bissel in der Nachbarschaft geh' ich um, daß ich mich nach dem langen Sitzen eppas ausspring'.«

»Und tragst den Leuten das Brot stückweis aus dem Haus!« sagte der Bauer.

»Warum denn nicht,« antwortete der lange Christian, »ich bitt' ja schön drum und nachher verschenk' ich's wieder. Bei dir, Niederberghofer, hab' ich's gottlob nicht vonnöten.«

»Zu was tust es denn nachher, du alter Steinesel?« rief der Meister mit allem Zorne, dessen er fähig war.

»Weil's mich g'freut,« sagte der Geselle, »und wenn's dem Meister nicht recht ist, so kann er sich's recht machen. Wir sind nicht zusammen verheiratet. Ich mach' mich fremd.«

Mit diesen Worten sagte er die Arbeit auf.

Voller Innigkeit nahm er von uns Abschied, nachdem er mich noch eingeladen hatte, mitzukommen. Ich begleitete ihn vor das Haus und sah ihm nach. Schon an der nächsten Tür drückte er die Klinke nieder und mit einem Gesichte, das vom Glücke erhellt war, murmelte er sein: »Ein reisender Handwerksbursch' bittet gar schön...«

Noch Eins vom langen Christian
[39] Noch Eins vom langen Christian.

Ja, der lange Christian! Der will mir nicht aus dem Kopf. Auch er mußte uns in lieber Erinnerung halten, weil er so bald wieder zu uns zurückkehrte. »Das Fechten,« sagte er, »nimmt das Gewand zuviel her. Und wenn du nachher nur so einen zerrissenen Kerl vorzustellen hast, alsdann halten dich die dummen Leut' für einen Vagabunden und der Standar steckt dich in den Kotter.«

Also hatte sich das ritterliche Fechtgenie und der gewaltige Auf-Schneidergeselle aus Furcht vor dem »Standarn« wieder einmal zur Arbeit geflüchtet.

Der Christian war kein schlechter Schneider! Mein Meister vertraute ihm und mir manche Ster an, doch nur solche, an der ihm nicht viel gelegen war, und wir taten dann gewöhnlich auch unsere Schuldigkeit, ihn wirklich um die Ster zu bringen. Unser Nebenbuhler jenseits des Baches, der »ungarische Schneider«, soll insgeheim ein Gelübde getan haben: er opfere einen wächsernen Handwerksburschen, halb so lang wie der Christian, wenn dieser bewußte Christian Jahr und Tag beim Schneider Natzl verbleiben sollte; und der Christian verblieb trotz seiner angebornen Neigung zum Länderpassieren und zum Fechten, und trotz manchen zweideutigen Achtungserfolges in den Bauernhäusern bei uns, als ob er vom »Ungarischen« heimlich dafür bezahlt worden wäre.

Da war's einmal, daß der Christian und ich auf die[40] Ster beim Stixenbrunner einrückten. Das Stixenbrunnerhaus war keine gesuchte Kundschaft, da hüpften die Katzen auf dem Herd, die Hühner auf dem Tisch und die Ratten im Bett um. Dem Christian war das nicht übel; so große Tiere, meinte er, genierten ihn nicht. Um so mehr die Katzen aus der Schüssel fräßen, um so mehr brächten die Hühner anderartig auf den Tisch, und die Ratten wären – solange sie nicht durch ein Nadelöhr zu kriechen vermöchten – im Bett ziemlich unschuldig. Das weitaus Schlimmste war: das Stixenbrunnerhaus hatte keine Hausfrau.

Wer je einmal Schneider war, der weiß, was das heißt: eine Ster ohne Hausfrau. Das ist wie ein Baum ohne Frucht, wie eine Kirche ohne Gott, wie eine Nacht ohne Stern, kurzum – wie ein hungriger Schneider.

Der Stixenbrunner, ein Mann in den Jahren, wo man den besten Appetit hat, empfand ihn auch, den Mangel eines hegenden, kochenden Wesens im Hause, und eben darum ließ er eilends die Schneider kommen, daß sie ihm das Bräutigamsgewand machten.

»So geh' her, Bauer, und laß dich einmal messen,« forderte ihn der Christian und drehte den ersten Knoten in den Maßfaden. Er verstand es gut, sich als Meister zu gehaben.

Der Stixenbrunner stellte sich mit gespannten Gliedern auf, und während der Christian die stattliche Wesenheit nach allen Richtungen abmaß, fragte ihn der leutselige Bauer: »Ehevor wir zum Schneidernatzl kommen sind, wo haben wir denn gearbeitet?«

»In Amerika!« antwortete der Schneider, denn das war ja der Christian mit der göttlichen Phantasie.

[41] »So so, gar in Amerika,« versetzte der Bauer, ohne weiters überrascht zu sein, denn es muß doch auch das Amerika seine Schneider haben. »Wie tragen sich denn dort die Leute?«

»Lauter häutene Hosen,« berichtete der Christian. »Braucht keiner sein Lebtag mehr als ein Paar.«

»Du lugst 'leicht doch, Schneider!« warf der Bauer ein und zog mit beiden Fäusten sein Beinkleid stramm.

»Wer lugt?« fragte der Christian. »Ich? – Willst sie länger haben die Hosen, als die? – Lugen meinst, daß ich tät'? – Und einen doppelten Träger dazu, daß sie dein Weib nicht so bald abkriegt. – Weißt, das ist das Gute in Amerika, haben dort auch die Weiber ihre häutenen Hosen, daß sie denen der Männer nicht nachstreben.«

»Ja, was sind denn das nachher für Leute?« rief der Bauer aus.

»Wilde sind's!« sagte der Christian.

»Und die brauchen Schneider?«

»Wieso?« fragte der Christian.

»Ja, weil Er bei ihnen gearbeitet hat!«

»Als Schneider –« entgegnete der Christian – »aber was du schon für ein Bäuchlein hast, Stixenbrunner! Rein die ganze Hosenläng'! 's ist die höchste Zeit. – Als Schneider werde ich dort nicht gearbeitet haben, das kannst dir wohl denken. – Hast die Säckel gern tief? Ist im heiligen Ehestand nicht nötig, bleibt sowieso nichts drinnen. – Porträtmaler bin ich gewesen in Amerika. Dort, muß ich dir sagen, malt man nicht auf die Leinwand, herentgegen auf die lebendige Haut.«

»Wie sich bei uns in Europa die Weiber selber anmalen,« rief ich erläuternd dazwischen.

[42] »Schau du auf dein Zwirnabhaspeln, Lehrbub, und sei still,« wies wich der Geselle zurecht. – »Den Brustfleck doch ein wenig ausbandeln, Bauer? Nicht? – Leutanfarbeln heißt man's. Wie bei uns jeder Stand sein Gewand hat, so hat in Amerika jeder seine Farb'. Das Kind wird schwarz angestrichen; junge Männer, die vor den Feind müssen, karminrot, weil diese Farbe schießt; die alten Jungfrauen grün und gelb, die Ehemänner blau. – Brauchst auch einen Uhrsäckel, Bauer?«

Der Stixenbrunner zog seine dickleibige Taschenuhr heraus, um zu sehen, wie lange der Schneider an ihm schon herumtue.

»Die kenne ich,« sagte der Christian, »diese Uhr kenne ich. Ist's nicht der Adamrosel ihre?«

»Kennt Er sie, der Schneider, die Rosel?«

»Mag schon sein, daß er sie kennt, der Schneider, die Rosel.«

»Ist recht gescheit, nachher ist aufs Jahr, wenn der Schneider mit Gottes Willen wiederum kommt, die Bekanntschaft mit der Stixenbrünnerin schon da.« –

Auf diese freundliche Bemerkung war mein Christian verstummt. Und als der Bauer endlich die Stube verlassen hatte und der Christian auf dem Haustisch das schwarze Tuch ausbreitete und auf demselben mit der Kreide die Formen zu zeichnen begann, sah ich, daß letzteres ganz ohne Beihilfe des Maßfadens geschah. Er zeichnete das Haupt eines sehr gutmütigen Wiederkäuers mit langen Ohren.

»Was macht denn der Christian?« fragte ich beklommen.

»Porträtmalen,« antwortete er.

[43] Plötzlich schleuderte er die Kreide auf den Fußboden, daß sie in mehrere Stücke auseinandersprang, schritt rasch an mich heran, der ich auf einem Dreifuß hockte und über meinen ausgespreiteten Knien den Zwirn abhaspelte, und zischelte mir sehr leise und sehr nachdrücklich ins Gesicht: »Jetzt heiratet mir dieser erz-kreuz-sakermentische Bauer meine Schöne weg!«

Mir glitt vor Schreck der Strehn vom Knie, daß in den Fäden eine arge Verwirrung entstand.

»Aber!« pfauchte er und sprang einen Schritt zurück, daß er auf die knisternde Kreide trat, »ich räche mich, wie sich vor mir noch kein Schneider gerächt hat!«

»Wir schleichen uns davon!« riet ich, um Schlimmerem vorzubeugen.

»Nein, du einfältigster aller Lehrbuben! Wir bleiben da, wir machen dem Nebenbuhler das Bräutigamsgewand – aber wie!«

Es war eine bange Stunde. Der Christian zeigte mir – mich gleichsam zum Mitschuldigen machend – den Maßfaden mit den vielen Knoten.

»Er ist schön gewachsen, das läßt sich nicht leugnen,« sagte der fürchterliche Geselle, »aber an diesem Faden hängt seine Schönheit! Die innere Hosenlänge mache ich zur äußeren, die Bauchweite zur Knieweite, die –«

»Christian!« rief ich empört drein, »denk', daß Gott im Himmel lebt!«

»Der wollt' mir nicht bange machen,« sagte der Heide, »aber der Meister auf Erden! Den Wochenlohn abziehen, das Gesellenbüchel verschandieren – oh nein, meine schöne Rosel! So hoch dich estimieren, die Freud' tu' ich dir nicht an.«

[44] Er begann zu arbeiten, und zwar ganz regelmäßig, das heißt ein wenig flink, ein wenig flott und ein wenig schlampig.

»Der Christian,« so fuhr er nun halb für sich, und ich denke doch auch halb für mich, fort, »der Christian, meine Schöne, der hat schon ganz andere fahren lassen, als du bist! – Im Sachsenland ist's gewesen, auf der Länderpassier, daß ich auf der Landstraße dahermarschiert bin, sein und aufrecht, wie mich Gott erschaffen hat, und ein Liedel dazu. Fährt eine Herrschaftskalesch daher. Vier Rösser, zwei Diener und eine Frau. Eine Frau! Ich sag' nichts weiter, als daß ich mir gewunschen hab': Wär' ich der Kaiser Napoleon, die müßt' ich haben! – Die Frau, mich sehen und die Kutsche halten lassen, ist eins. Ein so schöner Mann! sagt sie und zu ihrer Seiten täte Platz sein, wann ich wollt' mitfahren. – Gnädige Frau Gräfin, sage ich, oder was Ihr seid! und mach' meine höfliche Verbeugung. Wie wir ins G'schloß kommen, ein sehr ein schönes G'schloß! muß ich mit ihr Nachtmahl essen und die Lakeln (Lakaien meinte er) haben nur einmal Augen gemacht. – Ich sollt' nur zum Trinken schauen! sagt sie, und der Wein! Ein sehr ein guter Wein! Und das verliebte Gesichtel von ihr! – Durchlauchtigste Fürstin, sag' ich, oder was du bist. Und nach dem Essen, da zieht sie das Seidenmantill aus und –«

»Aber tu' der Christian doch nicht gar so stark lügen!« war an dieser Stelle mein Einwand.

»– und ich sollt', sagt sie, dran das Futter anheften, das sich losgetrennt hätt'! – So, sage ich, zum Flicken hast mich mitgenommen, Majestät, Frau Königin, oder was du bist! – Auf der Stell' hab' ich zusammengepackt [45] und bin auf und davon in der kohlrabenfinsteren Nacht. Eine sehr eine finstere Nacht!«

»Langer Christian!« sprach ich und legte den aufgewickelten Zwirnknäuel auf den Tisch, »daß ich mich selber so anlügen wollt', das täte ich nicht.«

»Ich lüge ja nur dich an!« rief er lachend, »und jetzt, da hast ein Vorderteil, kannst die auswendige Naht machen.«

Auf solche Weise ist dieselbige Ster angegangen. Und sie hat sich alsbald zur schönsten Poesie entfaltet, denn der Stixenbrunner hatte ein großes Faß mit gut gegorenem Holzapfelwein im Keller und davon brachte er uns jeden Vor- und Nachmittag einen Krug voll auf den Tisch.

»Den Holzäpfeln,« sagte da der Christian einmal, während er sich nach einem Zug, der so lang war als er selber, den Mund wischte, »den Holzäpfeln, wie sie höllisch hart und sauer auf dem Schlehenbaum wachsen –«

»Auf dem Holzapfelbaum, will der Christian sagen,« redete ich drein.

»Das mag bei deinem Vater daheim der Fall sein,« entgegnete er entrüstet, »anderswo, wenn du in der Welt herumgekommen wärest– ! Kurz und gut, den Holzäpfeln möchte man's nicht ansehen, daß soviel süße Teufelei drin steckt. – Die vordere Naht wird gesteppt. Keine Seiden ist nicht da? Nachher paspulier' mit Spagatschnüren!«

Ich merkte, der Wein hatte seine Feindseligkeit gegen unseren Arbeitgeber noch nicht ganz ertränkt. Wie konnte das noch werden? Und wie wurde es?

Eines Abends war der Stixenbrunner im Sterben! Bei Bräutigamen ist der Brauch, daß sie während ihres [46] Brautstandes täglich eine Messe hören. Man trifft da mit der Braut zusammen, führt sie ins Wirtshaus, wo ihre Zeche mitunter schon aufs Kerbholz der Hochzeitsgäste kommt, begleitet sie ein Stück Weges nach Hause und übt sich ein wenig auf den heiligen Ehestand ein.

Von einem solchen Kirchgange war der Stixenbrunner krank nach Hause gekommen. Er mußte sich ins Bett legen, klagte über Kopfschmerz, Durst, Frost und Hitze, und am Abende war er im Delirium. Mein langer Christian war überaus aufgeregt, trug Kruzifix, Weihwasser und Sterbekerze zusammen und war unermüdlich in Aufzählung von Personen, denen er bereits sterben geholfen. Der Bauer wollte aus dem Bette springen, und da man ihn in demselben festhielt, schrie er mit heller Stimme: »Schneider Christian, du bist ein Ochs!«

»Gottlob!« sagte der Christian, »kennen tut er mich noch.«

Hierauf lief er ums Bügeleisen, das er an der Herdglut heiß machte; er wollte Essig drauftropfen und verdampfen lassen. »Der Essigdampf,« sagte er, »ist das allerbeste Mittel, hat auch dem Kirchberger Bader geholfen, wie ihm das Hirn im Kopf ist schimmelig worden.«

Aber die Magd, welche die Haushälterin machte, beklagte, daß kein Tropfen Essig im Hause sei.

»Holzapfelwein tut's auch!« rief der Schneider.

Als der Kranke das Wort hörte, klagte er über Durst.

Doch der Christian versteckte das Trinkglas und trug den Hausleuten mit heiligem Ernst auf: »Nur keinen Wein geben! Das wäre Scheidewasser – scheidet Leib und Seele augenblicklich auseinander.«

Als Schlafenszeit war, stand der Christian noch lange [47] im Stübel des Bauers und blickte tiefster Wehmut voll den blassen schlummernden Kranken an.

Als wir, der Christian und ich, hernach in der Vorstube in unserem gemeinsamen Bette lagen, vertraute mir der Geselle: »Ich habe schon Abschied genommen vom Stixenbrunner für diese Welt. Das Bräutigamsgewand legen sie ihm morgen an für die Reise in die Ewigkeit. – Mich gefreut bei der ganzen Geschicht' nur die Rosel.«

Und in solcher Freude und Trauer ist er sanft eingeschlummert. Ich befahl in meinem Nachtgebet alles, was da lebt und liebt und leidet und stirbt nach gewohnter Weise der Gnade Gottes, und dann war auch ich nicht mehr.

Ich weiß den Traum nicht, der mich in derselbigen Nacht geängstigt; es war diesmal auch nicht der Arm des Christian, der beklemmend sich sonst so gern über meine Brust schmiegte, weil der Traum dem Gesellen im Schlafe das tat, was er im Wachen anderen – er log ihm was vor. Mir war's diesmal doch ein anderes, das mich plötzlich aufweckte und noch im Wachen unbeschreiblich ängstigte. Es mochte um Mitternacht sein, in der großen Stube war ein seltsamer Schein und an der Wand glitt langsam ein Schatten hin. – Ich wollte den Christian wecken, aber ich vermochte keinen Laut von mir zu geben. Und siehe – jetzt schwebte im blassen Gewand eine schlanke Gestalt, in der rechten Hand eine Urne tragend, dahin – deutlich sah ich das fahle Antlitz des Stixenbrunner. Bevor mir's noch gelang, mich zu einem Lebenszeichen zu ermannen, war die Erscheinung wieder verschwunden.

Schaudernd weckte ich jetzt den Genossen.

»Kränken tut's mich, Rosel, daß du mir nichts willst glauben,« lallte er noch im Traume.

[48] »Wach' auf, Christian! Der Bauer ist gestorben!«

Da war er munter.

»Wer hat's gesagt?« fragte er.

»Du nicht, Christian!«

»Nachher kann's wahr sein.«

Wir machten Licht. Die Stube war wie sonst.

»So werden wir ihn nu halt einmal auf die Bank legen gehen,« sagte der Geselle, »aber nicht so, wie der ungarische Stuhlrichter seinen Mann – auf den Bauch. – Wo hab' ich denn meine Socken?«

»Auf den Füßen, Tollpatsch.«

»Du hast recht, Jüngling. Und jetzt hübsch traurig sein, wir gehen zum Toten.«

Hierauf zogen wir uns an und weckten ein paar Hausleute.

Gingen dann an die Tür des Sterbezimmers und öffneten sie leise. Da saß er mitten in seinem Bette aufrecht und hielt mit beiden Händen den großen Schneiderkrug an den Mund und trank. Und trank unaufhörlich.

Er bemerkte uns nicht und der Christian zog die Tür zu und murmelte etwas eintönig: »Jetzt können wir wieder schlafen gehen.«

Die Geistererscheinung war nun erklärt: Der Bauer hatte sich aus dem Keller den Krug Wein geholt.

Am nächsten Morgen ging er nicht in die Kirche, aber gegen Mittag kam er aus seinem Stüblein hervor, setzte sich zu uns an den Tisch, schaute dem Christian zu, der den Boden der Hofe auf eine Tischecke stülpte, stopfte eine Pfeife an und rief: »Einen solchen Herrn hab' ich mir schon lang nicht heimgetragen, als wie gestern.«

»Bist ihn jetzt los?« fragte der Christian, ohne ihn[49] anzublicken, hieb dabei aber mit dem Bügeleisen so derb auf die Kreuznaht, daß das Haus erbebte.

»Die größten Räusche,« sagte der Bauer mit der Würde des Spruches, »die größten muß man sich wieder heraussaufen.«

»Mein größter,« erzählte der lange Christian, »hat siebenundzwanzig Tage gedauert. Und noch zur Sommerszeit, wo die Tage so lang sind.«

»Und in den Nächten?«

»Hab' ich mir ihn allemal nachgebessert, so lange, bis die väterliche Erbschaft nach der Vaterlehre bis auf den Pfennig verwendet war. – Mein Sohn, hat er gesagt, mein guter Vater, viel ist's nicht, was ich dir hinterlassen kann. Vergeude es nicht, auf geistige Genüsse verwende es, das ist der beste Gebrauch. Ich bin ein höllisch leichtsinniger Mensch, aber das kann ich mir in der Sterbestunde sagen: Des Vaters letzten Willen habe ich redlich vollführt.«

»Ich meine, Schneider, von Ihm läßt sich was lernen,« sprach der Bauer und ging nun langsam seiner Arbeit nach.

Der Christian bügelte weiter und war nachdenklich. Mehrmals legte er den Finger an die Nase, kraute sich hinter dem Ohr, sann und bügelte.

»Ein bayrisches Gröschel wollte ich geben,« murmelte er endlich, »wenn ich wüßte, ob das mit dem siebenundzwanzigtägigen Rausch auch wahr ist!«

»Das wird wohl der Christian selber am besten wissen,« meinte ich.

»Gehört,« sagte er und warf das fertige Kleidungsstück auf die Bank hin, »gehört habe ich's schon sehr oft, [50] und aus meinem eigenen Munde! Ich sehe auch alles klar vor mir, das Wirtshaus, das Trinken und das Hinausfliegen bei der Tür, wie der Wirt mit dem rechten Fuß nachhilft – das alles sehe ich vor mir. Aber wenn ich anderseits halt bedenke, mein Freund, wie mancher Mensch aufschneiden tut...!«

So log der Christian denn mitunter so lange, bis er's selber glaubte, und glaubte es so lange, bis er dahinter kam, daß es niemand als er selber gesagt habe. Als der Stixenbrunner Hochzeit hielt und die Braut den Christian, der seines überschlichten Anzuges wegen hinter den Musikanten stand, im Vorübergehen freundlich anlächelte, schlug er die flachen Hände zusammen und rief: »So ist's doch wahr, daß wir zwei einmal ineinander verliebt gewesen sind! Mir selber hätt' ich's nicht geglaubt.«

Vom Gesellen Wenzelaus
[51] Vom Gesellen Wenzelaus.

Ein andermal hatten wir einen Gesellen, der hieß Wenzelaus Kragerl – sein Name stehe nun einmal schwarz auf weiß, da er doch so oft weiß auf schwarz gestanden, an der Tafel beim Hauerwirt, beim Kreuzwirt, beim Goldenen Löwen, beim Grünen Baum usw. Der Wenzelaus Kragerl war ein Kiselak der Wirtshäuser.

Er arbeitete bei meinem Meister über ein Jahr; er war ein geschickter und fleißiger Kleidermacher; der Meister überließ ihm oft das »Zuschneiden«. Er konnte wochenlang, selbst ohne Unterbrechung an Sonn-und Feiertagen, auf einem Fleck sitzen und arbeiten; wenn es ihn aber doch einmal drängte, eine heilige Messe zu hören, so verfehlte er gottsunselig die Kirche, kam ins Wirtshaus hinein und blieb auf einem Sitz tagelang drinnen, bis der letzte Kreuzer vertrunken war. Er trank Wein, zuerst ohne, später, mit und schließlich wieder ohne Wasser; ganz zum Schlusse versickerte die Sache in Schnapsgläschen, zu deren Frommen, wenn es darauf ankam, er sich seines Taschenmessers, seiner Sacktücher, seiner Halsbinde und dergleichen überflüssigen Dinge entäußerte. Hernach suchte er wohl wieder die Werkstatt auf und war an den ersten Tagen etwas mißmutig, man wußte nicht recht, ob über das vertrunkene Geld, oder über das vermißte Weinglas. Indes munterte ihn die Arbeit und dadurch die neue Anwartschaft auf neue [52] Freuden bald wieder auf, er war leutselig, stets zufrieden mit Kost und Pflege und oft, während der gute Meister wegen mißlicher Zubereitung der Speisen über verschiedenerlei innere Beschwerden ächzte, sang und erzählte der Geselle Kragerl die lustigsten Possen. Und so wußte sich der brave Schneider beim Wirt und bei den Arbeitgebern beliebt zu machen und alle, die ihn kannten, ehrten ihn ob seiner Beharrlichkeit.

Eines Montags früh schickte der Meister den Gesellen und mich zum Bauer unter der Alm. Das war das letzte Haus oben auf dem Berge, es stand wie ein Wärzchen auf hoher Stirne, darüber filzte sich schon das braune Gelocke des Gezirms und noch weiter oben breiteten sich die Glatzen der kahlen Kuppe vom Stuhleck. Von diesen Höhen nieder war mancher Schrund, manche Schlucht durch Wetter und Wasser in den Erdboden gerissen und das Haus unter der Alm stand unheimlich eingefriedet von solchen Gräben und Riesen, in welchen Wässerchen rieselten. Im Hause selbst war es recht wohnlich, und die Leute empfingen und behandelten uns – die wir aus dem Tale kamen, aus der Weltgegend, wo eine Kirche stand und ein ganzes Dorf voll aller Herrlichkeiter. – mit Ehrfurcht und suchten uns mit allem, was sie vermochten, zu entschädigen dafür, daß wir aus der großen Welt in die Einöde hinaufgestiegen wären, um ihnen Hosen und Joppen zu machen. Und da sagte Wenzelaus Kragerl einmal zu mir: »Lieber im letzten Häusel der Erste, als im ersten Dorfe der Letzte sein!« Er hatte nämlich zur selben Stunde bereits Erkundigung eingezogen und in Erfahrung gebracht, daß gegen die Rättenegger Seite hin, eine Stunde von unserer Ster, ein Holzmeisterhaus [53] stehe, in welchem Tabak, Wein und Branntwein zu haben wäre. Er gedachte zur Stunde vielleicht kaum, mit dem Hause in Verbindung zu treten, doch die Nähe und Möglichkeit beseelte ihn, das äußerte sich im schönen Schwunge, welchen er in den Zuschnitt der Lodenkleider legte.

Zur Zeit der Lichtfeier ging ich gern ums Haus herum, erstens, um mit den Augen unten im Talkessel die Häuser aufzusuchen, an welche sich Erinnerungen knüpften, zweitens, um mir die Höfung des Almhauses zu betrachten, mit irgendeinem Jungen zu rangeln, eine Magd zu necken, oder ähnliche Ergötzlichkeiten eines halb übermütigen, halb schwärmerischen Schneiderlehrlings zu treiben. Auf solchem Rundgange um das Haus bemerkte ich eines Tages oben auf dem Dache einen großen hölzernen Hammer, welcher durch Schnüre mit einem der Wassergräben in Verbindung stand. Ich fragte den Bauer, was diese Vorrichtung bedeute.

»Das ist der Nachtwächter,« antwortete der Bauer, »wenn's ein Gewitter gibt, so haben wir, seit da oben die Lahn ist abgerutscht, allemal Wasser; ja ein' solchen Laster, man glaubt's nicht! Seit ich beim Haus bin, hat's uns zweimal den Stall weggerissen. Nachtig Stund' ist's: bis das Gebäude kracht, daß man's wahrnimmt und in die Hosen sind't und zu Hilf' kommen kann, ist schon alles g'fahlt. So hab' ich mir da ein Z'sammg'richt gemacht. Oben im Wassergraben ist eine Wehr und gleich wie das Wasser ein Eichtl höher steigt, als wie für gewöhnlich, richtet's ein Radel an, die Schnur zieht und der Hammer auf dem Dach hebt rechtschaffen zu klöckeln an, daß wir gleich munter werden. Auf solches Wecken sind wir auch noch allemal früh genug hinauskommen, [54] eh' der Schwall ist dagewesen, und daß wir geschwind haben können vorarbeiten.«

Das Handwerkerbett stand auf dem Dachboden, gerade unter dem Hammer; somit schienen wir vor der Gefahr des nächtlichen Ertrinkens im Schlafe gesichert zu sein.

»Eh weh, das Wasser,« bemerkte der Geselle Kragerl, »das hab' ich ohnehin im Magen, daß ich's gar nicht sagen kann und allerweil kommt's mir vor, die Wasserscheu wird noch einmal mein Tod sein.«

Eines Tages ging ihm der Tabak aus. Gegen Abend sagte er zu mir, daß er gehört habe, drüben im Holzmeisterhause sei Tabak zu bekommen und er wolle sich welchen holen. Ich erschrak unwillkürlich über dieses Vorhaben und bot mich an, ihm um die Lichtfeierzeit Tabak holen zu wollen. Er entgegnete, daß er diesen Dienst nicht annehmen könne, da er wisse, daß ich – ohnehin nur eine einzige Stunde des Tages frei habend – dieselbe gern mit dem Hausgesinde auf dem Anger oder in der Scheune zubringe; zudem fühle er sich selbst durch das viele Sitzen so verkrümmt und eingetrocknet, daß ihm das kleine »Sprüngel« zum Holzmeisterhause hinüber gar nicht schaden werde.

Solch doppeltem Beweggrund widerstand ich nicht. Der Wenzelaus ging und kehrte nicht zurück. Ich schlief dieselbige Nacht allein unter dem Hammer und schlief die folgende Nacht allein. Des Tages über nähte ich mit Fleiß, wurde aber von Stunde zu Stunde trübsinniger.

Man fragte, wesweg der Geselle nicht da sei? Ich teilte meine Vermutung mit und arbeitete. Man legte der Abwesenheit keine Bedeutung bei und überhäufte mich, den treulich Verharrenden, mit um so größeren Auszeichnungen. [55] Sie ahnten nicht, daß diese Auszeichnungen für mich von Stunde zu Stunde drückender wurden; sie ehrten in mir den Vollendeten und ahnten nicht, wie nahe ich der Grenze meines Könnens stand. Das Zugeschnittene war fast ausgearbeitet; sollte ich es gestehen, daß ich noch Lehrling sei, der zum Zuschneiden weder berechtigt noch befähigt ist? Oder sollte ich gehen, den Wenzelaus zu holen? Aus Erfahrung wußte ich, daß dieses nicht tunlich sei. Einst, als mich der Meister geschickt hatte, den Gesellen aus dem Wirtshause zu bringen, hatte mich der Mensch anfangs zwar mit Jubel empfangen und zu seiner Tränke treiben wollen, dann aber, als er mein Begehren hörte, mich derb davongejagt. Er wußte eben keinen Raum auf Erden, in welchem er sich als freier Mann, ja als Herr fühlen konnte, als das Wirtshaus; und so war er im Zeichen des Weinzeigers ein rabiater Geselle. Demnach entschloß ich mich, wenn der Wenzelaus am Abende des zweiten Tages nicht komme, dem Herrn Arbeitgeber höflich zu gestehen, daß ich mit der zugeschnittenen Arbeit fertig und somit petschiert wäre. Der Abend kam, der Wenzelaus nicht; so habe ich denn meine Mitteilung gemacht.

»Hu – hu!« stieß der Bauer unter der Alm hervor und machte ein saures Gesicht, »das ist rar.«

Ich machte wohl den Vorschlag, daß ich's versuchen wolle, irgendein Stück zuzuschneiden, wenn sich ein's wollt' anmessen lassen.

»Ist halt eine zuwidere Sach',« meinten sie alle, »von einem Lehrjungen was zuschneiden lassen; wenn der Loden verschnitten, der Janker vermacht wird – wer steht gut dafür?«

[56] Was ich dazumal litt! Wie ich den Gesellen verfluchte – selbst meine eigene, unselige Existenz verwünschte!

Da war ein Mädchen im Hause – ein schon betagtes – welches meine innere Pein geahnt haben mußte.

»Wenn er keine andere Arbeit mehr hat, der jung' Schneider,« sagte es, »ich bin froh, wenn er mir mein Jöppel anmißt und macht; wird schon recht werden, ein Faltel mehr oder eins weniger, da bin ich nicht so heikel.«

Wahrlich, in demselben Augenblicke hatte ich dem Mädchen auch alle Fältchen verziehen, die auf seinem so wohlwollenden Gesichte tagten. Ich maß ihr das Jöppel an und verständigte mich mit ihr in schönen Ehren, in welcher Form, wie weit, wie lang sie das Ding haben wolle. Danach machte ich im Meßfaden meine Knöpfe, achtend darauf, daß ich später auch wisse, was jeder Knopf zu bedeuten habe. Denn möglich wäre es bei einem solchen Lehrling mit einem solchen Faden an einer solchen Joppe für einen solchen Kunden-daß das gottverlassenste Zeug zustande käme.

Dann nahm ich die große Meisterschere des Gesellen zur Hand und schnitt im Namen Gottes in den Loden.

Daß ich die nächste Nacht kaum ein Auge schloß, ist denkbar. Ich fühlte mich gedrückt und gehoben zu gleich von der Wucht der Aufgabe, die ich auf mich genommen hatte. Die Teile waren geschnitten, das Los gefallen, aber morgen erst sollte es sich zeigen, in welcher Weise. Als ich endlich einschlummerte, hatte ich Traumbilder. Ich sah das Mädchen, das betagte, mit der neuen Joppe. Ein Ungeheuer war's. Dem reihten sich noch andere Bilder an, verschiedenen Gehaltes, das eine ängstigte mich, das andere versöhnte mich wieder. – Plötzlich [57] hub es über meinem Haupte an zu hämmern, daß es hallte und schallte. Ich sprang auf und rief laut: »Leute, eilends, eilends! Das groß' Wasser ist da!«

»Was hat denn heut' der dalkerte Schneider?« sagten die Leute aus ihren Winkeln, »wie wird jetzt ein groß' Wasser sein, ist ja draußen schöne, sternhelle Nacht!« Dieweilen hörten sie aber auch selbst das Hämmern und standen doch auf und gingen, um nachzusehen, was denn vom Poltern des Hammers auf dem Dache die Ursache sei.

Und haben diese Ursache auch gefunden.

Oben in der Wehr lag der Wenzelaus. Der hatte durch seinen Körper den gewöhnlichen Abfluß des Wassers verhindert und das Signalrad angerichtet. Und der gute Hammer auf dem Dache pocht nicht allein, wenn Wasser kommt, sondern auch wenn ein Schneider in den Bach fällt. Bald war der Schneider aus dem Wasser gezogen. Es war kein Leben in ihm. Der Bauer knetete ihm den Magen, rieb mit aller Gewalt an der Herzgrube, stellte ihn auf den Kopf, und das war dem Wenzelaus denn doch zu dumm. – Er kam zu sich und war sehr erstaunt, daß er heute gleichwohl so viel Wasser getrunken habe. Mittlerweile war auch der Rausch, der ihn auf dem Heimwege in den Bach geworfen hatte, verflogen, und er ward allmählich wieder ein Schneidergeselle wie vor und eh'.

Endlich war meine Joppe fertig geworden. Klopfenden Herzens half ich nach, als sie das Mädchen anprobierte; sie war geraten, nur über dem Busen war sie viel zu weit.

»Dafür kann der Schneider nichts,« sagte Wenzelaus. Und mit diesem Worte hat er meine Verzeihung, meinen Respekt und meine Liebe sich wieder erworben.

Einer jener Tage
[58] Einer jener Tage.

Für mich bin ich schon aufgestanden. Gern möcht' ich auch für dich aufstehn, Bub! Aber das tut's halt nit!« Solche Worte hat die Mutter mir ins Bett hineingesagt, ins warme, trautsame Nest, wo die Heimat der Träume ist. Also schäme ich mich und stehe auf. Und esse die brotbebrockte Milchsuppe, und hänge mir die Seitentasche über die Achsel, und nehme die Elle als Stecken und das Bügeleisen als notwendige Zuwag' zum Schneidergewicht, und sage: »So, Mutter, jetzt geh' ich!« und gehe davon.

Es ist der Abschied für eine Woche. Genügt da ein: »So, Mutter, jetzt geh' ich?« Die Mutter segnet zurück: »Ja, so geh' halt in Gottsnam!«

Und dann eine Stunde des Wanderns im Morgensonnenschein – der dusteren, mürfelnden Bauernstube zu, die mich festhalten wird vom Montagmorgen bis zum Samstagabend. Als ich eintrete in das Bauernhaus, wo wir die Ster machen sollen, ist es anfangs völlig finster; das Auge; noch voll Sonnenschein, gewöhnt sich erst nach und nach an den dunkeln Raum. Soviel sehe ich bald, der Lehrmeister ist schon da, hat auf dem Leuttisch den Loden aufgerollt und schneidet aus demselben menschliche Körperteile. Ich sage: »Guten Morgen, Meister!« Er antwortet [59] nicht. Das ist der Schopfbeutler für den Lehrling, der um eine halbe Stunde zu lang geschlafen hat. Ich setze mich an den Tisch und packe das Werkzeug aus der Tasche. – Schere, Pfriemen, Wichswachs, Nadelkissen, Fingerhut. Ich stemme die Knie, das ist der Haspel für den Zwirnsträhn, den ich auf den Knäuel wickle. Dann wirst mir der Meister schon die Hosenteile hin, die sachkundig zusammenzunähen sind. Er gibt mir absichtlich eine Arbeit, die ich schon kann, denn zum Unterweisen ist er heute nicht aufgelegt. Auch pfeift er kein lustiges Liedel wie sonst beim Zuschneiden, wenn ihn kein Kopfweh oder kein Lehrbub ärgert. Mir tut's ein wenig leid, weiß aber schließlich, daß weniger meine kleine Verspätung Ursache ist als der gestrige Sonntag, da der Meister sich gewiß wieder mit dem Seidel Schwefelwein einen Kopfwehtag gekauft hat. Die Bäuerin macht auf dem großen Herd Feuer für das Mittagsmahl. Der Rauch bedeckt schon die Stubendecke, so daß es über uns wie ein Wolkenhimmel ist. Zeitweise, wenn etwa kämpfendes Hühnervieh den Raum durchflattert, wird der Rauch niederwärts gepeitscht und umflort unsere ohnehin trüben Gesichter, bis er allmählich bei einem Oberfensterl abziehen kann. Mitten aus diesen Nebeln eine singende Dirndelstimme: »Wenn der Frühling kommt – durch die Berge schaut, – wenn der Schnee im Tal – und auf den Höhen taut, – wenn die Bächlein quellen und die Knösplein schwellen, – ist des Lebens schönste, goldene Zeit.«

Des Lebens schönste, goldene Zeit! So hallt es von der süßen Stimme nach in der armen Seele des zwanzigjährigen Burschen. Sie, das Haustöchterlein, ist siebzehn – die so singt. Als der Rauch verdampft, sehe ich ihr [60] Apfelgesichtlein mit den zwei Kirschen drin, die mich gerne anlachen und denen kein Rauch was schaden mag. »Des Lebens schönste, goldene Zeit!« – vor lauter Wonne steche ich mich unversehens in den Finger. Bald ist ein Blutströpflein da und schaut mich an, als wollte es schmerzlich ein wenig lächeln. »Des Lebens schönste, goldene Zeit«... der Meister winkt mir mit den Augen gegen die Herdglut. Das Bügeleisen! Ich gehe und lege es ins Feuer; über die »schönste, goldene Zeit« vergesse ich des Stahls, und er ist rotglühend, als ich ihn endlich herausziehe. Der Meister stellt mir den Antrag, damit den Hinterteil meiner eigenen Hofe am Leibe ausbügeln zu wollen. Dieser Antrag, so unerhört er klingt, ist das erste Zeichen der Verzeihung. Wenn der Meister nur erst einmal den Mund auftut, das weitere gibt sich. Ich steige zum Trog neben dem Herd und stoße das Bügeleisen ins kalte Wasser, daß es donnert wie eine Wolke im Gewitter. Dann bügle ich die fertiggestellte Hosennaht. Der Meister prüft dann, ob sie versengt ist, und schweigt. Das sagt soviel: Es ist in Ordnung.

Jetzt kommen die Leute ins Haus, der Bauer, die Buben, die Dirnen; wir räumen den Tisch ab, die Bäuerin deckt ein Rupfentuch drüber und holt aus der Lade das Eßzeug; der Bauer schneidet Suppenbrot in die Schüssel, dann gemeinsames Tischgebet. Hernach setzt sich alles zu uns um den Tisch – Mittagessen! Gekocht wird gut. Die Bäuerin hat nicht Zeit, bloß nebenbei betreibt sie das Schmalzen und Sieden; das weitere überläßt sie dem besten Koch. Der Hunger tut das Seine. Der Lehrling muß warten, bis alle anderen mit Löffeln oder Gabeln in die Schüssel gefahren sind, und muß aufhören, bevor [61] der Meister Löffel oder Gabel weggelegt hat. Wenn der Meister Kopfwehtag hat, ist die Frist eine äußerst kurze. Um so stattlicher wird bei jedem Zug der Löffel gegupft oder die Gabel belastet. Die Zähne besorgen eilig nur das Allernotwendigste. Ein übriges hat der Mund beim Essen nicht zu tun, der Lehrbub hat zu schweigen; die Ohren spannt er auf, daran, was andere sprechen, hat er den Mitgenuß. Ob's regnen wird oder schön bleiben! Das dürre Heu. Der krummgewordene Ochs und das verlaufene Kalb. Das Unkraut im »Habern« und wieder das Heu. Der Kramer, der die Wage verbessert, indem er unter der Warenschale ein Blechblatt anlötet. Des Nachbars Jungmagd, die man schon eine Weile nicht mehr in der Kirche gesehen hat, weil ihr voran der Kittel zu kurz wird. Derlei wird bei Tisch besprochen, und dann allemal wieder das Heu!

In einer halben Stunde ist solcher Mund- und Ohrenschmaus vorüber, der Tisch wird abgeräumt, die Leute verziehen sich träge oder schleunig, je nachdem der Bauer scharf ist, und wir schneiden und nadeln und bügeln unsere Arbeit weiter.

Ich mag nach solchen Mahlzeiten nicht scheinen lassen, wie mir ist. Ich habe nach dem hastigen Schlingen allemal eine halbe Stunde Magenkrampf, doch bald ist wieder obenan die schöne, goldene Jugendzeit, die in keinem Rauchkobel erstickt, von keinem Magenkrampf erdrosselt werden kann. Dem Meister werden beim Nähen die Hände matt und endlich bleiben sie sachte liegen auf seinem Knie. Der Kopf nicht nach vorne, ein kleiner Dusel ist gekommen. – Ich schau ihn an. Ein gutes Gesicht hat er und Kopfweh hat er. Ich will recht [62] ordentlich sein, und nicht wieder zu spät kommen, und nicht mehr das Bügeleisen braten lassen – will ein braver Bub sein. – Ja, die Katz'! Wenn die Katz' nicht wär'! Der große Hauskater. Er hat sich auf der Wandbank herbeigeschlichen, hockt hinter des Meisters Rücken mäuschenstill und leckt mit dem weichen Zünglein die Schnauze. Dann wendet er den dreieckigen Kopf und versucht mit linden Pfoten einen Aufstieg über den Buckel, bis er glücklich auf dem Nacken hockt und über den Glatzkopf auf mich herglurrt mit seinen grünlich-funkeln den Augen. – Das ist aus, ich kann's nicht mehr verhalten. Und wenn der Himmel einfallt, ich kann's nicht mehr verhalten – hell aufkreischendes Lachen. Der Meister zuckt aus dem Schlaf und will brummen, da hüpft der Kater über sein erschrecktes Gesicht auf den Tisch herab.

Jetzt wird des Meisters gutes Gesicht anders, ganz anders als sonst. Langsam aufsteht er und leise sagt er zu mir: »Na, hörst, Bub! Was du dir für Sachen derlaubst mit mir!« – Mein Lachen ist putzweg und meine Beredsamkeit, die ich plötzlich spielen lassen muß, will kaum schlaunen, um den Meister zu überzeugen, wie unschuldig ich an dem respektlosen Kater bin.

»Also, was hast denn z' lachen?« ruft er. Doch noch ehe ich antworten kann, birst auch sein Gesicht, und wir lachen ein kräftiges Duett. Mit der flachen Hand über die Glatze fährt er sich, »so a Luader!« ruft er lachend. Der Kater ist fort, der andere vom Schwefelwein auch, mit ihm das Kopfweh, und der Meister plaudert wieder gemütlich, wie selten ein Meister mit seinem Lehrjungen plaudern wird. Mein Meister hat mir stets das [63] Größte getan durch sein Schweigen. Überhaupt ist des Schneiders Strenge nicht arg gefährlich, wenn er auch hundertmal den Arm hebt, so läßt er ihn doch immer wieder sinken, um den Nadelstich zu machen und dann neuerdings auszuziehen.

Da kommt an diesem Nachmittag ein zweites außergewöhnliches Geschehnis. Der Bauer stolpert wieder in die Stube, den langstieligen Heurechen in der Hand, weil er sich nicht Zeit nahm, ihn vor der Tür an die Wand zu lehnen.

»Schneider, heunt müaßt's außi, ih kann enk nit helf'n!«

Es ist indes kein Hinauswurf, es ist ein Gebitt. »Gras frißt der Hund, morgen regnet's,« spricht der Bauer. »Deutsch z' wenig Leut' san uns zum Heu. Geht's, Schneider, tuat's uns heunt helf'n heuheb'n, bitt' gar schön!«

»Warum denn nit?« sagt der Meister und steckt die Nadel ins Kissen, »kim mit, Bua!«

Wie so eine Gnade plötzlich vom Himmel fallen kann! Jetzt in die sonnige Sommerluft hinaus, auf die Wiese, wo sich die anderen schon tummeln, um das hingebreitete Heu in Schöbern zu sammeln. Mit hölzernen Gabeln bewaffnet machen wir mit, flinker als alle anderen. Nur eine, die Weiddirn mit den rundlichen Barfüßen, überholt uns mit ihrem Heuschübel und lacht dann übermütig auf uns her. Ich hasse sie. Ich zeige, wie viele Kraft in mir noch ist, so daß ich ein übriges tun kann, kopfüber in den Heuhaufen fahren, auf dem Kopf stehen und mit den Beinen strampeln, daß das [64] dürre Gras nur so in Fetzen fliegt. Der Bauer lacht zuerst zum Spaß; das zweitemal zerrt er bloß das Gesicht zu einem Lächeln; das drittemal sagt er freundlich: »Na, g'scheiterweis, Schneider. Mir müass'n firti wern heunt! Erst gehn ma noh zum Halberabendhalt'n.« – Die Bäuerin hat einen großen Topf mit Buttermilch und einen Laib Haferbrot herbeigebracht. Um diesen Schatz setzen wir uns zusammen aufs Heu und essen mit Hornbeinlöffeln gemeinsam aus der Schüssel. Diesmal brauche ich mein Löffeln nicht nach dem Meister zu richten; jetzt ist der Bauer mein Meister und der ißt vielleicht länger? Leider auch nicht, es drängt ja das Heu. Arg schnell steht er auf und treibt zur Arbeit. Ich bin's zufrieden, habe nur noch ein Verlangen: dort die Weiddirn mit den molligen Barfüßen. Die schiebt just wieder mit dem Rechen eine Heuschichte vor sich her. An ihr harmlos vorübereilend, gebe ich ihr einen Stoß, daß sie ins Heu purzelt, und laufe davon. Das ist mir noch am Herzen gelegen, dann wieder zur Arbeit.

Zur Dämmerzeit sind alle Schöber gebaut. Der Bauer schaut himmelwärts, jetzt kann's regnen. Das tut's aber nicht. über das Wechselgebirge hebt der Abend langsam die rote Mondesscheibe empor; wir streifen unsere Jacken an, nehmen Gabel und Rechen über die Achseln und gehen gruppenweise dem Hause zu. Voran die Dirnen, und die Kleine singt: »Das Landleben hat Gott geben, so heiter und froh, drum preisen die Weisen das Landleben hoch!« – Da wird mir bange. Das Landleben auf freier lichter Weite, ich hab's vertan. In den dunkeln Stuben und immer in den dunkeln Stuben! Dazu gleichgültig fürs Handwerk, als Schneider mägg mägg [65] verhöhnt, den Kopf voll Narrheiten. Nu, meinetwegen, es ist halt einmal so. – »Was soll denn aus dir eigentlich werden?« hatte der Meister, meine Ungeschicklichkeit im Handwerk milde tadelnd, oft gefragt. Das war meine geringste Sorge, ich dachte einfach nicht darüber nach. Ich hatte nie ein starkes Begehren nach irgend etwas Bestimmtem; wie der Zufall mich leitete, wie die Dinge mich schoben, so taumelte ich wegshin; es ist eine ganz unverdiente Gnade, daß ich nicht noch gründlicher verdorben bin. – Doch nun wieder zurück zu »des Lebens schönster, goldener Zeit!«

Zur Nadel setzen wir uns an diesem Heutage nicht mehr. Nach dem »Suppenessen« drängt der Meister ins Bett. Morgen früh muß die Zeit eingebracht werden, die der Handwerker heute dem Landmann geschenkt hat. Sehr ungern steige ich die finstere Stiege hinauf in die Dachkammer, wo wir unser Bett haben. Denn draußen in der Mondnacht, über den Anger her klingt wieder das Glöcklein: »Wenn der Frühling kommt – – ist des Lebens schönste, goldene Zeit!« Dort auf der Bank vor dem Flachsstübel, in dem das Dirndlvolk seine Betten hat, hocken ihrer etliche und singen. Ich liege geduldig auf dem Strohsack und warte, bis der Meister schläft. Das ist schwer zu merken, denn der Meister hat nicht die Gewohnheit zu schnarchen. Wenn er aber anhebt mit dem Mund zu schnalzen und zu lallen, dann weiß ich, er schläft. Wenn der Meister im Traum verliebt ist, so kann's der Lehrjung' wachend sein. Leichtfüßig und leise springe ich aus dem Bett, schlüpfe in die Kleider, schleiche davon – hinab, hinaus, über den Anger zum Flachsstübel, und helfe den Dirnlein singen von des Lebens[66] schönster; goldener Zeit. – Mitten drin sitze ich. Rechts das schlanke Haustöchterl, links die dralle Weiddirn. Und ist mir, als ob von dieser eine besondere Wärme ausginge. Hoch am Himmel, über den schwarzen Zacken des Waldberges, der runde, weiße Mond. Er schaut uns zu. Wie viele tausend Liebesleute mag er beobachten zu dieser Stunde, aber er sagt nichts. Um die ganze Erdkugel trägt er sein Geheimnis. Wenn der Mensch sich nicht selber verriete! Bescheidentlich will ich versuchen, ob die Weiddirn unter der Jaxen (unter der Achsel) nicht kitzlich ist – da kreischt sie hell auf. Das ist nichts. Auf einen Lärm kann man's nicht ankommen lassen. Ein Weilchen sitze ich noch da zwischen den Jungfrauen, dann sage ich sittsam »Gute Nacht!« und verziehe mich ins Haus. Es ist mühsam, über die steile Bodenstiege hinaufzukommen, ohne ein Gepolter zu verursachen. Aber es gelingt, vorsichtig lege ich die Hand an die Klinke der Kammertür. Und die geht nicht auf, der Meister hat sie von innen zugesperrt. Halb erschossen stehe ich da und sinne, was jetzt zu machen ist. Noch einmal die Klinke drücken. Dann klöpfeln. Dann halblaut rufen: »Ich bin's, Meister!« – Es hist nichts. Der Meister scheint fest zu schlafen. »Ich bin's!« mein vernehmlicher Ruf das zweitemal.

Da sagt drinnen der Meister: »Freilich bist es. Wer hat dir denn derlaubt, außi z' gehn?«

»Will ja nit außi, will eini!« verbiege ich den Handel. »Meister, 's is kalt. Wann der Meister nit ausmacht, muß ich in das Flachsstübel übri.«

Das ist der richtige Sesamspruch. Von innen knackst das Schloß, die Tür gibt nach, bald bin ich unter der Decke und denke: Es ist gescheiter so.

[67] Der Meister tut nichts desgleichen und schläft. Diesmal mache ich ihm's nach und kann's vielleicht besser als er. –

Am nächsten Frühmorgen hat er mich geweckt – wohl etwas derber als die Mutter am Vortage. Im übrigen war er wieder die ruhige Freundlichkeit wie gewöhnlich, wenn er nicht Kopfwehtag, oder wenn ich nicht eine besondere Torheit angestellt hatte. Und am Nachmittag, als wir ganz allein und friedsam in der dusteren Stube nähten und nähten, da sagte der Meister plötzlich: »Ich hab' ja nix dagegen, daß du jung bist. Nur die Heimlichtuerei mag ich nit leiden.«

Diese Erlaubnis, jung sein zu dürfen, hat mich aber zur Stunde ziemlich gleichgültig gelassen. Der Meister mußte es wahrgenommen haben, wie ich mich nach vorne krümmte und ein Stöhnen unterdrückte. Auf sein Befragen gestand ich den Krampf im Eingeweide.

»Bauchzwicken?« sagte er. »Du schlingst auch das Essen so schnell hinunter. Das ist nit gesund.«

»Weil ich halt immer hungrig bin,« wagte ich leise zu gestehen.

»Ja hungrig! Da hört eins mit allemal so früh auf.«

Nicht gleich antwortete ich, sondern nach einigem Bedenken, ob es gesagt werden dürfe, weshalb ich so schnell schlang. »Weil der Lehrbub nit so lang essen darf wie der Meister.«

Jetzt stellte er das Nähen ein und ließ die Hand zur halben Faust gekrümmt auf seinem Knie liegen. Lange und scharf schaute er mich an, um endlich zu knurren: »Wer hat dir denn das gesagt?«

[68] Die ganzen Jahre hatte er mich nie so heftig ausgescholten als zu dieser Stunde. In aller Feierlichkeit versicherte er mich, daß ich unerhört dumm sei! Als ob ein junger Mensch im Wachsen nicht essen dürfe, so lange es ihm schmeckt – wenn was da ist!

Und weg war mein Krampf. Nein, es war doch ein besonderer Tag. So froh bin ich gewesen über diesen Lehrmeister, der mir gestattete, tüchtig zu essen und jung zu sein.

Als wir um ein Büschel Sonnenstrahlen haben geschickt
[69] Als wir um ein Büschel Sonnenstrahlen haben geschickt.

Auch in unserem Bauernkalender stand Sonnenschein und trübes Wetter, unabhängig von Sturm oder blauem Himmel draußen.

Noch pfiff der Meister ein fröhlich Liedel, rief die Bäuerin herbei: »Geh' her, will dir einmal etwas hinaufhängen.« Die Bäuerin kam, der Meister warf ihr das lose zusammengeheftete Jöppel um, strich da mit der Kreide an, zerrte dort an einer Falte und sagte: »Gut ist's, passen tut's.« Aber das Pfeifen war dahin. Zu trennen begann er und zu schneiden am Jöppel, und zu brummen dabei. Der Geselle Christian schimpfte, wenn ein Kleid nicht lag, schimpfte über die Weibsbilder, die so höllisch schlecht gewachsen wären und so unzuverlässig, daß sie sich noch, während die Joppen schon in der Arbeit stünden, änderten. So ungerecht war der Meister nicht. Er knurrte höchstens über »den Zeug«, der beim Bügeln zusammenschlieft oder schon ursprünglich zu wenig gewesen für ein Bloch übereinand, als es die kugelrunde Bäuerin ist. Ein einzigmal hatten die Mäuse schuld, die ein Joppenmuster derart zugenagt, daß es den Meister beim Zuschneiden irregeführt hatte. Es begann dann ein unerquicklich Schnitzeln und Stückeln und trübselig war es in der Stube, es mochte draußen die Sonne noch so freundlich leuchten.

Wenn hingegen die Joppe in der Tat wie angegossen [70] auf dem Weibel saß, da pfiff der Meister lustig drauflos, pfiff hell wie eine Drossel und war gar vergnügt. Wenn es zudem auch noch war, daß wir in einem Hause gut gefüttert wurden, so hatten wir alles erklecklich beisammen, was hienieden zu einem echten Schneiderglücke notwendig ist.

So glücklich saßen wir einmal im Statzhofe. Die junge Bäuerin hielt viel auf Schmuck und Zier und nachdem der Meister gesehen hatte, daß ihr die neue Samtjoppe wie angemalen saß, beschloß er, sie mit unterschiedlichem Zierat, als »Perteln«, Schnürlein, Seidenmaschen, Knöpflein u. dgl. so prächtig auszuputzen, wie man in der Gegend bisher an Pracht nichts Ähnliches erlebt. Überlaut sagte die Bäuerin zwar: So schön! Das wäre wohl aus der Weis', so schön täte sich's für eine Bauersfrau doch nicht schicken, so schön hätte es nicht einmal die Baderin, und die Schulmeisterin schon gar nicht! – Insgeheim flüsterte sie aber dem Meister zu, wie sie es bei der Amtmännin gesehen, daß jetzt die Perteln und »Paßpulaturen« angenäht würden, und so ein Goldschnürl an den Aufschlägen, wie es die Verwalterin trage, stünde freilich wohl sauber. »Sollten sich gerad' einmal giften, die Herrenfrauen, wenn's jetzt auch die Bäuerinnen nachmachen oder besser machen; möcht' wissen, wesweg' die Bauersfrauen alleweil zurückstehen sollten. Man hat eh' sonst keine Freud' auf der Welt; wenn man kein sauberes Gewand auch nit hat, nachher kann sich eins gleich lebendig eingraben lassen.«

Dachte sich insgeheim mein Meister: Dumm bist, Statzhoferin, aber mir kann's recht sein. Kommt die Ausbandlerei auf, beim Weibergewand, so gibt's mehr [71] Arbeit, und so gut wie der ungarische Schneider bandeln wir auch noch aus, Gott sei Dank.

Um dieselbe Zeit fiel unter anderem der erste April. Und beim Statzhofer hatten sie eine niedliche aber einfältige Magd, die auch ein wenig lüstern war nach uns Schneidern, heißt das nach unserer Ausbandlerei, ob wohl ich einen ganzen Tag lang auf dem Witz herumritt: Mit der möcht' ich lieber anbandeln als ausbandeln, mit der!

Der muntere Meister mochte auch so ein Böcklein reiten, denn plötzlich sagte er zu mir: »Was meinst, das treuherzige Wabel soll man doch ein wenig in den April schicken?«

»Tun wir das! Foppen wir sie!« stimmte ich bei. Es zeigte sich aber bald, daß des Meisters Auffassung lange nicht so niederträchtig war als die meine.

»Wabel,« rief er die Magd, als er sah, wie sie an ihrem Kasten stand und ein Feiertagsröckel anzog, »mir scheint, Wabel, du gehst in die Hauptstadt Fischbach hinab.«

»Freilich,« antwortete sie, »die Bäuerin schickt mich um Kaffee und Zucker.« Mir sprang vor Freuden das Herz auf die Zunge und schrie zum Mund heraus: »Juchhe!«

»Wabel,« sagte der Meister, »weil du schon nach Fischbach gehst, wolltest nicht so gut sein und mir beim Bandelkramer was holen? Für der Bäuerin ihre Joppe tät' ich drei Ellen Sonnenstrahlen brauchen zum Aufnähen. Aber von der feineren Sorte.«

»Gern,« antwortete die Magd, »mas werden sie denn kosten?«

[72] »Zwölf Kreuzer, denke ich, die Elle. Aber vom vorigen Sommer müssen sie sein, gut getrocknete, und daß sie dir nicht etwan abgelegene geben! Sag' für den Schneidernatzel, und soll's aufschreiben.«

»Aufschreiben tut er nichts, der Baudelkramer,« wußte die Wabel zu sagen, »wie ich vorige Wochen Seidenbandeln hab' aufmerken lassen wollen, hat er gesagt: Das Rechnen hätt' er wohl gelernt, aber das Schreiben nit.«

»Nachher muß ich dir schon zwei Zwanzigerlein mitgeben,« sagte der Meister, »was übrig bleibt, wirst mir wohl fleißig zurückbringen?«

»Halt ja,« versicherte das Wabel und ging.

Als hierauf die Magd beim Bandelkramer zu Fischbach für den Schneidernatzel drei Ellen Sonnenstrahlen begehrte und die zwei Zwanziger hinhielt, sagte der Krämer: »Saggra, Dirndl, diese War' ist mir ausgegangen! Noch ein altes Büschel vom Sechzigerjahr ist da, aber das ist ganz abgestanden, weil es in demselbigen Sommer so kalt gewesen ist, daß die Sonnenstrahlen gefroren sind. Sie sind alles zu spröd' und lassen sich nicht biegen, die kann er nicht brauchen, der Meister. Ich geb' dir aber einen guten Rat, Wabel, geh' ins Wirtshaus hinüber, laß dir für die zwei Zwanziger eine Halbe Wein geben und einen Schweinsbraten und laß dir's auf die Gesundheit des Meisters schmecken.«

So hat die treuherzige Magd denn auch getan. Als sie am Nachmittag nach Hause kam, hatte sie ein so strahlendes Gesicht, daß es schier hell ward in unserer düsteren Stube. Wir ahnten aber nicht, daß dies die Sonnenstrahlen wären, um die wir sie geschickt hatten.

Den Pack mit Zucker und Kaffee legte sie in die Hand [73] der Bäuerin. »Nun;« fragte der Meister, »und auf uns hast vergessen? Was ist mit den Sonnenstrahlen?«

»Jesseles ja!« rief das Wabel, »er hat jetzt keine. Alte hätt' er noch, sagt er, wären aber ganz abgestanden und nicht mehr zu brauchen.«

Der Meister schwieg und schmunzelte: Nach einer Weile fragte er die Magd: »Wabel, fällt dir nichts auf?«

»Gar nichts,« antwortete sie.

»Geh',« schmunzelte er, »geh', Wabel, guck' einmal in den Kalender!«

Sie ging ihrer Arbeit nach und tat nichts desgleichen. »Sonderbar,« sagte der Meister gegen Abend zu mir, »sie tut nichts desgleichen.«

Nach dem Abendmahl, als man sich allerseits zum Schlafengehen rüstete; ging ihr der Meister nach, sie blieb an der Kammertür stehen und glaubte, er wolle ihr eine neue Joppe anmessen. Aber der Meister erinnerte sie höflich an die zwei Zwanzigerlein.

»Schneider,« schmunzelte sie, »guck' einmal in den Kalender...«

Mit dieser Erfahrung bereichert, kam mein Meister kleinlaut zu mir zurück. »Und das,« so machte er endlich seinem Gemüte Luft, »das ist das einfältige Wabel!«

Von dieser Zeit an hatten wir keine mehr in den April geschickt. Der Statzhoferin stand die neue Joppe auch ohne Sonnenstrahlen vortrefflich und mein Meister bemerkte, als der Spaß von der vornehmen Zier auf Weiberjoppen wieder einmal aufgetischt wurde: »Mit Sonnenstrahlen arbeiten ist nicht so einfach. Ich habe mir damit einmal die Finger verbrannt.«

Der versteigerte Schneider
[74] Der versteigerte Schneider.

Und nun kommt der Richtige.

Wir hatten ihn gern, den blonden, vierschrötigen Gesellen. Von außen war er lauter Ernsthaftigkeit, im Innern war er voller Possen.

Er kam uns eines Tages – wildfremd wie er war – ins Haus geregnet. Er hielt eine weite Lodenhülle umgeworfen; das Wasser rann ihm von allen Seiten auf den Fußboden hinab, daß er auf demselben eine schwarze Straße hinter sich herzog von der Tür bis zum Tisch, wo mein Meister und ich die Werkstatt aufgeschlagen hatten. Er schaute uns so possierlich ins Gesicht, daß wir lachen mußten, er bat in fremdartiger Sprechweise um trockene Kleider. Aber es war keiner im Hause des Firstinghofes, dessen Hosen und Leibeln dem Goliath nicht viel zu enge und zu kurz gewesen wären.

So hüllte der in die Stube geregnete Mensch, während sein Anzug trocknen sollte, ein Leintuch und eine rote Bettdecke um sich und spazierte wie ein König im Purpurmantel würdevoll den Fußboden auf und ab; fragte auf einmal den alten Firstinger, ob nicht eine gut gestopfte Tabakspfeife zur Hand wäre, er hätte Zeit und Weil zum Rauchen.

»Mein Meister konnte keine Leute leiden, von denen er nicht wußte, was sie wären und in welcher Weise sie [75] beitrügen, die Welt zu schieben. Er richtete daher an den Großen kecklich die Frage: »Wer sein mer denn?«

»Bis ich trocka bi, will ich's schon säga,« entgegnete der Fremde und setzte seinen gemessenen Gang fort und blies den Tabaksrauch in einer Art von sich, daß der alte Firstinger uns zuflüsterte: »Gott weiß, wer der Mensch ist! Wie vor zwei Jahren der Graf Schildberg auf der Jagd da ist gewesen, hat er den Rauch just akkurat so herausgeblasen. Und schon an der Aussprach merkt man, daß er von fürnehmen Stammen ist.«

Wir kamen ihm höflich entgegen; er tat höflich Bescheid. Der Firstinger lud ihn artig zum Nachtmahle und zur Herberge ein, er nahm es freundlich an. Er bekam dasselbe Bett, in welchem zwei Jahre früher der Graf Schildberg geschlafen hatte.

Am anderen Morgen waren die Kleider trocken. Wir sahen, dieselben waren nicht allzu vornehm, doch schien er sich darin recht behaglich zu fühlen. Draußen war noch immer schlechtes Wetter. Der Fremde setzte sich an unseren Tisch und förderte durch sein sinnendes Zuschauen unsere Arbeit.

»Ihr schaffet auch mit Hinterstich,« sagte er plötzlich, »ischt auch besser bim Loda. Daß ma hernach halt gut ausklopfa muß, Jung'!«

Das letzte Wort war an mich gerichtet; der Meister aber legte seine Faust auf das Knie, wie er immer tat, wenn er einen gewichtigen Ausspruch plante und sprach: »Versteht der Herr auch was von der Schneiderei?«

»Wega was soll ich denn nicht?« sagte der Fremde, »bin ja sel' ein Fädlezieher.«

So hat er sich zu erkennen gegeben. Mein Meister[76] warb ihn. Er antwortete, daß er zwar auf Luftreisen sei. Geboren, geschopft und freigesprochen zu Appenzell, sei er auf der Reise durch die Welt; aber so lange Sankt Petrus Bärte wasche, stehe er gern in Arbeit ein, wisse nur nicht, ob man mit ihm auskommen könne, er sei manchmal ein wüster Querkopf.

Der alte Firstinger, der vor lauter Krüppelhaftigkeit nicht mehr arbeiten konnte und stundenlang an unserem Tische saß, fragte noch, ob das Appenzell in Böhmen stehe; denn er hielt jede fremde Mundart für Böhmisch.

»Schwizer, Schwizer!« sagte der Fremde.

»Ja, ja,« meinte der Bauer. »'s ist auch schon wieder heiß.«

So war der Hans Ättinger zu uns gekommen. Neun Wochen lang zog er mit uns um; ein vorzüglicher Arbeiter, und immer wieder voll Humor und Possen.

Weil er so groß und sauber gewachsen war – der schönste Schneider in unserer Gegend vielleicht seit Erschaffung der Welt – so hatten es die Weiber auf ihn heiß. –

Eine der ersten Begebenheiten war, daß ihm am heiligen Magdalenentage die Schleiferdirn nachlief und ihn flehentlich bat, er möge sie doch beschützen vor den Nachstellungen der Burschen; nur zu ihm habe sie das Vertrauen. Die Mannsleute ließen ihr um und um keine Ruhe und wollten ihr immer den Schnurrbart in die Wangen reiben; neulich hätte sie aber in ihrem Zorn so fest in einen gebissen, daß der Bursche ihr bei allen Heiligen versprochen, sie nicht mehr zu verfolgen, wenn sie auslasse. Als sie hernach ausgelassen, sei er doch vor ihr stehen geblieben und hätte gesagt, das wäre nicht [77] übel gewesen und sie solle nur noch einmal tapfer hineinbeißen. Sie habe ihn aber davongejagt, und nur zum Hans Ättinger habe sie das Vertrauen.

Worauf ihr der Mann aus dem Schweizerlande antwortete: »Hätt' insowit wohl mi Vertraua zu dir; fürcht' nur, daß eine Maidle, das sich schon einmal in en Schnurrbart verbisse hätt', möcht licht a Haar zwischen de Zähne stecke blieba si. Und so a Härle tut ke Gut meh. Gott behüt' dich, Schlifermaidle!«

Die traupperte fort, aber was geschah? Das Spreitzer Veferl ging auf ihn zu und fragte, was er denn mit dieser Schleiferdirn zu sprechen hätte? Ob er nicht wisse, was am vergangenen Sonntage geschehen sei – im Wirtshaus unten?

»Was wird denn gscheha si, Närrle? Ein Schoppa han ich mit dir trunka.«

»Und meinst, du wirst mir den Krug geben und einer anderen den Wein?« so fragte das Veferl bitter und war gelb im kleinen Angesicht vor Zorn und Ärgernis. –

Ähnlich erging's dem guten Hans Ättinger mehrmals. So überaus überlegen er mir war, hatte er gegen mich doch nicht den Gesellendünkel, den Lehrlinge so oft erfahren müssen. Er gab sich mit mir ab, er meinte, ein Lehrjunge wäre sozusagen doch auch eine Art von Menschenkind; – und des gedenke ich heute noch mit dankbarer Rührung. So sagte der Schweizer eines Tages – spät abends im Bett war's, und der Meister nicht zugegen – : »Bischt denn du gar nichts wert, Bürschle, daß sie all mich gern hant? Bin jetzund drei Wocha vorhande und zähle fünf oder sechs Wibsbilder, die mir nachlaufa. In dieser Gegend versaure will ich nicht; so [78] lange ich aber da bin, mag mir schon eine tauga. Nur frag ich mein Herrgöttle: die Welch'?«

An der Stelle seines Herrgöttles antwortete ich: »Die Schönste.«

»Ja, die Schönste,« lachte er, »Lehrjung', itzt glaubst, weiß Gott, was du Gescheites gsait häscht. In a paar Wocha, spätestens in ema Monat bin ich fremd und lauf um a Ländle weiter. Wärest du der Tropf und kunntst die Schönste verloo (verlassen)?«

»Da ist leicht geraten,« meinte ich, »nimm die Häßlichste, wird dir das Scheiden weniger Mühe kosten!«

»Wird's ihr um so schwerer. Sie verloo, versetza in Spott, daß sie sich blind tät zahna und ihr Lebelang meina, der groß' Schwizer hätte sie um ihr Glück betroga – das will ich nicht. – Das Bescht wird si, ich mach' es, wie zu Bludenz in Vorarlberg. Bludenz wirscht du doch kenna. Nicht? Ei, schon so groß und nicht in Bludenz gsi! Sechs oder sieben Tagsprüngl hin – für ema Schneider ist das keine Weite. Aber, 's ischt mir Spaß und Ernst auch, ich mach' es, wie zu Bludenz, ich laß mich versteigera.«

Hierauf hat er mir die ganze Geschichte erzählt. In Bludenz bei einem Balle wäre es gewesen; der Tanzboden voll von Weibsbildern, denen alle Pfeifen und Geigen in die Beine gefahren, und zwei oder drei Stück Mannsleute. Die zwei hätten jeder seine Gewisse gehabt, der dritte – und das sei der Schweizer Hans selbst gewesen – wäre von den Weibern umworben worden wie eine Metbude auf dem Jahrmarkt. Sie wären ihm alle lieb gewesen, er wollte keine verschmähen, daher konnte er keine nehmen. Da kam ihm der Gedanke: versteigern! [79] Die das Mehrste gibt, die hat ihn, mag sich mit ihm die Füße abtanzen bis zu den Strumpfbändern – und der Erlös gehört den Musikanten. Sind einverstanden gewesen und die Sauberste unter allen tut zuerst den Mund auf und bietet einen alten Batzen. Sie wird überboten, es ist ein Gehetz und Geschrei; im Nu jagen sie die Batzen hinauf bis zu achtzehn – zwanzig. Dann kommen die Ohrgehänge dran, die Fingerringe, und wie die Weiber schon hitzig sind, wenn's um einen Mann geht, reißt die eine ihr neues, rotseidenes Busentuch herab, hält es hoch in die Lüfte wie eine Siegesfahne und schreit: »Das gebe ich! Wer gibt mehr?« – Über ein seidenes Busentuch konnte keine mehr. Der Schweizer wurde ihr zugeschlagen, und wer ist sie gewesen?

»Wer sie gsi ischt?« berichtete der Hans, »die allerältest' Vettel ischts gsi! – – Drei Tänzle hab' ich mit dersele Buß tan und bi drauf nächtig verschwunda.«

»Und nun willst es noch einmal versuchen, Hans?«

»Bi miner Schniderseel, das Späßle mach' ich noch einmal. Was kann mir denn gscheha? Sind lauter subere Maidle, die mir nachjage – ich laß mich versteigera.«

Der Jakobitag wurde dazu bestimmt. Mir fiel die Aufgabe zu, es unter dem Weibervolke lautbar zu machen, daß an diesem Tage nach der Messe beim Hausteinerwirt der schweizerische Schneider versteigert würde. Ich sollte den Hammer handhaben und den Ausrufer machen.

»Mit fünf Groscha fanga mer an,« unterwies er, »und das Geld vermach' ich für ein Armesleuthus.«

Als wir so sprachen, tat sich nebenan ein alter Knecht aus seinem Stroh hervor, der sagte: »Einen[80] Kapitalspaß gibt das, Schneider, aber ich rate dir: paß' auf! Wenn's aus Männerversteigern geht, da bleiben die Jungen weg und just die alten und häßlichen Kreaturen kriechen aus ihren Höhlen hervor und bieten das meiste. Du meinst, du bist findig, mein lieber Hans, aber das sage ich dir: Einer Alten, wenn sie nur ein Haar von dir erwischt, der kommst du nimmer aus!«

»Ischt nicht in den Wind zu schlaga, die Red',« meinte der Hans.

»Ich will dir aber einen Gefallen tun,« sagte der Knecht, »ich schicke meine Alte hin, die tut mit – hockt in einem Winkel und hat allemal zu überbieten, so oft eine Garstige obenauf ist. Bleibst meiner Alten in der Hand, so brauchst dich deshalb nicht zu kränken; laß't ihr heimlich das Geld nach, denn sie hat keins, zahlst ihr ein Schlückel Wein, dann geht sie ihres Weges.«

So wurde es verabredet. Am nächsten Tage teilte der Hans das Unternehmen dem Meister mit. Der Meister schüttelte den Kopf – der war damals schon grau – und sagte, mit solchen Sachen treibe man kein Spiel; wolle der Geselle eine Mannin haben, so solle er es so machen, wie es braven Männern ansteht, sich frischweg eine aussuchen und anheiraten.

Jetzt war's, als der Schweizer das merkwürdige Wort sprach: »Eine ischt mir z'viel und keine isch mir z'wenig.«

»Und zur Halbscheid gibt's nit,« setzte der Meister drauf. Alle drei waren wir nun still und nadelten, und als der Meister zum Bügeln kam, schlug er das heiße Eisen mit großer Entschiedenheit auf den Loden, als wollte er dergestalt sein Wort besiegeln. Wie er dann in die Küche ging, um den Stahl wieder in die Glut zu [81] legen, murmelte der Hans: »Und das Späßle mach' ich doch.«

Am Vorabende des Jakobitages gingen wir – der Schweizer Hans und ich – über die Felder, um die Einzelheiten der morgigen Versteigerung noch einmal zu besprechen und festzustellen. Ich hatte schon Leute dazu geworben und gab der Hoffnung Ausdruck, daß wir eine recht schöne Gesellschaft haben würden.

»Werden denn die Schönen sich einstelle?« fragte der Schweizer.

»Alle kommen. Viele nehmen es gar für Ernst. Ich habe gehört, daß die Schleiferdirn seit gestern ihre Kuh mitsamt dem Kalb zum Verkauf ausbietet. Wenn die ihre Vieher anbringt, nachher – Hans – nachher geht sie weit mit, nachher bleibt sie obenauf.«

»Die Schleiferdirn wäre das größt' Unglück noch nicht,« meinte er.

Noch erinnere ich mich, daß an demselben Tage ein Weib fragen kam, ob verheiratete Frauen auch mitlizitieren dürften.

»Warum nicht,« beschied der Schweizer, »wenn ihnen ihre Männer das Geld dazu gent!«

»Der Meine,« klagte sie dann, »der ist halt gar so viel zuwider auf mich. Ist sonst ein guter Lapp, aber wenn ihm was über die Leber kommt, so laßt er an mir seinen Ärger aus.«

»Lieb's Wible,« versetzte mein Hans, »ischt recht schön von Euch, daß Ihr Eurem Mann lauter Gutes nachsäget. Aber, müssent Ihr wisse: Wenn der Ehemann einmal zerfahre heimkommt und er will sein bitteres Herzli usgießa, vor wem soll er's denn tua, wenn sein treues [82] Hälftli nit sagt: gieß' nur her, wenn dir nachher leichter ischt – mag's willig ertraga? Bei gutem Humor ischt der Mann überall gern g'seha, aber wenn's weh tut da d'rina und trüb ischt und kalt ischt, da braucht er das gutherzig Frauli.«

Sie ging und ließ sich nicht mehr blicken.

Als wir an demselben Abende gegen den Wald hinkamen, blieb der Hans stehen und drückte mit dem Daumen aus einer Kornähre mehrere Körner, die davonspritzten.

»Den Buer, den dieses Kornfeld angeht, söllt ma ein Bitzele auf ema Bock spanna,« sagte der Hans.

»Warum?«

»Ischt die heilig' Gottesgab' schon zitig bis zum Abfalla und der Strolch tut nicht ein Fingerspitzle dergleicha, als ob er sie einmal wöllt schnida.«

»Ja, das ist anders,« belehrte ich den Gesellen, »dieses Kornäckerlein gehört der armen Lehmbacherin, die dort unter den Bäumen ihr Häusel hat. Der ist vor etlich Monaten ihr Mann verstorben und seither kränkelt sie selber und kann ihr Korn nicht schneiden.«

Nach diesem Bescheide kam der Mund des großen Schweizers ganz nahe an mein Ohr: »Was gilt's Jung', mir zwei stelle heut noch was an?«

Wieso er das meine?

»Mir schnidend der armen Witib hüt nacht 's Korn!«

»Wir zwei Schneider?«

»– schnidend ihr 's Korn und verrata's nicht. Wird ein Späßl si, morga früh, wenn sie aufschaut und sieht ihr Korn in Schöberla steha.«

Allein, das Kornfeld war nicht allzu klein, und es[83] gehörten für eine Nacht wohl vier oder fünf Schnitter dazu. Der Mond versprach zu leuchten, er reckte sein weißes Gesichtlein schon über die Berge heraus. Der Gehilfen wegen sprach der Hans im großen Wandegghofe vor. Der Wandegghofer saß eben bei seinem Jausenkrug, schnitt sich Weißbrot dazu und fuchtelte, indem er sprach, mit dem Messer hin und her. »Was das wieder für Narrheiten sind,« sagte er, »könnte mir nicht einfallen. Habe selber noch viel Getreide auf dem Feld und brauch' meine Leut' morgen früh wieder ausgerasteterweis'. Gaulen ohnehin viel nächtig herum in der Nachbarschaft – ginge die Dummheit mit Eurem Kornschneiden just noch ab.«

»Der arma Witfrau z' Lieb wollt' ich's doch vermeina, daß der reich' Wandegghofer –«

»Das käme mir gerade recht auf,« eiferte der Großbauer, »daß man den Schluckern bei der Nacht die Feldfrucht heimse! Und sie selber täten liegen auf der faulen Haut und sich des Morgens in die Faust lachen, wenn die Arbeit getan wäre. Müssen andere auch hart arbeiten, wenn sie was haben wollen. Wer schneidet denn mir die sieben großen Felder, die in der Reise stehen –«

»Wohl wahr, wohl wahr,« sagte mein Schneider sanftmütig, »wöllt's der Wandegghofer nur bedenka: Das Wibl ischt krank.«

»Hab' ihr genug geschenkt!« rief der Bauer, »mit Händen und Füßen lauft alles Bettelvolk zu mir zusammen. Kurzum, ich geb' nichts und ich tu' nichts. Schneid' er selber das Korn, braucht's nicht nächtig Weil, wie zu einem Schelmenstuck –«

»Schon gut, schon gut, Wandegghofer,« unterbrach [84] ihn der Hans, »krieg' ich kei' Schnitter, so bedank ich mich auch für de guta Rat.«

Wir gingen davon. »Das ischt auch einer, der da drinna,« der Hans klopfte sich auf das Brustblatt der Herzgegend, »ema Geldsack hänga hat!«

Zehn Minuten vom Hause begegnete uns der junge Fankermichel. Den ging ich gleich an, ob er uns in dieser Nacht helfen wolle, der Lehmbacherin das Korn zu schneiden.

Der Michel zog mich etliche Schritte beiseite, daß es der Hans nicht sollte hören können, was er mir vertrauen wollte. Und hierauf gestand er, wie er den Spaß gern mitmachen möchte, schade nur, daß er sich für diese Nacht schon versprochen hätte.

»Kann mir's denka,« sagte hernach mein Schweizer, »was der dir hat ins Ohr geblasa: Der hat Säezeit jetzund und ischt zum Ernte nicht zu haba.«

Noch wollten wir zu einem anderen Bauer gehen, da begegnete uns auf der Straße ein Kobelwagen, der von zwei Maultieren dahergezogen wurde. Mein Schweizer rief durch ein Loch der faßartig aufgespannten Plache hinein: »Künnen Se Kornschnida?«

Da wurde es drinnen lebendig. Zuerst kroch ein junger Mann hervor, dann ein alter, dann guckte ein Weib heraus und im Gezelte wimmelte es von Kindern. Die Männer erboten sich; Kornschneiden, das könnten sie. Der Hans war in Freuden und versprach eine Maß Wein zu zahlen – ob nachher, ob im vorhinein – je nach Wunsch. Er rieb sich die Hände: »Das gibt ein Späßle!«

[85] Ich trieb Sicheln auf. Der Hans fand noch eine alte Kräutlerin. »Wenn Sie Korn schnida hilft, so kann Sie morga mitlizitiera!«

.So waren wir – eine wunderliche Rotte mit glitzernden Messern – versammelt im Walde, zunächst am Lehmbacherhäuschen, und erwarteten den Einbruch der Dunkelheit.

Als es auf dem Kirchturme drüben zehn Uhr schlug, verlosch im Häuschen der Witwe der Fensterschein; bald darauf gingen wir still an unser Geschäft. Die Sicheln schimmerten im Mondscheine, aber sie rauschten viel zu sehr, sie rauschten weit lebhafter, als am hellen Tage.

Ich – der ich auf meines Vaters Hofe das Kornschneiden regelrecht gelernt hatte – stellte mich auf Anordnung des Schweizers voran. Hernach kam der alte Mann aus dem Kobelwagen, hierauf folgte die Kräutlerin, nach dieser stand der junge Mann aus dem Kobelwagen und endlich war der Hans.

Der Hans ging uns scharf auf die Fersen und er war es auch, der die tiefsten Einschnitte machte und die größten Garben band. Dabei flüsterte er fortwährend: »Nur voran, Leutle, und kein Lärm macha!«

Da tat die Kräutlerin plötzlich einen Schrei, der drei- und vierfach im Walde widerhallte.

»Geh', mach' keine G'schichta net!« brummte der Hans, »von wegen ema Fröschle da! Wenn das Hupferle sich vor dir erschreckt, so mag ich's eher glauba.«

Nach diesem Auftritte kauerten wir eine Weile am Korn und regten uns nicht. Erst als wir uns überzeugt hatten, daß unten im Lehmbacherhäuschen und weiterhin in den Höfen alles ruhig blieb, begannen wir wieder zu [86] sicheln. – Die Heimchen wisperten, die Halme waren j,;j;;;;

»Wa das für a fröhlichs Schnida ischt in der kühle Nacht!« sagte der Schweizer ermunternd, als er merkte, wie an unseren Helfern Lust und Mut zu erlahmen begannen. Als es zwölf Uhr schlug, gab er das Zeichen zur Rast. Wir setzten uns auf die Garben und trockneten den Schweiß an unseren Häuptern. Drüben im Steghofe schlug der Haushund an.

»Es scheint, dort drüben schläft nicht alles, was liegt,« bemerkte der Alte aus dem Kobelwagen. über dem Himmel strich dort und da eine Sternschnuppe.

»Die Engel tue Steinle werfa,« sagte der Hans, »und wir werden jetzt wieder Korn schnida.«

Damit ging die Arbeit von neuem an. Allzu sein sah es auf den Stoppeln nicht aus, doch der Hans sammelte während des Schneidens und Bindens unablässig die zerstreuten Halme und steckte sie in die Garben. Er war der Emsige und Unermüdliche und Eifrige und alles »des Spaß's wega, wenn die Wittib morga ufschaut und meint, das ganze Korn wär' ihr g'stohla«.

Um drei Uhr waren wir fertig und die Garben standen in einer Reihe von Schöberchen, hübsch geschichtet zum Trocknen und wohlgeborgen gegen Regen.

Die Gehilfen entlohnte der Hans nach seiner Weise, sie sollten sich beim Hausteinerwirt einfinden zum Weine und im übrigen glaube er, der liebe Gott würde das, was er im Schweizerlande tue, auch in Steiermark nicht lassen; es wäre ja sein Geschäft, gute Werke zu segnen. »Aber sein schweiga!« schärfte er noch jedem ein, »der [87] Witib ihr Seliger ischt mit eine Schock Engela dagewese – was soll mer weiter noch reda!«

Als wir beide unserer Wohnung zugingen, mochten wir ein wenig verschlafen dreinlugen und ich gab meiner Besorgnis Ausdruck, daß sein schläfriges Aussehen der Versteigerung nicht zum Vorteile sein dürfte.

»O Herrgöttle von Mannheim!« schrie der Schweizer jetzt auf, »hüt werda mer ja versteigerat.«

Das erste, was er jetzt tat: daß er sich im Kaltbache, der auch zur Sommerszeit bisweilen über Nacht seine Eiszapfen spann, das Gesicht wusch. Dann war er rot und frisch und schaute so munter in die Welt, daß ich ausrief: »Hans, und wenn's ihre Seelen gilt, sie überbieten sich zu Tod um dich, du prächtiger Hans!«

»Du dummer Buab!«

Drei Stunden später machten wir uns auf. Der Hans sah aus wie ein Bräutigam.

»Fünf Grosche zum Erschta!« rief er lustig in den Tag hinaus. Da stand an der Tür auf einmal die Lehmbacherin. Sie war noch jung und sein; sie war sonst blaß und abgehärmt, aber jetzt waren ihre Wangen schier rot wie zwei reifende Äpfel und aus ihren Augen sprang ein ganz merkwürdiges Feuer, als sie uns beide anfaßte, mich mit der linken, den Hans mit der rechten Hand, und die Worte sagte:

»Ihr kommt am besten draus, wenn ihr's offen gesteht!«

»Was sölle mer denn gstoh in Gott's Morgafrüh, kaum einer die Augla ufmachet!«

»Na, na, ihr habt eure Augen heut schon lang offen,« [88] sprach das Weib lebhaft, »Schneider, ihr habt mir in dieser Nacht mein Korn geschnitten!«

»Kunt mir nit infalla! In der Nacht Korn schnida! Nit im Traum, nit einmal denka!« So rief der Hans unwirsch und wie er jetzt einen Blick auf sie warf, da trat er fast erschrocken einen Schritt beiseite und murmelte: »Potz dusig, ischt die noch so jung!«

»Ich kann mir's nicht deuten,« sagte die Witwe, »soll ich euch schelten oder soll ich mich bedanken, ich weiß nicht, wie es gemeint ist. Ich hätte die Frucht noch lange nicht vom Stoppel gebracht. Und heute, wie ich zum Fenster schau, kommt schon die Müllnerin daher und schreit mir's zu. Gleich bin ich auf und weiß selber nicht, wie leicht ich da bin hergekommen. Schneider, ihr seid verraten. Es dank' euch zu tausendmal Gott, ich kann es nicht!« Sie setzte sich erschöpft auf die Türschwelle.

Der Hans zupfte mich am Ärmel, daß ich mit ihm hinter die Bodenstiege komme. »Du, Bürschli,« sagte er dort, »mach' mir de Gefalla, gang ins Wirtshus: sie sollet sich selber umtua, versteigera laß i mi nöt

Ich habe meinen Auftrag ausgerichtet und weil die Stube schon besetzt war mit lustigen Burschen und Dirndln, so wollte ich den Spaß auf eigene Rechnung üben. – Für den Lehrjung' fünf Groschen zum Ersten! – Wer gibt mehr? –

Keine einzige bot, und so bin ich mir geblieben.

Anders der Schweizer Hans. Der hat an jenem Jakobitage die junge Witwe bis an ihr Häuschen begleitet.

Wir haben es noch an demselbigen Tage gesagt: »Dieses Kornschneiden führt zu was.«

[89] Bis zur Hochzeit hat der Schweizer Hans noch bei meinem Meister gearbeitet, dann verkauften sie das Lehmbacherhäuschen und wanderten dem Schweizerlande zu.

In einem Dörfchen bei Appenzell haben sie ihr kleines Heim mit einer Schneiderwerkstatt und einem Kornfeld. Dort habe ich die Leutchen im Jahre 1870 besucht. Der Hans war noch ganz der alte, nur um ein Erkleckliches dicker. Wir wurden heiter und wehmütig in der Erinnerung an vergangene Zeiten; aber einen kleinen Jungen hatte er, den schaukelte er, hob ihn mit beiden Armen hoch in die Lüfte und rief: »Mit so ema Burscha da! Ob's uf der Welt noch ein finer Späßli gibt, will ich fraga!«

Der heiratslustige Schneider
[90] Der heiratslustige Schneider.

Mein Lehrmeister hatte fast immer unglückliche Schneidergesellen. Sie waren sonst zumeist gesund, wohl gewachsen und nicht ohne Fähigkeiten, aber jeder – wollte heiraten.

Zumeist, wenn der reisende Handwerksbursche bei uns Arbeit nahm, stand sein Entschluß fest: In dieser Gegend setze ich mich an, werde Meister – es ging damals gerade die neue Gewerbefreiheit an – und heirate eine Dasige. Als ob einer ohne Eheweib nicht Meister werden könnte! »Ja freilich nicht,« belehrte der Schuster Simon, »mit einem Eheweib auszukommen, das ist eben das Meisterstück!« Kaum so einem aber etwas über die Leber lief – war's nun ein nachdrückliches Wort vom Meister oder ein unausgekochter Knödel von der Sterbäuerin oder auch nur ein kropfiger Zwirn in der Arbeit – alsogleich machte er sich fremd, packte seine sieben Sachen, wenn er deren so viel hatte, zusammen und atmete auf: Gott sei Dank, daß ich dahier nicht verheiratet bin!

Und dennoch wollte jeder, so lange er festsaß, sich auch einwurzeln. Und sie machten Ansprüche. »Jung und schön muß sie sein,« sagte der eine, »denn alt und häßlich wird sie sowieso.« Ein anderer wollte das Heiraten als Nebenerwerb betrachten und forderte daher eine mit Geld. Ein dritter machte auf Bildung Anspruch, damit er [91] gleich gebildete Kinder kriege. Just einer war dabei, der Jüngste unter den Handwerksgesellen, die auf dem Kirchweg derlei einmal erörterten; dieser Jüngste sagte gar nichts; er wurde daher schief befragt, was denn er zu den Weibern meine?

»Ei, schwatzen wir von was Gescheitern!« war von dem die Antwort. Es ging nicht ein Jahr um, so war der Junge verheiratet – und die anderen alle noch ledig.

Da hatte mein Meister einmal einen Gesellen, den hießen die Leute den Mehreren. Er war eigentlich weniger als manch anderer, denn er war bloß ein Gehilfe, war niedlich und etwas zartknochig, bewahrte aber stets eine seine Haltung seines Körpers und trug sich in der Kleidung, in der Frisur seines Haares und Bartes und im ganzen Gehaben so, daß, wenn er nicht in der Schneiderbude saß, ihn jeder für was »Mehreres« halten konnte, als für einen Schneider. Übrigens nannten wir ihn den »Mehreren« vorzüglich deshalb, weil er aus Mähren gebürtig war.

Dieser Mehrere nahm die Welt wissenschaftlich. Er betrachtete alles von einem höheren Standpunkte aus, wußte über alles zu sprechen, daß es seine Art hatte, und in der Geschichte der edeln Schneiderzunft konnte er geradezu als Professor gelten. Das erste in der Kultur der Menschheit ist der Schneider, pflegte er zu sagen, und das letzte ist wiederum der Schneider, wenn er streikt. Er führte den Schneider vom Feigenblatte der ersten Eltern aus durch die Geschichte der Juden, der Assyrer, Perser, Ägypter, Griechen und Römer. Da fragte ihn der Meister einmal, ob in der alten Geschichte der Zunft ein Schneider bekannt sei, der einen unteren Hosenrand [92] ins Ärmelloch der Joppe geworfen? worauf der Mehrere frech entgegnete, in der alten Geschichte steh in der Tat kein solcher, wohl aber in der neuen! Denn der in der neuen stand, das war er selber, weil es ihm mitunter wohl passierte, daß er vor lauter tieferm Nachdenken seine Handarbeit vergaß und mancherlei verkehrt machte.

»Ihr zwei könnt's miteinandergehen!« sagte der Meister. Der zweite mit den tiefen Gedanken und der Zerstreutheit im Handwerk – ?

»Und wir werden auch miteinandergehen,« sprach hierauf der Geselle zu mir, »du wirst frei, dauert nicht lang', und ein Ehrenmann, reden kannst auch, schweigen ebenfalls. Dich kann ich brauchen.«

Damit hatte der Mehrere aber was Besonderes im Sinne. Es muß erzählt werden, daß nicht gar weit von uns ein kaiserlicher Gutsverwalter und Oberförster haushielt, der fünf erwachsene Töchter hatte. Diese Töchter waren jede einmal auf längere Zeit bei einer Tante in Wien gewesen und so fürnehm geartet, daß sich kein Mensch an sie herangetraute. Bei einer kam zur Würde der Stellung und Erscheinung auch schon die des Alters in Betracht.

Da sagte nun aber der Mehrere zu mir: »Junggeselle, mit dem kaiserlichen Verwalter wag' ich's! Eine nehm' ich ihm ab. Ich bin des ewigen Simulierens übers Heiraten satt, ob man wohl die Rechte erwischt, und wie's nachher sein wird, und das häusliche Elend und wieder die Neugier dabei – ich trag's nimmer länger, sein muß es doch einmal, weil's menschliche Bestimmung ist. Ich laß dir's gelten, man kann's bereuen, wenn's geschehen [93] ist; aber so lang' du ledig bist, hast auch keine Rast und Ruh, heißt's: Hätt' ich ein Weiberl, wie schön kunnt's sein! Seit die weibliche Menschheit auf der Welt, ist halt die männliche schlecht dran – man kann's wenden wie man will. Darum mach' ich's wie jener, der aus lauter Angst vor dem Naßwerden ins Wasser gesprungen ist. Ich pack' frischweg an und heirate eine kaiserliche Verwalterstochter.«

Über eine solche gut kaiserliche Gesinnung war ich erfreut, und doch mußte ich Zweifel hegen, die der Mehrere aber folgendermaßen behob: »Der Herr Verwalter, mein vielgetreuer Bruder, der Verwalter hat zwei Gattungen von Töchtern; einmal solche, die ich gern nehme, und dann solche, die er gern gäbe. Kriege ich von der ersteren Gattung keine, mein Gott, so werde ich eben von der letzteren eine aufheben. Aber daß du ihm's nicht gleich sagst! Denn du wirst mir morgen brautwerben helfen.«

Nach einigem Wortwechsel sah ich, daß es wirklich sein Ernst war, und ich fühlte mich getragen von meiner Aufgabe, zu der ich mich voreilig genug verpflichtet hatte.

Zum selben Abend um die »Lichtfeier« gingen wir beide am Bachesrand entlang und führten fast schreiend ein Gespräch, das man sonst nur flüsternd zu halten pflegt – denn es rauschte der Bach. Der Mehrere teilte mir mit, daß er fürderhin bei seinem Schwiegervater im Schloß wohnen werde, daß er überhaupt nicht die Absicht habe, den kaiserlichen Verwalter und Oberförster zum Vater eines Schneiders zu machen, daß er dem wackeren Mann jedoch einen Gelehrten oder gar Politiker, der sich später um ein Mandat bewerben werde, [94] zum Tochtermann geben wolle. Vorläufig befasse er sich, und das reime sich für einen jungen schwärmerischen Eher mann am besten, mit Botanik: Veilchen, Vergißmeinnicht, Himmelsschlüssel, brennende Liebe, Herzenstreu und derlei Zeugs, wie es die Weiber gern hätten. Geblümel, meinte ich, das wäre schon das rechte, und später, wenn eins dem andern, oder die Schwiegereltern ein Stein des Anstoßes würden, könne er zur Mineralogie greifen.

»Der Witz ist gut, aber ich lache nicht,« sagte mein Genosse, »in meinem Haupte gehen ehrwürdige Dinge vor, mein Lieber! Du wirst mich morgen kennen lernen, du wirst staunen, wie ich mich verhalten werde. Er wird manches fragen und mir auf die Zähne fühlen, ob da drinnen wer zu Hause ist!« er klopfte auf die Stirne. »Ich werde nicht viel reden, aber ich werde viel sagen! Verstehst mich?«

Da ich ihn verstand, so wollte er meine Meinung darüber wissen, welche Fragen derlei Leute bei solcher Gelegenheit zu stellen pflegten.

»Ich hätte,« so beiläufig gab ich darauf zur Antwort, »all meiner Tage noch keinen Menschen um die Tochter angegangen, also könne ich den Hergang nicht wissen, dächte aber mindestens, daß folgende zwei Kardinalfragen gestellt werden würden: Erstens: Was haben Sie für einen Erwerb und sind Sie imstande, Weib und Kind zu ernähren? Denn – mußt dir denken – da ist allemal auch schon vom Kind die Red'. Und zweitens: Haben Sie schon mit meiner Tochter gesprochen?«

»Die erste Frage fürchte ich nicht,« sagte der Mehrere, »wohl aber die letztere. Und wenn erst die Rede davon [95] sein sollte, welche von den fünf Töchtern ich haben möchte? Ich kenne keine einzige mit Namen. Ich verlange auf gut Glück die jüngste. Die älteren, werde ich sagen, finden immer noch leicht ihre Verehrer, weil sie die Gescheiteren sind.«

»Ein solches Brautwerben ist gefährlich,« war mein Bedenken. Ich war klüger, als es für einen zwanzigjährigen Springinsfeld anständig ist und doch nicht so klug, um mich von dem Unternehmen des unbedachten, fürwitzigen Gesellen abzusondern. Er brachte, als der Bach leiser wurde und der gewöhnliche Stimmenaufwand auch einen gewöhnlicheren Gedankengang erzeugte, ganz vernünftige Dinge vor und ich dachte, wenn er sich zusammenstiefelt und sehr wenig spricht, so wäre es wohl immerhin möglich, daß bei einem leichten Schütteln der Baum die reifste Birne abwürfe. Ich habe hernach den Mehreren allein gelassen, damit er sich für den wichtigen Schritt vorbereiten konnte.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Gottesdienst begaben wir uns ins Schloß, das auf seinem Berge ruinenhaft dasteht und in dessen Wirtschaftsgebäuden der Verwalter wohnte. Der Mehrere hatte eine Nelke im Knopfloch, ich eine Kornblume, die damals an der Weltgeschichte noch so unschuldig war, als ich es heute bin. Wir sprachen nicht viel miteinander und ich vermute, daß uns beiden verflucht schneiderhaft zumute war.

Wer der Redner sein sollte, war ausgemacht. Selbst ist der Mann. Ich sollte nur neben stehen als feierliche Zeugenschaft, daß er's wirklich selbst ist. Ich sollte in meinem Festgewand wohl auch einen Schmuckgegenstand bilden; der Freier hatte seine rote Seidenschleife am [96] Hals, seine goldenen Ringlein im Ohr und seinen zierlichen Schneider an der Seite. Für den Notfall mußte aber meine Geistesgegenwart bereitstehen, um zu bestätigen: Keinen Bessern für die Tochter kunnt der Herr nit kriegen...! So war's ausgemacht.

Als wir in den Schloßhof eintraten, kam eine Meute von Hunden auf uns los; wir standen regungslos wie zwei Zaunstecken, denn »sich nicht rühren, das ist das beste!« So ließen wir, für unsere unteren Partien bangend, das drohende Gebelle über uns ergehen, bis eine hochaufgebaute Dame in himmelblauem Schleppkleid und mit langen, gelösten Locken im schönsten Feuerrot aus der Tür trat und den Bestien Ruhe gebot.

Der Mehrere trat rasch an sie hin, und da ich sah, wie er zu ihr emporblickte, war mein Gedanke: Du, Schneider, wie ihr zwei nebeneinandersteht, ist sie die Mehrere!

Trotz des wahrhaft stattlichen Wuchses der Dame war ihr Angesicht derart, daß ich zuversichtlich wurde. Nicht so sehr weil es huldreich lächelte, als vielmehr weil es – nichts weniger als schön war. Ich konnte das näher beschreiben, ich tue es aber nicht; die seelischen Häßlichkeiten eines Menschen darf man lächerlich machen, die körperlichen nicht, denn für solche kann niemand.

Der Schneider wußte ihr auf einem Atem viel Reizendes zu sagen und als sie nun gar ihr weißes Taschentüchlein fallen ließ, hielt ich alles für gewonnen. Er hob es rasch auf, und an der Ecke die eingewirkten Buchstaben bemerkend, flüsterte er: »Das ist wohl der werte Namenszug!«

Als wir hernach die Stiege hinaufgingen, rannte [97] mir der Mehrere zu: »Ich weiß genug, das Ungeheuer heißt Thusnelda. Ihre jüngeren Schwestern Sophie und Hermine.«

»Wenn wir sie nur schon gesehen hätten!« seufzte ich.

»Ich bin gefeit,« war seine Antwort.

Bald darauf standen wir in der großen Stube. Wir gaben uns eine dem Freier gebührende Stellung, vereinigend die bittende Demut mit dem begehrenden Stolze.

»Wenn man abergläubisch wäre!« flüsterte er, auf die vielen Hirschgeweihe rings an der Wand deutend. – »Ausgeschlossen!« sagte ich.

Nun trat der kaiserliche Verwalter ein. Das war ein alter Recke mit roter Stumpfnase und grauem Vollbart. Er knurrte uns lachend an, was wir wünschten?

Jetzt begann mein Mehrerer ein Gemenge von Redensarten, Sprichwörtern, Titulaturen und dergleichen herzusagen, in denen ihn der Verwalter nach einer Weile unterbrach: »Ah, ihr wollt Gefällholz! Gar keinen Anstand weiters, nur auf die frischen Bäume acht haben!«

Da glotzten auf einmal ihrer zwei jämmerlich drein.

»Jeß Maria!« sagte endlich der Mehrere, »jetzt haben wir uns nicht verstanden.« Und weil er entgleist war und doch in heiliger Not was gesprochen werden mußte, so ergriff er das Nächstliegende, nämlich die nackte Wahrheit und sagte, daß er Jaroslaw Votschka heiße, annoch das Schneidergewerbe ausübe, übrigens zu was Besserem geboren sei und in Ehren um die Hand der Tochter Hermine bitte.

»Ah ja so!« rief der Verwalter lachend, »meine Tochter! Na, da müssen wir doch ein Glas Wein miteinander trinken.«

[98] Ich erschrak ordentlich über die unheimliche Leichtigkeit, mit der das ging. Mein Genosse kneipte mich heimlich in den Arm. Auf den Wein schien das Haus gut eingerichtet zu sein, rasch war er zuwege mit allem Zubehör und wir saßen dabei.

»Also die Tochter!« knüpfte der Verwalter das Gespräch wieder an, dann drohte er mit dem Finger: »Haben hinter meinem Rücken wohl schon alles mit ihr abgemacht! – Nicht? Na, tut nichts. Es plangt jeder schon um einen Mann, und ein so netter Bursche da – !«

Der Mehrere trat mir vor Wonne auf die Zehen.

»Daß Sie in Ihrem Gewerbe sehr tüchtig sind –« der alte Herr würzte die Bemerkung, indem er uns frischen Wein nachschenkte, »das ist wohl ohne Zweifel.«

»Man befleißigt sich stets auf der Höhe der Zeit zu stehen,« sagte nun der Mehrere, sich leicht verneigend, »denn unser Gewerbe hat in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich große Fortschritte gemacht. Ich will von den Nähmaschinen nicht sprechen, nicht von dem neuen amerikanischen Repasseur, welcher imstande ist, in dreißig Minuten die Pantalons einer halben Armee zu glätten; ich rede vielmehr erstens von den großartigen Dimensionen, welche besonders in Holland die Tuchfabrikation genommen, mithin unserer Kunst durch Hunderte von Fabriken stets feinster Stoff zugeführt wird, sowie von der unbehinderten Entwicklung derselben durch die Gewerbefreiheit und viele neue technische Einführungen auf dem Gebiete des Messens, Taillierens und Coudrierens, welche besonders in der französischen Hauptstadt Paris –«

»Und können Sie auch lodenriffeln?« unterbrach ihn der Verwalter schnarrend.

[99] »Ah, Sie meinen das Drapieren des Stoffes?«

»Ich meine das Lodenriffeln.«

»Das allerdings – liegt einem wissenschaftlich gebildeten Kleiderkünstler – wenn ich mich so ausdrücken darf – etwas ab, weil solcherlei ordinäre –«

So der Mehrere und das war gefehlt.

»Sie sind Schneider und können nicht lodenriffeln!« sagte der Verwalter, »alsdann kann ich Ihnen meine Tochter nicht anvertrauen. Ich bitte schon um Entschuldigung, ich bin nicht besoffen, aber das muß ich sagen, ein Schuster, der nicht lederklopfen und ein Schneider, der nicht lodenriffeln kann, der ist nicht weit her, und selbst wenn er von Mähren wär'.«

»Aber kaiserlicher Herr Verwalter und Oberförster!« stotterte der Mißhandelte.

»Es ist noch Vormittag und ich weiß, was ich sage!« fuhr der Verwalter fort, »ich habe meinen Töchtern oftmals vorgehalten: Wenn eine von euch einen fleißigen Handwerker kriegt, so kann sie sich alle zehn Finger ablecken. Jetzt kommt einer und kann schön reden. Aber mit der Zungen verdient der Handwerker sein Brot nicht, sondern mit der Hand. Weiter geht's mich nichts an. – Was gibt's Neues, meine Herren?«

Der Mehrere stieß mich mit dem Ellbogen: »Weißt was, so sag' ihm's du, ich gehe zum Kuckuck!«

Wir trollten uns beide davon. Im Hofgarten an den Blumenbeeten standen in hellen Farben und reizvollem Geflüster miteinander fünf Frauengestalten. Wir schossen an ihnen vorüber und erst draußen, weit draußen im Buchenwalde blieb mein Genosse stehen, trocknete sich die Stirn und sagte: »So, das wär' auch vorbei.«

[100] Mich dauerte das Herz; ich sann nach Balsam.

»Richtig für Ernst hat er's gehalten, der Alte!« rief ich und brach in ein unbändiges Lachen aus.

Der Mehrere verstand mich und haben wir es in unserer Niederträchtigkeit so verdreht, als hätten wir den Verwalter mit der Brautwerbung nur gefoppt. Aber innerlich verwand er's doch nicht, der gute Jaroslaw. Er ließ wohl das Großsprechen sein, doch seine Arbeiten wurden nicht besser, sondern begannen in der stummen Sprache ihrer Wesenheit nachgerade das Handwerk zu verhöhnen. Und eines Tages sagte ihm der Meister, während er ihm in den glänzendsten Silberzwanzigern, die ich je gesehen, den Wochenlohn auszahlte: »Mein lieber Jaroslaw, man kann dir nicht feind sein, denn du bist soweit brav und alleweil bei Humor, aber dein Arbeiten ist nicht viel nutz. Probier's einmal wo anders.«

Der Mehrere war fremd. Er warf sich in sein elegantes Gewand und machte bei allen Bekannten die höflichsten Abschiedsbesuche und hat als manierlicher Mensch überall den besten Eindruck zurückgelassen.

Vier Jahre später sahen wir uns in Wien. Er lief mir nach und hatte tüchtig zu tun, sich mir wehmütig lachend als der Mehrere vorzustellen, denn er war überaus verändert – herabgekommen. Er erzählte mir sein Unglück und daß auf der Welt keine Gerechtigkeit sei. Trotz all seiner Talente und seines höheren Strebens, das Gewerbe zu veredeln, stehe er da, wo er stehe!

Weil du eins übersehen hast: die einfache Arbeit! – Das wollte ich ihm sagen. Da mahnte mich eine innere Stimme: »Sag's nicht, zahle ihm ein Mittagmahl.«

[101] Bei demselben wurden wir beide lustig und er erkundigte sich nach dem kaiserlichen Verwalter und Oberförster.

»Den zieht's schon arg in die Krumme, und seine fünf Töchter haben ein so gutes Herz, daß noch keine den mühseligen Vater verlassen hat.«

»Kommst einmal zum Herrn Verwalter,« sprach nun der Mehrere und faßte meine Hand mit der seinen, die ganz kühl war, »kommst zu ihm, so sag', ich ließe ihn grüßen; und er hätte schon recht gehabt.«

Er goß den Rest des Weines in seine Gurgel und verließ mich.

Der ewige Schneider
[102] Der ewige Schneider.

Der Toni – das war derselbe, der das Sprichwort hatte: »Ich möcht' mir sonst nichts wünschen, wie daß ich bei meiner Leich' als kleiner Bub' hinten nachlaufen kunnt.«

»Du bist narrisch, Toni,« sagten ihm herauf die Leute und andere meinten: »Du bist nicht gescheit, Toni.« Nur einen kannte ich, der ihm auf sein Sprichwort stets entgegnete: »Ja, Toni, das glaub' ich, daß du bei deiner Leich' als kleiner Bub' hinten nachlaufen möchtest.« Und dieser eine war ich. Wir saßen beisammen und nähten mitsammen, und auch beim Schwätzen ging uns der Faden nicht aus. Und wollte er schon mitunter ausgehen, so verstand der Toni das Anknüpfen. »Ja,« berichtete er, »deshalb spar' ich meine Sach' zusamm', daß ich eine schöne Leich' krieg'. Werdet's schon finden unter meinem Kopfpolster, das Testament. Nur nichts Trauriges, das ist langweilig. Die Musikanten müssen was Lustiges aufspielen; Walzer nicht, die schicken sich nicht auf dem Freithofweg; den Radetzkymarsch, oder so was, daß es recht klingt im Wald und die Leut' mit Takt traben können. Und daß sie mir nur das Sacktuch mit in die Truhen geben. Alsdann nach dem Begräbnis eine gute Tafel, daß ein Schippel Leut' mitgeht.«

[103] »Glaubst du denn, daß sie dich zur Tafel lassen werden, wenn du als Gassenbub' hinten nachläufst?« Diesen Einwand machte ich.

»Ist mir auch nichts drum, ich laß sie essen und geh' meinem Schneerutschen nach, oder ist's in anderer Jahreszeit, dem Krebsenfangen oder dem Vogelnesterausheben; ein Schlingel bin ich, ein Schlingel bleib' ich und ich mag tausendmal auf die Welt kommen.«

Er arbeitete gern, der Toni, aber stets nur mit größeren Unterbrechungen. Er hatte einmal ein schwarzes Röcklein aus seinem Tuche halb erworben, halb geschenkt bekommen, und wenn er das trug, war es, als dehne sich der Mann schlank in die Länge. Man konnte nicht sagen, an dem Toni sei ein seiner Weltmann verloren gegangen, der seine Weltmann war ja doch da und zeigte sich; wenn er Schnaps trank oder betteln ging, voll liebenswürdiger Herablassung seiner Umgebung. In das gewöhnliche Gespräch der Leute mischte er sich nicht gern, er verlegte sich nur auf die Philosophie. Und da sagte mancher von ihm: »Ewig schade, daß der nicht studiert hat, der hat was im Kopf!«

»Haben die Apostel studiert?« fragte er. »Wem's angeboren ist, was braucht denn der noch zu studieren! Gebt acht, was ich das nächste Mal tue!«

Mit dem nächsten Male meinte er das neue Leben, wenn er wieder auf die Welt käme; denn es erging ihm, wie es allen Optimisten ergeht, sein Wunsch war ihm zum Glauben geworden.

Einer Bettlerin Kind war der Toni gewesen, hatte sich durch vierzig lange Jahre heraufgedarbt und heraufgelitten [104] bis zum Bauernschneidergesellen, der länger auf der Wander ist als in der Arbeit und dessen Ideal in einer »schönen Leich'« besteht, als ob das Sterben nur so eine Art Jubiläum wäre, welches jeder, der seine Sach' ehrlich durchgemacht; etwa von siebzig zu siebzig Jahren einmal das Recht hat, zu begehen. Und in diesem Manne die Sehnsucht nach Wiederholung seines Lebens!

»Ein Mittel wüßte ich schon, daß du als Bübel hinter deinem Sarg dreinlaufen könntest,« sagte ich ihm einmal, »heiraten.«

»Narr!« rief er, »da lauft ja das Weib hintendrein und sucht sich unter den Leidtragenden den Zweiten.«

»Und meinst nicht, daß auch ein kleiner Bub' da sein kunnt?«

»Ein halb Dutzend kann da sein, und Mädeln auch so viel, das sag' ich dir! – Aber halt eine Sach' ist zu bedenken. – Ich weiß nämlich nur eine, die ich möcht'.«

»Eine ist ja genug.«

»Ganz gewiß auch. Aber nehmen will sie mich nicht. Für einen, sagt sie, wäre ich ihr zu gescheit und für zwei zu dumm. So foppt sie mich.«

Ich war damals schlecht genug, darauf zu entgegnen: »So foppe du sie auch!« worauf er mir ins Ohr flüsterte: »Sie läßt sich aber nicht foppen.«

Seine Angebetete war eine schöne Wirtstochter zu Mürzzuschlag – »die ehr- und tugendsambste Jungfrawen im Land Steier«, wie er sie in Anwendung alter Leseart gern bezeichnete.

Sonst soll ihm seine Mutter gesagt haben, ein Handwerk müsse er lernen, damit er einstmals einen Hausstand [105] gründen könne. Und jetzo war ihm just dieses Handwerk im Wege, denn »keinen Schneider nimmt sie nit«.

»Deswegen,« sagte der Toni schwermütig, »wenn ich noch einmal auf die Welt komm', kein Schneider werd' ich nimmer.«

»Wirst es aber vergessen haben, mein lieber Toni,« entgegnete ich in würdigem Ernste der Weisheit, »wirst es vergessen haben, daß du schon einmal ein Schneider gewesen bist und daß dir der Stand nicht gefallen hat!«

»Desweg sag' ich ja, daß sie mir ein Sacktuch mit in die Truhen geben sollen. Siehst du!« und er zog sein Tuch aus dem Sacke, »schon jetzt mach' ich einen Knoten d'rin, daß ich nicht vergeß' d'raus.«

»Und was willst du nachher werden?«

»Ein reicher Stadtherr.«

»Da wär's wohl schad' um den Knoten,« meinte ich.

»Da denkst ganz gescheit,« sagte der Toni, »ganz gescheit denkst. – Und jetzt möcht' ich dich nur fragen, ob dir's auch so ist; ich hab' so Augenblicke, wo es mir vorkommt, als ob ich schon einmal auf der Welt gewesen wäre.«

»Du,« entgegnete ich und ließ die Nadel ruhen, »mir kommt's auch bisweilen so vor. Das ist merkwürdig!«

»Wenn man nur wüßte, was man gewesen ist. Ich muß in einem Lande gewohnt haben, wo die Sacktücher nicht Brauch sind, sonst hätte ich sicherlich –«

»Geh, geh, mit deinen Knoten! Das ist ein Spaß für einmal, den laß gut sein. Wenn ich so nachsimulier' über die Sach' von wegen ehemals und es zuckt mitunter so ein Licht'l auf – g'rad' so wie ein Licht'l[106] möcht ich sagen – so deucht mich, ich bin derselbig' Tropf gewesen, wie jetzt.«

»Meinst? Ja, nachher ist's vielleicht doch so, daß wir als kleiner Bub mit unserer Leich' mitrennen.«

»Ja, du, Toni, was glaubst denn! Wenn das alleweil so fortginge, wann käme so ein armer Schneider hernach in den Himmel?«

»Weißt,« antwortete der Toni und stützte den Ellbogen auf das Knie, »der Himmel! Mich lust's nicht gar so stark nach dem Himmel. Hab' ich mein Stückel Brot zu essen und mein Glas Apfelmost, nachher laß ich's gut sein.«

Und wirklich, er ließ es gut sein, der Toni. Und eswar gut. Und es ist heute noch gut. Vielleicht seid ihr ihm auf irgendeiner Straße schon begegnet.

Das ganze alte Kerlchen, welches sich heute noch so innig des irdischen Sonnenscheins erfreut, daß sogar die Zehen aus den staubgrauen Stiefeln hervorgucken in die lichte Welt. Er geht schon recht bucklig, aber emsig wie ein Wiesel. Sein Bart ist viel weißer als die Pfaid, die ihm am Ellbogen hervorschaut. Der Mann trägt fast nichts mit sich, als ein Spazierstöckchen, das er ganz sein zu schwingen versteht und das sich hinwiederum mächtig biegt und baucht, so oft er sich drauf stützt. Nicht wahr, er ist euch schon begegnet? Und ist euch nicht sein rascher, zierlicher Gang aufgefallen? Er muß ja auch sein Käppchen gelüftet und euch gegrüßt haben – flink und lustig gegrüßt und gütig dabei, als wollte er euch was schenken. Seht, der ist's, das ist mein spintisierender Toni.

[107] Ich zweifle nicht, er wird sterben, der Toni, aber er wird nicht aussterben, er wird immer ein ärmliches Leben führen, er wird immer possierliche Hirngespinste weben, er wird sich im Gegensatze zu Ahasver immer nach ewigem Leben sehnen, wird auf all seinen Wegen und Stegen hüpfen, hopsen und tänzeln mit leichtem Fuß, alleweil guten Mut's, alleweil ein wenig windig, kurzum – der ewige Schneider.

Der Prediger in der Wüste
[108] Der Prediger in der Wüste.

Zur Zeit dieses Schneiders war ich selbst eigentlich noch keiner. Das macht aber nichts. Das Kapitel gehört doch ins Buch. Der »Predigende« gehört so gut wie der »Aufschneider«, der »Heiratslustige« und der »Philosoph« in meine kleine Galerie der Schneideroriginale. Also herein mit ihm.

Das Tal mit seinen hundertzwanzig Einwohnern – ich machte das zehnte Dutzend voll – war wie ein Kloster. Wir hatten zwar nicht einmal eine Kirche; dafür bekränzten wir zur Sommerszeit die hölzernen Kruzifixe, die vor den Häusern und an Wegscheiden standen, und wir verrichteten zu den Sonnabenden davor unsere Andachten, und was die Hauptsache war, wir führten alle Hundertzwanzig ein sehr eingezogenes Leben. Strenge Arbeit und magere Nahrung täten die weltliche Begier in uns ersticken und uns mit Eifer den Himmel wünschen lassen, wo man nichts arbeitet, wohl aber gut ißt und trinkt und alles haben kann, was das Herz verlangt. Aber der Himmel ist ohne Frommsein nicht zu erlangen – daher wußten wir alle, was wir zu tun hatten. Freilich gab es Stunden, in denen uns jüngeren Leuten die Erde lieber war als der Himmel. Solch weltlichem Sinne wurde wacker entgegengewirkt.

Ein alter Schneider lebte in Fischbach, der hielt zuweilen Predigten, weswegen sie ihn auch den predigenden [109] Schneider hießen. Er hatte seinerzeit der Jesuitenmission beigewohnt, und seither ging ihm das Leutebekehren nicht mehr aus dem Kopfe. Er hatte Rednertalent in sich entdeckt; hatte anfangs dasselbe geübt, wenn er allein in der Werkstatt saß und später auf dem Oberboden seines Häuschens, oder draußen im Erlenbusch. Schriftgelehrt war der Meister von jeher gewesen und gewandt in der Auslegung der Bibel.

Als in späteren Tagen seine Augen so trübe geworden waren, daß er mit der Fadenspitze das Nadelöhr nicht mehr traf, sich hingegen seine Rednergabe mächtig entfaltet hatte, fühlte er sich erkoren, den Fischbacher- und Alpelbauern ein Apostel des Heiles zu werden. Er ging eines Tages höher in die Wildnis der Berge hinauf, kehrte jedoch nach sehr kurzer Zeit wieder zurück und begann sein Predigeramt.

Er war nun fast blind an seinen leiblichen Augen, hatte indes ein geistiges Gesicht; er sah den Himmel offen, ja bisweilen, wenn er an etwas Ärgernis nahm, auch die Hölle. Er sah die ganze Ewigkeit, die wir anderen uns nicht einmal genau zu denken vermochten, in leibhaftiger Gestalt. Er hat mir, seinem besonderen Liebling, die Sache einmal durchgreifend erklärt. Ich weiß nicht bestimmt, ob ich die Darstellung des blinden Sehers recht aufgefaßt habe, ich erinnere mich nur, daß ich mir die Ewigkeit gedacht hatte als einen weiten und sehr langen Stollen in die Erde hinein, welcher mit roten Wachskerzen beleuchtet ist, und in welchem die Seelen der Abgeschiedenen in Leichentüchern dahinwandeln. Wie lang dieser Stollen eigentlich ist, davon hatte der alte Schneider folgendes Bild.

[110] »Wenn,« sagte er, »die ganze Weltkugel ein Zwirnknäuel von feinstem Zwirn wäre und es tät' einer kommen, den Faden abwickeln und damit die Ewigkeit messen, so wäre, meine lieben Christen, der Maßfaden viel zu kurz!«

Ein solcher Redner mußte selbstverständlich großen Anhang gewinnen. Und so oft es hieß: »Heut' predigt der Schneider wieder!« versammelten sich des Abends die Leute in seinem Häuschen.

Ich war dabei stets einer der eifrigsten Predigtbesucher, war auch schon baß so hoch emporgewachsen, daß ich in der vollgedrängten Stube meinen Vormännern über die Achseln lugen konnte und hatte nur darauf zu achten, daß mir keiner auf die Zehen trete. Gern stellte ich mich daher zu Nachbarn, die – wie ich – keine Schuhe anhatten, und so konnte ich meine volle Aufmerksamkeit dem Prediger zuwenden.

Anfangs, wenn wir in die Stube traten, war der Schneider stets abwesend; doch hörten wir auf dem Dachboden über der Stube ein Murmeln, Seufzen und Ächzen, ein Pfustern und Räuspern, da wußten wir schon, daß der Mann in seiner Vorbereitung, oder gar in einer Verzückung war. Unsere anfangs lauten, zumeist weltlichen Gespräche wurden immer leiser, und allmählich zog ein anderer Geist ein in unsere Seelen.

Endlich stieg er die Sprossenleiter nieder. Es war, so viel man da sah, eine Knochenfigur zum Erbarmen. Das klapperte nur so, bis das Männchen herunten auf dem Boden stand.

Hierauf schritt der Schneider zum Tische hin und stieg dort auf einen Schemel. Dann legte er seine Arme kreuzweise über die Brust, schloß die Augen und [111] stand so etliche Minuten unbeweglich da. Sein Haupt war fast kahl, seine Backen waren glatt rasiert; einen schwarzen Überrock hatte er um sich geschlagen, um das priesterliche Ansehen herzustellen, aber mir – ich konnte nichts dafür – fiel es ein: »Du schaust halt doch aus, wie ein zaundürrer Schneider.« Ich sandte sofort ein Stoßgebet zum Himmel, daß der mich vor ähnlichen lasterhaften Gedanken bewahren möge, denn des war ich überzeugt: der Schneider ist ein heiliger Mann.

Bevor er noch die Augen öffnete, tat er den Mund auf und hub an mit langsamer und dumpfer Stimme, wahrscheinlich nach einer Erinnerung von der Jesuitenmission, so zu reden: »Der ewige Herrgott hat mich zu euch gesandt. Der ewige Herrgott schickt durch mich sein heiliges Kreuz, seine drei Nägel, seine blutige Kron'. Das Evangeli ist geschrieben mit rosenrotem Gottesblut. Tut die Ohren auf, denn so spricht der Herr.«

Und hierauf begann er seine Predigt, die sich je nach einem Festtag, nach der Jahreszeit, nach irgendeinem Ereignis, nach dem Stande der Zuhörer, oder auch wohl nach seiner persönlichen Laune richtete.

Die Zuhörer schluchzten oder licherten dabei; ich war stets tief versunken in den Vortrag, denn – und das dachte ich nicht damals, das schreibe ichheute – wenn die Gedanken des Redners auch noch so verrückt, es waren immerhin Gedanken und insofern bei uns daheim ein rares Ding. Die phantastischen Bilder, die der Schneider als Beispiele dreingab, habe ich seither mehrmals auf alten Gemälden vom guten Höllenbreughel wieder gefunden.

Mit uns Alpelleuten war der Meister Brotschimmel[112] – so hieß er, hat's auch im Testament nicht verboten, seinen Namen zu nennen-im ganzen recht zufrieden; nur ein klein bißchen zu viel fluchen täten wir. In Erwägung jedoch, daß das Fluchen dem Älpler im Geblüte liege, daß wir dieses Laster also unser Lebtag nicht lassen würden, empfahl er uns, die gottlosen Ausdrücke wenigstens in etwas umzumodeln und dadurch zu mildern. So sollten wir z.B. anstatt »sackra« sickra sagen, anstatt »Teufel« Teuxel, anstatt »verflucht« verflixt, anstatt »verdammt« verdangelt oder verdankt ausrufen; und das »Himmelsherrgottkreuzdonnerwetter« sollten wir ganz dem lieben Gott überlassen, da wir es ohnehin nicht zu handhaben wüßten.

Die Fluchreformen sind richtig durchgeführt worden, und kein Mensch in Alpel wird heutzutage in einem gelinden Zorn noch das heilige Wort »Kruzifix« ausstoßen, sondern stets »Kruzitürken« oder »Kruziadaxl« rufen. Nur in Momenten höchster Wut greifen die Leutchen noch zu ihren hagebüchenen Ausdrücken zurück.

Das waren indes so ziemlich die ganzen Erfolge der Mission des Meisters Brotschimmel. Auch neue Gebete und Litaneien wollte er aufbringen; da unterbrach ihn ein rußiger Kohlenmann heftig, wir hätten an den alten genug.

Der Schneider predigte anfangs selten, später jedoch wöchentlich ein- oder zweimal. Bisweilen geschah es, daß irgendein Fremder, der zufällig im Tale anwesend war, sich ins Häuschen des Meisters einschlich, um aus Neugierde und Fürwitz den seltsamen Apostel zu hören. Das war stets vergebens, der Schneider merkte nur allzubald den Bock unter den Schafen und predigte nicht.

[113] Einmal kamen drei Ingenieure in die Gegend, um auszumessen. Wir alle miteinander hatten nicht viel Vertrauen zu diesen Leuten und meinten, daß sie unseren Grund und Boden messen und schätzen, bedeute nichts Gutes. Aber es ging an, die Herren brachten Geld in die Gegend. Mich, den halberwachsenen Jungen, pachteten sie bei meinem Vater für sechs Tage um zehn Gulden, daß ich ihnen die Werkzeuge mit herumtrüge und auf den Wipfeln der Bäume schneeweiße Holztäfelchen befestige.

Es waren eigentlich ganz verrückte Arbeiten, die sie trieben. Da gingen sie herum, wo gar keine Wege und Stege waren, steckten ohne allen Anlaß Fahnen und bunte Tafeln auf die Bäume und auf die Bergspitzen, schlugen Tische auf mitten im Weideplan, und aßen doch nichts drauf; durch lange Röhren guckten sie, mit Stäben zielten sie, als wollten sie schießen, mit den Zirkeln tanzten sie auf dem Papier herum, schrieben allerlei Ziffern und Buchstaben dazu, und des Abends, wenn sie ins Haus zurückgekehrt waren, wußten sie die Höhe und Breite der Berge.

Diese Art zu messen kam auch zu den Ohren des Schneiders, der sonst gewohnt war, mit dem Faden ängstlich alle Körperteile seiner Kunden zu prüfen und trotzdem die Hosen und Joppen zu verschneidern.

»Sickra, sickra!« rief er eines Tages in seiner Predigt, »diese Ausmesser, das sind Teuxelsleut'! Jetzt rechnen sie dem Herrgott seine Welt schon vor; aber Geduld! Wie sie ausmessen, so wird ihnen eingemessen werden!«

Was Wunder, daß die Ingenieure, die alles Gute und Merkwürdige in der Gegend auskundschafteten, endlich [114] auch den Wunsch hegten, unseren Prediger zu hören. Der Mann war nach und nach vollständig erblindet, und so konnte ich, als der Führer der Herren, es wagen, sie eines Abends in das Schneiderhäuschen einzuschmuggeln. Doch siehe, schon in seiner Einleitung stockte der Prediger, bald unterbrach er sich und sagte laut:

»Heut' sind fremde Leut' da!«

»Beileib' nicht, Meister, beileib' nicht!« beteuerte ein alter Knecht.

»Du!« drohte der Schneider, »der Teuxel wird dir glühende Kohlen in den Mund stecken für deine Lug'! – Stadtleut' schmeck' (rieche) ich!«

Leider waren die Fremdlinge so unvorsichtig gewesen, beim Eintritte ihre Zigarren nicht gleich auszulöschen! So war dem Blinden ihre Anwesenheit kund und die Predigt unterblieb.

Von dieser Zeit an war Meister Brotschimmel vorsichtiger. Er hatte ein junges Mädchen, armer Leute Kind, ins Haus genommen, das er nach seinen Grundsätzen zu erziehen und vor den Fallstricken der Welt zu bewahren trachtete. Das Mädchen – Marianne Schober ließ es sich schreiben – war gar eingezogen und sittsam. Die Marianne nun mußte immer vor den Predigten an der Tür stehen und jeden zurückweisen, der ihr nicht als Einwohner unseres Tales bekannt war.

Ich war mit dem Mädchen schon früher ein wenig vertraut worden. Wir waren bei der Predigt häufig nebeneinander gestanden, weil es, wie ich, keine Schuhe trug. Das eine Mal nun hatte ich – zufällig – die Marianne auf die Zehen getreten; das andere Mal war ihr Pfötlein auf das meine gestiegen; und so hatten, während [115] wir oben den Worten des Propheten lauschten, unten unsere Zehen miteinander Bekanntschaft gemacht. – Später nähte mir Marianne einmal während der Predigt ein am Halse herausgesprungenes Hemdhäkchen ein; und ich guckte mir dabei ihre seinen, salben Locken und ihre blauen Augen etwas näher an. – Ich freute mich stets die ganze Woche auf die Erbauungsstunde beim Meister Brotschimmel und gab mir bei solchen hierauf öfters Mühe, das Hemdhäkchen wieder herauszusprengen.

Mein jüngerer Bruder ging auch mit Vorliebe zur Schneiderspredigt. Derselbe hatte hinter dem Kachelofen sein Winkelchen und konnte dort eine ganze Stunde lang seinen Übungen obliegen. Er »lernte« damals nämlich just das Tabakrauchen, was daheim streng verpönt war. Da in der Predigt auch andere schmauchten und der Vater selten anwesend war, so kann man sich die Vorteile meines jüngeren Bruders wohl denken.

Eine Besonderheit war es, daß die älteren Leute des Tales sich den Vorträgen des blinden Schneiders allmählich entzogen. – »Wir wissen's ja schon, was er sagt,« meinte einer der Ältesten, »und täten in der engen Stube anderen nur den Platz wegstehlen; den jungen Leuten tut es 'leicht nöter, als uns, daß sie fleißig in die Predigt gehen.«

So sind wir junge Leute denn weiter verhalten worden, an den stillen Feierabenden ins Schneiderhäuschen zu wandern, um dort das Gotteswort zu vernehmen. Als der Prediger wußte, seine Zuhörerschaft bestünde zumeist aus jungem Volke, dem das Blut erst warm zu werden beginne, da zog er andere Saiten auf. Wir hörten manch [116] Erfreuliches von heiligen Jünglingen und Jungfrauen, aber auch allerlei Seltsames von den Begierden und Anfechtungen des Fleisches, von den höllischen Werkzeugen, womit die Gefallenen gezwickt, gekratzt, geschunden, geschmort, zerstückt und auf alle erdenkliche Weise gepeinigt werden.

Doch der Mensch wird alles gewohnt; bald verloren die Vorträge jegliche Wirkung. Wir ergötzten uns im stillen nach unserem eigenen Geschmacke.

Die Predigt begann stets um sechs Uhr.

Es war dem Schneider ein Gesetz, die Lehre mußte eine Stunde währen, denn so lange hatten auch die Missionäre gesprochen. Zum Stundenschlag sieben aber wurde der Vortrag plötzlich mit einem kräftigen Amen abgehackt.

Und eines fröhlichen Samstagabends im Frühherbste gingen wir wieder ins Haus des blinden Schneiders zum Unterrichte. Da traf es sich, daß wir Zuhörer aus lauter jungen Leuten bestanden, aus Burschen und Mädchen von zwölf bis fünfundzwanzig Jahren, wovon nur das Bachreutermaidle mit ihren dreiundfünfzig Jahresringen um die Augen eine schöne Ausnahme machte.

Das Bachreutermaidle hinderte uns aber gar nicht, im Gegenteile, wir waren froh, daß wir es unter uns hatten, denn, wo das dabei war, da gab es unterschiedliche Schwänke und Possen allerwege. Wenn den tollsten Jungen nichts übermütiges mehr einfiel, so war gewiß noch das Bachreutermaidle die Anstifterin irgendeiner Schalkheit, eines ausgelassenen Stückchens. Wie ein Bub konnte es springen und johlen und balgen, das Maidle; wenn es aber still war und seinen kurzen Hals einzog [117] zwischen die hohen, spitzigen Schultern – da gab's gar noch das Ärgste zu fürchten oder zu hoffen – da kam sicher bald ein rechtes Schelmenstück heraus.

Es war bislang ohne Mann geblieben, das Maidle, und die Talbewohner rieten schier, es sei bei der Taufe desselben eine Irrung geschehen und das ganze Tal um ein Bachreuterbüble betrogen worden. Das Maidle hielt sich so brav, daß niemand von der Haltlosigkeit obiger Annahme überzeugt war. Nun freilich hatte es schon die Runzelchen und etliche graue Haare, aber der Possenreißer in ihm war jung geblieben.

Dieses Maidle hatten wir Jungen unter uns, als an jenem Samstagabend der Schneider zu predigen anhub. Ich, als einer der zuletzt Erscheinenden, hatte meine barfüßige Pförtnerin mit in die Stube genommen und mich mit ihr auf ein Bänklein gesetzt, unter welchem die Hühnersteige war. Die Hühner saßen schon geruhsam auf ihren Stangen, nur der Hahn schlug bisweilen noch eins mit den Flügeln. Auf der Ofenbank, auf dem Gesiedel und in anderen Winkeln saßen andere, wie sie sich eben beliebig gesellt hatten. Etliche Jungen dampften aus Tabakspfeifen; andere strichen sich mit Kohlen Schnurrbärte an; wieder andere schnitten allerlei Gesichter und drehten dem Schneider Nasen. Der Schneider aber stand auf seinem Schemel und predigte. Er predigte von der Tugend der Abtötung. Er führte alle Heiligen an, die sich kasteit, gegeißelt, mit härenen Kleidern gekratzt, ausgehungert und auf alle andere, oft unsaghafte Weise gepeinigt hatten. – Und die Jungen drehten dem Prediger Nasen, oder kauerten in einer Ecke und spielten Karten. Und einer war dabei, der schrieb Spottliedchen [118] auf den Schneider und verteilte die Papierstreifen. Eines derselben lautete:


»Der Schneider, der Schneider.

Wie ein Zahnbrecher schreit er,

Und Maidle in der Still'

Tut doch, was sie will!«


Ein anderes, das mir noch in Erinnerung:

»Der Schneider Brotschimmel

Fährt heut' noch in Himmel,

Morgen ist's zu spat,

Weil ihn der Teufel g'holt hat.«


Natürlich geschah das alles in gehöriger Ruhe, denn diese Gelegenheit, in Gemeinschaft Hallodria zu treiben, durfte für heute und die Zukunft nicht verscherzt werden.

Am trautsamsten selbstverständlich ging es dort zu, wo sich zu Maid und Bursch' die Pärchen versammelt hatten.

Zu solcher Stunde nun, es mochte dreiviertel auf sieben, und die Auflösung der Gesellschaft also nahe sein, schlich das Bachreutermaidle auf Zehenspitzen zur Schwarzwälderuhr hin und häkelte von der Schlagwerkschnur den Gewichtklumpen ab. Die Uhr tickte wie vor und eh' und das Maidle huschte auf seinen Platz zurück und tat sein andächtig horchen auf die Predigt, insgeheim frohlockend über die Wohltat, die sie der ganzen Gesellschaft erwiesen hatte. Es war dabei ja auch beteiligt, denn ihm zur Seite saß ein rotlockiger Bursche, mit dem sich das Maidle nicht ungern im Fingerhäkeln übte.

Und der Schneider predigte und predigte. Schon schien sich ihm manchmal der Stoff zu verflachen, aber die Uhr schlug nicht sieben. Noch erzählte er die Legende vom heiligen Aloisius und erklärte die Bedeutung der [119] Lilie, und sprach von den himmlischen Freuden der Frommen – aber die Uhr schlug nicht sieben. Einmal setzte er ab und horchte. Die Versammlung schien in tiefer Andacht zu sein, und die Uhr tickte und tickte. So ließ er sich nun auf die ewigen Strafen der Gottlosen ein.

Ich saß auf dem Bänklein, hielt meinen rechten Arm um den seinen Hals der Marianne Schober geschlungen, und mein Lebtag war mir nicht so wohl, als zur selben Stunde, in der die Uhr nicht sieben schlug. Nur der Hahn war zuweilen etwas unruhig unter dem Bänklein. Der flatterte mit den Fittichen und ließ die Hühner nicht schlafen.

Es war allmählich dunkel geworden. Ein oder der andere Zuhörer räusperte sich dann und wann, mancher vertuschte zur Not ein Kichern. Das Maidle neben dem Rotkopf war die Ernsthafteste. Die Kartenspieler unterschieden ihre Trümpfe nicht mehr genau, und die Pärchen waren womöglich noch näher zusammengerückt.

Noch einmal unterbrach sich der Prediger und horchte. Es war ihm so ein schmatzender Ton aufgefallen; – es war aber nichts weiter, er fuhr fort, hielt es jedoch nicht gerade für überflüssig, noch mehr Scheiter in das höllische Feuer zu werfen, in welchem die weltlustigen Sünder gebraten werden.

Bei solcher Wärme war es naheliegend, daß ich heimlich die Frage an mich stellte: Wenn alle anderen um dich herum heute ihr Mädchen küssen, warum sollst das Ding nicht auch du versuchen?

Ich faßte daher mit meiner linken Hand die Marianne fester denn bisher am Arm, schlang meine rechte Hand noch enger um ihren Nacken, zog ihren Busen an [120] meine Brust, beugte mein Haupt auf ihr Gesichtchen nieder – und wie ich meine Lippen ausbiege nach den ihren, da kräht unterwärts der Hahn.

Erschreckt emporgefahren sind wir beide von unseren Sitzen. Der Prediger aber brach ab und rief: »Wie? Mein Hahn kräht niemals vor dreiviertel auf acht! Morgen ist schlechtes Wetter, und heut hat die Uhr einen Narren gemacht. Geht daher, meine lieben Zuhörer, eilends nach Hause und seid wachsam, denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunde. Amen.« Nun war plötzlich unser Eden aufgelöst. Das Bachreutermaidle kicherte und trillerte, von Burschen umjohlt, davon.

Am anderen Tag sind in der Stube des Apostels Spielkarten gefunden worden und die paar beschriebenen Papierstreifen. Darüber war der Meister Brotschimmel derart empört, daß er ausrief: »Nie wieder, daß ich diesen Heiden des Herrn Wort verkündige: Diese verfluchten Ausmesser haben unsere jungen Leut' verdorben. Der Teufel soll sie holen! Was hilft bei so einem vermaledeiten Volk das Predigen?!«

»Freilich, Meister,« antwortete ihm die Marianne, »das Predigen hilft nichts, sonst wär' der Meister selber bekehrt und tät' nicht so mörderisch fluchen.«

Der Schneider ist nicht ein einzigmal mehr auf den Schemel gestiegen. Die jungen Sünder des Tales haben sich allmählich zerstreut in alle Welt; – etliche davon sind bereits alte Sünder geworden.

Schneider und Nähterinnen durcheinander
[121] Schneider und Nähterinnen durcheinander.

Schneider, Ihr müßt mir heiraten helfen!« redete auf dem Kirchplatz der Bauer Burgfrieder meinen Meister an.

»So! Tut das nicht deine Braut?« sagte mein Meister.

»Sie wird schon auch was beisteuern,« sagte der Bauer schalkhaft, »aber den auswendigen Bräutigam, den müßt Ihr mir hinaufschneidern.«

So nahmen wir an einem der nächsten Tage die Werkstatt unter die Arme und gingen in den Burgfriederhof. Es wäre das eine Ster gewesen, wie jede andere, wenn sich auf derselben nicht die höchst sonderbare Geschichte von der Nähterin zugetragen hätte.

Als wir in dieses Bauernhaus eintraten, standen in der großen Stube zwei Tische. Der eine war noch leer und wartete mit seiner breiten Platte auf die Schneider. An dem anderen, der in der gegenüberstehenden Stubenecke stand, saß die Nähetrin Sanna mit ihrer Ziehtochter. Sie schneiderten an dem inwendigen Bräutigam, nämlich an den Pfaiden und Brustflecken – daraus erhellt, daß der Burgfrieder ein Bräutigam zum Wenden werden wollte. Die beiden Nähterinnen waren gar ungleich. Das Gesicht der Sanna verglich man insgeheim mit einem rostigen Reibeisen, nur daß an der Nase und dem scharfen Kinn graue Härlein standen, was bei einem Reibeisen nicht vorkommt. Um das Haupt hatte sie fast turbanartig [122] ein braunes Tuch gewunden, unter welchem hervor die Haare allerhand Arabesken machten in Ringlein und wirren Strähnen. Das Gesicht ihrer Ziehtochter, der Adelheid, war wie Milch und Blut. Richtig ist das zwar nicht, denn ein Gesicht »wie Milch und Blut« müßt' wunderlich aussehen; aber man sagt einmal so und man weiß, was dabei zu denken ist. Es ist im Himmel und auf Erden gar kein herzigeres Gesichtl denkbar, als das der Adelheid war, es müßte denn die Hölle noch schönere im Vorrat haben, um der holden Nähterin den Liebsten abspenstig zu machen. Wenn sie erst einen hat!

Diese beiden Frauen saßen an ihrem Tische und nadelten. Als wir zur Tür hereingetreten waren, sollen die beiden Farben gewechselt haben – die Alte wäre blaß geworden und die Junge glührot. Des weiteren kümmerten sie sich nicht viel um uns, nur merkte ich, daß die Alte, wenn sie bisweilen zu unserer Werkstatt herblickte, auch in den Augen Nadeln hatte; gottlos stachen sie herüber auf die unschuldigen Gestalten der zwei Schneider. Die Junge schlug den Blick mit den schwarzseidenen Vorhängen ihrer Wimpern stets nieder auf ihren Schoß, wo die Arbeit war.

Sie führten miteinander leise Gespräche, die ich anfangs nicht verstand; als sich jedoch mein Gehör schärfte, nahm ich wahr, daß sie sich durchaus nicht immer über ihre Mitmenschen unterhielten, die in allerlei Sünden der Welt umherwateten. Sie sprachen auch von ganz anderen Leuten und Dingen.

»Meint die Frau Mutter, daß die heilige Notburga auch bei der Rosenkranzschwesterschaft dabei gewesen ist?« hörte ich die Adelheid sagen.

[123] »Das kannst dir denken,« antwortete die Alte. »Sonst hätte sie schwerlich die Gnade haben und eine Heilige werden können. Wirst es auch im Büchel von der heiligen Veronika gelesen haben, wie der böse Feind Tag und Nacht Köder ausstreut auf den Wegen der Welt, um Menschen zu fangen.«

»Ja, da hat die Frau Mutter wohl recht,« sagte das Mädchen.

Die Alte fuhr fort: »Da habe ich mir gedacht, ob du dich nicht doch auch in die heilige Johannesbruderschaft solltest einschreiben lassen. Da soll auch auf jeden Samstag ein großer Ablaß zu gewinnen sein.«

»Selb' wär' eh' eine Hauptsache,« sagte das Mädchen leise und nadelte.

So unterhielten sie sich, und wenn ich auf die Adelheid hinüberlugte, seufzte ich bei mir: Ach, wie möchte ich auch so fromm sein können, als wie du bist! In der Höll' muß es ja gar nicht auszuhalten sein, wenn man weiß, daß du im Himmel bist.

Gern hätte ich gesehen, wie die Adelheid an ihrem Tische allein dagesessen wäre mitten unter den blütenweißen Leinwandflocken; aber Frau Sanna war immer und immer um sie. Wenn Adelheid in die Küche ging, um auf dem Herde den Glättstahl zu besorgen oder anderlei zu verrichten, so ging die Alte mit ihr, »daß du dich nicht brennst, mein Kind!« sagte sie, oder »wart', ich will dir die Türen ausmachen«, oder »im Vorhaus ist es so viel finster, ich muß dich schon führen. Das ist ein Kreuz bei diesen alten Häusern!«

Es wird niemals eine rührendere Sorgfalt zu finden[124] sein, als die der Sanna für die Adelheid gewesen, so daß ich endlich anhub, darob auch die Alte liebzuhaben.

Zu den Mahlzeiten kamen sie an unseren Tisch herüber, hockten dort aber so enge und bänglich beisammen, wie zwei Schäflein in der Wolfsgrube. Sie mischten sich nicht ins Gespräch, und wenn an sie eine freundliche Ansprache fiel, so errötete Adelheid und erblaßte Sanna. Die guten Bissen mußten ihnen fast mit Gewalt beigebracht werden, dann aber ließen sie auch gar nichts davon übrig. Beim Burgfrieder war's, wo die Speisen allemal so heiß auf den Tisch kamen, daß sie jeder erst mit vielem Hineinblasen in die Löffel zur Not abkühlen mußte. Adelheid getraute sich – wohl aus Furcht, damit die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen – nicht, den kleinen Mund zu spitzen und zu blasen, sondern verschluckte die heißen Suppen ohne Umstände.

So waren das Nähterinnen, wie man sie bald nicht wieder findet. Es wehte überhaupt im ganzen Hause so viel Friede und Vergnüglichkeit, daß mein Meister einmal sagte: »Es ist höchste Zeit, daß ein Weib ins Haus kommt!«

Wieso das der Meister meine?

»Damit sie auch was davon hat.«

Über die Nächte wurden wir so eingeteilt, daß zwischen den Schneidern und den Nähterinnen eine Bretterwand war.

»Man sollte meinen,« raunte mir da mein Meister einmal zu, »wir wären auch keine Hundsfötter, aber gegen diese zwei Frauenzimmer sind wir reine Heiden. Hörst du, wie sie wieder beten?«

Halbe Nächte lang murmelten sie in der Nebenkammer allerlei Gebete, und fromme Sprüche hatten sie, wovon [125] sie die meisten dreimal und noch öfter wiederholten. Mit dem Frühesten saßen sie schon wieder an ihrem Tisch, arbeiteten emsig, wobei sie ganz schwiegen oder leiser Stimme sich mit Heiligenlegenden unterhielten. Unser Verhältnis zu ihnen nahm fast eine Art von Ehrerbietigkeit an, und wir hätten nicht übel Lust gehabt, uns an den erbaulichen Gesprächen zu beteiligen, wenn wir nicht hätten befürchten müssen, mit unseren religiösen Kenntnissen zuschanden zu werden.

»Der Tor sieht aufs Haar einem Weisen gleich, wenn ers Maul nicht ausmacht,« hatte mein Meister oft gesagt und so waren wir denn einmal eine ganze Woche lang Weise im schönen Burgfriederhof, Pfarre Fischbach in Obersteier.

Aber bevor diese Woche zu Ende ging, geschah etwas.

Eines Vormittags, da die Adelheid doch allein in der Küche war und dort – wie ich glaube – vermittelst warmen Wassers die steifen Hemdnähte glättete, sprang die alte Sanna plötzlich von ihrem Tische auf und kam mit solcher Hast zu uns heran, daß wir nachgerade zusammenschauerten.

»Schneidermeister!« zischelte sie und fiel mit ihren Händen dem Meister in die Arme, daß er die Arbeit unterbrechen mußte. »Schneidermeister, wie alt bist du?«

Er wußte sein Alter gewißlich, war über solchen Anfall aber derart betroffen, daß er sie wortlos, fast flehend anstarrte.

»Stückelt euch zusammen, dich und deinen Gesellen, so seid ihr selbzweit noch jünger als ich! Kinder seid ihr.« So sprach sie. »Also wißt ihr noch nichts. Also [126] muß ich euch's sagen. Es ist ein Almosen, man kann auch den Seelen Almosen geben. – Schneider! Hütet euch vor der Welt! Die Welt ist des Teufels Feld! Die Leut' sind schlecht! Höllisch schlecht sind die Leut'! Alle! Bis auf etliche, so die Gnad' Gottes haben. Was du anschaust, ist nichts nutz! Ich kenne das. Viel Gutes wird getan. Der Teufel lacht dazu, er hat's gern, wenn die Leut' Gutes tun, haben um so viel mehr Pharisäerhoffart. Die Leut' sind barmherzig und helfen einander um Gottes willen. Ist alles erlogen. Alles! Tust wem was Gutes, ich will dir's sagen, warum: Aus Affenlieb zu dir selber. Was sind die besten Leut'? Dressierte Vieher. Sonst nichts. Sonst gar nichts. Traue keinem Menschen! Dir selber am wenigsten! Bist gescheit – bist schlecht. Bist fromm – bist falsch. Sauteufel und Pestblader! Judenhund und Rabenaas! Das ist die Wahrheit. Und die Wahrheit sag' ich! Aber eins nenn' ich nicht, ein Wort kommt mir nicht über die Zungen, weil's ärger wär', als Lästern und Fluchen. Du, alter Bock, bist es nicht mehr, was ich meine, willst es auch nicht mehr sein. Aber du, Junger, wills: es noch sein, und bist es auch nicht mehr. Ja, ledigerweis' in die Höll' fahren, das können sie. Den heiligen Ehestand fürchten sie wie das Fegfeuer! Betet! Betet, daß euch der Rippenhans euren Sündensack auszieht. Betet, Schneider!«

So sprach sie, ging dann wieder gegen ihren Tisch, in der Mitte der Stube aber hielt sie an, kehrte noch einmal um, rang vor uns die Hände und rief: »Betet, Schneider!«

Dann eilte sie auf ihren Platz, begann zu arbeiten und war wie früher.

[127] Wir zwei Schneider haben uns angeschaut. Jetzt war's an uns, ich soll im Gesicht glührot gewesen sein, der Meister war blaß. Gesagt haben wir nichts.

Endlich kam auch die Adelheid wieder zur Tür herein, und sie arbeiteten beide, und es war alles so friedlich und lieblich, wie früher. Alles? Mein Meister auch? Ich auch? – Mein Meister ging hinaus und warf mir einen Blick zu, ich solle nachkommen. Auf dem grünen Rasen standen wir und hielten Rat, ob es tunlich wäre, drinnen in der Stube zu sitzen – schutzlos in der nächsten Nähe einer Wahnsinnigen.

Ich erinnerte, daß man die Sache vielleicht nicht so ernst nehmen solle. Der Küster zu Fischbach hätte ein Buch, da drinnen sei es auch beschrieben, wie grundschlecht die Welt wäre und an Menschen nichts als Tier und Eigennutz, und alles, was die Sanna gezetert, sei in jenen; Buche enthalten und viel mehr noch des Geschimpfes; wenn die Alte wahnsinnig sei, so wäre auch jenes Buch wahnsinnig.

»Meinetwegen!« sagte der Meister, »das Buch hat keine Finger zum Augenauskratzen. – Der Burgfrieder soll uns in unserer Schlafkammer die Ster aufnähen lassen. Zu der Hexe gehe ich nicht mehr hinein.«

Diese Mutlosigkeit war mir begreiflich, nichtsdestoweniger aber äußerst betrübend. Wie ihn die Hexe hinaustrieb, so zog mich die Hexe hinein, der Unterschied nur, daß es bei ihm die alte war, und bei mir die junge. – O, verborgener Schatz, bewacht vom Drachen! Großmutters Märchen, wie seid ihr alle so wahr! – »Was wird Adelheid leiden!«

[128] »Sie wird gar nichts leiden, mein lieber Peter,« sagte der Meister. »Sie ist ja selber eine solche, sonst würde sie nicht mithalten. Ich bin kein Antichrist, aber vor solchen Sachen habe ich genug. Wenn diese Nähterinnen ihre guten Gedanken und Meinungen dem Bräutigam in die Pfaiden hineinnähen, das wird sauber kratzen und beißen. Ich dank schön!« Nie noch hatte ich den Meister so empört gesehen.

Ohne noch einmal in die große Stube zu gehen, ließen wir durch eine Magd unsere Werkstatt in die Schlafkammer räumen. Da war auch tagsüber die Bretterwand zwischen uns und den Hexen.

Als wir dort alles in Ordnung hatten, fragte mich mein Meister, der sonst nicht rachsüchtig war, ob ich das Lied vom Brombeerbrocken singen könne?

Ja, das könne ich.

Er singe mit. Diesmal lasse ers drauf ankommen.

Es ist ein etwas stark weltliches Lied, wer's kennt. Wir waren gar nicht schlecht bei Stimme. Als wir gesungen hatten, horchten wir, ob sich hinter der Wand etwas melde. Es war mäuschenstill. So huben wir ein anderes an:


»Es ging ein verliebtes Paar

Im grünen Wald spazieren,

Der Jüngling, der ihr untreu war,

Wollt' sie im Wald verführen.

Er nahm sie wohl bei der schneeweißen Hand,

Wollt' sie in Wald hinleiten.

Er sprach: »Du Allerliebste mein,

Genieße deine Freuden.«

»Was soll ich denn im grünen Wald

Für eine Freude haben?« –


[129] »Meister,« unterbrach ich unser Singen, »dieses Lied wachst sich auf ein trauriges aus. Sie bringen sich allzwei ums Leben!«

»So?« sagte der Meister, »nachher hören wir nur geschwind auf.«
Wir stimmten ein anderes an:

Heunt ist die Nacht halt gar so schön,

Soll ich zu meiner Liebsten gehn?

Die Lichtlein leuchten, als wie die Stern,

Bei meiner Liebsten bin ich gern.

Es bleibt verschwiegen ein halbes Jahr,

Die heimliche Lieb wird offenbar.

Ih trink kein Bier, ih trink kein Wein,

Ih bin als ein Waldvögelein.

»Wann du als ein Waldvöglein bist,

So sag mir's, wann's gut scheiden ist.«

»Wann's gut scheiden ist, das will ich dir sagen,

Z'morgens in der Früh, wann's vieri tut schlagen.«


Jetzt legte ich das Ohr an die Wand, denn wenn man was leistet, so will man doch gerne eine Kritik darüber hören.

»Meister,« flüsterte ich, »sie reden was.«

Auch der Meister horcht. »Ja,« sagt er, »ich höre murmeln – einmal die Alt', einmal die Jung'.«

»Das kommt mir nicht recht vor,« sage ich.

»Mir auch nicht,« sagte der Meister.

»Sie tun Litanei beten,« sage ich.

»– – Sie tun Litanei beten!« haucht der Meister und neigt den Kopf.

Nach einer Weile – die Arbeit ging ja unter den Händen munter von statten, und Bräutigamsgewand, meinten wir, müsse lustigerweis' gemacht werden – sagte [130] der Meister: »Wir haben heut' einmal unsern singenden Tag, was läßt sich machen? Schlag noch eins an, Lehrbub!«

Ich begann:


Wann oft der Kukuk schreit,

Hört man ihn weit und breit,

Nau, Dirndl, g'freu dih!


Der Meister – heute ganz seltsam – fiel wie bei diesem Liede üblich bei:

Jo, auf was denn?

Ich: Da schlagen die Bäume aus,

Führ dih als Braut nach Haus,

Nit wahr, das g'freut dih?

Meister: Jo, das is gwiß.

Ich: Schlagt oft der Fink im Wald,

Kommt dann der Sommer bald,

Nau, Weiberl, g'freu dih!

Meister: Jo, auf was denn?

Ich: Ih trau mir's doh nit z'sagn,

Mußt schon ein andern fragn

Weißt wohl, ih scham mih,

Meister: Jo, das is g'wiß.


»Meister!« unterbreche ich, »die zwei da drüben –«

»Was denn?«

»Meinen Kopf laß ich mir abschneiden, wenn –«

»Was denn?«

»Wenn nicht eine mitgesungen hat!«

»Nachher ist Zeit, daß wir aufhören,« sagte der Meister. Und wir nadelten scharf.

Am selbigen Abend, als ich das Glätteisen in die Küche trug, traf ich die Junge am Herd. Sie suchte mit der Zange ihren rotglühenden Stahl aus dem Feuer [131] zu krauen. Ich half ihr dabei und sagte: »Ist viel zu glühend worden!«

Einen kurzen trotzigen Blick warf sie mir zu, schob den Stahl ins Messingfutter und schwebte davon.

Brave Schneider erforschen spät abends, bevor sie einschlafen, ihr Gewissen. Seufzte dieses Abends mein Meister dabei und murmelte: »Heut' bin ich nicht ganz mit mir zufrieden. Wenn diese Frauenzimmer schon ihren kuriosen Glauben haben, so wird er auch für sie passen. Was soll sie einer denn irrmachen dran! – Ich kann's nicht vertragen, wenn ich mit jemandem nicht ganz auf gleich bin – ich bitte sie morgen um Verzeihung.«

»Der Meister sie? Dafür vielleicht, daß sie den Meister geschmäht hat?«

»Dafür nicht. Aber daß ich ihr's übel genommen hab'; dafür. Daß wir sie mit dem Singen geneckt haben, dafür. Sie ist wohl nicht recht im Kopf beisammen, sie kann nicht anders. Wir sollen die Gescheiteren sein. Ich rede morgen mit ihr. Gute Nacht, jetzt.«

Und am nächsten Tag ließ der Meister richtig bei der Nähterin Sanna anfragen, ob und wann er ein paar Worte mit ihr sprechen könne, unter vier Augen?

Sie ließ zurücksagen: Am selbigen Abend zwischen Lichten in der großen Stube.

Der Meister war tagsüber wortkarg. Gegen Abend hin beklagte er sich über die Jahreszeit, daß es schon so bald finster würde. Es wär nämlich im Herbst, wo wir um die Dämmerungsstunde Lichtfeier hielten, das heißt, ausruhten von der Arbeit, uns im Hause auf die Bank legen oder im Freien ergehen konnten, bis [132] das Licht angezündet wurde und wir mieder an den Arbeitstisch mußten. Als diese Dämmerstunde kam, zog der Meister seinen schwarzen Rock an, drehte sich vor meinen Augen einmal um sich selbst: Ob nichts zu bürsten wäre? Ob nirgends ein Schneider hinge? – Er meinte einen etwa am Tuche klebenden weißen Faden. Es war nichts von Bedeutung. Noch schlichtete er seine grauenden Haare über die von Jahr zu Jahr höher werdende Stirne hervor.

Dann sagte er: »In Gottes Namen. Die Tür lasse ich offen.«

Er ging in die große Stube, wo Frau Sanna seiner bereits zu harren schien. Da kam es mir – ich weiß nicht wieso – auf einmal vor, meine Gegenwart in der Nebenkammer schicke sich nicht; wenn es auf vier Augen verabredet sei, würden sie kaum sechs Ohren brauchen können. Ich wollte hinausgehen in den Baumgarten; der Burgfrieder hatte eine Sorte von Birnen, die um diese Zeit schon lockten. Als ich draußen um den Holzstoß bog, stieß ich fast erklecklich mit der Adelheid zusammen.

»Oho!« sagte ich und wollte ausweichen. Sie blieb stehen und schaute an ihrem seinen Wuchs hinab. Da blieb ich auch stehen.

»Adelheid!« redete ich sie leise an.

Sie hielt die Hand vor ihr Gesicht.

»Adelheid,« sagte ich, »habe ich dir weh getan?«

Hatte ich ihre Arme schon um meinen Nacken, ihr Haupt an meiner Brust.

»Peter!« wimmerte sie, »du mußt mich heiraten. Ich kann so nicht mehr weiterleben, ich kann nicht mehr!«

[133] »Aber um Gottes willen, Adelheid!« rief ich bestürzt, »hast du mich denn so gern?«

»Ich kann nicht mehr sein bei dieser Person!« fuhr das Mädchen fort. »Keine Freiheit, keine Rast und Zerstreuung, alleweil arbeiten und beten und vom Teufel reden! Die Worte kaut sie mir vor, die ich reden muß; die Brocken in der Suppe zählt sie mir vor. In der Nacht bindet sie meinen Fuß mit der Rosenkranzschnur an ihr Bein, daß ich ihr, wenn sie schläft, nicht sollt' davongehen können. Werktags nichts als Nähebank, Sonntags Kirchenstuhl oder Gebet und fromme Lesungen zu Haus. Ist ja recht, wer's aushält. Und alle Monat Sünden beichten, die man nicht hat, und verschweigen, die man hat. Seit zehn Jahren bete ich für die Alte um eine glückselige Sterbestund. – Und das ist meine Jugend! Wenn ich einmal munter ausschauen will, oder gar wen anlachen, da setzt's Bußtage. Kein lustiges Wort das ganze Jahr, kein Gesang! Wie ihr gestern habt gesungen, und sie einen Augenblick draußen ist gewest, und ich bei mir selber ein wenig hab' mitgesungen und sie es hat wahrgenommen, da habe ich abends auf dem Scheit knien müssen. Achtzehn Jahr! älter bin ich nicht. Sie ist meine Ziehmutter, die mich als kleines Kind von Wien hat kommen lassen. Ich bin in ihrer Gewalt, bis zum Ehestand, wie sie sagt, und kann mir nicht helfen. Das einzige Mittel, daß mich einer von ihr wegheiratet. Wär's was immer für einer, nur daß ich von dieser Person erlöst werde. Weißt du mir keinen Rat?«

Ich tat, als ob ich überlegte, indes stand mir nur der Verstand still. Sie lehnte sich an mich und weinte.

»Gern, sehr gern, daß ich dich heiraten wollte,« fiel [134] mir endlich ein zu sagen, »aber ich bin noch gar kein Gesell, und bis ich Meister werde, das dauert seine guten –«

»Du magst mich nicht – sag's kurz!« unterbrach sie. »Was Meister! Du könntest mich ja entführen. Handwerksburschen gehen in die Fremde; ich will als Bursche mit dir gehen, wir finden Arbeit, oder wir wollen fechten – alles, nur nicht so!«

»Jetzt auf der Stelle kann ich gar nichts sagen,« war mein Einwand, »ich werde mir's überlegen.«

»Vielleicht weißt du mir einen anderen!« sagte Adelheid.

»Ich will umfragen.«

»Ist keiner – auch gut! So bringe ich wen um!« sagte sie wie ein Schalk, »wenn sie mich in den Arrest tun, da wird die Furie doch nicht mitgehen.«

»Weißt, Adelheid,« sagte ich und streichelte ihre Wangen, »du hast es jetzt so lange bei ihr ausgehalten, auf ein paar Wochen mehr wird's dir nicht ankommen. Vielleicht nehm' ich dich doch selber. Ich hätte Lust dazu. Und jetzt wollen wir miteinander was plaudern.«

»Maria und Josef!« hauchte sie und fuhr mit den Händen nach ihrer Brust, daß ich erschrak, weil ich glaubte, es habe ihr im Herzen oder in der Lunge plötzlich einen Stich gegeben. »Ich bin ordentlich im Himmel!«

»Weißt du auch, daß das so lustig ist?« sagte ich und gab ihr auf den Mund einen Kuß.

Im selben Augenblick erscholl das Zetergeschrei der Alten. Adelheid zuckte zusammen und wankte, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, dem Hause zu.

[135] Ich fand – als wir wieder bei der Arbeit saßen – es just nicht nötig, dem Meister meine Begegnung mitzuteilen, hingegen befragte ich ihn nach seinem Befinden.

»Mir stehen die Haare zu Berg,« war seine Antwort. »Jetzt habe ich sie erst grausam kennen gelernt. Die Alte ist verliebt. – Ja, ich habe mir's gedacht, daß du erschrecken wirst. Und in einen von uns zweien! Fürs erste hat sie mir's abgebeten, daß sie sich gestern so sehr vorgewagt. Es wäre aus Nächstenlieb' geschehen, wir wären nicht schlecht, wir wären blind, darum zünde sie auch kein Licht an, obzwar es in der Stube schon finster würde. Wir wären hier im Burgfriederhaus beim Brautkleidermachen, ich solle mich nur einmal neben sie hinsetzen und hätten wir beide hohe Zeit, nachzudenken über die von Gott vorgeschriebenen Zwecke des Menschen auf Erden. Auf solches Zureden hat mich das Grausen erfaßt. – Wenn mir aber derweil die Katz mein Wichswachs frißt! habe ich gesagt und bin in die Kammer herein.«

Ordentlich dankbar blickte der Meister auf das Stückchen Wachs, das wir zum Wichsen des Zwirnes bedurften und an das er sich in seiner Not geklammert hatte.

»Ich glaube selber –« versetzte ich.

»Was glaubst du?«

»Daß die zwei Frauenzimmer sollen auseinandergeheiratet werden.«

»Pst! – sie beten schon wieder.« –

Endlich kam der Samstag. Wir gingen unseres, die Nähterinnen ihres Weges. Wie eine arme Seele neben dem Luzifer, so wankte Adelheid neben ihrer Genossin dahin. Als sie ihr Körblein an den Arm streifte, warf [136] sie einen heimlichen, zuckenden Blick nach mir. Ich tat das Gelöbnis, sie zu erlösen.

Schon an einem der nächsten Tage kam ich mit dem Zimmermann Zenzel zusammen. Der war ein stattlicher, sehr fleißiger Mann mit stets glattrasiertem Kinn und einem roten Schnurrbart. Er hatte sich zu Fischbach im Dorf ein kleines Haus gebaut und ging in der Suche nach Hausmöbel um.

»Ich weiß dir eine, Zimmermann,« war meine Antwort. »Die Nähterin Adelheid nimm.«

»Die hast du gestern auch schon dem Bindermichel angeraten,« antwortete der Zimmermann, »möcht' schon wissen, warum du gerade die junge Nähterin so gern verheiraten möchtest!«

Hierauf habe ich ihm fast alles erzählt. »Wenn ich heiraten kunnt, die nähme ich selber,« damit schloß ich. Er war ein wenig neugierig geworden und meinte, anschauen könne er sie ja gelegentlich einmal. Er wolle sich bei den Nähterinnen Pfaiden frümen (bestellen).

Fünf oder sechs Tage zogen darauf h in, da erhielt ich ein flüchtig geschriebenes, zerknittertes Briefchen von der Adelheid:


»Habe erfahren, du bist wirklich so gut und suchst für mich einen. Laß es bleiben. Vorig Sonntag nachmittags habe ich einen kennen gelernt. Seither will ich den Erstbesten nimmer, den oder keinen, und wenn's aus ist.

Adelheid.«


Ging ich zum Zimmermann Zenzel. Der war hoch auf einem Dach oben. Er solle herabkommen! Als er herunten war, sagte ich ihm, er solle es bleiben lassen, das [137] mit dem Pfaidfrümen, wenn's der Nähterin und nicht der Pfaid wegen wäre.

»Aber, jetzt bin ich schon dort gewesen!« rief er.

»Wann?«

»Vorig Sonntag nachmittags.«

Einen Lachschrei habe ich ausgestoßen. Dem Zimmermann übergab ich das Brieflein. Er las es ruhig und schmunzelte:

»Mir gefällt sie.«

Gut. Aber die Alte wäre auch noch zu haben.

Die Geschichte von der Wunderlampe
[138] Die Geschichte von der Wunderlampe.

Ja, beim Kaufmann Haselbauer in Sankt Kathrein ging's uns freilich gut! Es war kein großer Kaufmann, aber Millykerzen, oder, wie wir auf gut deutsch sagten: »Milchkerzen«, hatte er doch zur Auswahl. Bei den Bauern oben in den Bergen wurden wir für die langen Winterabende zumeist mit Spanlicht bedient; das war ein ehrliches, gesundes Licht, welches sich gegen ein landläufiges Kerzenfunzlein ausnahm, wie eine rotwangige Bauerndirne gegen ein schwindsüchtiges Studierfräulein. Wenn wir aber bei solchen Unschlittschwänzlein, wovon sechzehn auf ein Pfund gingen, den ganzen langen Abend nadeln sollten, da sagte mein guter Meister wohl manchmal:

»Hausfrau! Wie dein Licht da, ist mir das ewige Amperl in der Kathreinerkirchen lieber.«

Antwortete die Hausfrau: »Mein Model ist nicht größer,« denn sie goß die Kerzen selber.

»Den Docht nimm größer,« riet der Meister, aber da ging ihr zu viel Unschlitt dran.

Beim Kaufmann jedoch brannten wir Zehner oder gar Achter, heißt das, solche Kerzen, wovon zehn oder acht Stück ein Pfund ausmachten. Die gaben freilich einen fürnehmen Schein, wenn sie ordentlich »geschneuzt« [139] wurden oder wenn kein »Rauber«, wie der niederhängende glimmende Docht hieß, das Fett wegfraß. Und die Millykerzen, die, wie unser Geselle Christian zu berichten wußte, aus Elefantenmili gemacht wurden, gaben also selbstverständlich einen noch viel größeren Schein. Trotzdem besorgten wir alle feineren Arbeiten, als: steppen, knopflochpassepoilieren, stückeln usw., beim lieben Tagesschein und verschoben die gröberen Sachen auf das Elefantenmilikerzenlicht.

Einmal nun im Advent, als wir beim Kaufmann arbeiteten und der Hausherr spät abends weit von Graz heimkehrte und uns um das matte Kerzenlicht kauern und lugen sah, klopfte er den Schnee von seinen Schuhen, blinzelte uns an und sagte: »Na, Schneider, heut' werd' ich wohl brav sein!«

»So!« antwortete mein Meister.

»Weil ich für euch die Gas mit heimgebracht hab'.«

»Fangst du auch an, Karl?« rief der Meister entrüstet, »dich hätt' ich für gescheiter gehalten, als daß du mit dem dummen Spaß ehrsame Handwerker spotten könntest.«

»Geh', Meister, das ist ja nicht so!« beschwichtigte der Karl, »ich meine ja nicht die Gas, die der Mensch melken kann, ich meine die brennende Gas, wie sie in den Städten ist.«

»So redet man deutsch,« brummte mein Meister, »einesteils sagt man nicht die Gas, sondern die Gaiß, oder was noch besser ist, die Ziege; und andersteils heißen die Stadtleute ihren brennenden Dunstdas Gas. B ist einmal Schulmeister gewesen, Karl, und weißt das nicht!«

»Brumm nur, brumm, Schneider!« rief der Kaufmann [140] lustig, »bis ich erst das neue Licht anzünde, wirst schon wieder gut werden, darauf wett' ich.«

Und als die neuen Waren ausgepackt wurden, da kam denn eine stattliche Öllampe zum Vorschein und ein langes Rohr aus Glas dazu und ein grüner Papierschirm, und ein Zwilchstreifen und ein feuchtes Fäßlein.

»Was du für Sachen hast!« sagte der Meister.

»Das alles miteinander,« berichtete der Karl, »gehört zum neuen Licht, das aus Amerika gekommen ist – das Petroleum. (Damals wurde die Betonung auf das zweite e gelegt.) Es brennt so hell wie der Tag. Wirst es schon sehen.«

Und er begann, die Lampe aus dem Fäßchen zu füllen und den »Zwilchstreifen« durch das glänzende Ding mit der eichelförmigen, sonderbar geschlitzten Messingkapsel zu ziehen. Dann setzte er die Bestandteile zusammen, zündete das hervorstehende Ende des Dochtstreifens an, stülpte das bauchige Glasrohr auf, daß wir meinten, so eng ums Feuer müsse es zerspringen – und nun sollten wir einmal sehen.

Und wir sahen es. Es war ein trübes Licht, das mit seinem schwarzen stinkenden Rauch alsogleich das ganze Glasrohr schwärzte und wir Schneider einstimmig: »Pfui Teufel!« riefen.

Der Karl drehte an dem seinen Schräublein den Docht weiter auf, da rauchte es noch mehr; er drehte ihn tiefer nieder, da wurde es finster, und wie wir zu lachen begannen, knurrte der Karl während seiner fieberhaft hastigen Versuche: »Na, mir scheint, dieser vertrackte Lampenhändler hat mich sauber angeschmiert! Aber ich hab's ja gesehen in der Stadt, wie das Zeug wunderschön brennt!«

[141] »Probieren's einmal und tun das Glasröhrl weg,« meinte mein Meister, riß seine Finger aber mit einem hellen Auwehschrei vom heißen Zylinder zurück. Dem Karl gelang es, mit einem Lappen das Glas zu entfernen, und nun war ein wüstes Qualmen und das Millykerzenlicht daneben zuckte nicht ohne Schadenfreude hin und her.

Als wir mit der neuen Lampe noch allerlei versucht hatten und als die Stube endlich voll Rauch und Gestank geworden war, schalt der Karl dieser höllischen Flamme ein Schimpfwort zu und blies sie aus.

Die Kerze brannte mit stiller Würde fort und der Meister sagte: »Ja, ja, die Ganzgescheiten heutzutag, bisweilen schmiert sie's halt doch an. Die alten Leut' sind auch keine Esel gewesen.«

»Was ist denn das nachher für ein Öl, das Petroleum?« fragte jetzt der Geselle Christian.

»Das soll aus der Erden herausrinnen,« erklärte der Karl.

»Ja so!« rief der Geselle, »nachher wird's freilich nichts taugen, nachher ist's das helle Wasser.«

»Sei mir still, ich mag nichts mehr hören davon!« sagte der Karl und stellte die so vornehm dastehende und so untaugliche Lampe in den Winkel.

Nun vergingen zwei Tage. Da kam der Thomastag und der Karl und mein Meister gingen früh morgens in die Kirche zur Rorate. Der Christian war bereits für die nahen Feiertage auf Urlaub gegangen. So saß ich allein bei der Millykerze und schneiderte. Nun war aber eine im Hause, die vorhin im Stalle die Kühe gemolken hatte und die sich nach dieser Arbeit auch an meinen Tisch setzte, um an ihr Christtagskleid ein seidenes [142] Schleiflein zu nähen. Sie war siebzehn, ich war neunzehn, und da geht's ohne übermut nicht ab.

»Was stellen wir jetzt an, Hannerl, weil wir so schön allein sind?« das war fürs erste meine bescheidene Anfrage.

»Ich weiß schon was,« antwortete sie, »weil wir so schön allein sind und die Leute alle in der Kirche sind und es noch eine Weile finster bleibt, so zünden wir jetzt die neue Lampe an.«

Wir stellten das Zeug mitten auf den Tisch, wir zündeten den Docht an, der aus der Messingkapsel hervorstand, stülpten das Glas darüber und es war das trübe rußende Licht wie das erstemal. Doch war der Schein so hübsch rosenfarbig, daß er uns fast besser gefiel als das wässerige Kerzenlicht, welches ich denn auch auslöschte.

»Jetzt geben wir's nobel, jetzt haben wir ein Stadtlicht,« bemerkte das Mädchen, hastig nadelnd.

»Ja,« antwortete ich, »was machst denn du eigentlich da?« Und rückte ihr näher. Dabei fand ich, daß man die Lampe etwas mehr abdrehen könnte, um das Rußen zu vermindern. Ich tat's; die Hannerl hob vermittelst der Schürze das Glas, putzte den Docht und beklagte sich, daß sie zu ihrer Arbeit nicht genug sehe.

»Setz' aus,« riet ich ihr, »mußt dir nicht die Augen verderben. Ich will dir was sagen, Hannerl.«

»Wenn's nur auch was Gescheites ist.«

»Dumm ist es nicht. Schau, Dirndl, wir haben jetzt schön Zeit, daß wir uns ein Bussel geben.«

»Ja, was nit noch!« brummte sie und nadelte an ihrer Schleife, ohne aufzublicken.

»'s ist ja zu finster!« sagte ich und dachte ans Nähen.

[143] »'s ist ja zu licht,« flüsterte sie und dachte ans Küssen.

»Dem ist abzuhelfen,« meinte ich und drehte die Lampe noch tiefer nieder, so daß der Docht ganz in die eichelförmige Messingspalte zurückging. Und jetzt war's Licht. Anstatt dem Dunkel, das ich anstrebte, strahlte aus der Spalte eine breite, blendend weiße, rauchlose Flamme hervor. Beide erschraken wir vor dem hellen Schein, der auf Tisch und Wand und auf unseren Gesichtern lag.

»Das Licht!« riefen wir aus, »das Licht!« und haben vor Verwunderung alles andere vergessen.

So sind wir dem Geheimnis der Wunderlampe auf die Spur gekommen, daß man den Docht nicht in die freie Luft hinein stehen lassen, sondern ganz in die Messingspalte versenken müsse, wenn er brennen soll.

Als die Väter von der Kirche zurückkehrten und in der Stube die lichte Herrlichkeit sahen, rief der Karl freudig aus:

»Da haben wir's ja! Wer hat's denn zuweg gebracht?«

Unversehens zwei, die gern im Dunkeln gesessen wären.

Eine lederne Ster
[144] Eine lederne Ster.

Mitten im Sommer und mitten im Winter waren die Zeiten, in welchen wir Schneider am wenigsten Arbeit hatten. Zwar stets waren wir bestrebt, das Frühjahr recht weit in den Juni und Juli, und den Herbst in den Dezember und Jänner hinauszudehnen, aber schließlich hat alles seine Grenze, und wenn der Schneider im Herbste nicht kommt, so wartet der Bauer auf das Frühjahr; denn in den kurzen Tagen des Winters richten die Handwerker nichts aus, begehren aber ebensoviel Kost und Lohn, wie an den langen.

So geschah es wohl mehrmals – und das waren bittere Tage –, daß wir in der Werkstatt keinen Stich Arbeit hatten und ins »Heuheben« ausgehen mußten. Da tänzelten und hüpften wir auf der Wiese herum, wie die Heuschrecken, aber in unserem Innern nagte der Gram über die Geschäftslosigkeit, die uns nicht so sehr des entgehenden Gewinnes wegen, als vielmehr aus andern Gründen weh tat. Zur Winterszeit schnappte uns unser Feind, der ungarische Schneider, manche Ster weg und machte sich über uns oft noch lustig. Zu solcher Zeit, wenn wir keine frische Arbeit hatten, trennten wir unsere eigenen Kleider auf und nähten sie wieder zusammen. Wir nannten diese Arbeit »übermachen«, doch war die [145] Verbesserung mitunter derart, daß wir, wenn es ging, noch einmal auftrennten und noch einmal zusammennähten, um den alten Zustand wieder herzustellen.

An einem solchen Wintertag des Grames war's, daß wir durch einen Wegboten eingeladen wurden auf die Ster zum Bachrüppel im Fischgraben. Da unsere Hosen gerade frisch wieder zusammengeschneidert waren, so wollten wir in der ersten Freude alsogleich aufspringen und zum Bachrüppel gehen, aber schließlich siegte die Vernunft; denn, sagte der Meister, es werfe kein günstiges Licht auf ein paar Handwerker, wenn sie gar so schnell zuwege wären. Zum mindesten etliche Tage müsse man warten lassen. So taten wir. Kein Mensch glaubt es, was das für drei langweilige Tage waren, aber endlich waren sie vorbei und am vierten machten wir uns auf den Weg in den drei Stunden entfernten Fischgraben. Dieser Fischgraben ist eine entlegene, bewaldete Bergschlucht zwischen Fischbach und Birkfeld, und dieser Umstand erregte in uns schöne Hoffnungen. An belebten Straßen und in größeren Orten, wo es allerlei Leute gibt, hat der Handwerker keinen Glanz; dort kennt man ihn als reisenden und fechtenden Burschen. Aber in einschichtigen Gegenden gehört der Weber, der Schuster und besonders der Schneider schon zu den höheren Erscheinungen; sie werden mit Ehrfurcht behandelt, sie kriegen die feinste Speise, deren die Küche fähig ist, das beste Bett, das im Hause steht.

»Wenn wir nur einmal dort wären,« sagte der Meister unterwegs, da wir uns im Schnee mühevoll weiter arbeiteten, »fehlen wird uns nichts beim Bachrüppel.«

[146] Wir waren noch niemals dort gewesen, aber die ausgesprochene Zuversicht erwärmte und stärkte wie der feurigste Schnaps die ermüdeten Glieder.

Endlich kamen wir zum Häuschen; es stand im Engtale mitten im Walde und hatte zu solcher Jahreszeit zwei Monate lang keine Sonne. Es war mit Stroh gedeckt.

Vor dem Häuschen stand ein kleiner Mann in Pelzrock und Hauthose, der war ganz rot im bartstoppeligen Gesichte und hatte entzündete Augen. Eine Pelzhaube hatte er über das Haupt und die Ohren herabgebunden. An den Händen hatte er ein Paar lederne Fäustlinge, mit einer Schaufel warf er Schnee an die Wand.

»Zuweg wirfst denn Schnee aufs Hänsel?« fragte mein Meister den kleinen Mann.

»Daß mir keine Kälte hinein kann,« antwortete der Schaufler.

»Bist du der Bachrüppel?«

»Freilich.«

»So sind wir schon recht dran. Wir sind die Schneider.«

»So,« antwortete der kleine Mann, aber die Betonung des Wortes war höllisch kalt. »Wollt's mir vielleicht dableiben?«

»Gern, sind ja desweg' gekommen.«

»Nachher geht's nur hinein, sie ist eh' drinnen.«

Wir gingen in das Haus und mein Meister murmelte, als er über die Türschwelle stieg: »Lederner Patron!«

Die Stube war dunkel und frostig; in einem Winkel saß das Weib, das ebenfalls einen Pelzrock trug und dessen Haupt mit Lappen turbanartig umwunden war. Es war beschäftigt, es schnitt Rüben in einen Topf.

[147] »Grüß Gott!« sagten wir und legten unseren Zeug auf den Tisch, von welchem wir zwei Hühner verscheuchten, »wir sind die Schneider!«

»So,« versetzte das Weib, »er ist eh' draußen.«

»Wer kriegt denn was?« fragte der Meister, »weil ich anmessen will.«

Jetzt kam der Rüppel hinkend in die Stube. »Zusammengerichtet sind wir halt nicht recht,« sagte er; dann gab er an, daß er ein ganzes Gewand haben wolle, Hosen, Janker und Leibel. Und wenn was übrig bliebe, so kriege sie ein Jöppel.

Der Meister nahm dem kleinen rotäugigen Mann das Maß ab und fragte dabei: »Bei wem hast denn bisher arbeiten lassen? Dein Pelzjanker ist dir zu kurz.«

»Wird zusammenkrochen sein,« meinte der Rüppel, »mag ihn schon Stuck ein fünfzehn Jahr tragen; hab' ihn dazumal einem Juden abgeschachert. Nit, Alte?«

»Wird eh' sein,« bestätigte sie.

»Bringst mir nachher den Stoff, daß ich zuschneiden kann,« sagte der Meister. Der Rüppel ging und brachte unter beiden Armen zwei Bündel Schafhäute und Bockfelle herbei, die zum Teile auf der einen Seite glattgegerbt, auf der andern wollig waren.

»Bin nimmer jung und durch und durch so viel gicht und gallisch,« meinte der Häusler, »und laß mir's wieder vom Pelz machen.«

Der Meister drehte und wendete die Häute, maß hin und maß her und begann endlich zuzuschneiden. Die Schere knurrte, sie hatte keine Zähne für solches Futter. Der Meister fluchte in sich hinein; ich kramte meine größten und schärfsten Nadeln hervor.

[148] Nebenbei ließen wir unsere Augen fragend in der Stube herumgleiten und ließen dieselben fast herausfordernd auf der Hausfrau ruhen, die, in ihrem Pelze zusammengekauert, immer noch Rüben in den Topf schnitt. Wir waren doch gewohnt, eine Ankunftsjause einzunehmen, und besonders nach so weitem Gange. Ich fand in meiner Tasche ein Stückchen Semmel, zog es hervor und begann auffallend daran zu knuspern.

»Hast vielleicht noch ein Stückel?« fragte mich der Meister erklecklich laut, »ich möcht' auch was beißen.«

Vergebens, das Weib schnitt Rüben in den Topf und rührte sich nicht. Uns fror an den Fingern. Endlich wurde es finster. Das Weib brachte eine brennende Talgkerze und dann hielt sie den Kopf mit beiden Händen und ging in die Küche, wo wir sie wimmern hörten. Zu unserem Troste begannen in der Küche endlich die Flammen zu knattern.

Wir hörten Töpfe rücken und Pfannen klirren, hörten allmählich etwas wie das Prasseln von schmorendem Fette. Wir schmunzelten uns gegenseitig an und der Meister lispelte: »Paß auf, wir werden heut' noch satt!«

Ein ganz merkwürdig prickelnder Geruch drang an unsere Nasen. Wir gewannen unsere Laune wieder, obgleich in den Häuten eine Nadel um die andere brach. Endlich hinkte der Rüppel daher, er hatte einen bösen Fuß, und als er Anstalten traf, den Tisch zu decken, machten wir ihm freudig Platz. Bald dampfte vor uns die Schüssel, und wir schlugen das Tischgebet an. Der Rüppel schob uns Löffel vor: »Esset, Schneider, werdet eh schon hungrig sein!«

Wir widersprachen ihm nicht. Mir lachte das Herz.

[149] Das erste Gericht war zwar nur eine Gerstensuppe, aber ich dachte an das Prasseln in der Küche und beschloß, mich an eitel Gerstensuppe nicht zu sättigen. Nach einer Weile brachte das Weib ein zweites Gericht. Bohnen in Essig. Wir warfen uns einen etwas erschrockenen Blick zu; aber die Bohnen konnten doch unmöglich so geprasselt und geduftet haben. Auch erwogen wir, daß in einem Hause, in welchem es so viele Häute gab, naturgemäß auch das Fleisch nicht fehlen könne. Ehrenhalber, oder was merkwürdigerweise dasselbe ist, schandenhalber aßen wir doch ein weniges von den sauren Bohnen. Als wir die Löffel weglegten, drang der Rüppel in uns, doch noch zuzulangen, ansonst müßten wir hungrig ins Bett. Das ist so eine Redensart, dachten wir und dem Gauch wäre es lieber, es bliebe vom Kuchen oder vom Braten ein größeres Rest übrig, als von den sauren Bohnen. Wir aber waren entschlossen, uns heute einmal mit gänzlicher Außerachtlassung aller Bescheidenheit auf etwas Fettes und Duftendes zu stützen.

»Ist es doch richtig wahr, daß die Schneider so viel wenig essen,« bemerkte der Rüppel in fröhlicher Stimmung und dann zu seinem Weibe: »Mußt morgen keine Bohnen mehr sieden, wenn sie nachher nicht gegessen würden. Wir haben nur gemeint, daß wir heute etwas Besseres hätten. Ist allemal eine schöne Sach', wenn die Leut' so zufrieden sind. So, nachher beten wir.« Und er begann: »Wir danken dir, o Herr, für deine Speis' und Trank usw.«

Wir waren beide wie gelähmt. Unverständlich stammelten unsere Zungen zum Gebete und während desselben fuchtelten und warfen wir mit den Häuten herum [150] und murmelten allerlei Verwünschungen in die Stücke hinein, aus denen dem Bachrüppel die Hosen gedeihen sollten.

Nach dem Gebete geht die Küchentür auf. Was ist das? Die Bachrüppelin erscheint mit einer dampfenden Pfanne, setzt dieselbe auf den Tisch und wir lugen so seitlings hin auf den grünlichen Brei, der in wohlduftendem Fette schwimmt. Was geschieht? Das Ehepaar setzt sich an den Tisch, breitet vor sich zwei Leinwandfetzen aus, taucht Späne in den dampfenden Brei und beginnt diesen auf die Leinwand zu streichen.

»O mein, das ist ein übel!« seufzte der Rüppel, »ihr glaubt es nicht, Schneider, was sie einen martert!«

»Wer?« fragte der Meister gleichgültig.

»Die Gicht und die Gall. Ich hab's im Fuß; sie hat's im Kopf. So ist uns geraten worden, daß wir Salbeiblätter in Schweinschmalz backen und diese Salben auf ein Pflaster streichen und auslegen.«

»Ich hab' die Gicht und Gall im Magen,« murmelte der Meister.

»Ei, doch nicht!« rief der Rüppel bedauernd, »im Magen meinst, Schneider? Ja so, im Magen? Das muß erst ein Elend sein! Desweg schaust so jämmerlich aus. Geh' du, leg' auch so ein Pflaster auf, ich rat' dir gut, leg' auf eins. Wirst sehen, was dir so eine Fetten gut tun wird!«

»Auswendig nicht!« entgegnete der Meister und knack, war im harten Lederzeug wieder eine Nadel hin.

Dem Nachtmahle angemessen war das Nachtlager auf dem Stroh zu Füßen des Ehebettes, in welchem jetzt sie wimmerte, dann er ächzte, bis sie in ihren Schmerzen [151] uns Gesunde endlich zu Schlafe gewimmert hatten. Und dem angemessen war auch das Frühstück am anderen Morgen. Wir waren durch und durch verzagt und es war keine Aussicht, sobald aus diesem Hause zu kommen, denn der Stoff, den wir zu verarbeiten hatten, war so widerbockig und starr, daß wir damit nicht vorwärts kamen. – Lassen wir alles im Stich und gehen durch! Wie nahe lag dieser Gedanke; aber der Meister sagte: »Weil ich den Toifel jetzt zugeschnitten hab', müssen wir ihn ausarbeiten, sonst wär's eine Schand und ein Spott für uns zweie, wenn es aufkäme, daß es uns bei der angefangenen Arbeit ausbrennt und abtrumpft hätt'. Der ungarisch' Schneider wollt' das sauber umeinander tragen! 's ist das erste- und das letztemal, daß ich mich mit so verdankten Häuten abgeb'. Wenn ich's vorweg gewußt hätt', daß die Nadel nicht will durchgehen, ich wollt' dem alten Geizhals den ganzen Saggra vor die Füß' geworfen haben, daß es nur alles gestaubt hätt'. Aber da wir einmal anbissen haben –«

Kricks, war wieder eine Nadel um.

»Das ist kein Geschäft für uns,« sagte ich, »das gehört dem Kürschner zu. Klagen geht uns der Birkfelder Kürschner noch, wenn er's erfährt, daß wir ihm ins Geschäft pfuschen.«

»Und wenn's aufkommt, daß zwei Schneider mit einer ledernen Hosen nicht fertig geworden sind, so haben wir unser Lebtag den Spott. Auf die Schneider sind die Leut' eh' bissig wie der Teufel –«

Kracks – sprang die Nadel ab.

»Höllisch G'frött!« schrie der Meister und schleuderte Haut und Fingerhut von sich.

[152] Kurz, wir kamen nicht zurecht. Was wir uns auch mühten, daß uns der Schweiß auf der Stirne stand und die Finger zitterten, es ging nicht voran. Mutlos sanken uns endlich die Hände.

»Was ist zu machen?« fragte der Meister.

Meine Antwort war: »Ja, das weiß ich auch nicht.«

»Soll ich jetzt gehen und es dem Rüppel sagen, daß wir stecken 'blieben sind? Ewig nicht.«

»Ja, was heben wir sonst an?«

»Ewig nicht, sag' ich dir!«

Gescheiter war der Meister, als ich, der Lehrling, das wies sich fast in allen Dingen, aber diesmal glaubte ich einen Gedanken zu haben, auf den der Meister nicht gekommen zu sein schien.

»Darf ich was probieren?« fragte ich.

»Möcht wissen, was du probieren willst.«

»Hilft's nicht, so schadet es auch nicht. Ich fange was an. Ich gehe und gebe den Bachrüppelleuten die Schuld, daß wir stecken.«

»Meinetwegen, probier's; wirst wohl sehen, was herauskommt.«

Mit dieser Vollmacht ging ich in die Küche. Das Weib des Rüppel saß wieder tief in den Pelz gekrochen, das Haupt in Tücher geschlagen, und säuberte Bohnen, die sie auf einem Brette vor sich hatte, in denen sie mit den dürren Fingern herumwühlte und aus denen sie den Staub blies. Sie mochte dabei denken: Haben sie gleichwohl gestern nicht Bohnen gegessen, so werden sie sicher heute Bohnen essen. Und wahrlich, sie konnte recht haben, wenn ich nur nicht plötzlich alles anders gemacht hätte.

[153] Ich trat hin zu dem Weibe des Rüppel und sagte:

»Jetzt, Rüpplin, täten wir ihn schon brauchen.«

Sie hob den Kopf und fragte: »Wen?«

»Den Bockzwirn.«

»Bockzwirn? Was für einen Bockzwirn?«

»Ihr werdet doch einen Bockzwirn in Bereitschaft haben!« sagte ich mit entsprechender Lebhaftigkeit, »Ihr werdet doch wissen, daß der Mensch ohne Bockzwirn kein ledernes Gewand machen kann!«

»Du erschreckst mich, Schneider,« sagte sie, »ich hab' keinen anderen Zwirn als den, der vor euch auf dem Tisch liegt.«

Ich stand wie sprachlos da. Endlich sagte ich leise: »Was machen wir nachher? Der Zwirn da drinnen ist nur für Loden- und Tuchgewand. Zum Leder gehört der Bockzwirn und den kriegt man nur beim Lederer z'Wien.«

»Was du sagst!« versetzte sie und ihre Hände zitterten, daß etliche Bohnen vom Brette kollerten.

»Wir stehen jetzt da und haben keine Arbeit!« sagte ich vorwurfsvoll. Da stand sie auf, ging in die Stube.

»Was eins aber aushalten muß auf der Welt,« wimmerte sie, »das Kopfweh alleweil und die Schneider dazu. Wenn der Zwirn nicht recht ist, müßt's halt heimgehen, bis wir einen Bockzwirn kriegen.«

»So weit hertappen im Schnee,« brummte ich, »und die Sachen nicht finden, wie man sie braucht!«

Sie bat förmlich um Verzeihung, und dann waren wir frei und konnten gehen.

Der Meister wendete sich an mich: »Was du eigentlich für ein durchtriebener Schlingel bist! – Mir ist's [154] recht, daß wir jetzt heimgehen, aber daß du's weißt, unsere Arbeit lassen wir deswegen nicht im Stich. Die nehmen wir mit; vielleicht geht's daheim besser und wenn nicht, so gebe ich sie auf Umwegen zum Kürschner und schicke sie dann fertigerweise dem Bachrüppel zu. So machen wir's.«

Dann ging er zur Rüpplin: »Ja, wir gehen heim und das Zugeschnittene nehmen wir mit; werden schon einen Bockzwirn finden.«

»Wenn's ihm recht ist,« sagte die Rüpplin.

Der Bachrüppel aber schaute uns mit seinen entzündeten Augen scharf an und rief: »So sauber! Da kommen sie einem hell ungeheißen ins Haus, machen nichts, als wie alleweil ein finsteres Gesicht und wollen am End' noch das ganze Zeug davonschleppen.«

»Hell ungeheißen ins Haus?« fragte mein Meister, als hätte er nicht recht verstanden. »Hast uns nicht einladen lassen?«

»Wer? Ich? Weiß nichts davon. Ich brauch' keinen Schneider. Meine Felle hätt' ich zum Kürschner geben. Na, weil ihr schon selber zugesprochen habt, so hab' ich mir gedacht: Heikel bin ich nimmer und ganz verschneidern werden sie mir die Häut doch nicht.«

Das war genug. Das war mehr als genug. Wortlos, aber im Innern bebend, räumte der Meister seine Sachen in die Tasche, ich folgte seinem Beispiele. Als das geschehen war, als wir die Tasche schon an der Seite hängen hatten und die Elle an der linken Hand hielten, trat mein Meister festen Schrittes hin vor den Bachrüppel, hob die Rechte gegen Himmel und sprach: »So wahr wir zween einstmal zu Gott kommen wollen, [155] Rüppel, ich bin zu dir geladen worden. Wenn du nichts weißt davon, so hat mir das ein Feind getan.«

Dann gingen wir und ließen die zwei Leutchen zurück im Waldhäuslein bei ihren zerschnittenen Häuten und bei ihrer Gicht und Gall.

»Das hat mir der ungarische Schneider angetan!« sagte unterwegs mein Meister.

»Wenn ich's nur gewiß wüßte, dem tät' ich's heimzahlen.«

Der Bote, der uns zum Bachrüppel beschieden hatte, war nirgends mehr zu finden. Mein Rat war, wir könnten einen anderen Boten schicken, der den ungarischen Schneider zum Bachrüppel auf die Ster laden sollte; in der Art und Weise, wie er diese Einladung aufnehme, müsse er sich verraten.

Mein Meister sagte zu mir: »Wenn du für die Arbeit auch so viel Witz im Kopfe hättest, als wie für Schelmenstücke, so könntest du der erste Schneider im Lande sein.« – Der erste Schneider im Land, das war ihm der Inbegriff aller Vollkommenheit. Indes handelte er diesmal nach meinem Rate. Der Bote wurde geschickt und kam bald vom ungarischen Schneider zurück.

»Na, was hat er zu der Einladung gesagt?«

»Ausgejagt hat er mich und sollt schauen, daß ich weiterkäm',« berichtete der Bote.

»'s ist richtig,« sagten wir, »der Ungarische hat's getan. Der weiß drum; sonst lehnt dieser Sterbettler all seiner Tag keine Arbeit ab.« – »Aber halt!« rief mein Meister und hielt den Zeigefinger an die Nasenspitze, »just weil dieser Paprikafresser glaubt, er hätte uns mit der Lederarbeit was an getan und weil er meint, [156] ein Schneider, wie etwan er selber, kunnt damit nicht fertig werden, so wollen wir es ihm beweisen, daß wir mit einer häutenen Hosen auch noch fertig zu werden wissen. Und wenn ich ein Jahr lang mit dem Leder zu tun hab', dem ungarischen Herlaufer zu Trutz machen wir dem armen Bachrüppel das Gewand.«

Mit aller Höflichkeit bat er sich vom Rüppel die zugeschnittenen Stücke aus, wir arbeiteten daheim zwei Wochen lang, da war unser ganzer Nadelvorrat alle, waren unsere Finger versteift und zerschunden, aber Hosen und Janker waren fertig.

Und am nächsten Sonntage auf dem Kirchplatz zu Fischbach prangte der Bachrüppel in seinem neuen Leder und schrie es jedem ins Gesicht, er wisse auf der Welt keinen besseren und wohlfeileren Schneider, als den Natz. Der habe ihm die Schafs- und Bockhäute – man müsse nur wissen, was das heiße, mit so einem Lederarbeiten! – wie an den Leib gegossen. Sein Lebtag habe er noch kein Gewand gehabt, das ihm so gut gepaßt, als wie die neue Kluft (der neue Anzug). Der Meister hätte auch nicht einen Kreuzer dafür angenommen, und so ein braver Mensch, wie der, wäre ihm, dem Rüppel, noch nicht vorgekommen. Ohne geladen worden zu sein, wäre er mit seinem Gesellen, der auch so viel ein handsam Bürschel, gekommen, daß er dem armen Kleinhäusler das Gewand mache; und in der Kost und Verpflegung seien sie nicht ein bissel wunderlich gewesen und wenn er, der Bachrüppel, jemandem einen Schneider anraten müsse, so sage er: Der Natz und nur der Natz!

Das Festmahl im Ziselhofe
[157] Das Festmahl im Ziselhofe.

Ich wüßte aus meinem jetzigen Leben keine Freude herzunehmen, welche an Schein und Gehalt jener vergleichbar wäre, da mein Meister die Maßfäden von seinem Nacken nestelte, das Nadelkissen, welches mit seinen Nadeln die ganze Woche über wie ein kleiner Igel auf dem Tische gekauert war, zu rupfen begann, das Ränzlein zum Einpacken auf den Tisch legte und es mählich zu stopfen anhub.

»Lassen wir Feierabend!« sagte er.

Ich tat allemal auf dieses wunderschöne Wort nichts desgleichen und nähte noch etliche Stiche weiter, daß der Meister nicht merken sollte, wie der Schlingel schon lange innerlich nach dem Spruche gelechzt habe, der ihm auf sechsunddreißig Stunden die Freiheit gab.

»Laß es gut sein,« sprach er dann, »und leg' das Zeug schön zusammen. Bis wir heimkommen, wird's finster sein.«

Die Bäuerin hatte stets schon eine geraume Weile heimlich gespäht, wann wir Anstalten zum Feierabend treffen wollten, denn da mußte die »Fortgehjausen« fertig sein; sie will die Strauben (Eier mit Mehl in Schmalz gebacken) frisch ausgekocht und nicht abgestanden auf den Tisch bringen, eine Sorge, die nicht die kleinste ist unter den Sorgen einer Hausfrau.

[158] Eine richtige Bäuerin an ihrem Herde ißt bekanntlich nicht, sie wird satt vom Kosten, vom Geruch ihrer Speisen und vom Lobe, das man ihnen zollt. Und gerade nach dem Handwerkerlobe steht ihr der Gaumen, wie es dem Gourmand nach Nachtigallzungen gelüstet. Denn das ist etwas Delikates; der Handwerker ist auf seinen Wanderungen von einer Küche zur anderen ein Feinschmecker geworden, und eben er ist es, der den Leumund einer guten Köchin weiter trägt von Haus zu Haus und in alle Welt verbreitet. Daher müssen solche Zungen bestochen werden mit dem Feinsten, was die Küche zu bieten vermag.

Auch ich habe diesen Vorteil genossen; aber die »Fortgehjausen« hat mir niemals gemundet. Das Wort: »Lassen wir Feierabend« hatte mein Herz jedesmal in dem Maße geschwellt, daß der Magen nachgerade in den Winkel gedrückt wurde. Die mancherlei Umstände, die an der Fortgehjause hingen, als die Lobsprüche über »das rechtschaffen gute Essen«, das »Vergeltsgottsagen« und »Behütgottnehmen« waren mir lästig; nur fort aus der Stube, nur ins Freie und Weite, nur meinem Waldhause zu!

Für den Meister kam, wenn wir die Ster vollendet hatten, nach der Fortgehjause etwas, das ihm zumeist freilich noch lieber war, als die Freie und die Weite. Es kam der Bauer, wetzte und schleifte so eine Weile um den Kasten und um den Tisch, kraute sich auch wohl den Haarstrupp und entschloß sich endlich zur Frage: »Tät' ich halt jetzt fragen, Schneider, was die Schuldigkeit wär'?«

Es stak häufig viel Angst in dieser Frage, und es[159] stak auch viel Angst in der Antwort. Gegen Ende der Ster hatte den Meister allemal der Gedanke beschäftigt: Der Bauer, wird er zahlen, oder wird er schuldig bleiben? – Mein lieber Meister hatte niemals über Gebühr gerechnet und stand nicht danach, daß ihm dieser Entscheid so gleichgültig sein konnte, maßen mancher Arbeitgeber das »Schuldigbleiben« in dem bekannten Sinn des Till Eulenspiegel aufzufassen liebte und schuldig blieb. So geschah es denn jedesmal mit beklommener Brust, wenn der Meister den verdienten Lohn aussprach: »Wir haben unser zwei eine Woche gearbeitet; für einen des Tags vierzig Kreuzer, tät' zusammen gerade vier Gulden achtzig Kreuzer ausmachen.«

»Ist schon recht,« sagte der Bauer, und wenn er das sagte und sonst nichts mehr, so war es gut. Dann lag das Geld auf dem Tisch. Wenn er aber sagte: »Vier Gulden und achtzig – so so. Na, viel tät's eh' nit sein, soweit rechtschaffen zufrieden, aber halt das schlechte Jahr, das ich heuer wieder gehabt hab'; der Schauer hat mich troffen, Holz haben wir keines mögen auf die Kohlstatt bringen, weil das Wasser den Weg just frei so viel zerrissen hat und mit dem Vieh ist auch nichts zu machen gewesen – deswegen tät' ich halt wohl recht schön bitten, wenn –«

Es war zum Erbarmen, in solchen Augenblicken des Meisters Märtyrtum auf seinem Gesicht zu lesen. Die Rede, die hier so weich und gütig gesprochen wurde, als Schauer zerschlug sie dem guten Meister die Ernte, als Wasser zerriß sie seine Wege, als Seuche wütete sie in seinem Viehstand, denn seiner Hände Erwerb war alles, was er hatte.

[160] Die Hauptsache war demnach heraus, der Bauer setzte nur noch bei: »Wenn halt der Meister ein kleines Nachwarten wollt' haben.«

»Wegen einem kleinen Randel (Weilchen),« meinte der Meister allemal etwas gedämpft, »wird's nicht aus sein.«

Wird dem Bauer ganz warm ums Herz, daß die gefürchtete Sach' so rasch und gut abläuft. »Will schon trachten,« sagt er, »daß ich ehzeit zahlen kann, will schon trachten, bin wohl recht froh.«

Der Meister schweigt, er weiß, von nun an hat er einen mehr von denen, die ihm auf dem Kirchweg ausweichen.

Außer dem Zahlen oder Nichtzahlen gab's zu Ende der Ster auch noch was anderes, was mir die Wonne des Feierabends oft höllisch verbitterte. Es ist der Brauch, daß der Meister vom Arbeitgeber nach vollendeter Arbeit den »Sterlaib« kriegt. Das ist ein großer Laib Weißbrot für die Familie des Meisters daheim. Da mein Meister weder Frau noch Junge hatte, denen er Futter hätte zutragen müssen, so ließ er sich den Sterlaib zumeist in Geld ausfolgen, wobei er ebenso bescheiden als unartig war, bescheiden, weil er sich stets mit ein paar Sechsern begnügte, unartig, weil er den großen schönen Laib mit dem hohen glänzenden Bauch, in welchen die Bäuerin alle Sorgfalt und den ganzen Stolz einer Backfrau hineingebacken hatte, nicht höher, als auf ein paar Sechser taxierte. Der Bauer dachte sich: Da behalt' ich mir das schöne Brot selber, schmier' mir Honig drauf und esse eine ganze Woche dran – und zahlte die Sechser; die Bäuerin dachte sich: Tust nicht [161] recht, Schneider, daß du meinen Laib verschmähst! Gib acht, verredetes (verschmähtes) Brot wird viel gegessen. Der Lehrling dachte sich: Juchhe, da brauch' ich das Ungeheuer nicht zu schleppen! Und der Meister dachte sich: Um die zwei Sechser zwei Seidel Wein sind mir lieber, als ein Laib trocken Brot.

Der ungarische Schneider – daß mir dieser Mensch doch immer unter die Feder laufen muß! – war aber einer, der mit jeder Bäuerin so gut stand, daß er ihren Laib selten verschmähte; doch vertraute er einmal seinem Freund, dem Schmiedfranzel aus dem Schwendgraben, er esse solches Brot lieber mit einem ei, als mit einem ai, worauf der Schmiedfranzel antwortete: Mit einem Ei wäre es auch besser. Die Lotter waren einer wie der andere.

Mancher Bauer steifte sich und sagte: Wenn wir das Brot nicht wollten, Geld gebe er keines dafür; so wollte der Meister das Brot, und ich mußte den Laib mir auf den Rücken binden lassen und trappelte solchergestalt wie ein kleines Kamel hinter dem Meister her.

Sitte ist auch, daß der Handwerker an den Sonn-oder Feiertagen, die zwischen oder unmittelbar nach Schluß der Ster zu stehen kommen, vom Arbeitgeber zum Mittagsessen eingeladen werde. Liegt ein Haus aber gar zu weit von der Wohnung des Handwerkers, oder der Kirche, wo er zum Gottesdienste ist, abseits, so wird das Mittagsmahl wohl auch mit einem mäßigen Geldbetrag vergütet. Der großherzige Bauer jedoch lädt seine Handwerker anstatt für den nächsten Sonn- oder Feiertag gern für einen hohen Festtag ein, da sich seine Küche hervortut und er seinem Hausgesinde ein stattliches [162] Mahl zu geben gewohnt ist. So war es mitten im Sommer, daß wir im Ziselhofe unsere Ster beendeten, und der Bauer, nachdem er den Lohn proper mit einer Zehnerbanknote bezahlt, für den Sterlaib noch zwei Silberzwanziger auf das Papier gelegt hatte, in seiner höflichen Weise die Einladung machte: »Für den nächsten Sonntag zum Essen, das täte sich bei der Abgelegenheit meines Hauses wohl nicht auszahlen; aber am heiligen Christtag, Schneider, tut's mir zum Mittagsmahl kommen – nicht vergessen.«

»Werden schon kommen, wenn wir noch leben,« antwortete der Meister.

Da schaute der Bauer so drein, ob's dem Meister nicht etwa doch zu lange hingezogen wäre mit dem Mittagsmahl. »Will's auch zahlen,« sagte er, »wenn's euch lieber ist.«

»Beileib' nicht, Bauer, der Christtag bei dir ist uns schon recht. Und sollt' einer von uns Schneidern nicht mehr da sein, so gib dafür das Mittagsmahl dem alten Schandhans.«

Der Schandhans war in Ehren grau geworden und lebte zu jener Zeit in einer Halterhütte als Besenbinder. Es ging ihm sehr schlecht, sein Name: Johann Schand hatte ihn eigentlich zum Bettelmann gemacht. In der Jugend soll er im Begriffe gewesen sein, eine reiche Heirat zu machen; aber die Verwandten und besonderen Bekannten der Braut hatten diese so viel und so lange mit dem Schandbräutigam geneckt, daß sie den guten Hans stehen gelassen hat und einem anderen Burschen mit viel schönerem Namen zugelaufen ist, der sie aber erst recht in die Schand' gebracht haben soll. Wenn [163] sich die meisten Leute auch über den Namen des ehrlichen, gutmütigen Hans hinaussetzten, so konnte man doch nicht behaupten, daß derselbe für den Träger eine besondere Empfehlung war, und dem Armen ging's in seinem Alter, wie es tausend anderen geht, sie mögen übrigens heißen, wie sie wollen.

Dieser Mann also war im Falle unserer Abwesenheit für den Christtag im Ziselhofe zum Mittagsmahl bestimmt gewesen.

Es kam der Winter, und am Christtage nach dem Gottesdienst stand der Ziselhofer schon auf dem Kirchplatz und fahndete nach uns und wir sollten mit ihm kommen.

Nun war aber an demselben Tage ein solches Schneegestöber, daß man – wie der Egghofer zu St. Kathrein gern sagte – schier meinte, es habe im Himmel einen Bettler zerrissen, weil so viele Fetzen herabfielen. Die Leute auf dem Kirchplatz sahen wie Schneemänner aus, nur daß sie nicht so starr dastanden, sondern sich beizeiten aus dem wehenden Schneestaube machten. Bis zum Ziselhofe war es weit über eine Stunde, und doch gingen wir mit dem Bauer, fürs erste, um ihm den Beweis zu liefern, wie hoch wir die Ehre, daß er uns zum Christmahle geladen, zu würdigen wußten, und für's zweite, weil wir kein anderes Mittagsmahl in Bereitschaft hatten.

Mit Mühe und Not kamen wir zum Ziselhofe. Ein ganz besonderer Duft, der uns aus dem Hause entgegenwehte, deutete sofort an, daß es sich der Mühsal verlohnen werde.

Als wir in die große Stube traten, wo wir im Sommer unsere Werkstatt aufgeschlagen gehabt, wandte[164] ich meinen Blick vorerst auf den Hausaltar hinter der Tischecke, ob die lieben Heiligen wohl noch alle da wären, die uns dazumal bei der Arbeit so still zugeschaut hatten; auf sie wollte ich mich heute berufen, wenn ich allzu tief in den Genuß der Fleischkrapfen versinken sollte: sie hatten es durch ihre gläsernen Tafeln heraus gesehen, wie ich mir die Sache redlich verdient.

Auf den Bänken der Stube saßen die Knechte des Ziselhofes in ihren weiten und schneeweißen Hemdärmeln herum und rauchten ihre Sonntagspfeifen; eins vor dem Essen, das soll Appetit machen; sie hatten zwar schon vom Kirchweg eine erlesene Essenslust mit heimgebracht, aber heute konnte der Appetit nicht zu groß sein – das wußten sie. Nur dem kleinen Friedel, dem Schafjodel, wie sie ihn hießen, weil er die Schafherde verpflegte, hätte ich es nicht raten mögen, jetzt zu rauchen. Denn er tat's das erstemal. Und wahrhaftig, als die vorderste Schüssel herangedampft kam und der Bauer das Tischgebet lostat, war mein Schafjodel aus der Stube verschwunden, und ist die ganze Mahlzeit über nicht mehr gesehen worden.

Als wir uns zusammensetzten – mein Meister und ich wurden höflich auf den Ehrenplatz geschoben – ward uns eine Überraschung zuteil.

»Schandhans!« rief der Ziselhofer mit seiner weichen Fistelstimme, nach deren Flöten die ganze große Wirtschaft tanzte und der besonders zu dieser Stunde bereitwilligst gehorcht wurde, »Schandhans, geh' nur her und setz' dich zu den Schneidern.«

Jetzt kroch vom dämmerigen Ofenwinkel ein altes, verdammt buckeliges Männlein hervor, aber heute hübsch [165] glatt rasiert und gekämmt und ein sauberes Sonntagsgewand am Leibe. Er machte so etwas wie eine Verneigung vor den Schneidern und rückte sich dann zu ihnen, und saß ganz klein da, daß kaum seine breiten Achseln ein wenig über den Tisch heraufragten. Macht aber nichts heute, wenn nur der Kopf mit dem Munde zugegen, so ist's genug. Das alte Männlein betrug sich gar sittsam und bescheiden und wartete fast mit jedem Löffelvoll, bis er dazu vom Bauer extra eingeladen und genötigt wurde, und schämte sich fast ein bißchen, daß es auf der Welt war.

Mein Meister hatte, als der Schandhans vorgerückt war, den Bauer so von der Seite angelugt, und der Bauer wieder den Meister, so daß sich die Augen unterwegs begegneten und gute Bekanntschaft machten. – Ist's recht? fragten die des Ziselhofers. – Das gefreut mich von dir, Bauer, sagten die des Meisters. – Ist dein Wunsch christlich gewesen, sagten die Augen des Bauers, so wird wohl mein Christtagstisch auch christlich sein müssen. Der arme Mann soll heute mit uns essen, weil du ihn geladen hast, euch Gästen zur Ehr'! – Sagten hierauf die Augen meines Meisters: Ich arbeite schon seit dreißig Jahren in deinem Haus, und daß ich dir noch nicht ein handbreit Tuch stibiezt hab', das gefreut mich heute zweifach.

Aller anderen Augen hatten jetzt keine Zeit zum Plaudern, sie hüpften in der Schüssel um, nur daß etwa der Großknecht einmal die Großdirn anblinzelte: wie es heut' schmecke?

Der drallen Ziselhoferin aber, die, während wir aßen, immer am Herde waltete und zwei flinke Küchenmägde [166] beschäftigte, ihr setze ich aus Dankbarkeit hier ein Denkmal.

Zuerst kam eine große Schüssel würziger Rindsuppe, in welche der Bauer mit würdiger Opferhand Weißbrot schnitt. Die Suppe aßen wir aus der gemeinsamen Schüssel. So auch aus der zweiten Schüssel das reichlich mit Speck eingebrühte Grubenkraut, dessen Erinnerung noch heute imstande ist, mir in Zähnen und Gaumen begehrliche Gelüste zu wecken. Dann kam wieder eine Schüssel mit Rindsuppe, in welcher sich ein Schock dampfender Weizenknödel mit Semmel und Speck gefüllt herumwalkte. Diese Schüssel hatte einen Seitengänger, einen mächtigen Topf mit geräuchertem Schweinefleisch, aus welchem der Ziselhofer vermittelst einer Gabel jedem ein redlich Stück auf den Teller legte. Dabei fragte er allemal an: lieber seist oder mager? Nach seist war großes Begehren, nur wir Schneider erbaten uns mager; und der kleine Schandhans flüsterte: »O, vergelt's Gott, ich hab' schon rechtschaffen genug.«

»Oho!« rief der Ziselhofer, »das dürft' nicht sein, wir fangen ja erst an.«

Hierauf kam eine Schüssel Rindfleisch und ein Gefolge von Krenntunktöpfen. Jeder nahm seinen Fleischlempen (großes Stück), tranchierte ihn auf dem hölzernen Teller und tauchte die Stücke mit der Gabel in den Krenn.

Nach diesem Aufzuge erschienen Schweinsfüße in Sulze, hübsch mit Pfeffer gezuckert. Diese Schüssel sah aus, wie ein zugefrorener Teich mit Asche bestreut.

»Da wäre es zum Eisschießen« (ein Volksspiel auf dem Eise), bemerkte einer der Knechte.

[167] »Ich denke, wir brechen es auf und fischen,« sagte der Bauer und riß mit seinem Instrumente die Schweinsfüße mitsamt Haar und Klauen aus der Sulze empor. Als wir daran aßen, sagte die Weidmagd folgendes Wort: »Du verhöllte Sau, du bist mir im vorigen Sommer oft genug davongelaufen, jetzt das ist dein letztes Laufen!« und steckte den Schweinsfuß in den Mund.

Nach diesem Gerichte wankte, von den runden Armen einer Magd getragen, eine ungeheure Schüssel hoch aufgespeichert wie ein Scheiterstoß – die Krapfen – heran. Es waren große, viereckige Kuchen, üppig aufgebläht und mit Zucker überpfeffert. Auf den steirischen Bauerntisch kommen seit Bestehen der Welt keine solchen Krapfen, ohne daß einer die Bemerkung täte: »Schau du, heut' hat's in die Schüssel geschneit!« Diesmal sagte es der Unterknecht, und der Waldbub setzte bei: »Ja, Unterknecht, du wirst eher als ich einen Wein trinken, hab's gerad' auch sagen wollen.«

Das vom Weintrinken ist sprichwörtlich, aber es war nicht uneben angebracht. Der Ziselhofer erinnerte sich an das schwere, kühle Fäßchen, welches er auf der Wandbank stehen hatte. Er schenkte jetzt den großen grünen Krug, der bislang mit frischem Wasser um den Tisch gekreist hatte, mit Wein voll, und jetzt gab es – des mußten sicherlich die fetten Krapfen Ursach' haben – weit mehr durstige Leute an dem Tisch, als früher. Der Krug hatte dort, wo es herausrann, einen scharfen Schnabel, und da hielt mancher seinen Mund hübsch lange an diesen Schnabel und die Kuhdirn fragte den Hausvater: »Bauer, wo kaufft denn du die Krüge, daß es daraus so gut zu trinken ist?«

[168] »Beim Stockerwirt,« antwortete der Ziselhofer.

»Ja,« rief die Magd einfältig aus, »seit wann kriegt man denn bein Stocker Trinkkrüge?«

»Trinkkrüge nicht,« schmunzelte der Bauer, »aber das, was hineingehört.«

Der Schandhans ließ sich zu jedem Trunke nötigen und wischte sich allemal, bevor er ihn tat, mit großer Sorgfalt den Mund ab; dieser Umstand bewog mich, meinen Durst so zu regeln, daß er immer unmittelbar nach dem Schandhans zur Stillung kam.

Die Krapfen sprachen in ihrer Überzahl den Essern Hohn; der größte Ansturm war gebrochen, ein guter Rest des schweren Geschützes wanderte in die Küche zurück. Alsbald kam eine Schüssel mit gekochten Zwetschken in der Suppe. Diese wurden vernichtet. Dann erschien in wuchtigen Stücken der Braten, dessen dicke, wohlgeschmorte Speckhaut in tiefen Schrammen klaffte. Als Zugabe appetitlich in Schüsselchen aufgeschnitten, mit Weinessig und Kümmel zubereitet, rote Rüben.

Hier wurden meinem kleinen Nachbar die alten Augen naß. – Er möchte noch gern und er kann nicht mehr.

»Bradel eß' ich wohl, ich,« sagte der Großknecht und tat, was er sagte – und tat's gründlich.

Nach dem Braten kam – es ist die volle Wahrheit, ich schildere nur ein gewöhnliches Festmahl bei den oberländischen Großbauern – das Schmalzkoch, oder wie es näher bezeichnet heißt – das deutschweitzene Griesschmalzkoch. Der Brei schwimmt, wie es sein muß, in Schmalz und ist reich bespickt mit Korinthen und Zibeben, was auch jedesmal zur Bemerkung Anlaß gibt, wieso denn der Köchin so viel Fliegen ins Koch gefallen wären? [169] Dieses Gericht erfreute sich nur mehr eines matten Zuspruches; was indes die Hausfrau nicht hinderte, sofort eine mächtige Schüssel mit Branntweinnudeln auf den Tisch zu schicken. Das waren kleine, in Schmalz gebackene, in Branntwein gedünstete und extra noch mit Branntwein und Zucker überschüttete Kräpfchen, deren Duft schon imstande war zu berauschen. Männiglich nahm die Gabel wieder zur Hand und zuletzt den Löffel, um den Branntweinsumpf auf dem Grunde der Schüssel trocken zu legen. Selbst der kleine Schandhans tat hier wacker mit und sein Gesicht zog sich behaglich in die Breite. Während alldem war der stets neugefüllte Weinkrug immer lebhafter ins Kreisen gekommen, die Unterhaltung verwilderte, sogar die Schranken der Achtung gegen die Schneider wurden nicht respektiert; keiner hörte mehr, wenn der Meister sprach, außer der Hausvater.

Mein Meister wurde allemal wehmütig, so oft er Wein trank, auch wenn's ein geschenkter war. So schaute er jetzt vor sich hin und sagte: »Ja, mein lieber Gott, wer weiß, ob wir den Christtag noch einmal derleben!«

»Jawohl,« gab der Ziselhofer bei und stopfte sich den Mund mit der letzten guten Branntweinnudel.

Und nun kam aus der Küche noch etwas, von dem der Peter Heiderberger damals stetig behauptete, es richte die Bauernschaft zugrunde. Es war nämlich etwas Neues, aus der Fremde Gekommenes, ein Ding, das für die vornehmen Leute auf der Welt wäre und der Bauersmensch nur aus Hoffart zu sich nähme. Mein Ziselhofer hatte eigentlich dasselbe gesagt, aber seine Hausmutter hatte ihm bewiesen, daß die Sache zu einer [170] rechten Mahlzeit gehöre, daß sie in allen »besseren« Häusern eingeführt sei, und daß sie im Grunde um keinen Pfennig mehr koste, als eine Schüssel mit Milchrahm und Semmelschnitten, wie man solche früher als letztes Gericht aufgetragen habe. Auch wußte der Ziselhofer bereits aus Erfahrung, das Ding trinke sich nicht schlecht – und so kam es, daß jetzt durch die weit offene Küchentür eine unermeßliche Schüssel mit Kaffee hereingetragen wurde.

Nicht etwa schwarzer – den kennt man in der Bauernschaft nur als Medizin – sondern Milchrahmkaffee, in welchen jetzt ein halb Dutzend Semmeln geschnitten wurde.

Kein Tropfen davon ist übriggeblieben.

Nach dem Kaffee lugte der Jungknecht nach der Küchentür, ob nicht noch etwas käme, aber der Hausvater sagte gegen meinen Meister und mich gewendet: »Müßt's halt vorlieb nehmen, Schneider, wir sind fertig«, und schlug das Tischgebet an.

Nach demselben stand alles vom Tische auf, das Gesinde der Reihe nach küßte dem Hausvater und der Hausmutter die Hand: »Vergelt's Gott, Bauer, vergelt's Gott fleißig, Bäuerin – vergelt's Gott!«

Wir, die Schneider, hätten gern etwas Feineres gesagt, aber es fiel uns nichts ein und so blieben wir auch beim »Vergelt's Gott«. Der Ziselhofer erwiderte unseren Händedruck und sagte: »Gesegne euch's Gott, 's ist ja nicht viel gewesen, und ich denk', jetzund zünden wir ein Pfeifel an.«

Der kleine Schandhans war im Laufe der Begebenheiten hübsch gesprächig geworden, er wollte dem Bauer [171] jetzt beide Hände küssen und da dieser die Bedrohten immer hinter dem Rücken barg, so torkelte der Alte so lange um den Ziselhofer herum, bis er sein Ziel zur Not erreicht hatte.

Nach der Danksagung suchte sich jeder nach Belieben einen Platz zum Sitzen, sei es auf der Wandbank, sei es am Tische, sei es am Ofen oder auch tief unten auf einem Betschemel – man setzte sich, dampfte Tabak an, stocherte die Zähne mit Strohhalmen aus, erzählte, hörte oder duselte ein – je nach Talent und Neigung.

Mein Meister und ich gehörten zu den Zahnstocherern, der kleine Schandhans steckte seinen höllisch rußigen Pfeifentiegel vors Gesicht und als er ins Zeug kam, fragte ihn der Hausvater, was er doch für einen starken Tabak rauche?

»Überreiterkraut,« schmunzelte der Hans; das war Ungarischer, Geschwärzter.

»Vertragst ihn?«

»Muß wohl,« antwortete der Alte, »rauch' ihn fürs Podagra. Wenn mich das Deibelsding rechtschaffen zwickt, so rauch' ich Überreiterkraut.«

»Sollst doch auch sonst was dagegen anwenden,« meinte der allzeit teilnehmende Ziselhofer, »sollst einen Bader fragen.«

»Weißt mir einen, der das Podagra hat?« fragte der Alte.

»Der's hat?«

»Das Podagra muß er haben. Wer das Podagra nicht hat, zu dem hab' ich in der Sach' kein Vertrauen, er weiß nichts und versteht nichts. Mit einem, der das Podagra nicht hat, kann der Mensch gar nicht davon[172] reden. Und zu einem Arzt muß der Mensch Sympathie haben, sag' ich alleweil, wenn er zum Arzt keine Sympathie nicht hat, so kann sein Lebtag auch kein Sympathiemittel nicht helfen.«

»Mag wohl sein, das,« sagte der Ziselhofer, »und hilft der Tabak?«

»Sind halt wohl Tage,« fuhr der Hans fort, »wo auch das Überreiterkraut nicht angreifen will. Nu, da versperrt sich der Mensch in seine Hütten, vergrabt sich in sein Stroh und wartet, bis sich das Gespenst an den Knochen satt genagt hat.«

»Daß dir die Zeit nicht lang wird, Hans, in deiner ödweiligen Hütten, das wundert mich,« so sagte mein Meister, und sprach uns damit allen aus der Seele.

»Ich bind' Besen,« antwortete der Alte.

»Und kommst nicht bisweilen ins Simulieren?« fragte der Meinige – wie die Schneider schon sind, die müssen zu der federleichten Handarbeit allemal auch eine Kopfarbeit haben, aber ja keine solche, wie der alte Bühelsteiger meint, wenn er die Stadtherren ärgern will. »Meine Ochsen arbeiten auch mit dem Kopf,« sagte der Bühelsteiger und bindet den Viehern das Zugjoch an die Hörner. »Ich meine, Hans,« sagte der Meister, »ob du nicht unterschussen (von Zeit zu Zeit) ins Nachdenken drüber kommst, daß andere Leut' um so viel besser leben, als wie du, und gibt's viele dabei, die ihr Lebtag nicht so brav und fleißig gewesen sind wie du.«

»Hab' wohl schon dran gedacht,« meinte der Alte, »hilft aber nichts, so denk' ich nimmer dran und bind' Besen.«

[173] Schüttelten halt mehrere von uns ihre Häupter, was immer gescheit ausschaut und ein Ansehen gibt.

»Ja, was glaubt ihr denn, Leut'!« sagte der Schandhans und tat einen verwunderlich lauten Lacher, »ich leb' nicht so schlecht, wie es ausschauen mag. Hab' auch meine heimlichen Sünden; wenn ich einmal gestorben bin, so fragt neuding (absichtlich) die Stockerrosel – die weiß was.«

»Aber schneien tut's schon damisch draußen,« sagte der Ziselhofer und legte seine Nase aus Fenster; er fand's nämlich hoch an der Zeit, die Unterhaltung zu wenden, er merkte, im alten ehrlichen Schandhanskopf begann der Wein zu blühen. Ja, das damische Schneien war richtig, aber das Geheimnis der Stockerrosel! Die Rosel war das schönste Dirnlein weit und breit; an Sonntagen war sie vormittags Primadonna auf dem St. Kathreiner Kirchenchor und nachmittags machte sie daheim die Kellnerin und sang den Bauernburschen mit allerlei Schelmenliedchen den Verstand aus dem Kopf. Und dieses Mädel sollte mit dem Schandhans Heimlichkeiten haben?

In der Stube war es dunkel geworden, im Weinkrug auch, so rüsteten wir uns zum Nachhausegehen. Der alte Hans fand auf der Bank sein blaues Sacktuch nicht mehr; das kam jetzt an der Hand der Hausfrau von der Küche herein, als Bündel voll Krapfen und Braten, »daß halt der Hans morgen daheim auch noch was hätt'«.

»O, du Narrisch, du guter Narrisch,« stotterte der beglückte Alte der Ziselhoferin vor, »das ist schon gar zu viel, das kann ich nit vergelten, na wart', Hausmutter, da muß ich dir doch nachst einen braven Besen herauftragen.«

[174] Uns gab der Ziselhofer seinen stärksten Knecht mit, daß er uns den Pfad trete. So schob der baumstarke Kerl voraus, mit seiner Brust wie ein Schneepflug die Gasse bahnend – und hinter ihm drein hasteten die beiden dünnen Schneiderlein, die immerhin noch genug zu tun hatten, um mit Ehren weiterzukommen.

Als wir zu Hause im Stübel saßen, der Meister die Brillen auftat, mit der Schere die Kerze schneuzte und dann seine Hauspostille vornahm, um den heiligen Tag auferbaulich zu beschließen, begann ich im stillen eine Unterlassungssünde zu bereuen und konnte gar nicht begreifen, warum ich beim Mittagsmahle so wenig gegessen hatte. Wohl sagte mir das Gewissen: Beunruhige dich nicht, junger Schneider, du hast gegessen, so viel dir menschenmöglich gewesen!

»Bet' auch was aus dem Büchel!« mahnte der Meister und schneuzte das Licht mit den Fingern, weil's ihm um die Schere für die Länge leid tat. Ich suchte im Überrock mein Gebetbuch und fand im auswendigen Sack einen großen Krapfen. Jetzt, das war ein würdiger Gegenstand meiner Andacht. –

Der Schandhans band nach diesem Tage noch eine Zeitlang Besen, dann begab er sich selbst dem Staube.

»Jetzt kommt er mir am Samstagfeierabend nimmer und ich kann ihm sein Schnapsplutzerl nimmer füllen,« so sagte am Tage seines Begräbnisses die schöne Stockerrosel zu den Gästen.

Sein Schnapsplutzerl! Du gute alte Haut – und das war dein Geheimnis gewesen.

Eine Herzensangelegenheit
[175] Eine Herzensangelegenheit.

In der Gaststube beim Hauensteiner saßen wir und nadelten.

»In die Joppen kommen voran fünf Busenknöpf'!« ordnete der Meister an, denn ich hatte eben eine Samtjoppe für die Kellnerin in Arbeit.

»Meister!« wendete ich mit bescheiden leiser Stimme ein, »die Kellnerin möcht' auch sieben Knöpf' haben wie die Frau, hat sie gesagt.«

»Die Kellnerin kriegt fünf Knöpf'!« wiederholte der Meister, »das wär' noch schöner, wenn die Dienstleut' sich jetzt auch schon so gewanden wollten wie die Herrenleut'. Den Busen wattieren, das kannst tun, das haben die Gäst' gern bei der Kellnerin. Aber nit so stark wie bei der Frau!«

Während ich solcherlei Weisungen auszuführen mich befleißigte, trat ein Gast in die Stube. Es war der Lebzelter (Lebkuchenbäcker) aus Krieglach, dessen alte Mutter mir manchmal Bücher lieh. Daher kannte ich ihn. Er setzte sich an einen Tisch, legte den Hut auf die Bank, trocknete sich mit dem roten Sacktuch die Stirn und sagte als Ansprache: »So, so, da gibt's Schneider!«

»Ja!« grüßte mein Meister gehobenen Tones.

»Ich tät wohl auch einmal einen Schneider brauchen,« sprach der Lebzelter.

[176] »Ja!« antwortete der Meister. »Wann denn?«

»Ah, nit zum Gewandmachen,« lachte jener, »das kauf' ich mir in Graz. Den jungen Schneider tät ich brauchen.«

»Den da?« Der Meister zeigte mit der Nadel auf mich.

»Der sollt' mir halt so Sprücheln machen, so Reimsprücheln für Lebzeltenherzeln, wie sie die jungen Leut' gern haben, die Buben und Dirndln.« Und an mich ger wendet: »Kannst es ja, han ich gehört, das Gedichtelmachen.«

Ich schwieg und werde wahrscheinlich rot geworden sein, wenigstens war mir heiß an den Wangen. Ich schämte mich immer, wenn so was vor dem Meister gesagt wurde; die heimliche Kunst wollte ich ihm nicht wahrhaben, da er ohnehin gern behauptete, ich hätte andere Dummheiten im Kopf als wie Hosen und Janker. Zwei- oder dreimal ließ ich den Lebzelter auf mich herbitten, insgeheim erwägend, daß ich ihm den Gefallen doch wohl würde tun müssen, weil seine Mutter mir ja die schönen Bücher lieh. So neigte ich endlich den Kopf, ich wolle die Sprüchlein schon machen.

Mittlerweile war meine Samtjoppe mit den fünf funkelnden Glasknöpflein fertig geworden. Ich wollte sie gleich an den Wandnagel hängen, aber mein Meister nahm sie mir aus der Hand, prüfenden Blickes. In der Busengegend griff er so ein Weilchen herum, dann schaute er mich an und in seinem Aug' verkleinerten und verschärften sich die Sterne.

»Was hast denn da wieder gemacht?« sagte er halblaut. »Mit dir ist's wohl ein Kreuz! Den rechten Busen [177] hast wattiert, den linken hast leer gelassen. Ein einseitiges Weibsbild! – Trenn' auf wieder!«

Der Lebzelter konnte es gehört haben. Wenn ich jetzt untertauchen hätte können in die Tiefen der Ewigkeit! – »Wirst denn du ganz dumm!« redete der Meister in unerträglicher Gelassenheit weiter, »oder tust mir's zu Fleiß!«

Das stach mich. »Zu Fleiß nit, Meister!« zum Weinen war mir, vor Ärger über mich selber, als ich nun die linke Joppenseite auftrennte, um eine Lage Watte hineinzulegen und flach zu heften.

Der Meister sagte nichts mehr. Er mar wortkarg, und wenner sprach, klang es wieder gütig. –

Als der nächste Samstag*Feierabend kam, auf dem Heimweg ins Vaterhaus, warf ich den letzten Fetzen Leutegewand aus dem Köpfel und das füllte sich mit Lebkuchenherzen-Poesie.


Auf hoher Alm, im grünen Wald,

Da ist mein liebster Aufenthalt.

*
Bei Sonnenschein und Vogelsang
Lebe froh und lebe lang!
*
Freue dich des Lebens
Und meid' die Sünd,
Dann bist du nicht vergebens
Ein Gotteskind.
*
Liebe und hasse zu rechter Zeit,
Mäßig sei in allen Sachen,
Das wird dich in der Ewigkeit
Und auch auf Erden glücklich machen.

[178] Mit solcherlei Dichtungen verfügte ich mich (im Tager buch aus jener Zeit heißt es anstatt: »ich ging«, immer: »ich verfügte mich«) am nächsten Tage nach Krieglach. Zuerst klopfte ich bei der alten Frau an und zeigte ihr die Verse. Da sagte sie: »Du bist doch ein braver, frommer Bub. Da will ich dir heute ein extra schönes Buch mitgeben!« Sie reichte mir wie gewöhnlich den Schlüssel zum Dachboden, wo die Bücher und alten Zeitschriften aufgehäuft lagen, aus drnen ich mir Beliebiges hervorholen konnte.

»Auf der Wandstelle rechts von der Tür liegen die, Stunden der Andacht', die darfst heut' mitnehmen, weil du so schön dichten kannst.«

Hernach suchte ich den Lebzelter, der heute eine weiße Schürze um und ein grünes Käppchen auf hatte, denn er versorgte nebst der Lebzelterei auch noch eine Gastwirtschaft mit Wein und Met und »Mischkulanz«, in dem beides beisammen war, und bediente dir Gäste. Er nahm mir die Sprüche schnell aus der Hand, er werde sie schon lesen, wenn er Zeit habe. »Jetzt san die Leut durstig!« – Das empfand ich als etwas formlos. Ich war ja auch durstig, aber weniger nach Mischkulanz als nach einem mit Sicherheit erwarteten Lob. Dann verfügte ich mich auf den Dachboden und statt den Stunden der Andacht nahm ich den Till Eulenspiegel, den daumenlangen Hansel und die schöne Melusina mit.

Erst am nächstfolgenden Sonntag vernahm ich des Lebzelters Meinung über meine Verse.

»Das sollen Sprüche für Lebzeltherzen sein! Na, Peterl, die schreib' dir lieber in dein Schulbüchel, wenn du sie nit etwa dort herausgeschrieben hast. Die Lebzeltensprücheln [179] schauen ein bissel anders aus. Da guck einmal.«

Er zeigte mir mehrere, die auf Bildchen unter Liebespaaren standen. Es waren die Erzeugnisse der Lebzelter von Kindberg und Mürzzuschlag, seinen Konkurrenten. Solche wolle er, so ähnliche. Aber doch andere. Ich hätte ja das Zeug dazu, solle mir's nur hervorsuchen. »Weißt, so von der Lieb' muß die Red' sein, vom Busselgeben und so. Weißt eh?«

Na, freilich wußte ich es. Ich hatte es nur besser machen wollen. Nun, wenn's bestellt wird, gut. Ein Schneider muß auch Schwimmhosen machen können.

Ein paar Wochen später steckte ich dem Lebzelter unter die weiße Schürze ein anderes Papier zu.


Nimm dies Herz, du kleine Süße,

Es ist so süß, wie deine Küsse.

Ich möchte dir sagen, wie lieb ich dich habe,

Drum schenk' ich dir, Liebste, die liebliche Gabe.

*
Dies Herz aus Mehl und Honig ist zum Essen,
Mein Herz mit Fleisch und Blut, das ist zum Lieben,
Das sollst du, feiner Schatz, mir nie vergessen,
Drum hab' ich es auf dieses Herz geschrieben.
Du Büberl, bist mein,
Und nur du ganz allein.
Und ich laß keinen andern
Ins Herzkammerl ein.
*
Dein Äugerl, das leucht't,
Und dein Göscherl, das lacht,
Gelt, bist mir nit bös,
Wann ich komm, bei der Nacht.
*
[180]
Wenn ich dich lieben kunnt,
Alle Nacht sieben Stund,
Wollt' ich den ganzen Tag
Buße tun.

Dann saß ich wieder wochenlang in Bauernhöfen herum, baute monumentale Lodenhosen und Janker, wölbte auch manche Weiberjoppe ohne Wattebedarf und verachtete mich ein wenig. Ich hatte etwas geschrieben, das ich eigentlich gar nicht meinte, etwas gesungen, wovon ich zurzeit noch blutwenig spürte. Ich fürchtete und hoffte, daß meine Verse Verwendung finden könnten.

Nach zwei oder drei Monaten brachte ein Kohlenfuhrmann in mein Vaterhaus ein Päcklein vom Lebzelterhaus zu Krieglach. Wohl Bücher von der alten Frau? Für alle Fälle verfügte ich mich in die verschwiegene Strohkammer, um das Päckchen aufzumachen. Sechs Lebkuchenherzen mit farbigen Bildchen draufgeklebt. In einem goldenen Blumenkörbchen saß das Liebespaar und darunter je einer meiner Verse. Alle sechs angenommen. Sie lasen sich beinahe glatt, nur das mit dem Kurzschluß? Es wurde mir finster vor den Augen, als ich's las. – Das zwang ich nicht, das zwang mich. – Vom Lebzelter war eine Zeile dabei: »Sie gehen ab wie frische Semmeln.«

Später habe ich erfahren, daß die alte Lebzeltersfrau ihren Sohn gefragt hatte: »Du, von wem hast du denn diese sündhaften Liedeln jetzt auf den Lebzeltherzen?«

»Sie kennen ihn eh gut, Mutter, der sie gemacht hat.«

Als ich nachher wieder einmal um Bücher kam, beteuerte die alte Frau, sie hätte den Dachbodenschlüssel verlegt. – Aber die sechs Lebzeltenherzen wollten trotz der zierlichen Bildchen mir kein Ersatz sein für das, was [181] der versperrte Dachboden barg! Da kam mir der Gedanke, ich könnte diese Herzen ja irgendwie verwerten. Manchem herzlosen Dirndlein konnte man gelegentlich eins einhängen. Zum Exempel der Hauensteiner Kellnerin. Ich hatte ja mehrmals schon beobachtet, wie ihr über dem Busen mein Jöpplein saß mit den fünf funkelnden Glasknöpfen und den sanften Watteeinlagen. Ob man nicht noch weiter ausfüllen könnte? Ich merkte, wie mir allmählich das Interesse stieg an diesem Kleidungsstück. Plötzlich sprang ich hin und steckte ihr ein Herz in den Busen hinab. Sie schaute mich betroffen an, holte dann mit eigener Hand die Bescherung hervor, und als sie sah, daß es ein Lebkuchen war, biß sie drein und verzehrte ihn mitsamt meiner Dichtung. – Hernach lachte sie mich herzig an und als ich dachte: jetzt kommt die Wirkung, legte sie den Arm um meinen Nacken und sagte ein wenig verschämt, sie hätte an mich ein kleines Gebitt.

»Gern, Dirndel!«

»Weißt, Schneiderbub, mein Franzel, der hat's gern. Möchtest nit so gut sein und mir ins Jöppel noch zwei Knöpfeln einnähen, daß ich sieben hätt' wie die Frau Wirtin!«

Bis hierher ging meine Niedertracht und hier hub der Stolz an. Würdevoll sprach ich: »Mein Meister will's nit, so tu' ich's nit.« –

Ich vermute, daß auch alle anderen Herzen, die der Lebzelter etwa verkauft hatte, ähnlich erfolglos verlaufen sind. Jedenfalls ist der Ruhm jener Dichterwerke nicht auf unsere Zeit gekommen. Auch diese neue Auflage wird nicht viel machen.

Mein erstes Honorar
[182] Mein erstes Honorar.

Da gehört was dazu,« sagte der Steinbauer, »wo er denn das her hat!«

»Aber schon gar!« rief die Steinbäuerin lachend, »ist doch ein rechter Unchrist, dieser Schneiderbub! Wenn unsere Dirn nicht sozusagen schon Mensch geworden wäre, dürfte man so ein Lesen nicht leiden.«

»Geh',« schmeichelte die menschgewordene Haustochter, »hast nicht noch was bei dir?«

»Bei mir« – entgegnete ich – »bei mir hätt' ich schon was, aber« – jetzt einen fragenden Blick gegen meinen Meister.

»Wenn's ihnen gefällt,« sagte der schmunzelnde Meister, »so lies halt noch was.«

Wenn's der Meister anschafft und eine menschgewordene Haustochter drum bittet, wird ein junger Schneidergesell doch nicht lange säumen, sein »Gedichtet's« vorzulesen. Hoch oben in unseren Waldbergen hob der Meister Natz mit seinem dichtenden Gesellen nicht viel Ehre auf, aber im Tale der Mürz, wo es zur Mode gehörte, bisweilen ein wenig Spitzbub zu sein, da erhob sich ein rechter Jubel, so oft ich etwas von meinen Schwänken, Trutz- und Liebesg'sangeln zum besten gab. Letztere waren mitunter »hübsch geschmalzen«, wie der Steinbauer einmal sagte, aber man weiß ja, daß Bauersleute [183] gern fett essen; auch die erwachsenen Haustöchter wischen sich den Mund erst ab, wenn sie satt sind, und so las ich drauflos. Meine Stimme hatte gerade die rechte Stärke, um in der Kinderstube nicht gehört, und an unserem Tische wohl verstanden zu werden; auch soll ich – was mir der alte Steinbauer heute noch gutspricht – die vielen Gedankenstriche gar sinnreich mit den Augen angedeutet haben, die über den Steg dieser Gedankenstriche ein- ums anderemal auf die Haustochter hinübergesprungen sein sollen.

Besonderen Beifall hat das Stück: »A betendi Jungfrau« gefunden. Dieses tut dar, wie eine etwa dreißigjährige Jungfrau den heiligen Kulian um einen Mann bittet. Bei der Stelle:


Kolt wird's, da Winta kimt uma,

Und Mana gibt's übroll viel;

An Mon muas ih hobn, sist dafruis (erfriere) ih,

Ih muas und gehts aus scha wias will,

Ih sog enks, sist bring ih mih um!

Ohni Mon woas ma nix z lochn,

Gibts da koan Gspoaß und nix z lochn,

De ledi bleibn möchtn, sein drum

Wul dumm!


blieb kein Auge trocken. Die älteren Dienstmägdeweinten die Tränen, die jüngeren lachten sie. Die menschgewordene Haustochter hatte gut lachen.

Solch ungezwungener Beifall hat meinem guten Meister nicht minder wohlgetan, als mir. Wo war denn sonst noch ein Meister, welcher einen Gesellen hatte, der die Leute lachen machen konnte, ohne sie beim Gewandanmessen zu kitzeln, der sie zum Weinen bringen konnte, ohne ihnen wehgetan zu haben. Wo war ein [184] solcher Meister?! – Bald hatte sich in der Nachbarschaft und in der grünen Umgegend von Mürzzuschlag die Mär verbreitet: »Beim Steinbauer haben sie einen g'spaßigen Schneider!« Und jetzt kamen sie an den schönen Sommerabenden herbei und der g'spaßige Schneider las ihnen allerhand Gedichtet's. Da betrachteten sie mich eine Weile und sagten es ganz laut: »Ausschaut er nicht danach, daß man ihm so was kunnt ansehen.«

Mancher Bursche schlich mir nach und ob ich denn nicht so gut wollt' sein und ihm ein Briefel schreiben an seinen Schatz, recht hitzig, daß er die Dirn haben muß, und dann wieder so viel betrübt und »schmachtisch«, daß es ihr aus Herz greifen soll, und endlich so gewiß butterweich und keck dabei, wie wenn man eins halst und bußt und nicht mehr ausläßt. Tinten und Papier wollt' er schon fleißig zahlen.

Der Lebzelter von Mürzzuschlag bestellte allerhand Sprüchlein für seine Lebkuchen. Und der alte »Abschiedertoni«, dem nach zweiundzwanzigjährigem Militärdienst mit drei Feldzügen nun in seiner Heimat das Betteln erlaubt worden war, wollte von mir einen großen Spruch haben, in welchem seine Heldentaten dargestellt wären und welchen er vor den Haustüren aussagen könne.

Wenn ich dann nächtlicherweile im Bette lag, reckte und dehnte ich mich und genoß den Ruhm, der nun auf einmal über mich gekommen war.

Der Steinbauer war ein lustiger Kopf und schenkte an Sonntagen Wein aus. Zu dem kamen schon damals die Sonntagswiener in Scharen gezogen, weil es bei ihm so fröhlich und steierisch zuging. So sagte der Steinbauer eines Tages, da wir bei ihm auf der Ster[185] waren: »Schneider; am nächsten Sonntag, wenn die Wiener kommen, sollen wir was anstellen.«

»Was sollen wir denn anstellen?«

»Einen Spaß.«

Mein Meister, der im wärmeren Klima des fröhlichen Mürztales immer selbst mit auftaute, hat alsogleich eingestimmt.

»Ich weiß schon was,« sagte der Steinbauer, »wir legen alle unser steierisches Gewand an.«

»Dein neues ist noch nicht fertig,« unterbrach ihn der Meister.

»Macht nichts, den Wienern ist das alte auch recht. Nachher machen wir einen Hochzeitszug und singen das Pinzgauerlied.«

Der Hochzeitszug, meinte mein Meister, wäre etwas sehr Gutes, aber das Pinzgauerlied wäre für die Wiener viel zu dumm.

»So soll dein Lehrbub etwas Gescheiter's machen,« schlug der Steinbauer vor. Ich erklärte mich dazu bereit unter der Bedingung, wenn sich der Meister aus etlich en verkehrten Nähten, die während des Dichtens etwa entstehen sollten, nichts machen wollte.

So sagte der Meister zum Steinbauer, indem er mit dem Daumen über die Achsel nach mir hinwies: »Du schau ihn an. Er bringt nichts Gescheites zuweg, wenn er dabei nicht auch was Dummes machen kann.«

Sprach der Steinbauer: »Wegen ein paar fehlgeschlagener Hosennähte werden mir schon auch noch nicht betteln gehen müssen.«

Schrie mich der Meister an: »So dicht' zu!«

Jetzt fiel mir nichts ein. Und als es Abend wurde,[186] und als ich »zwischen der Lichten« gegen den Gansstein hin spazieren ging, fiel mir immer noch nichts ein. Am nächsten Tage tröstete mich der Steinbauer mit dem Sprichwort: »Gut Ding braucht Weile.« Worauf mein Meister sagte: »Da muß es schon etwas sehr Gutes sein, weil es ihm alleweil noch nicht einfällt.«

Plötzlich am zweiten Tage, so um die Jausenzeit herum, hatte ich was. Denselbigen Abend brachte ich in Nöten zu, aber am nächsten Tage war es so weit, daß wir den neuen Text nach der Melodie des Pinzgauer Liedes einstudieren konnten. Toll ging es her und wir lachten uns fast krumm dabei.

Wir hielten einen Probezug. Der Steinbauer eröffnete als Brautführer den Zug, neben ihm als Braut ging die Haustochter. Als zweites Paar war die erste Kranzeldirn mit dem Bräutigam. Dann kamen wir Sänger! Mein Meister war Baß, ich Tenor. Hinter uns zog der Troß der Kranzeljungfern, Burschen und aller Hochzeitsleute. Die ganze Nachbarschaft war da. Der Ganssteinwald machte unser Singen nach und machte das Gelächter nach. Und der Steinbauer rief nach der Probe: »Das wird ein Hauptspaß für die Wiener; so was haben sie noch nicht gehört.«

Ich konnte die nächste Nacht nicht mehr schlafen und hatte weitgehende Gedanken. – Zweimal sagen darf man's nicht, sie nehmen mich mit! Der Meister laßt mir in diesem Bett ohnehin keinen Platz. Wie er sich heut' wieder breit macht! Mehr als ein Fragezeichen hat in so einem Bett nicht Platz. Bin daneben nur wie ein kleiner Beistrich; nun, vielleicht ist's mit heute Punktum.

[187] Am nächsten Morgen war Sonntag und es kamen die Wiener. Ich hatte das Volk schon einmal gesehen – dazumal, bei der Kaiser-Josef-Reise. Schwarze, braune und graue, blasse und bärtige, tollustige, übermütige Leute, alle mit seinen Spazierstöcken, vornehmen Zigarrenspitzen, manche mit Glasscheiblein, die sie sich in die Augenhöhle zwickten und dabei das andere Auge zupreßten, weil solche Herren ja mit einem Auge mehr sehen, als andere mit zwei. Viele hatten auch seidene Kübelhüte auf den Köpfen, daß es schon eine Herrlichkeit war. Sie trieben im Walde und auf dem Anger allerlei Kurzweil und tranken Wein und ringsum das Steinbauernhaus war ein Lärm, wie »bei einem besoffenen Kirchtag«.

Jetzt rückten wir mit unserem Hochzeitszuge an. Mit roten Stangentüchern fuchtelten wir in der Luft herum, mit unseren Stimmen suchten wir den Lärm der Zechenden zu überschreien, was uns nicht recht gelingen wollte. Sie nahmen uns nicht wahr. Jetzt drangen wir mitten in den Baumgarten, wo die besetzten Tische standen, postierten uns dort und sangen – an zwanzig Stimmen stark, die aber voneinander nichts zu wissen schienen – mein »Gedichtet's« ab. Als wir damit fertig waren und das lustige Lärmen fortwährte, begannen wir es noch einmal zu wiederholen, und zwar noch toller und schriller als das erstemal. Jetzt sahen wir, daß wir Aufmerksamkeit erregten. Ein ganzer Tisch kam in Bewegung und ich sah, wie sie einen Abgeordneten wählten, der, sich durch die Menge drängend, eilig auf uns zukam. Meinem Meister streckte er die Hand hin und sprach: »Da habt's einen Kreuzer fürs [188] Singen und daß 's aufhören sollt's!« – Dann war er wieder davon.

Wir hörten freilich auf, weil uns die Stimmen im Munde stecken blieben. Wir blickten uns starr an. Alsdann schlichen wir einer nach dem anderen seitab. Ich irrte den übrigen Teil des Tages in den Wäldern umher, und als wir am Abende im Hause wieder zusammenkamen, wollte keiner dem anderen ins Gesicht schauen.

Da war es am nächsten Montagsmorgen, als das Arbeiten wieder anging, daß der Meister mir etwas über den flachen Tisch schob und sagte: »Das gehört dein.«

»Brauch's nit,« knurrte ich, denn es war der wienerische Kreuzer.

»So?« sagte der Meister, »hast dich mit deinem Gedichtet's so abgeplagt und willst die Belohnung nicht dafür nehmen?«.

Da hob ich die Hand und fuhr damit über den Tisch hin, daß der Kreuzer durch die Stube flog und nicht mehr gesehen wurde.

Von diesem Tage an war es mit meiner Poeterei auf eine Weile vorbei. Habe dem Lebzelter auch keine Lebkuchensprüche mehr geliefert, sie wären sicherlich zu wenig süß ausgefallen. Bald darauf zogen wir zwei Schneider uns wieder ins Gebirge zurück.

Seither sind viele Jahre vergangen. Als ich unlängst in die Gegend kam und auch meinen alten Steinbauer besuchte, habe ich die Frage nicht unterdrücken mögen, ob in der Leutstuben, wo wir einst gearbeitet hatten, nicht etwa einmal ein Kupferkreuzer gefunden worden wäre.

[189] Ja, da lachte er hellauf. Erst kurz zuvor hatte ihm eines seiner Enkelein einen über und über mit Grünspan verhüllten Kreuzer gebracht, den es in einer Fletzspalte der Stube gefunden haben wollte.

»Schau,« sagte der Steinbauer, »da ist er. Hat sich das Gesicht verdeckt, warum das weiß ich nicht.«

»Dieses Geld ist mein,« sagte ich, »will es aufbewahren. Der Poet hat Stunden, wo ihm Erinnerungen – wie diese an mein erstes Honorar – zunutze sind.«

Der Steinbauer schmunzelte und machte dabei gerade so ein Gesicht, als wüßte er wieder einen neuen Spaß. – Aber ich bin nicht mehr darauf eingegangen.

Vom Hacherl, der auf dem Tische saß
[190] Vom Hacherl, der auf dem Tische saß.

Wenn ich mein bißchen Schneiderzeit nicht leicht genommen hätte, so wäre sie wahrscheinlich recht schwer gewesen. Das Beste daran war, daß ich solches Handwerk freiwillig wie es aufgenommen worden, wieder wegwerfen konnte. Kein Lehrbrief bannte mich, kein Handschlag. Form rechtens war ich nie aufgenommen worden von meinem Meister. Die Zunft wußte gar nichts von mir. Ich könnte heute meine Schneiderzeit anders nicht beweisen, als daß ich mich hinsetzte und der Jury eins vornähte. – »Wenn du willst, so bleib' da,« hatte damals mein Meister Ignaz gesagt und das war die Ausnahme. »Wenn ich will, so gehe ich wieder,« sagte ich mir selbst, wenn es manchmal ungut schien, und das war mein Trost. Weil ich solchergestalt auch als Lehrling frei war, so blieb ich, fügte mich in alles. Ich hatte nichts zu hoffen, wenn ich blieb, nichts zu fürchten, wenn ich ging und auch umgekehrt. Meine Schneiderzeit war nichts als ein Warten auf die gebratenen Vögel, die in den Mund fliegen.

Der Meister war engelsgut, die Gesellen aber waren oft des Teufels gewesen. Der lange Christian mit der göttlichen Phantasie, der philosophische Toni, Hacherl der Spiritist, der Mährer, der immer im Heiraten umging, der Schweizer, der sich selbst versteigerte, das waren, [191] nach diesen Eigenschaften geschätzt, gar drollige Genossen, in der Werkstatt gefielen sie mir weniger. Der Hacherl war ein Ehrenmann. »Auf Wort und Handschlag!« sagte er. Wenn man sein Wort einmal überhörte, so war auch schon der Handschlag da. Er hatte bei vielen Meistern herumgearbeitet und war mit seinen ausnehmend plumpen Gliedern der Schreck der Lehrlinge. Für sein etwas spärlich bepflanztes Herrscherhaupt hätte er sich die üppigste Perücke machen lassen können aus den jungen Haaren, die er den Lehrlingen gerodet hatte. Lehrlinge waren diesem Manne zu dumm, er pflegte geistreicheren Umgang mit Slivovitz, Rosoglio, Kirschgeist, Weichselgeist und anderen Geistern, weshalb er sich mit Recht einen Spiritisten nennen konnte. Er hielt sich eingestandenermaßen nur noch an den Geist, weil er bisher keinen Leib gefunden hatte. Die Rulla Eishartsteinerin im Brettelhof war eine, die alle bösen Geister aus ihm hätte vertreiben können. Ihrem Namen nach hätte man nicht geahnt, wie warm und weich die sein konnte, die Rulla Eishartsteinerin; so behauptete der Hacherl – ich weiß nichts.

Der Meister hatte uns nur ungern allein gelassen, damals beim Jägerwirt am Alpsteig, um dort den Rest der Ster auszuarbeiten. Er hatte es zwar gern, wenn sehr genau und sorgfältig gearbeitet wurde, aber auf einer Wirtshausster pflegte es der Geselle Hacherl etwas gar zu gewissenhaft zu nehmen mit den Knopflöchern und den Passepoilieren, so daß kein Ende ward und immer noch ein Krügel Jausenwein aufgetragen werden mußte, bevor die Ster zu Rande geschneidert war. Wir saßen also in der Wirtsstube beim Jäger am Alpsteig; ganz vorne [192] am »Herrentisch« hatten wir die Werkstatt aufgeschlagen, weil es dort das beste Licht gab. Die Hausleute waren im Heuen, auch die Kellnerin, denn an solchem Werktage kommt kein Gast ins Wirtshaus in jener braven, sparsamen Leutgegend. Der Hacherl warf seinen Loden weg, stand auf und visitierte den Gläserkasten. Nichts! Alle Flaschen, Stutzen, Krüge und Kelchlein umgestülpt. Und während er so auf der Geisterbirsche war und mir die Abachseite zuwendete, erinnerte mich mein Gewissen daran, daß es doch Christenpflicht sei, dem Gesellen einmal Bericht zu erstatten, wie es bei ihm auf der anderen Hemisphäre aussehe! Schon seit Wochen war das mausgraue Tuch seines Sitzteiles arg zerschlissen, nun aber begann die »Weisheit« herauszugucken an Stellen, wo sie entschieden nicht drinnen sein konnte. Das habe ich ihm brüderlich mitgeteilt. Beinahe gab es wieder Wort und Handschlag, doch besann er sich, daß es eigentlich und streng genommen nicht schuld des Lehrlings sein könne, wenn dem Gesellen das Beinkleid schleißt und zerreißt, ferner daß in dem Hause gute Reste und Flicken übriggeblieben und daß dieser traulich einsame Nachmittag die schönste Gelegenheit wäre, leibeigene Hosen zu flicken. Rasch zog er die Grautuchene über das Schuhwerk herab, setzte sich mit flatterndem Hemde an seinen Wandplatz hinter den Tisch und begann, die Une aussprechlichen zu reformieren.

Hatte aber mit seinen Reformbestrebungen kein besonderes Glück. Fürs erste schnitt er den Flicken zu klein, so daß er stückeln mußte. Dann kollerte ihm der Fingerhut unter den Tisch, und als er sich danach bückte, stieß er den Kopf an die Kante. Als sich endlich gar noch der [193] Zwirn zu schlingeln begann, was bei einer Bräutigamhofe das allerschlimmste Zeichen gewesen wäre, schmetterte er mir zu: »Deine verdammten Glotzer! Die machen mich ganz irr!« und schleuderte mir das Zeug an den Kopf. Ich legte es ihm ruhig wieder zurück, hatte ohnehin meine Arbeit, das Beknopfen einer Weste, und sein Beinkleid ging mich nichts an.

Jetzt ging die Stubentür auf, Gäste traten herein, Der Tippelberger und der Hesch vom Zaun mit seinem Weib, und der Kumpfrüppel und der Wagner Sepp und die Hanselhöferin und ihre Schwester, die rote Minna, und der Eishartsteiner mit seinem Weibe und ihrer Tochter Rulla. Sie hatten Bündel und bekränzte Stöcke bei sich, kamen von Mariazell und wollten jetzt ein halbes Stündlein vor ihren Behausungen noch ein wenig einkehren. Der Hacherl ließ hastig seine Flickarbeit unter den Tisch fallen, hob sie aber wieder auf, weil keine andere Beschäftigung vorhanden war. Aufstehen hätte er sollen und jene Eintretenden begrüßen, an die er ja demnächst mit der Brautwerbung herantreten wollte; man kann sich's wohl denken, weshalb er die schicksame Artigkeit unterließ. Er war außer sich, weil er außer der Hosen war und er mußte mit außerordentlicher Geschicklichkeit seine Arbeit handhaben, um sich keine Blößen zu geben. Nicht einmal das Haupt hob er, mit gewaltiger Emsigkeit nähte er, weil jetzt Werktag wäre und nicht Zeit, mit Wallfahrern umzutun.

»Ho so!« sagte der eintretende Eishartsteiner, »da sind die Schneider daheim. Da müssen wir uns doch ein Brösel zum Schneidertisch setzen.« Sie kamen schon heran mit langsamen, unaufhaltsamen Schritten. Da [194] rief mir der Hacherl zu: »Biegeln geh'! Erzschlingel, fauler!«

Ich verstand ihn. Sprang auf, riß das Bügeleisen vom Nagel, warf die Weste auf den Tisch und bügelte mit dem eiskalten Eisen drauflos, daß alles krachte. Dabei nahm ich natürlich den ganzen Tisch in Anspruch, deckte und schützte gleichzeitig den Gesellen, der an der Wand saß, und die Gäste mußten sich an einem anderen Tisch niederlassen, wo ihnen die mittlerweile angekommene Kellnerin Obstmost und Semmeln vorsetzte.

Der Hacherl kroch, als ob ihm etwas hinabgefallen wäre, unter den Tisch, kam aber unverrichteter Dinge wieder zurück, denn der Raum im Dunkeln mar zu enge, als daß er in der Hut desselben seine Beine in die Hosen zu bringen wußte. Er saß, das Beinkleid auf dem Schoß, wieder zusammengebückt da und nadelte stürmisch.

Die Wallfahrer mochten von der weiten Reise müde sein, lange blieben sie sitzen. Das Beinkleid war längst fertig geflickt, der Hacherl aber nadelte und nadelte daran, als ob die ewige Freud' und Seligkeit anzunadeln gewesen wäre. Denn wie hätte es anders sein können, daß er als angewachsen dasaß und nicht hinging, der guten Rulla die Hand zu drücken! Die Rulla war des ein wenig verstoßen. Sie hatte ihm wohl ein hübsches Zellermünzlein mitgebracht mit rotem Bändchen zum um den Hals hängen, und er schneidert da in den Tag hinein, als ob sie gar nicht auf der Welt wäre. Ich bügele und bügele, und als mein Finger mir zufällig aus Eisen stupst, tu' ich ein: »Auweh!« als ob es weiß Gott wie heiß wäre.

Nun kam noch ein Gast. Der Fleischhauer Franzel[195] aus Krieglach. Der hatte die weiße Schürze um den Bauch geschlungen und hinter sich den großen Zottelhund, mit dem er die Kälber zu treiben pflegte. Als dieses Ungeheuer, der Zottel, langsam die Stube herauskam, merkte ich, wie mein armer Hacherl unter leisem Angstgestöhn die Beine an sich zog, so nahe als es möglich war, ohne sie auf den Tisch zu bringen! Der Franzel erzählte den Bauern sofort eine Neuigkeit: »Die Düppler Schanzen sind gefallen!«

»Ist ja nix mit dem Schleswig-Holsteiner-Krieg!« entgegnete der Eishartsteiner.

»Eben derwegen werden die Kälber wohlfeiler,« sagte der Fleischhauer. »Denn warum? Weil wir jetzt die Kälber von Dänemark herkriegen.«

Der Bauer bestritt das, sie kamen ins Politisieren, kamen auf den General Gablenz, auf Napoleon den Dritten, auf Otto Bismarck, den preußischen Minister, auf das tapfere steirische Regiment König der Belgier, auf die Staatsschulden und endlich wieder auf die Kälber. Der Eishartsteiner hatte ein paar und der Franzel feilschte drum. Noch nicht ganz waren sie handelseins, als mein Hacherl plötzlich einen durchdringenden Schrei ausstieß und auf den Tisch sprang. Am Wallfahrertisch ein Kreischen und ein schallendes Gelächter. Der Hacherl aber renommierte gröhlend: »Die Hundsbestie hat mich in die Waden gebissen!«

»Hinaus! Hinaus den Hund!« schrie er zornmütig, während auch ich mich auf die Bank geschwungen hatte. »Der Zottel hat ihm das Beinkleid herabgerissen! Ganz herab! Vors Gericht mußt, Fleischhacker, mit deinem Hund!« Dabei zermarterte sich mein Gehirn, womit [196] man nur den armen Gesellen, der mit den Oberkleidern notdürftigst die unteren Ausläufer seiner Person bedeckte und der wie ein Häuflein Unglück auf dem Tische kauerte, womit man ihn nur bedecken könnte! Es war nichts da, nicht einmal der bewußte Mantel der christlichen Liebe war vorhanden, mit dem man menschliche Blößen sonst zu verhüllen pflegt.

»Das ist abgekartet, du Bösewicht!« schnob der Hacherl nach mir, und wand sich wie eine frierende Schnecke, die das Häusel verloren hat.

Mittlerweile kam die Kellnerin und warf eine wuchtige Bettdecke über den Armen. Die Wallfahrer hatten schon ihre Krüge genommen und waren, den Zottel vor sich hertreibend, hinausgegangen, damit der Schneider ruhig wieder in Ordnung kommen könne. Ich aber flüsterte dem verschleierten Bilde zu: »Abgekartet ist es nicht. Herentgegen eine Straf' Gottes ist es, weil du die Lehrbuben so hudelst.« Daraus mögest du ersehen, mein Leser, wie boshaft ich schon damals gewesen bin, als Mensch von zwanzig Jahren!

Dann aber bin ich hinausgegangen, damit auch von meiner Seite seiner Wiedergeburt nichts entgegenstünde. Die Rulla war auch bösartig, denn sie kicherte noch lange Dann verzogen sich die Wallfahrer, auch der Fleischhauer Franzel machte sich auf und die Kellnerin ging wieder ins Heu und ich bin allein übriggeblieben vor der Türe des Jägerwirtes. Und nun? Nun soll ich doch wieder hinein zum Hacherl! Wie wird das werden? Wenn nur der Zottel noch da wäre!

Wohl eine halbe Stunde mochte ich dagestanden sein, ehe der erforderliche Mut gesammelt war. Endlich [197] eintretend ließ ich für alle Fälle die Tür hinter mir weit offen. In der Stube war es totenstille – auf dem Tische lag noch der Wulst. Wie angewachsen stehe ich da und starre hin.

Der Schneider ist davon! –

Ist davongegangen, nie wieder in die Gegend gekommen, wo er vor aller Augen einmal auf dem Tisch gesessen in jener wahren Wesenheit, die sonst einer dem andern so hartnäckig verleugnet.

Wie ich Pariser Mode habe eingeführt
[198] Wie ich Pariser Mode habe eingeführt.

Wir trabten mehr in der Luft als auf dem Erdboden. Jener wunderliche Heilige soll Flügel an den Fersen gehabt haben; wir hatten die Federn an den Zehen, so schnellten sie uns dahin auf der Waldstraße, trotz dem gewichtigen Bügeleisen. Der ungarische Schneider war überflügelt! Der ungarische Schneider, der jahrelang die Ster gehabt hatte beim Werksverweser, er war ausgestochen von unseren fleißigeren Nadeln; oder – treu gesagt – wir wußten es selbst nicht, weshalb wir auf einmal geladen worden beim Werksverweser in Brückelbach.

In der großen Stube mit den weißen Fenstervorhängen und den braunpolierten Kästen, einem seinen Herrenzimmer, durften wir unsere Werkstatt aufschlagen. Dort gedachten wir, uns zu behaupten. Zu behaupten durch gediegene Arbeit und solides Benehmen. Wir wollten in diesem fürnehmen Hause auch einmal rechtschaffen gebildet sein, statt »Jo« Ja sagen, zu Beginn der Mahlzeit stets »Guten Appetit« sprechen und mit der linken Hand die Gabel führen. Auch mit du wollen wir keinen anreden, wie sonst in der Bauernschaft, sondern den Herrn Verweser mit »Er« und die Frau Verweserin mit »Sie« und die Mädels mit »Fräuln«. Beim Anmessen aber sagte mein Meister: »Was kriegen wir?«

[199] Das Tuch lag schon auf dem Tisch, grobes und seines, schwarzes, graues und Unterzeug, – in Stückeln und Resteln weich und glatt. Also der Wertsverweser, ein stattlicher Herr mit viereckigen Achseln und dreieckigem Kopf, der kriegt einen lodenen Gebirgsrock, ein Beinkleid und eine Hofe. Sein Kopf war dreieckig, weil er oben mit einem breiten Schädel anhub und unten in einem grauen Spitzbart auslief. Was jedoch zwischen Beinkleid und Hofe für ein Unterschied sein sollte? Das fragte ich den Meister und er mich. Es war einfach: die Hofe für Feiertags heißt Beinkleid und das Beinkleid für Werktags heißt Hofe. Die Frau Werksverweserin »kriegt nichts.« Sie konnte vielleicht darum kein Gewand bekommen, weil sie eigentlich keinen rechten Leib hatte. Es war hinter ihrem dunkelbraunen Hausrock wohl etwas da, aber mehr ein Gestell als ein Leib, eigentlich nur so ein Apparat, der immer bewegsam in allen Teilen des Hauses umherwirtschaftete, mit scharfem Stimmlein Befehle gab und alles im Gang hielt. Sie war das Schemen, der Geist, und bedurfte nur eines dunkelblauen, schlaff niederhängenden Rockes und einer weißen Haube, die über die Ohren herabgebunden war, um gesehen zu werden. Also die Frau kriegt nichts.

Das »Fräuln«. Aber nein: es war ja das Stubenmädel, das wir einen halben Tag lang als »Fräuln« verehrten, ein blasses Rundgesichtel, das immer lachte und trällerte und mich, den Schneiderlehrling mit zwanzig Frühlingen, lustig einen »Haspel« hieß. Sie hatte freilich recht. Während mein Meister mit quieksender Schere einen Rock zuschnitt, hockte ich auf niederem Schemel, spitzte die Knie auseinander, über die ein schwarzer [200] Zwirnsträhn gespannt war, und wickelte mit emsiger Hand den unendlichen Faden aufs Knäuel. Ob solcher Tätigkeit hätte mich jeder Holzhaspel wegen Gewerbsstörung verklagen können. Das rundgesichtige »Fräuln« hatte also völlig recht. Unrecht hatten eben wir mit unserer Menschenkenntnis; und die Augen gingen uns erst auf, als gegen Mittag das wirkliche Fräuln zur Tür hereinrauschte. Der Meister wollte vor Ehrerbietung sofort aufstehen, merkte aber noch rechtzeitig, daß er ohnehin stand. Wir glaubten, die kleine, runde Person komme von der Kirche, so schön war sie angezogen. Auf und auf weiß und mit roten Seidenmaschen an unterschiedlichen Stellen. Beim Kaufmann in Mürzzuschlag war im selben Jahr zu Weihnachten eine Puppe ausgestellt gewesen, diese Werksverweserstochter sah ihr ähnlich. so rot waren die Wangen und so schwarz die Augenbrauen und Wimpern. Zart und hold wie ein gemalter Engel war sie anzusehen; als sie jedoch den Mund auftat, schauten wir ringsherum, ob nicht ein Drescherweib eingetreten sei, das da in breiter, quatschiger Weise ausrief: »Hau! Die Schneider san kiemen! Das isch gscheid!«

»Unsere Tochter!« so hatte die Mutter diesen Engel vorgestellt. »Kriegt ein Mantill!«

Ist nicht so leicht, bei den hohen Herrschaften zu arbeiten. Jetzt weiß man wieder einmal nicht, was das ist: ein Mantill. Ich riet auf einen Wettermantel und erst mit vorsichtigem Näherfragen kam der Meister darauf, daß es sich um ein kurzes Oberjäckchen handelte, zu dem die Frau schwarzen Samtstoff und rotseidenes Unterfutter gebracht hatte. Die Tochter – wir nannten [201] sie nur mehr Tochter, weil das Fräuln schon an dem Stubenmädchen abgebraucht war – ließ sich ruhig mit dem Faden messen. Nicht einmal unter den Achseln war sie kitzlig, was eine Seltenheit ist, wie der Meister versicherte. Lehrlinge dürfen noch nicht messen, – und so muß man den Meistern glauben. Das »Mantill« sollte an den Rändern verschnürt und mit Taffetbändern doppelt »paspoliert« werden. Der Schnitt mußte »neuwienerisch« sein. Zu allem Glück hatte der Meister das Blatt schon dem schweizerischen Gesellen nachgeschnitten, der seine Mustersammlung unvorsichtigerweise zurückgelassen hatte, als er fremd ward. »Sonst wären wir jetzt petschiert!« flüsterte mir der Meister zu.

»I hans gern recht neumoderisch,« gestand die Tochter, »wie's die Baronischen ham im Gschloß ent.« Das »Gschloß« stand drüben im Fröschnitztal und der weiße Engel sollte der erste sein in Brückelbach, der ein neuwienerisches Mantill bekam. »Da wern sie sich gisten, die Schulmeisterin und die Kramerluisl!« Mich hatte die Tochter schon während des Anmessens auf dem Korn und plötzlich rief sie fast schreiend: »Is dos der Schneiderbua, der a so Gedichter dichten tuat?«

Da gehörte rasch ein Riegel vor. »Jetzt heißt's nähen und nicht dichten!« sagte der Meister. Ich setzte mich zur Arbeit. Am Rock des Verwesers konnte schon die Rückennaht gemacht werden.

Aus der weiteren Bewohnerschaft dieses Hauses erzähle ich noch von einer Art Hauswaschel, einem Mann für alles, was es so in dem Alltag der Wirtschaft an Kleinigkeiten zu tun gab. Ein Bursche mit kurzen Beinen, breitem Hinterteil und einem hübschen Kopf, der [202] immer freundlich drein schaute, wenig sprach und zu allem »Ja« nickte.

»Der Siedel kriegt nichts,« erklärte die Hausfrau. Denn er hatte eigentlich schon alles. Er hatte Militär und Zivil, alte und neue Mode an sich geknöpft: eine blaue Soldatenhose, einen grün ausgeschlagenen Jägerrock, einen schwarzen Strohhut, der sehr sein geflochten war, aber schon Fransen hatte. Und trug um den dicken Hals die Reste eines Seidentuches geschlungen, dessen bunte Farben noch loderten. Der Siedel trug alle Ableger der Familie und ihrer Verwandtschaft; und so oft andere was Neues kriegten, kriegte er was Altes. Und an manchem Stück besserte er oder das Stubenmädel so lange herum, bis es wieder wie neu war. Der Siedel stand am Kehrichthaufen oft frischer gewaschen, geflickt und gebügelt als andere in der schönen Stube.

Endlich muß ich den grauen Pintscher noch vorstellen, an dem viel Wolle, aber wenig Hund war. Wenn er auf unserem Tische saß und mit dem Zwirnknäuel spielte, so schien er ein fast mächtiges Ungetüm zu sein, und wenn man ihn anpackte, war eine Handvoll Mistvieh da, – alles andere Pelz. Dieser Hund war der Liebling des Hauses. Jedes gab ihm einen anderen Kosenamen oder einen anderen Fußtritt, so daß wir nicht herausbekamen, wie der Köter eigentlich hieß oder welche Schuhspitze ihm die liebste war. Er ließ sich alles gefallen; nur wenn man »Prrr!« sagte, tat er einen Schnapper. Denn das schien er für eine Fliege zu halten.

Das waren nun die wesentlichsten Hausgenossen beim [203] Werksverweser. Noch wäre die Kochfrau zu erwähnen, deren verborgenes und wohltätiges Wirken wir täglich dreimal merkten. Jeder Tag war Christtag, vom rahmigen Morgenkaffee über den wohlgeschmorten Mittagsbraten bis zu den Schmalzkrapfen am Abend. Dazu noch der Wein am Vor- und Nachmittag, in den Gläsern funkelnd wie ein Goldring, im Gaumen prickelnd wie süßes Feuer und in der Seele alle Geister rund herumjagend, daß sie manchmal purzelten und sich vor Lachen kugelten.

War der Werksverweser da, so trank er mit und erzählte lustige Sachen. Seine Stimme klang, als würde in einen Topf gesprochen. Einen hohen Rockkragen trug er und den Bart so, daß von seinen fünf Kröpfen selten mehr als einer zu sehen war. Obwohl er seit Jahren Eigentümer des Eisenwerkes war, ließ er sich bescheiden immer nur den Verweser nennen. Beim Wein gestand er treuherzig, daß er so den Arbeitern leichter die Löhne schmälern könne, ohne mit seiner Person dafür einstehen zu müssen. Er beschäftigte in seinem Sensenhammer ein Dutzend Schmiede, die er bei guter Laune »Kampel«, bei schlechter »Lumpen« nannte. Neben der Erzeugung von Sensen war seine Lebensaufgabe das Kegeln. In der gedeckten Kegelbahn war eine eiserne Tafel aufgestellt, auf der mit eherner Schrift verzeichnet stand, wann und wie oft schon Herr Erasmus Hultensteiner, Werksverweser allhier, alle Neune geschoben hatte. Die Tochter, wenn sie dem Vater eine besondere Freude machen wollte, bekränzte dieses Denkmal der Gefallenen mit »Eichenlaub«, das sie von den Ahornbäumen riß.

»Schneider? Willst mir helfen auf ein Bot?« Mit[204] solchen Worten lud der Werksverweser meinen Meister manchmal zur Kegelpartie.

»Ist mir nit zuwider,« antwortete stets der Meister; denn fürs erste tat er auch mit Leidenschaft kegelschieben, fürs zweite gewann er dabei dem Gegner meist das Geld ab und fürs dritte wurde er noch extra dafür bezahlt, denn die Ster ist stets nach dem Tagewerk gerechnet worden.

In solchen Stunden, wenn die beiden draußen kegelten, wurde drinnen die dunkelblaue Stange mit der weißen Haube noch schlanker und sie gab mirs zu verstehen, daß man die Handwerker nicht eigentlich ins Haus lüde, damit sie dem Hausherrn das Geld aus dem Säckel spielten, als vielmehr, daß sie gute Arbeit machen sollten. Nun, das geschah ja, dieweilen ich des Tages vierzehn bis sechzehn Stunden nadelte und bügelte. Der Fleiß des Lehrlings ließ sich nicht leugnen; doch war bisweilen unter Variation das Bibelwort anwendbar: Was der Lehrling zusammengefügt, das muß der Meister trennen. Denn während dieses Lehrlings magere Finger unbeaufsichtigt so die Nadel führten, brannte sein Lichtlein vor fremden Altären. Er dichtete einen Roman, der im Monde spielte und in dem er das Leben des Waldbauernbuben so beschrieb, wie er es sich für die Erde vergeblich wünschte. Dort war er König, der sehr gerecht regierte, eine gelbseidene Hofe trug und eine junge Frau hatte, die – nebenbei gesagt – dem Stubenmädel beim Werksverweser auf Erden ähnlich sah. Zwar stand die weiße Tochter mit den roten Seidenmaschen und den bemalten Wangen einmal stramm vor dem Schneidertisch und sagte: »Ischts wohr, Schneiderbub, daß du Gedichter dichten tuast? Geh': dicht eins her auf mich! [205] Bitt' dich gor schön, dicht' mich a bissel on! Ast schenk' ich dir wos!«

Senkte ich mein Gesicht auf die Nadelarbeit nieder und antwortete gedrückt: »Mag nicht.« Und stach scharf in den Loden.

Am selbigen Abend zur Lichtfeier stand ich draußen hinter dem Flieder und schrieb in mein Büchel:


»Bin dem Verweser sein' Tochter.

Heiliger Sankt Kulian,

Bitt dich auf allen vier Knien:

Sei so gut, gib mir ein' Mann!

Blind sind die Burschen, ach leider,

Nicht einmal windige Schneider

Gucken mich an.«


Während ich diese sinnreichen Verse schrieb, wurden sie auch schon gelesen, und zwar von Augen, die mir über die Achsel lugten und dem Hauswaschel gehörten. Ich merkte es erst, als der Mensch ein Gelächter anschlug und rief: »Nicht einmal windige Schneider!«

»Was hast mit'm Schneider?« quatschte der weiße Engel vom Kammerfenster her.

»'s Fenster zumachen!« spottete der Waschel, »daß ihn dir der Wind nit einitragt!«

Für diesen Spott hatte ich am nächsten Tag schon eine Genugtuung. Als das Stubenmädel mit dem blassen Rundgesicht in unserem Zimmer von Möbeln den Staub abfächelte, machte sich der Pintscher den Scherz, auf den Kasten zu springen und nach ihrem Wedel zu schnappen. Da packte sie das Hündlein her, und dieweilen sie lachend auf mich schaute, rieb sie sich das Pelztier in ihre Wange und sagte: »Was willst denn? Was willst [206] denn von mir? Mund ablecken, wie? Na, da hast eins. Schmeckt's? Da hast noch eins, Kerl, du lieber!«

Während das seine Mädel den Pintscher also kosete, schaute es auf mich her; da muß es doch der Dümmste merken. Wenn andere ihre Liebeserklärungen »durch die Blume« machen: das Stubenmädel machte sie mir durch den Hund... Sonst, wie ich mich in jenen glücklichen Zeiten des Abends ins Bett warf, so und just so lag ich noch am Morgen, wenn mir der Meister mit der Hand die Achsel rüttelte. In dieser selbigen Nacht aber habe ich mich arg hin und her gewälzt. Herzkrank war ich geworden. Lag ich auf der rechten oder auf der linken Seite: es stieß wie ein Böcklein an den Brustkorb, und zwar wie ein ungestümes.

»Schlecht ausschaust heut'!« sagte morgens der Meister mit Besorgnis.

»Weil ich Herzklopfen han!«

»Das machts Wohlleben in diesem Haus.«

Wenn ich vom Küchenherd das Bügeleisen holte, so huschte das Auge unterwegs manchmal durch die halb offene Tür in eine Kammer hinein, in der das Stubenmädel mit der Wäsche umtat. Sie flickte, sie glättete, sie schichtete und sang dabei Vierzeiler von der Liebe, die gewiß wieder nicht an den Pintscher, sondern an einen anderen gerichtet waren. Und einmal – das Bügeleisen war ohnehin viel zu heiß, es eilte nicht – trat ich auf den Stiefelspitzen rasch und leise in die Kammer. Aber das Mädel war nicht da. über der Lehne des Rohrstuhls, auf den sie sonst zu sitzen pflegte, lag zusammengelegt ein schneeweißes Wäschestück. Ich nahm den Augenblick beim Schopf, den Stift aus der Tasche [207] und schrieb auf das Linnen: »Ich liebe dich!«... Nachher trat der Spitzbub mit dem heißen Eisen harmlos in die große Stube und bügelte den befeuchteten Loden, daß die Dämpfe nur so aufstiegen und den Kopf noch mehr benebelten. Als die Joppennaht glatt und der grüne Kragen dran flach gebügelt war, kamen die Knöpfe an die Reihe. Groschengroße Messingknöpfe funkelten wie die Kriegsmedaille, die der Feldwebel Donnersberger einige Jahre vorher aus Italien mitgebracht hatte. Auf jedem der Knöpfe war ein Husar, das Roß mit sträubender Mähne, der Reiter mit sträubendem Schnurrbart, der fast so lang wie der Säbel, den er schwang. Diese Knöpfe nun sollten an die Lodenjoppe des Verwesers kommen, auf beiden Seiten ihrer sechs in Reihe und Glied. Da wurde der Meister auf die Kegelbahn gerufen. Es waren aus der Nachbarschaft Hammerherren gekommen, die eine große Partie tun wollten. Er hatte das »Mantill« auf dem Knie gehabt, an dem nur noch weniges zu vollenden war.

»Mach' es fertig,« sagte er, »da sind die Sachen.« Und schob mir alles zu über den Tisch her. Und trippelte munter hinaus zur Kegelbahn, um den Hammerherrn das Geld abzugewinnen. Ich legte die Lodenjoppe beiseite, begann, am Mantill der Tochter zu arbeiten und dabei wieder an das weiße Rundgesichtel zu denken. Und während die Nadel mit dem schwarzen Seidenfaden am Samtmantill die Knopflöcher einrandete, singen im Köpfel gewisse Gedanken im Takt zu tanzen an.


Die Liab is a Vögerl,

Im Mai fliagts daher.

Tuas fangen! Schau: später,

Da kommt's nimmermehr.


[208] Der Knopflöcher waren mit der Kreide acht oder neun angemerkt; sie mußten mit dem Stemmeislein zuerst durchgestemmt und dann »paspoliert« werden.


Die Liab is a Flammerl,

Entzünd't sich gar gern,

Und wer damit spielt,

Kann ein Abbrandler wern.


Klipp und klapp den Knopflöchern gegenüber nun die Knöpfe. Achtgeben, daß das rote Seidenfutter inwendig nicht mit geheftet wird, sonst faltet's.


Die Liab ist a Bleamerl,

Wohl guat mußt es pflegn,

Die Liab braucht a Busserl,

Wia 's Bleamerl ein Regn.


»Was tust denn da?« fragte der Meister, der plötzlich an der Tischecke stand. Seine Stimme war heiser. Seine Augensterne waren kleiner als sonst und zuckten im Weißen hin und her, wie Irrlichter; die Nase war blaß und spitzig geworden wie bei einem Toten, aber auf dem glatt rasierten Gesicht zitterten alle Fältchen. Verspielt hatte er beim Kegelschieben, den ganzen Wochenlohn verspielt. Das sind Kerle, diese Hammerherren! – Aber nicht deshalb tat er die verwunderliche Frage. »Was tust denn da?« Er zog mir das Mantill vom Knie weg. Und jetzt hab' ich's gesehen, was da angestellt worden war während meiner Versunkenheit... Fürs erste schloß ich die Augen und mein Denken und Wünschen war kein anderes als: Erde, tu' ein tiefes Loch auf und verbirg mich! – Was geschehen war? Statt der niedlichen Glasknötelein, die auf dem Tisch in der Papierdüte lagen; hatte ich aus Samtmantill [209] die Husaren genäht, das ganze Bataillon, und hatte die entsprechenden Knopflöcher dazu gemacht. Mit grenzenloser Ratlosigkeit starrt der Meister auf diese Tat; dann warf er mir das Zeug an den Kopf: »Jetzt schau, wie du's recht machst!«

Schau, wie du's recht machst! Das war leicht gesagt. Aber unmöglich zu tun. Die groschengroßen Messingscheiben konnten losgetrennt werden; aber die Knopflöcher! Wie fletschende Schnauzen lechzten sie nach meiner armen Seele, diese ungeheuren Öffnungen, ihrer sechs in der Reihe, mit nichts auszufüllen als mit den schrecklichen Husarenscheiben. In einem solchen Abgrund hatte mich der Meister noch nie gesehen... War das Mantill für den Meister gemacht? Nein, es war für die Haustochter. Vielleicht ist's ihr gerade so recht. Meiern wir ein bissel an. Wir stehen jetzt auf dem Punkt, wo man die größte Dummheit machen kann. Es ist nichts mehr zu verlieren. Wem mein Lied vom Vögerl ursprünglich zugeeignet war? Das ist leicht zu erraten. Und nun, im Drange grauser Not, geschah der Hochverrat. Schon am nächsten Tage war der weiße Engel verankert. Er hatte draußen am Kirschbaum, unter dem seine Bank war, ganz zufällig das Liedel gefunden, das ich ganz zufällig dort an die Baumrinde gesteckt hatte. »Die Liab is a Vögerl,« also gehört sie auf den Baum.

»Isch dos auf mich?« fragte sie unter dem Haustor, während sie das Papier mit zwei Fingern in der Luft mir entgegenhielt. »Host du's gemocht?«

»Ich will Ihnen mit noch was Mehreres überraschen!« war meine Antwort. Wenn der weiße Engel[210] so schön bäuerisch sprach, so konnte der Waldbauernbub ja wohl einmal herrisch reden. Und also erklärte ich ihr in kühnstem Hochdeutsch: das Neuwienerische sei längst veraltet. Für solche Kuhmenschertracht wäre die Fräulein Tochter viel zu schön! Für die Fräulein Tochter müßt' wohl was Neues sein, was sich könnte sehen lassen. Und so wäre gesorgt worden, daß ihr Mantill nach der Pariser Mode ausfiele, wie wir sie erst kriegt hätten, mit Doppelpaspolatur und vergoldeten Kaiserknöpfen »vorn awer«. Da würden die Leute einmal ihre Augen ausreißen! Und der Neid von den Menschern!

Nach solchen Vorbereitungen hielt ich's denn an der Zeit, mit dem Äußersten hervorzurücken. Wie ein dressierter Bär, halb Zärtlichkeit und halb Blutdurst, ist sie mir an den Hals gesprungen, als sie die großen Scheiben sah mit den Husaren. Gewonnen war's. Schon an demselben Nachmittage hatte die Tochter im Kirchdorf zu tun und ist sie mit dem Husarenbataillon davongestolzt.

Das blasse Rundgesicht ging und tat im Hause so gelassen umher, als ob seit der Erschaffung der Welt kein Mensch auf weißes Linnen geschrieben hätte: Ich liebe dich! Ich aber wartete auf eine Rückwirkung.

Und sie kam.

Nach regnerischer Zeit war ein wunderschöner Heutag. Der Verweser hatte eine Wiese voll gebleichten Heues. So bot er seinen ganzen Heerbann auf, die Hausleute, die Schmiede und die Schneider, daß sie mit langen Gabeln, Hacken und Rechen auszogen. Froh, der dunkeln Stuben entkommen zu sein, hüpfte ich lind hin über den kurzgemähten Rasen, barfuß und in Hemdärmeln, [211] wie alle anderen, in deren Reihe ich ans knisternde Heu ging. Da flogen die Mahden; und ein rußiger Schmied sprach laut die Mahnung aus, auf die Schneider achtzugeben. Wenn sie unters Heu kämen, wären sie nicht mehr zu finden und das Kalb, das sie dann etwa erwischte, könne daran ersticken. Ich hatte schon gemeint, mit meinem Rechen an die grüne Seite des blassen Rundgesichtels geraten zu sein, da schob sich Siedel, der Hauswaschel, mit seiner Gabel dazwischen. Dieser Mensch war heute weiß wie eine Schneesäule; nur daß er in der Sonnenhitze nicht abschmolz, dieser Hitze wegen sich vielmehr auf Hemd und Unterhose beschränkt hatte. Schweigend gabelte er neben dem Stubenmädel dahin, daß die Heuwogen nur so kräuselten, und er hatte bei dieser fleißigen Arbeit häufig eine Stellung, in der mir sein breitrundlicher Hinterteil zugekehrt war. Mich ließ diese Erscheinung natürlich gleichgültig, bis ich urplötzlich auf der weißen Rundung geschriebene Worte sah: »Ich liebe dich!«

Das weitere Ausspinnen dieser Begebenheiten ist überflüssig. Kein Jüngling hat seine Liebeserklärung je an so unpassende Stelle hingeschrieben.

Nach solchen Erfahrungen war uns die Ster beim Werksverweser verleidet. Mir nahm es der Meister noch lange übel, daß ich das Mantill mit den Husaren aus der Hand gegeben hatte. Eine solche Arbeit könne er mit seinem Namen nicht decken. Sein Erstaunen ist deshalb durchaus nicht gering gewesen, als er sah, wie das Fräulein Haustochter mit dem Jäcklein Staat machte und wie die Pariser Mode überall bewundert wurde. Jede, die auf seines Gewand was hielt, wollte ein Samtmantill [212] mit großen Messingknöpfen haben und ein Jahr später mußten wir überall Pariser Mantills machen. Der Schneiderlehrling hat sich für die Erfindung weiter kein Privilegium genommen; wer's machen will: ein Samtjöppel mit doppelter Paspolatur, fletschenden Knopflöchern und zwölf Mann Husaren auf Messingknöpfen. Inwendig rotes Seidenfutter... und ein dummes Weibsbild.

Als wir Lichtbratl haben gefeiert
[213] Als wir Lichtbratl haben gefeiert.

In unserem Oberlande ist bei Schustern und Schneidern der Brauch, daß sie »von Patrizzi bis Micheli«, d.h. von Mitte März bis Ende September nur bei Taglicht arbeiten. Am Anfange dieser Zeit und am Ende derselben sind also die kürzesten Tagewerke, so etwa gutgemessen »von sechs bis sechs«. Der Handwerker arbeitet auf der Ster im Taglohne, und da sieht es der Bauer gerne, wenn er früh aufsteht und spät Feierabend macht, was im Sommer und im Winter auch stattfindet. Im Winter steigt der Handwerker morgens fünf Uhr aus dem Neste, arbeitet ein paar Stunden, dann kommt die Frühsuppe, arbeitet wieder vier Stunden, dann kommt das Mittagsmahl, arbeitet fünf Stunden, dann kommt das Jausenbrot, arbeitet eine Stunde, dann kommt die Abenddämmerung, in welcher er eine halbe Stunde Lichtfeier hält, arbeitet nach derselben wieder zwei Stunden, hernach kommt das Nachtmahl, nach demselben arbeitet er noch eine bis zwei Stunden, dann wird es zehn Uhr und Zeit zum Schlafengehen. Wenn dann der Schustergeselle einmal hört, daß in den Städten und Fabriken die Leute täglich nur acht Stunden und bei erhöhtem Lohne arbeiten wollen, sprengt er vor Zorn unversehens eine Ahle ab und brummt: »Da muß ich hin. Die Leut' haben den Himmel auf Erden!«

[214] »Und die Höll' in der Ewigkeit!« schreit der Meister, und reißt seinerseits vor Zorn den Garndraht entzwei. »Ja freilich, weil sie die viele freie Zeit dazu brauchen, um die Höll' zu verdienen, und den hohen Lohn, um die Hölle zu kaufen!«

Zu meiner Handwerkerzeit wird noch selten ein solches Wort gefallen sein. Wir fürchteten uns redlich vor der Hölle, wie es einem katholischen Christen ansteht, und freuten uns mitunter ein bißchen auf den Himmel, obzwar unser Schneidergeselle, den wir den Mehreren hießen, einmal etwas zweiflerisch bemerkte: »Was ich für ein Luder bin! Ich glaub's nit, daß ich in den Himmel komm', ich glaub's nit!«

»Nur fleißig arbeiten, nachher hast uit Zeit zur Luderei!« Mit diesem nach beiden Seiten hin vorteilhaften Rat schnitt der Meister das Gespräch ab.

»Zu Micheli,« wenn die Nachtarbeiten bei Kerze oder Kienspan anhuben – damals gab's kein Petroleum, noch weniger etwas Elektrisches, wenn man den Blitz und die jungen Schneider ausnimmt – fand ein kleines Fest statt, das »Lichtbratel«. Führt der Meister am Tage des heiligen Michael oder den darauffolgenden Sonntag seine Gesellen und Lehrbuben ins Wirtshaus, läßt ihnen eine Maß Wein auftragen, ferner Schweinsbraten mit Salat, und es gibt oft bei Musik einen lustigen Abend, mit welchem die weniger lustigen in der Werkstatt eingeleitet werden.

Zur Zeit war der Mehrere noch bei uns, und da spielte er einen Herrn. Als die erste Weinflasche gekommen war und er davon gekostet hatte, schob er sie [215] zurück und sagte: »Den soll nur der Lehrjung trinken. Geschwefelt ist er.«

»Wenn der Wein geschwefelt ist, so soll ihn der Wirt selber trinken,« entschied der Meister, »wir zahlen unsere Sach' redlich und wollen auch redlich' Sach' haben!«

Am Ofentisch hockte ein alter Mann mit wackelndem Kopfe. Er war sehr sorgfältig rasiert und hatte dichtes nußbraunes Haar. Man hatte ihn auch schon gesehen, als er nicht rasiert gewesen war und kein nußbraunes Haar aufgesetzt gehabt hatte, da gab's einen eisgrauen Bart und einen knochenkahlen Schädel. Man würde sich kaum darum gekümmert haben, wenn der alte Lackenlippel, wie er hieß, nicht kurz zuvor sich ein junges Weib genommen hätte.

Dieses Weib war eben erst noch beim Ofen gesessen, ein fröhliches, lebhaftes, dralles Ding, welches – nun, das geht mich nichts an.

Daß ich nur hübsch würdevoll weiter erzähle! Als der Lackenlippel wahrnahm, uns Schneidern wäre der Wein nicht recht, machte er einen langen Hals herüber und sprach in seiner Fistelstimme also: »Wenn die Herren den Wein stehen lassen, so bitt' ich drum, ich mag ihn schon.«

Mehrere Gäste wurden nun aufmerksam auf den Alten, und der Tonhöfer Knecht rief ihm zu: »Ja, du Lippel, wo hast denn heut' dein Weibel?«

Der Lipp blickte etwas befremdet auf die Ofenbank zu seiner Seite, schaute dann in der Runde umher und piepste: »Ich weiß nit! Ich weiß nit, wo sie ist, mein' Alte. Just vorhin ist sie dagewesen. Na, sie wird halt ein bissel in die Küche hinausgegangen sein zur Frau[216] Wirtin. Die Weiberleut' haben alleweil was miteinand, he he. Vergelt's Gott, Meister Natz, wenn er mir gehört!« Mit den letzten Worten bestätigte er den Empfang des Weines; den mein Meister vor ihn hingestellt hatte.

Der Wirt brachte eine frische Flasche, die er mit den Worten: »So, der ist besser, da ist auch Bleizucker dabei!« vor uns auf den Tisch stellte.

Unser Meister fragte beim Wirte nun bescheidentlich an, ob er nicht auch ordinäre Weine hätte, ohne Schwefel und ohne Bleizucker, ganz ordinäre?

Der Wirt antwortete, er hätte schon so etwas im Keller, doch es wären die Knechte nicht daheim. – Wozu die Knechte? – Ja, die müßten den Trinker bei den Ohren halten, einer rechts und einer links. – Wir verstanden die alte Überlieferung und ließen es bei dem bißchen Bleizucker bewenden.

Ich trank Wasser und bewahrte mir – um der Geschichte vorzugreifen – die Fähigkeit, am nächsten Tage dem Meister und dem Gesellen kalte Umschläge um den Kopf machen zu können.

Mittlerweile unterhielt der Tonhöfer Knecht sich mit dem Lackenlippel, immer wieder fragend, wo denn der Lipp sein feines Weibel habe?

Neben dem Tonhöfer Knecht saß der Kartenthom, ein abgefeimter Strick, nebstbei Viehhändler. Dieser stieß den Knecht fortwährend mit dem Ellbogen und flüsterte: »So sei still! Gunn ihm's, dem Tischler! Bist du auch froh, wenn einmal Faschingtag ist, weißt! Dem Alten ist eh' alleweil kalt, laß ihn ruhig sitzen beim Ofen und mach' ihm lieber was vor, daß er sitzen bleibt.«

Aber es war zu spät; der Alte war unruhig geworden, [217] kratzte sich auf der Perücke und murmelte: »Das kann ich mir selber nit denken, wo sie kunnt sein. Hab' ihr einen Kaffee zahlen wollen, und jetzt rennt sie fort. – Trauderl!« rief er ganz kleinmütig und machte Anstalt aufzustehen. »Ihr Kopftuch ist da, und ihr Jopperl ist auch da, weit kann sie nit weg sein. – Trauderl!«

»Lippel!« sagte nun der Wirt, der den traurigen Gesellen aus der Wirtsstube gern beseitigen wollte, »Lippel! Magst denn nit ein bissel zu der Leonore hinausgehen, auf ein Mariascherl! Dieweil kommt dein Weibel wieder.«

Die Leonore, so hieß die alte Schwester des Wirtes, welche seit Jahren von der Gicht an ihr Zimmer gebannt war und ihr einziges Lebensglück nur in einem Kartenspielchen fand, wenn ihr jemand half. Aber der Lipp fühlte jetzt gar keinen Antrieb zu einem christlichen Krankenbesuch; er raffte sich zusammen, um nach dem Weibchen zu forschen.

In die Küche stolperte er hinaus und fragte nach seiner Alten. In der Küche schmorte die Köchin an unserem »Lichtbratel«, schlürfte die Wirtin an ihrem Kaffee, und die Lackentraudel war nicht vorhanden. Im Vorhause war sie früher von der Kellnerin gesehen worden und jetzt keine Spur von ihr. Der Kaffee war fertig, er soll heiß getrunken werden, da ist er am besten – aber wo ist die Traudel?! – Der Lipp hub an, im Hause umherzuhasten. Auf einmal rief der hautschlechte Kartenthom laut: »Der Lipp hat sein Weiberl verloren! Wir wollen sie suchen gehen, wer ist dabei?«

Hei, die Schneider sind dabei! Unser Mehrerer war's, der sich sofort bereit erklärte, sich der Expedition anzuschließen, und ich – blieb natürlich nicht zurück, [218] denn Entdeckungsreisen, die waren in der Jugend meine Passion.

Die Wirtin gab ihre Meinung ab: »Wo wird sie denn sein, die Traudel? Bei der Nähterin Leni wird sie sein. Hat sie mir doch heute erst gesagt, ihr blau gestreifter Wollenrock, sie müßte ihn weiter machen lassen. Bei der Nähterin wird sie sein.«

»Und ist auch nit anders!« bestätigte der Lipp. »Der Wollenrock, schau du! Zu mir hat sie aber nichts gesagt, das ist ein Band! Aber sein wird's eh! Mein Gott, wie gut ich's mit der Traudel hab' getroffen!« rief er uns allen zu, ganz glückselig aufgeregt war er. »Und jetzt will ich ihr doch gleich den Kaffee nachtragen, ehe er kalt wird, meiner Trauderl!«

Denn die Nähterin Leni wohnte in einem Häuschen der Nachbarschaft und wir schlossen uns dem Alten an, der mit seiner Schale und dem Kipfel gar fürsorglich dahinsiffelte und doch mehr als die Hälfte des köstlichen Getränkes unterwegs verschüttete.

Die Nähterin Leni saß eben auf einem hölzernen Einfuß unter ihrer Ziege und molk sich die Abendsuppe aus dem Euter. Die Trauderl war nicht bei ihr, und die Leni wußte keinen Bescheid.

Der alte Lipp stand sehr verblüfft da mit seiner Schale. »Jetzt kann ich ihn selber austrinken! Daß aber schon gar kein Verlaß ist auf die Weiberleut', schon gar keiner! Jetzt ist sie heimgelaufen und hat mir gar nichts davon gesagt.« Er wollte wieder ins Wirtshaus zurück, da lispelte ihm der Mehrere ins Ohr: »So leicht möcht' ich's nit nehmen an deiner Stell'! Ein junges unerfahrenes Weibsbild!...«

[219] »Trauderl!« rief der Lippel, »was hat der Satan denn fortzulaufen von mir! Ein schlechtes Zücht, dieses Weibervolk!«

»Wenn ihr die Lackentrauderl sucht, die wird halt beim Pfarrer oben sein,« meinte nun die Nähterin. »So viel ich weiß, hat sie die Vorstandsstelle des Jungfrauenvereines noch nicht niedergelegt. Das wird sie jetzt machen wollen, und da wird sie halt hinausgegangen sein.«

»Und ist auch so!« bestätigte der Lipp zuversichtlich. »Weil sie eine gewissenhafte Person ist, meine Traudel, ei, das wohl!«

»Aber schauen sollten wir doch, ob sie oben ist!« rief der Kartenthom, dem daran gelegen war, den Alten in Atem zu halten und in den Weiten umherzuführen, – aus Freundschaft für den Tischler.

»Gut ist's, gehen wir zum Pfarrer!« sagte der Alte. Und wir gingen selbander mit ihm.

Es dunkelte schon der Abend, als wir in den Pfarrhof kamen. Der würdige alte Herr war noch im Garten, eben beschäftigt, ein Gewächs zu betreuen. »Schön guten Abend!« rief er uns zu, »ich tu' gerad' meinen Spargel binden.« Sein Spargel, das war aber ein Schopf Schnittlauch, und der Schnittlauch, das sei – wie uns der Pfarrer sofort versicherte – das beste und gesündeste Gewürze; auf seinen Tisch komme jahraus, jahrein keine Suppe, kein Knödel, keine Tunke, kein Kraut ohne Schnittlauch, und was es denn bedeute, daß er noch so spät abends ehrenwerten Besuch habe?

»Gestorben ist niemand,« versicherte der Tonhöfer Knecht.

[220] »Angekommen auch niemand,« setzte der Kartenthom bei.

»Gott sei Dank!« antwortete der Pfarrer.

»Mein Weibel!« sagte nun der alte Lipp, »hat sie nicht zugesprochen vor einer halben Stund' oder wann? Die Traudel? – Nicht? Ja höllisch, wo ist sie denn nachher hin? Die kriegt's, wenn sie heimkommt!« Die beiden Fäuste streckte er schreckbar drohend in die Luft.

»Wenn sie aber nimmer heimkommt!« gab der Kartenthom zu bedenken.

»Wie meinst das, Thom, wie meinst das?«

Sprach jetzt der Pfarrer: »Dein Eheweib ist dir davon? Lipp, die kommt schon wieder. Und wenn sie frischen Schnittlauch sollt' brauchen, ich habe heuer recht viel nachgezügelt.«

Wir sagten höflich gute Nacht, mein Mehrerer sogar »Küß die Hand, Hochwürden!« ohne es zu tun, wonach er uns bemerkte, dieser schöne Ausdruck sei die einzige Lüge, die man auch einem Pfarrer offen ins Gesicht sagen könne.

Als wir wieder hinabschritten gegen das Wirtshaus, packte der alte Lackenlipp den Kartenthom plötzlich am Arm und pfauchte: »Mit deiner Red' früher, was hast damit gemeint?«

»Mit welcher Red'?«

»Daß sie vielleicht nimmer heimkommt?!«

»Kann sie nicht in den Mühlbach gefallen sein?« gab der Thom mit fürchterlich ernster Miene zurück. »In das Vorhaus ist sie gegangen, im Vorhaus ist sie das letztemal gesehen worden. Rinnt knapp vor der Haustür nicht der Mühlbach vorbei? Das Brückel ist nit [221] breit, die Weibsleute sind schwindlich, auf ja und nein liegt eine unten. Ja, mein lieber Lipp, es ist kein Spaß nit!«

Schon während der Rede des Thom hatte der Lipp angefangen, leise zu wimmern, und jetzt brach er aus: »O meine Trauderl, was ist das! Wird doch das nit sein, daß du mich verlassen hast! Du mein Liebestes auf der ganzen Welt. – Nein, 's ist nit, 's ist nit, sie tut mich nur necken. Das ist ein Galgenstrick, dieses Weibsbild! – Trauderl! Mach' keine Geschichten, geh' herfür Mit so Sachen spaßt man nit. – Wenn's aber doch wär'! Im Mühlbach! Auweh, auweh, mein liebes, gutes, schönes Weiberl!«

So ging es durcheinander, der Alte schluchzte und lachte, betete und fluchte, und so eilten wir dem Mühlbache zu. Da es ganz finster geworden war, so meinte mein Mehrerer, er müsse ins Wirtshaus gehen um eine Laterne, ich möge nur die Tote suchen helfen, das wäre ein Werk der Barmherzigkeit. Er würde auch bald wieder da sein. Wir gingen dem Bache entlang; der Kartenthom voraus, stets eifrig spähend nach dem Leichnam der Verunglückten; insgeheim aber war sein Denken also: Tischler, heut' kannst du mit mir zufrieden sein.

»Ich denke,« sagte der Tonhöfer Knecht, »wir lassen den Mühlbach rinnen wie er will und kehren ins Wirtshaus zurück. Die Traudel hat sich gewiß schon gefunden.«

»Wahr ist's!« rief der alte Lipp, »und am End' sucht sie jetzt mich!«

»Ist leicht möglich.«

»Du gutes Trutscherl, und suchst mich und grämst dich um mich, es kunnt mir was geschehen sein. Geh', [222] Narrl, dummes, liebes! Nur ein bissel Geduld, wirst mich ja bald wieder haben!« Und eiligen Schrittes dem Wirtshaus zu.

Der Kartenthom und ich gingen hintendrein, der Thom lachte vergnüglich über den Spaß; mir kam der Spaß schon etwas säuerlich vor. Unser Weg ging an der Kugelbahn vorüber, wo bei Kerzenlicht mehrere Burschen in Hemdärmeln und mit Tabakspfeifen im Munde kegelten. Darunter auch der Tischler Andreas. Als der Thom diesen sah, ging er langsam auf ihn zu, zerrte ihn in det: Winkel und flüsterte ihm ins Ohr: »Bist gescheit gewest?«

»Wer, ich?« fragte der Tischler ganz laut. »Ich gescheit, wieso?«

»Der dir den Alten aus dem Weg geschafft hat, das war ich! Weißt!«

»Was geht mich der Alte an?«

»Aber vielleicht sie! Die Junge! Wie du einmal was hast fallen lassen!«

»Dummheiten!« sagte der Tischler.

»Wirst aber doch derweil die Gelegenheit beim Schopf genommen haben, heut'!«

»Ich hab' Kugel geschoben, und du laß mich dabei in Fried!«

»Geh', geh', Kamerad, tu' nit so – recht gut wirst dich unterhalten haben.« Also der Thom und zwinkerte mit den Augen.

»Das hab' ich auch,« sagte der Tischler Andreas scharf, »aber nit so, wie du meinst, schlechter Kerl! Kann ja sein, daß sie mir einmal gefallen hat, wie sie noch ledig ist gewesen, aber ein Schmarotzer bin ich nit.

[223] Was ich nehm', das zahl' ich, mein Lieber, und nach Verheirateten mag der jagen, der keine Ledigen mehr kriegt und ein Lumpenhund ist!«

»Geht das mich an?« fragte der Thom spitzig.

»Wenn du's brauchen kannst, wird mir ein' Ehr' sein.«

»Du, Andreas!« begehrte der Thom auf.

»Ist's dir etwan nit recht?!« sagte der Tischler und stellte seine stramme Gestalt sehr nahe vor den Thom hin. Das kam diesem ungemütlich vor, und er vere-zog sich rasch.

Der Andreas erfaßte – da die Reihe just wieder an ihm war – gelassen die Kugel, gleichmäßig rollte er sie den Laden hinaus, und draußen war ein so mächtiges Geklapper, daß ich heute noch glaube, es fielen wenigstens alle Neun.

Endlich ins Wirtshaus zurückgekehrt, erinnerte ich mich an das Lichtbratel. Aber es war schon vorüber; der Mehrere, welcher früher hineingegangen war, »um die Laterne zu holen,« warf gerade den letzten Brocken unter den Tisch hinab, wo seiner der Hund wartete.

Vom Salat war auf dem Teller noch der Essig da; mein Meister schob mir den Teller zu: »Das ist dir geblieben. So geht's, wenn man den Frauenzimmern nachläuft.«

Ebenso einfach als das »Lichtbratel« hatte sich die Angelegenheit des Lackenlipp entwickelt. Der Alte kauerte völlig gebrochen beim Ofen, und sein Weib war immer noch nicht zum Vorschein gekommen. Jetzt wurden wir aber wirklich neugierig, wohin sie geraten sein konnte und ganz geheuer kam mir die Geschichte nicht vor. Da war [224] es, zur Zeit des Nachtmahls, als die Kellnerin von der Hinterstube zurück kam, wohin sie der alten, siechen Leonore die Nudelsuppe getragen. Sie stemmte ihre runden Arme in die Seite, tat einen Lacher und rief: »Jetzt weiß ich schon, wo die Traudel steckt.«

Alles fuhr fragend auf: »Nau?«

»In der Hinterstube, mit der Leonore tut sie schon die längste Zeit Karten spielen.«

»Das verfluchtelte Weibmensch!« kreischte der alte Lipp, und hieb seine magere Faust auf den Tisch. Des weiteren blieb er sitzen und ließ sich ein frisches Seidel Wein geben, wobei ihm sehr gemütlich ums Herz zu werden schien.

»Trink', Bub!« rief er mir plötzlich zu, »du bist brav, du hast auch suchen geholfen. Du bist ja der Lehrjung, nau, die sind alleweil hungerig und durstig, trink' nur rechtschaffen! Und beiß' eine Semmel dazu.«

Demnach merkte ich, daß der Lippel, den wir so gefoppt hatten, eigentlich sehr vernünftig war.

Der Lackenlipp war überhaupt so ein wenig sonderbar. Seit er in seinem fünfundsechzigsten Lebensjahre geheiratet hatte, dachte er nichts mehr, als sein Weibel.

Die Trauderl hatte ihn genommen, weil sie sich vor den jüngeren Mannsleuten so schwer zu erwehren gewußt, und weil es von diesen jeder nur auf eine lose Liebschaft abgesehen hatte, sie aber doch ihr Lebtag gern einmal heiraten wollte. »Die Alten sind leicht behalten«, nach diesem Sprichworte nahm sie den Lipp und war soweit zufrieden.

Der Alte war's nur zeitweise. Sein Weibel gab sich nämlich nicht immer genau so, wie er sich's gedacht[225] hatte, sie war manchmal ein bißchen launisch und trotzig und flatterhaft. Der Lipp würde in solchen Zeitläuften vor Wut mit den Zähnen geknirscht haben, wenn er noch welche gehabt hätte; in Ermangelung dieses Rachemittels tat er etwas anderes, er enterbte sein Weib. Er schrieb sein Testament: »Im Namen Gottes! Mein Vermögen gehört der Junggesellenbruderschaft, der ich so lange angehört habe, und mein Weib, die soll nichts haben! Philipp Lackensimpler.«

Ein andermal war das Weibel wieder überaus besorgt um ihn, war herzig und zutunlich und knüllte ihm das Ohrläppchen. Der Lipp zerriß das alte Testament und schrieb ein neues: »Im Namen Gottes! Sonst kein Mensch hat von mir was zu hoffen. Mein ganzes Geld kriegt die Herzliebste, die Trauderl allein. Philipp Lackensimpler.«

Als er starb, fand man in sein Wollenhemd eingenäht zwei Testamente; in dem einen war Universalerbe die Junggesellenbruderschaft, in dem andern das liebe Eheweib Gertraud. Und die beiden Urkunden waren an einem und demselben Tage verfaßt, so daß nicht zu sehen, welche die neueste, also gültige ist. – Jetzt standen sie da. Auch der Notar stand da.

Die Junggesellenbruderschaft nahm natürlich sogleich einen Advokaten; die Traudel nahm keinen, sondern zog sich zurück und meinte, um Totengeld wolle sie nicht prozessieren.

Und zu dieser Zeit, als der Tischler Andreas hörte, daß die Trauderl wieder gar arm und verlassen war, ging er hin zu ihr und trat mit dem Spaße ein, er sei da, um sie zu heiraten. Es war aber kein Spaß, denn[226] bald setzte er sehr ernsthaft bei, sie habe ihm schon vor Jahren gefallen. Seither habe sich sein Geschäft gehoben, und jetzt hole er, wenn sie nichts dagegen einzuwenden habe, sein Weib.

Also hat es sich zugetragen, daß gerade wieder bei einem Lichtbratelabend Handwerker und anderes Volk im Wirtshause versammelt waren.

Der Tischler Andreas feierte auch Lichtbratel, denn er saß neben seiner vergnügten Braut. Es war eben der Gerichtsdiener gekommen und hatte den Leutchen einen großen Bogen Papier gebracht. Das ist sonst fast allemal zum Erschrecken, wenn eine solche Person und ein solches Papier kommt, Gott weiß es und der Leser vielleicht auch. Diesmal stand's anders; es war ein ganz köstliches Lichtbratelpapier. Denn in demselben stand – von der löblichen Gerichtssprache ins Deutsche übersetzt – folgendes: Wenn der Philipp Lackensimpler zu gleicher Zeit zwei Testamente ge macht hat, eins auf Ja und eins auf Nein, so heben sie einander auf und es ist, als ob gar keins da wäre. Und der Gerichtsdiener erklärte weiter: »Wenn aber beim männlichen Tode gar keins da ist, so gehört das, was da ist, dem Eheweibe, in diesem Falle der Jungfrau Braut!« Er verneigte sich vor der Traudel. »Und mir gebührt eine Zustellungstaxe von achtzig Kreuzern!«

Der Bauernspöttler im Krautaler
[227] Der Bauernspöttler im Krautaler.

Beim Glowoggenbauer in der Stuben waren wir, auf der Ster, unser drei. Der Meister pfiff das Kaiserlied, der Geselle raunte mir zu, daß er mich bei den Ohren nehmen werde, wenn ich das Bügeleisen so scharf auf den Tisch fallen ließe, und ich dachte: Wollte Gott, ich wäre auch schon Geselle, daß ich einen Lehrjungen beim Schopf nehmen könnte!

Der Meister merkte den Konflikt und sagte zum Gesellen: »Was hast denn mit ihm schon wieder? Scharf auf den Tisch fallen lassen muß er ja das Bügeleisen, sonst wird die Hosen nicht glatt.«

»'s ist ja nicht der Hosen wegen,« antwortete der Geselle, »aber der Lehrjung muß halt bisweilen daran erinnert werden, daß er Lehrjung ist. Hat mich auch mein Lehrmeister alle Tag bei den Ohren gezupft.«

– Darum sind sie so lang geworden! Ich darauf. Gesagt hab' ich's nicht, aus Furcht, ebenso lange zu bekommen.

Zur selbigen Stunde trat die Glowoggenbäuerin in die Stube. Sie kam vom Krautgarten, wo sie eben junge Kohlpflanzen in die Erde gesetzt hatte, denn es war im Frühsommer.

»Jetzt bin ich aber schon suchtig!« sagte sie. »Dieser verdächtige Mensch ist wieder draußen.«

[228] – Was für ein verdächtiger Mensch? dachte ich, denn ein Lehrjunge darf nur denken.

»Was für ein verdächtiger Mensch?« fragte der Meister, denn ein Meister darf auch sprechen.

»Der alleweil so herumsteigt,« berichtete die Bäuerin, »und man weiß nicht, was er will. Aus Graz, sagen sie, ist er, oder aus Wien. Eine Hirschlederhosen hat er an und ist kein Bauer, Glasaugen hat er auf und ist kein Herr. Man kennt sich nicht aus. Die Bäuerei wollt' er studieren, heißt's, und ein Büchel darüber schreiben.«

»Aha, der Salonsteirer,« sagte der Meister. »Der am vorigen Sonntag beim Raberlwirt zu Mürzzuschlag gesungen hat. So Spaßliedeln gesungen und sich über die Bauern lustig gemacht und die Wiener, die da sind gewesen, haben ihm Wein gezahlt dafür und brav gelacht.«

»Das Singen wollt' mir noch nichts machen,« sagte die Bäuerin, »wenn's ihn freut, warum denn nicht! Aber der schlecht' Lotter, der er ist! Beim hellichten Tag geht man nicht sicher vor ihm. Ich hab' ihm's aber gesagt! Der kann sich sein Teil denken.«

Mittlerweile trat auch der Bauer in die Stube. Ein prächtiges Paar, wenn sie so nebeneinander standen allzwei! Er schlug Tabaksfeuer, Funken gab's, und im Augenblick gloste der Schwamm. Während er diesen unter den Pfeifendeckel legte, blickte er schmunzelnd auf sein Weib und fragte, was sie denn so in die Hitze gebracht habe?

»Der kurzhosete Stadtherr ist auf dem Krautgarten gewesen,« antwortete die Bäuerin.

[229] »Nau – und was hat er denn wollen?« fragte der Glowoggenbauer.

»Wie man den kennt, wird's nicht schwer zu erraten sein.«

»So! – Und hast ihn nicht gefoppt?«

Hierauf erzählte die Bäuerin: »Steht auf einmal da und sagt: Guten Morgen, Dirndl! – Sag' ich: Erstens ist nicht guter Morgen, weil's bei uns schon Nachmittag ist, und zweitens bin ich kein Dirndl, weil ich ein Eheweib bin. – Was ich da für Pflanzen tät in die Erde setzen? – Frag' er den Hafen oder den Hirschen, wenn er's wissen will, sage ich. Kraut ist's. – He, wer wollt' denn so viel Kraut essen? sagt er. – Wir Bauersleut', sag' ich, denn das Fleisch, das dazu gehört, essen die Herren. Nachher er darauf: er wär' auch ein Freund von Bauernkost und ob ich ihn nicht ein wenig wollt' mitessen lassen? Und so fangt er an. Ist aber nicht vorwärts gekommen, ich weise ihm den kürzesten Weg in die weite Welt. Steigt er nachher zum Stadl hinab, schaut dem Buben zu, wie der ein Paar Ochsen einspannt und sagt: Was wollt ihr denn alle drei? Auf den vierten warten, wenn ihr Zeit habt! gibt der Bub zur Antwort. Daran f geht er in den Wagenschoppen, spöttelt eine Weil über die Düngerkarren, trottet hinten hinaus zum Krautaler und schnüffelt überall herum.«

»Ja,« sagte nun der Meister, »er tut halt das Bauernwesen studieren, daß er nachher darüber Sachen schreiben, Reden halten und Liedeln dichten kann.«

Der Glowoggenbauer lachte auf: »Ein sauberes Bauernstudieren das, wie es der treibt! Im Wirtshaus,[230] wenn die Leute ihre Schwänk' machen, aufpassen, auf's Papier kratzeln, lachen, dann ums Haus herumschwänzeln, den Arbeitsmenschen frozzeln, mit den Weibsleuten umtun, bis sie ihn rechtschaffen foppen, das nennt so einer Bauernstudieren.«

»Was auf das herauskommt, schaut auch danach aus!« sagte der Meister. »Man versteht's wohl, daß einer den Bauersmenschen nicht immer loben kann, hat auch seine Fehler und manchmal hübsch große noch dazu. Ist jedem gesund, wenn er die Wahrheit hört. Aber so, wie es dieser hergelaufene Mensch treibt, das ist mir schon zu dumm. Hab' letztens schon gemeint, ich müßt' ihm den Kopf waschen, wie er zu Mürzzuschlag vor den Stadtherrischen seine Wissenschaft losläßt. Die dummsten und die schlechtesten und die unsaubersten Gesellen müßten wir Bauersleut' sein, nach dem seiner Auslegung. Der Beste nichts nutz! Er müßt' nur das Maß von sich selber nehmen, sonst wüßt' ich nicht, wie er dazu käme, lauter Spitzbuben, Esel und Teppen (Kretins) aus uns zu machen. Seinen Ochsen, sagt er, hätte der Bauer lieber als seinen Bruder, und mit den Schweinen lebe er in besserem Verhältnisse, als mit –«

»Wir wissen es schon,« unterbrach ihn der Bauer, »es sind die alten Geschichten, die im Spaß weiter erzählt werden, und so ein Halbpelzer für ernst nimmt. Der müßte erst einen Stock Salz essen mit uns Bauern, der uns hinter den Brustfleck schauen wollt', und einer, der uns kennen lernen wollt', wie wir sind aus-und inwendig, der müßt schon einmal ein zwanzig Jahrl mit uns leben, arbeiten und Gutes und Ungutes tragen; nachher, denke ich, möchte ihm sein leichtsinnig Schwatzen [231] schier vergehen. – Wenn dieser Mensch noch lange umschleicht um mein H aus und Hof, und daß er die Fehler und Schäden aufschmecken will, so soll er schon noch etwas recht Bauernmäßiges erfahren, daß er sich's merkt...«

Den Sinn dieser Worte deutete der Glowoggenbauer mit der Faust an. Weiter wurde die Sache nicht besprochen, jedes wendete sich wieder seiner Arbeit zu, der Bauer spaltete Holz, die Bäuerin spann, der Meister schnitt, der Geselle nähte, und ich bügelte.

So ward es Abend. Wir Schneider räumten den Tisch, denn es wurde das Nachtmahl aufgetragen. Milchsuppe, Bohnen mit Kraut, sie würzten es mit frohem Gespräche über dies und das, ich war der Einzige, welcher nicht sprach, sondern fleißig zuhörte und mir meinen Teil dachte. Ich sage dir, Leser, in keinem Lehrsaal später habe ich so viele Lebensklugheit, bei keiner Stadtkurzweil so viel heitere Laune vernommen, als an solchen Bauerntischen. Wenn Handwerker im Hause sind oder auch sonst ein gerngesehener Gast, da zieht des Bauers Seele ihr Sonntagsjöpplein an, und die Unterhaltung ist eine gehobenere als sonst. Auch schneidigen Witz gibt es dabei und warme Herzhaftigkeit – jede Richtung findet ihren Vertreter; kann man sie gleichwohl auswendig voneinander kaum unterscheiden, ist ihr Gehaben für den oberflächlichen Beobachter auch bei einem wie beim anderen, im Grund und Kern sind es doch lauter voneinander verschiedene Menschen, darunter nicht wenige Schelme und Spottvögel und dabei gemütliche Kameraden.

Der Stallbub kam an jenem Abende etwas verspätet [232] in die Stube, er wollte erst die Rinder sattfüttern, bevor er an die eigene Sättigung dachte, denn so ein Stallbub ist nicht minder stolz auf seine Pflicht, als der Soldat und der Beamte. Der Stallbub brachte die Nachricht herein, es stiege ihm heute schon das Haar zu Berge, er habe draußen in der finsteren Nacht ein Gespenst schreien gehört. – Einige am Tische erschraken über diesen Bericht, andere lachten; der Bauer blieb ruhig ernsthaft und sagte: »Du sollst nicht so einfältig daherreden, Bub. Auf dem Glowoggenhof schreien keine Gespenster.«

»Nachher muß es was anderes gewesen sein,« meinte der Stallbub. »Schreien tut halt was. Hinter dem Schoppen draußen schreit's, vom Krautaler her.«

Was denn das sein kunnt? rieten sie herum. Der Krautaler ist ein tiefer Schacht senkrecht in die Erde hinab, etwa eine Klafter weit und vier Klafter tief; er ist mit glatten Holzlatten ringsum verschlagen und dient zur Aufbewahrung des »Grühenkrautes« über den Winter. Die Kohlköpfe werden im Herbste in einem großen Kessel weich gebrüht, in diesen Schacht gelegt, dann mit Brettern zugedeckt und mit großen Steinen beschwert. Auf diese Weise hält sich das Kraut lange Zeit frisch und fault nicht; im Laufe des Jahres wird es allmählich herausgenommen und gekocht. Zur Sommerszeit ist der Aler fast allemal schon leer, und auf seinem Grunde liegt nur die Strohschicht, auf welcher das Kraut gebettet gewesen.

Und von diesem Krautaler her schrie jetzt nach Ansicht des Stallbuben ein Gespenst.

Ein paar Knechte legten die Löffel weg und gingen[233] hinaus, um nach der Ursache des Geschreies zu forschen. Nach einiger Zeit kamen sie zurück und sagten, es wäre nichts weiter. Der Salonsteirer, oder wer er wäre, sei im Krautaler und könne nicht heraus.

»So soll er unten bleiben!« rief die Bäuerin.

»Da hat er Zeit zum Bauernstudieren,« sagte unser Geselle.

»Er wird bei seinem fürwitzigen Umhersteigen hinabgefallen sein,« vermutete der Bauer. »Schreit er kläglich?«

»Hübsch kläglich,« antwortete ein Knecht.

»Bittet und betet er?«

»Nein, er schimpft,« berichtete der Knecht.

»Nachher ist ihm nichts geschehen,« sagte der Bauer. »Stroh hat er eh' unten. Und wir wollen jetzt auch schlafen gehen.«

Lieber Himmel, was war das allemal für eine selige Wendung für mich, als es Nacht ward und Zeit zum Schlafengehen! Ins Bett sank ich und vergaß vor dem Einschlafen sogar die Augen zuzumachen – sie fielen von selber zu. – Peter, steh' auf! mit diesem Rufe erweckte der Meister mich allemal wieder zum Leben, und es war Morgen. – In dieser Nacht jedoch wurden wir früher geweckt.

Der Glowoggenbauer war nicht so schnell eingeschlafen, als wir Schneider. Vielleicht war er in Sorgen; so ein Hauswirt muß des Tages arbeiten und des Nachts denken. Wie ich den Glowoggenbauer kannte, sprang sein Sinnen von eigener Kümmernis auf fremde. – Es gibt Leute, denen es schlechter geht als mir, die Frost leiden müssen, während mir die große Schafschur Sorge macht; die Hunger leiden müssen, derweil ich [234] an die Erweiterung der Vorratskammer denken muß. Ja, Narr, ist so einer nicht etwan in der nächsten Nähe von meinem Haus? Hat's nicht geheißen, der Stadtherr wär' in den Krautaler gefallen? Und kann nicht heraus. Kann sich was brochen haben, und keinen Beistand. Kein Abendbrot, die Nächte sind kalt jetzt, und keine Decke! Schreit um Hilf und kein Mensch geht ihm zu. Noch auslachen statt helfen. Was gibt's denn für Hundsfötter in diesem Glowoggenhof? – So dachte der Bauer in der stillen Nacht. Dann stand er auf, zog sich an und weckte mehrere Leute.

»Was hat's denn?« rief mein Meister zur Kammertür hinaus, als er den Lärm hörte.

»Den Stadtherrn müssen wir aus dem Krautaler tun,« antwortete der Bauer.

»Wärst aber schon nicht gescheit,« redete jetzt rasch aufgemuntert unser Geselle drein. »Weißt ja, wie er sich lustig macht über euch Bauern, im Wirtshaus, und was er vom Stößelhautz umeinanderplauscht: daß der von seinem sterbenden Weib weg zur kalbenden Kuh tät' laufen und so! Und ein solches Lugenmaul willst du aus dem Krautaler ziehen? Geh', laß ihn bei seiner Meinung.«

»Dummer Schneider!« verwies der Glowoggenbauer. »Das tun wir Bauersleut' uns schon nicht an, daß wir so einem Stadtschnackel recht geben, wenn er uns beschimpft. Heraus aus dem Loch muß die Kreatur!«

Also sein Wort, und dann ging er mit einer langen Leiter über den Hof und hinaus hinter die Gebäude. Wir hasteten in die Kleider und eilten ihm nach. Kamen just zurecht, wie der Bauer hinabrief in den Schacht: »Ist er noch unten?«

[235] In der Tiefe wimmerte etwas, also war er noch unten Unser Geselle huschte zum Bauer und zischelte ihm ins Ohr: »Seine Sündenlitanei halt' ihm vor, ehe du ihn heraufziehst. Reim ihm's! Höllisch reim ihm's, daß er sich's merkt!«

»Er wird sich's schon merken,« antwortete der Bauer ganz ruhig und rief hinab: »Achtgeben! Es kommt die Leiter!«

Nicht lange hernach, und der Stadtherr kletterte zähneklappernd vor Frost heraus.

»Nur gleich in die Stuben und eine warme Suppen!« also der Bauer, nahm den Geretteten an der Hand und führte ihn ins Haus. Und nicht ein scharfes Wort!

Eine halbe Stunde später kauerte der Salonsteirer im Bette unter drei schweren Wolldecken und schämte sich. Die ganze Nacht schämte er sich, und am nächsten Morgen schlich er höchst geräuschlos davon.

Ob er nach dieser schönen Nacht noch im Lande umherzog, um in den Wirtshäusern die Bauern schlecht und lächerlich zu machen, das weiß ich nicht. Wenn er klug gewesen wäre, so hätte er die Geschichte vom Krautaler in zierliche Reimlein gebracht und dieselben sich und anderen zu Nutz und Fromm en manchmal zum Besten gegeben.

Von der besessenen Traudel
[236] Von der besessenen Traudel.

In jener Gegend bedurfte man zu jener Zeit für die Kinder keines Bartels, keines Krampus, keines Knechtes Ruprecht, oder wie sonst die Gottesgerichte für die kleine sündige Welt heißen mögen. Da hieß es zur Mahnung und Drohung nur: »Wart', die Traudel kommt!«

Die Traudel kommt! Ich habe in meinem Leben manche Schreckenspost schon gehört, aber so wüst wirkte keine mehr auf den Mann als dazumal auf das Kind der Ruf: die Traudel kommt!

Das besessene Weib, es wohnte von meinem Heimatshause querüber drei Berggräben hoch oben, bei den Almhalden. Wir sahen nur den Baumschachen, hinter welchem sich das Nest der Besessenen barg. Dieser Schachen stand so friedlich auf der Höhe, wie andere Hutwäldchen auch und seine Wipfel ragten so sein und scharf in den lichten Himmel hinein, als wären sie aus schwarzem Papier geschnitten; aber ich erinnere mich noch, daß mir, so oft ich diesen Schachen ansah, der »höllische Drache« einfiel. In meinem Kindeshaupte fanden sich mehr solch unbegründete Bilderverbindungen. So war in unserem Hause eine finstere Rumpelkammer mit alten Möbeln, rostigem Eisen, Lederwerk und dergleichen; und so oft ich in diese Kammer trat, mußte ich an ein beschneites Mühlrad [237] denken, obwohl nichts dort war, das auch nur im Entferntesten an ein solches erinnern konnte. Wenn ich auf die steile Wand der hohen Veitsch hinsah, so fiel mir immer der Name »Michel« ein; das Geläute der Kirchenglocken zu St. Kathrein erinnerte mich an das Milchtrinken usw. Demnach war die Verbindung des Schachens, in welchem die Besessene hauste, mit dem höllischen Drachen eigentlich noch naheliegend.

Ich hatte die Traudel schon mehrmals in der Kirche gesehen; sie stand stets in einem finsteren Winkel nahe des rückwärtigen Einganges, von wo aus der Altar nicht zu sehen war. Seit jenem Tage, da die Traudel bei einer Kommunion das weiße Tuch vom Speisegitter riß und sich wütend auch auf den Altar stürzen wollte, wovon sie noch rechtzeitig zurückgehalten wurde, seit jenem Tage stand sie während des Gottesdienstes immer rückwärts im finsteren Winkel. Es war eine schon etwas ältliche Person, die sich in Nichts von anderen Weibern unterschied, als daß ihr langes, dunkelblaues Kleid den Erdboden berührte, während die Röcke der übrigen kaum über die halben Waden reichten, um aller Nachbarschaft zu zeigen, was sich bei ordentlichen Weibsbildern dahinter befindet, nämlich ein Paar schneeweißer Strümpfe. Die Traudel sah stets blaß aus und hatte kurzgeschnittene Haare; sie trug eine braune Haube, die sich glatt an den Kopf schmiegte und ihr ein kindisches Aussehen gab. Ihre kirschrunden Augen schauten bisweilen, besonders wenn sie sich beobachtet wußte, gar scharf drein, dann schloß sie sie plötzlich, als kämpfe sie gegen einen Schwindelanfall.

In der Kinderwelt der Gegend ging die Sage, daß[238] die Traudel schlimme Knaben und verlogene Mädchen zusammenfange, dieselben mit Semmeln und Nußkernen mäste und dann verzehre. Die Erwachsenen wußten, daß sie von Milch, Brot und Kraut lebte und daß sie sich ihren Bedarf ehrlich erwarb. Sie ging ins Tagewerk aus, aber man hatte sie nicht gern, weil es geschehen konnte, daß sie plötzlich, und zumeist ohne Ursache, in ein Toben ausbrach und alles um sich gefährdete. So blieb sie die meiste Zeit in ihrem kleinen Hause unter dem Schachen und beschäftigte sich mit Spinnen; die Leute lieferten ihr gern Arbeit, boten ihr mitunter auch Almosen, wollten aber des näheren nicht viel mit ihr zu tun haben. Außer ihren wunderlichen Anwandlungen von Tobsucht, welche in sehr ungleichen Zwischenräumen eintraten, war die Traudel von sanfter, weicher Gemütsart; aber man nannte sie die »Besessene«, obwohl in der Gegend nicht fünf Menschen lebten, welche im Ernste glaubten, daß sie vom Teufel besessen sei. Nur von einem Einzigen weiß ich es bestimmt, daß er als Kind ob der wahrhaftigen Besessenheit dieser Person nicht den geringsten Zweifel hegte – und das war ich. Bäuerliche Idealisten machen sich gern mit Gott und Teufel zu schaffen und ist ihnen besonders der letztere merkwürdig. So ward ich nicht müde, überall, wo sich Gelegenheit bot – aber stets von einer gewissen Entfernung – die Traudel, dieses zweibeinige Reitpferd des Teufels, anzuglotzen.

Als ich dann ins Handwerk trat, mag ich wohl schon etwas vernünftiger gewesen sein, zum mindesten kam mir bei der reichen Abwechslung im Verkehr mit Menschen die Traudel ein wenig aus dem Gedächtnis. Wie erschrak ich aber, als eines Tages mitten im Winter[239] – nahe dem Ende der Lehrzeit – mein Meister zu mir sagte: »Ich werde in dieser Woche beim Pfarrer nähen und du wirst zur Schachentraudel hinauf müssen; sie tribuliert (drängt) mich schon so viel lang' um einen Schneider.«

»Das Weibergewand kann ich nicht!« schrie ich auf.

»'s ist Mannsgewand, 's ist Mannsgewand,« beschwichtigte der Meister.

Das war nicht ehrlich von ihm. Er wußte es recht gut, daß ich nicht das Weibergewand, sondern dieses Weib fürchtete. Hatte doch auch er selbst sie immer die besessene Traudel genannt. Er geht ins Pfarrhaus, und ich soll da in die unheimliche Schachenhöhle hin auf! – Indes, ich hatte nun an drei Jahre ohne die geringste Widerrede meinem Meister gehorcht, ich war stets bereit gewesen, für ihn ins Feuer zu gehen, nun schickte er mich dahin. – Wohlan!

Meine Werkzeugtasche an der Seite, das große Bügeleisen in der rechten, die Elle als Stock in der linken Hand, so stieg ich in Schnee und Nebel den Berg hinan bis zu jenem letzten Hause unter dem Schachen. Dort lebte die besessene Traudel mit ihrem einäugigen Bruder, der noch älter war als sie, und dem ich das Lodengewand machen sollte. Das Haus hatte gar kleine Fenster, war inwendig recht düster, aber ganz wohnlich eingerichtet. über dem Tische, wo ich, ohne viel zu fragen, meine Werkstatt aufschlug, hing ein Muttergottesbild, das mich außerordentlich beruhigte. Außer den beiden Geschwistern wohnte in diesem Hause keine Seele, wohl aber eine schwarze Katze, die mit ihren grünen Augen hinter dem Ofen verdächtig auf mich herfunkelte.

[240] Sonst, wenn wir in ein Haus auf die Ster gekommen, war das erste, was uns der Bauer brachte, die Lodenrolle, und die Bäuerin kam mit dem Zwirn. Hier jedoch war das erste, daß der geschäftige Alte ein Lederkissen auf meine Sitzbank legte und die Traudel mit einer blumigen Porzellanschale kam, aus der frischer Kaffee dampfte. Beide waren über die Maßen gütig und leutselig und dabei so bescheiden, sie bedienten mich und suchten es aus meinen mißtrauischen Augen zu lesen, was ich etwa noch wünschen mochte. Ich verlangte ziemlich trocken nach der »Arbeit«, dann maß ich dem Einäugigen Rock und Beinkleid an, wobei er mehrmals sagte: »Nur nicht zu klein, tät' ich bitten, lieber ein Eichtl zu groß.«

Traute er mir nicht zu, daß ich es gerade recht machen sollte können?

»Wie wird's?« fragte ich, »nach dem Alten (nach alter Mode), oder wie sie's jetzt tragen?«

»Ist nicht heikel,« meinte er, »ich denk' nach dem Alten, aber halt nicht zu klein.«

Währenddem hatte mein Faden seinen Körper nach allen Richtungen hin durchforscht und zur Markung der Länge, Breite, Tiefe schlang ich im Faden die Knoten. Viel später habe ich erst von der unerhörten Finte erfahren, nämlich, daß es auf dieser Welt Schneider gibt, die mit zifferierten Maßbändern messen und die Nummern ins Büchel schreiben. Wir haben das, was die Knoten an den verschiedenen Stellen des Fadens bedeuten, im Kopfe merken müssen, und das war bei den Fäden, die oft dutzendweise uns um den Nacken hingen, keine kleine Aufgabe.

Nun kam auch die Traudel, steckte mit dem Zeigefinger [241] die braune Haarlocke, die ihr über die Stirne hing, hinter das Häubchen und sagte schüchtern, sie täte halt auch was kriegen – ein Winterjöppel. Da sah ich wohl ein, daß an ein baldiges Entkommen aus diesem Hause nicht zu denken war. Ich arbeitete mit vieler Emsigkeit, gleichwohl mir mein Meister aus Herz gelegt hatte: »Nur nit schleudern! Für die Geschwindigkeit laßt sich der Taschenspieler zahlen; gut mußt es machen.«

Gesagt war's leicht; hätte er's nur selber getan und wäre da oben bei der Besessenen eine Woche lang gesessen, alle Augenblicke in Gefahr, von der Wütigen zerrissen zu werden! Zwar von einer Tobsucht merkte ich an der Traudel in den ersten Tagen gar nichts; nur entging mir nicht, daß das Weib beim Spinnen – sie saß nahe an meinem Tisch – bisweilen, wenn der Faden sich knotete oder die Schnur vom Rade flog, so seltsamlich aufzuckte und die geballten Fäuste aneinanderschlug. Dann war's wieder gut.

Und einmal flüsterte mir der Einäugige, ihr Bruder, zu: »Schneider, wenn etwan mit meiner Schwester da jäh was sein sollte – du weißt ja – so schrei mich geschwind ins Haus, ich tu' draußen im Stall Streu hacken.«

Aber alles war wie in jedem anderen Hause und bei anderen Leuten, nur daß ich hier viel höher estimiert wurde als anderswo; sie waren so dankbar, daß ich zu ihnen gekommen, daß ich ihnen Gewand machte, daß mein Gesicht immer offener und gutmütiger auf sie hinschaute, und daß ich bisweilen sogar ein Liedel sang.

Das beste, was dieses kleine, nicht eben so ärmliche Haus bot, wurde mir dargebracht, und mit Liebe dargebracht, [242] daß ich den Meister nur beglückwünschen konnte, wenn es ihm im Pfarrhofe so gut erging, als mir im Schachenhause. Von der Zeit an, als die Traudel merkte, daß ich Strudelkrapfen ausnehmend gern esse, brachte sie mir jeden Tag Strudelkrapfen auf den Tisch, und dieselben schmeckten mir jeden Tag besser. Mein Bett wurde aus blütenweißer Leinwand bereitet; des Abends luden sie mich bald zur Ruhe ein, denn, »ein junger, wachsender Mensch schlaft gern«, sagte der Bruder Einaug. Des Morgens stand die Traudel um eine Stunde früher auf als ich und schlich diese Zeit auf den Zehenspitzen herum, daß sie mich nicht wecke; wohl ein seltsamer Gegensatz zu anderen Arbeitgebern, welche uns Schneider sonst so früh als möglich wachpolterten und abends so spät als tunlich zur Ruhe kommen ließen, damit wir unseren Taglohn auch gründlich abdienten.

So hatte ich es hier gut, war aber fort und fort von einer Ahnung gepeinigt, als müsse mir in diesem Hause etwas Unerhörtes widerfahren. Draußen war kein Nebel mehr, wohl aber ein undurchsichtiges Schneegestöber, welches die Fenster verlegte, so daß es in der Stube bis Mittag Morgendämmerung und von Mittag an Abenddämmerung war, und welches mich über die Weihnachtstage im Schachenhause einzuschneien drohte.

Eines Tages kam die Traudel nicht in die Stube und auch ihr Bruder machte sich viel bei ihr in der Küche zu schaffen.

Und als ich mein Bügeleisen hinaustrug, um es ins Herdfeuer zu stecken, da sah ich, wie die Traudel auf dem Boden lag, der Einäugige neben ihr kauerte und mit seinen kräftigen Fäusten ihre zuckenden Hände[243] geknebelt hielt. Ich stürzte in meine Stube zurück und blieb vor Schreck mitten in derselben stehen und wollte um Hilfe rufen, wäre nur ein Nachbarhaus in der Nähe gewesen. Wenige Minuten später traten die beiden Geschwister in die Stube, deckten den Tisch zur Mahlzeit, machten Bemerkungen über den argen Schneefall und taten, als ob gar nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Die Traudel war nur etwas blässer als sonst; aber so blaß als das geängstigte Schneiderlein war sie gewiß nicht.

An demselben Tage kam durch den hohen Schnee ein Bote dahergewatet, der rief dem Einäugigen zu: »Schachner, du mußt auf den Friedhof.«

»Du auch,« gab dieser zurück.

»Nicht so, Nachbar, nicht so!« sagte der Bote, »alle Männer müssen eilends zusammen von der Gemein, auf dem Friedhof ist was geschehen. Geh' geschwind mit mir.«

Die beiden Männer gingen davon, ohne daß uns etwas Näheres offenbar wurde, die Traudel und ich blickten ihnen aus den Fenstern nach, so lange sie im Gestöber zu sehen waren.

»Um des lieben Gottes Willen!« sagte die Traudel und faltete die Hände über ihren Schoß, »was mag sich haben zugetragen!«

Es ließ sich gar keine Vermutung aussprechen. Am Abend hörte das Schneien auf, der Blick ins Tal wurde frei und wir sahen dort, wo der Kirchhof liegen mußte, mehrere Lichter hin und her zucken. Die ganze Nacht hindurch sah man die Lichter und ich schloß kein Auge.

Der Schachner kam auch am nächsten Tage nicht[244] nach Hause, die Traudel war womöglich noch aufmerksamer und gütiger gegen mich. Zu jeder Viertelstunde fast prüfte sie mit der aufgehobenen Hand die Luft in der Stube und fragte mich, ob es mir doch nicht etwa noch zu kühl wäre, und schob stets Scheit um Scheit in den Ofen. Mit meiner Arbeit kam ich nahe zu Rande; da hub das Weib plötzlich an, aus der Küche die Töpfe und Tonschüsseln und allerlei anderes Geschirr zu mir in die Stube zu schleppen. Sie tat das mit einer seltsamen Hast, und dann hob sie in der Küche auch die Glasfenster aus und lehnte sie in der Stube um den Ofen herum, während in der Küche der kalte Wind die Asche des Herdes auseinanderblies. Endlich schleppte sie den vollen Milchtopf herein und stellte ihn neben mir auf die Bank, tat einen Laib Brot dazu und brachte mir die Gebrauchsanweisung bei: »Das Gelbe obenauf im Topf, dasselb' sein auf die Brotschnitten streichen; die Milch hernach, dieselb' dazu trinken, oder das Brot einbrocken, wie es der Schneider halt am liebsten mag.« So gütig schaute sie mich dabei an, daß ich dachte: besessen mag sie sein, aber von einem Engel.

Sie selbst sperrte sich dann in die Küche ein.

Mir war plötzlich überaus unheimlich und es gelang mir nicht, durch Arbeit meine Bangigkeit zu zerstreuen. Der Bruder Einaug kam nicht heim – was mochte unten auf dem Kirchhofe vorgehen? Warum hatte sich die Traudel zurückgezogen? Ich hörte aus der Küche mitunter etwas, wie Schnaufen und Stöhnen. Dann war wieder alles so still – so öde und still, als säße ich, der kleine Schneider, ganz allein mitten in der trüben, schneienden Welt.

[245] Auf einmal aber wurde es mir laut genug. In der Küche erhob sich ein Poltern, Krachen und Schreien, als ob Räuber eingebrochen wären. Balken und Scheiter wurden hin und her geworfen und dabei Fluchen und Hilferufen. Ich sagte zu mir: Schneider, nur jetzt sei kein Schneider! Da ist wer in Lebensgefahr. – Brachte aber die Tür nicht auf. Und wieder die Stimme der Traudel:

»Daß mir keiner mehr nahe kommt! Ich erwürg' euch! O du verdammter Schneider, ich will dir helfen!« – und sie rüttelte mit Gewalt an der Tür, die zu meiner Stube führte.

Ich – nichts vergessen – laß alles im Stich, laufe davon.

Laufe durch Schnee und Wetter talwärts, bis mir da der Einäugige begegnet. Er frägt mich erschrocken, ob sich denn auch auf dem Berg etwas Absonderliches begeben hätte? Ich wollte mit der Farbe nicht heraus.

»Ist 'leicht meine Schwester arg geworden?« fragte er.

»Das ganze Haus wirst sie zusammen,« antwortete ich. »Nicht eine Stunde bleibe ich mehr da oben.«

»Du Lapp, wirst mir doch mein Gewand fertig machen. Geh' nur wieder mit, Schneider, 's wird alles gut sein. Lauft sie herum?«

»Eingesperrt hat sie sich.«

»Nachher ist's schon recht. Geh', Schneider, geh'. Schau, ich wollt' ja früher heimgegangen sein; sind Tag und Nacht fleißig gewesen, haben nicht früher können fertig werden.«

»Was ist denn geschehen?«

»Eine Schneelahn ist vom Berg niedergegangen und [246] gerad' auf dem Friedhof liegen blieben,« berichtete der Schachner. »Jetzt ist aber vor etlichen Tagen der alte Alpegger gestorben und wartet auf sein Bett. So haben wir halt mentisch müssen schaufeln.«

Das eine wußte ich nun, aber das andere noch nicht. So fragte ich den Einäugigen kurzweg, wieso es käme, daß die Traudel besessen wäre?

Der Mann blickte mich eine Weile von der Seite an und entgegnete endlich: »Die Leut' sagen, du wärest nicht dumm, Schneider. Aber gescheiter wäre es, wenn du noch gescheiter wärst. Wenn du das Besessensein so verstehst, als daß ein böser Zustand oder eine Krankheit auf meiner Schwester sitzt, so hast recht; aber nachher kunnt's leicht sein, daß wir alle besessen sind. So was Ungutes, das ihm angeboren, oder von sich selber angetan worden ist, hat jeder, sonst wären wir lauter Engel. Die Leut' sind alle besessen.«

Ich bat ihn, daß er nicht böse sein möge. Das wäre er nicht. Und während ich mit ihm wieder zurück ins Schachenhaus ging, erzählte er mir die Geschichte, wieso es kam, daß die Traudel besessen war. Es ist eigentlich keine Geschichte, die sich abspielt, es ist ein Schicksal, das erlebt wird. Ich sage, was ich weiß. Lustige Geschichten mag man erfinden; traurige zu dichten, das wäre ein trauriges Geschäft.

Die Mutter der Traudel, das war die alte Schachnerin, soll ein jähzorniges Weib gewesen sein, und zumal, da sie das zweitemal gesegnet ging, geriet sie jeden Tag über irgend etwas in Wut, und fluchte und schlug um sich und raste und tobte, daß es ein Greuel war. Ihr Mann wich einfach aus, wenn sie wütete, weil er [247] der Meinung war, Weiber in »solchen Umständen« müsse man gewähren lassen, sonst schade es ihnen. Als sie aber in einem Zornanfalle dem dreijährigen Söhnlein das Auge ausgeschlagen hatte – so daß aus diesem Söhnlein mein guter einäugiger Schachner heranwachsen mußte – erschrak sie überaus und die Natur kürzte die Zeit ab und führte das Töchterchen plötzlich aus Tageslicht. Die Mutter suchte sich von nun an zu bezähmen, aber der Jähzorn war im Kinde. Anfangs machte die Untugend den Eltern Spaß, denn sie war an dem zappelnden Wesen so possierlich; allmählich gewöhnten sie sich dran, und der Teufel lebte sich ein. Ja, es war wie ein leibhaftiger Teufel, es brach hervor ohne Grund und tobte. Sonst war das Mädchen sanft; geriet es aber in irgendeine Aufregung und Gemütsbewegung, so war der Teufel los. Sie kannte ihren Zustand wohl, ja es gelang ihr sogar, die Aufwallung manchmal zu bemeistern; besonders bei wirklichen Anlässen zum Zorn wußte sie sich zu bändigen, während bei anderen Aufregungen sie der plötzliche, unvorhergesehene Ausbruch übermannte. So ging sie höchst selten mehr unter die Leute und auch daheim verstand sie es, sich unschädlich zu machen, indem sie manchmal im Vorgefühle eines Ausbruches alle zerbrechlichen Gegenstände von sich entfernte und sich einschloß, bis die Entladung vorüber war.

So stand es mit der Traudel. Der böse Zustand hatte sie verhindert zu heiraten, gleichwohl ihr ein alter Arzt als einziges Mittel gegen ihre »Besessenheit« einen braven Mann verschrieben hatte. Sie hielt es für einen Spaß. Auch ihr Bruder heiratete nicht, weil er fürchtete, [248] Weib und Schwester könnten sich gegenseitig unter solchen Verhältnissen leicht Übles zufügen. Er blieb bei ihr und sie besorgten mitsammen das kleine Hauswesen und trugen geduldig, was sie zu tragen hatten. –

Als wir in das Haus zurückkamen, saß die Traudel erschöpft und blaß auf der Ofenbank.

»Mein lieber Schneider!« sagte sie und hielt mir die gefalteten Hände entgegen, »mein lieber Schneider! Tu' mir's nicht für Übel halten. Ich kann halt nicht anders, ich kann halt nicht anders!«

Jetzt konnte ich's nimmer verhalten, ich begann aus Erbarmen zu flennen wie ein Kind, und mir weinten alle drei.

Dann aber blieb ich im Schachenhause sitzen und arbeitete meine Ster auf. Als ich fertig war, ließ ich beiden das neue Gewand anprobieren. Bei der Traudel saß es; beim Einäugigen schlotterte die Joppe, als hinge sie auf Zaunstecken. Mein Schreck war groß, aber der Schachner sagte: »Das ist brav, daß ich jetzt endlich einmal einen Schneider gefunden hab', der mir das Gewand recht macht. Nächst' Jahr mußt uns mieder kommen.«

Aber nächst' Jahr kam ein anderer Schneider ins Schachenhaus, der maß der Traudel ein Kleid aus Fichtenholz.

Als ich meinen Lehrmeister nicht bestahl
[249] Als ich meinen Lehrmeister nicht bestahl.

Wenn am Jüngsten Tage darüber Rechenschaft gegeben werden muß, warum ich in meinen Schneiderlehrjahren so wenig gelernt habe, so wird sich mein Meister deswegen nicht zu melden brauchen. An ihm war keine Schuld. Er hatte weder ein Weib, das für die Küche bedient, noch ein Kind, das gewiegt, weder eine Kuh, die geweidet, noch eine Ziege, die gemolken werden mußte. Sollte das einzige Paar Stiefel, welches ich an den Sonnabenden für meinen Meister zu wichsen hatte, in die böse Wagschale fallen, so wollte ich mich eilends auf die gute setzen und rufen: Herr, wenn du auf mich Schneiderlehrling noch einiges Gewicht legst, so sei versichert, ich tat's in meiner freien Zeit, ich tat's aus freiem Willen, ich habe damit nichts versäumt!

Die Lehrmeister pflegen es wohl so einzurichten, daß der Lehrling nach seinen vollendeten drei Lehrjahren nicht als Meister, sondern als Geselle hervorgeht. Sie lehren ihm das Abe ihrer Kunst, aber das Wörterbilden lassen sie ihn selber erfinden. Ich kannte alle Buchstaben: ich verstand das Fadenmachen, das Nähen mit Vorderstichen, mit Hinterstichen, mit Überwindlingstichen, das Steppen, das Säumen, das Heften, das Paspulieren, das Locheinfassen, das Knopfeinhängen. Ich verstand das [250] Lodenaufkrauen und das Bügeln, das Einlassen und das Ausschweifen, obwohl mir mein Meister in bezug auf letzteres einmal den Vorwurf machte, meine Hosen wären über den Stiefelrist nicht ausschweifend genug. Kurz, ich machte alle Teile des Rockes, aber ich machte kaum einen ganzen Rock.

Das Zuschneiden betrieb mein Meister nach Papiermustern. Solche, welche in Form von Ärmlingen, Hinter-, Vorderteilen usw. geschnitten waren, legte er auf den ausgebreiteten Stoff, erweiterte oder verengte sie je nach Umständen mit Hilfe des Maßfadens, zeichnete sie mit der Kreide nach und schnitt sodann aus dem Stoffe die Teile heraus. – Das ist sehr einfach und leicht, besonders für den, der's kann; mir jedoch hat einmal einer den Spaß gesagt, ich hätte das Aufschneiden fortweg besser verstanden als das Zuschneiden. Solche Späße kosten per Elle einen Pfennig.

Der Meister übte seine Kunst stets vor meinen Augen aus, doch sagte er einmal, und zwar schon im ersten Jahre: »Wenn der Meister zuschneidet, so hat der Lehrjung auf seine eigenen Finger zu schauen, die Gesellen pfuschen den Meistern ja noch früh genug ins Handwerk. Zuschneiden ist Meisters Sache.Mein Lehrmeister hat mir's auch nicht gezeigt.«

Trotzdem habe ich bisweilen ein wenig auf des Meisters Zuschneidemuster gelugt, aber nicht so sehr ihrer Form, als vielmehr ihres Inhaltes wegen; denn die Muster waren aus alten Zeitungen geschnitten, und noch heute erinnere ich mich deutlich an den Friedensschluß von Villafranca, der auf dem Schulterzwickel einer Weiberjoppe stand.

[251] So kam es auch, daß ich einmal mit meiner Nadelspitze nach einem Rockschößlingzuschnitt hindeutete und sagte: »Das ist ein schlechtes Muster.«

Der Meister blickte mich auf dieses Wort starr an. Ich wiederholte: »Das ist ein schlechtes Muster.«

Sagte endlich mein Meister: »Das wäre mir schon auch was Neues. Seit wann meistert der Lehrbub?« – Rasch unterbrach ich ihn: »Aber so schau der Meister doch, was da drauf steht! Die neue Gewerbefreiheit.«

Er starrte das Papier an.

»Du höllischer Wisch!« murmelte er endlich und machte sein schalkhaft-lustiges Gesicht dazu, »deswegen also strauben sich alle meine Rockschößeln auf, wie ein Ferkelschwanz! Weil von dieser vertrackten Gewerbefreiheit lauter Unglück kommt! Wart' du, mich foppst nimmer!«

Und das Muster war vernichtet.

Im zweiten Lehrjahre erzählte nur eines Nachmittags, da alle Leute des Hauses draußen auf dem Felde waren und die liebe Sonne ihre Fenstertafel auf unseren Arbeitstisch legte, mein Lehrmeister von seinem Lehrmeister, der zu jener Zeit längst heimgegangen war.

»So viel kann ich dir nicht sein, Peter,« sagte er, »als mein Lehrmeister mir gewesen ist. Mir und anderen wohl auch. Zu seiner Zeit hat die Kathreiner Pfarr' noch keinen angestellten Schulmeister gehabt; so hat mein Lehrmeister gesagt, wenn die Kinder alle Tag auf ein Stündlein zu ihm ins Stübel wollten kommen, er hätte beim Nähen wohl Zeit, daß er ihnen ein wenig Lesen, Schreiben und Rechnen beibringe, so viel er halt in seiner Einfalt selber verstünde. Da sind die Kinder von der [252] Nachbarschaft in unser Häusel zusammengekommen und mein Meister hat's allemal so eingerichtet, daß zur selben Stund' nichts zuzuschneiden und nichts zu bügeln gewesen ist, so daß er beim ruhigen Nähen sich mit den Kindern hat abgeben können. Ich sehe ihn heute noch, den Meister mit seinem weißen Haar, wie er dasitzt und nadelt und dabei die Kinder unterrichtet. Und wie nach der Schul' die Kleinen der Reihe nach zu ihm hingehen und ihm ihre kleinen Hände geben und sagen: Behüt' Euch Gott und vergelt's Euch Gott! – Ja, Peter, das ist sein ganzes Schulgeld gewesen und er hat kein anderes verlangt, hat sich selber noch schier bedankt bei den Kindern, daß sie so gern zu ihm gekommen sind und fleißig gelernt haben. Ich hab' mein Lesen und Schreiben auch von ihm. Er hat mir alles getan, was er hat können, hat mir alles gegeben, was er hat gehabt, hat mir alles gelernt, was er hat gewußt. Nur eins nicht. Das Zuschneiden hat er mir nicht gezeigt; das ist nicht der Brauch und man muß den Lehrling selber witzig werden lassen. Ich hab' mich auch nicht lang' besonnen, hab' mir gedacht: ein tüchtiger Handwerker will ich werden, und in meinem zweiten Lehrjahr hab' ich schon alle Muster von meinem Lehrmeister heimlich nachgeschnitten gehabt.«

Und schon an einem der nächsten Tage nach diesem Gespräche war es, daß mich mein Meister in jenem Hause bei einer vorgerichteten Arbeit allein ließ und auf eine andere Ster zog. Er nahm stets alles mit, was man zur Arbeit bedarf, diesmal aber vergaß er seine Muster, die er nach dem Zuschneiden auf das Winkelkastel gelegt hatte. Da lagen nun die Wertpapiere, auch unbeschnittene [253] Bogen darunter, und ich – als ich sah, wie ich mit ihnen allein war – nahm sie, legte sie auf dem Tische auseinander und begann – zu lesen, was auf dem Zeitungspapiere stand. Freilich waren gerade die interessantesten Sachen mitten durchgeschnitten, aber ein halber Satz war mir lieber als gar keiner und ich stückelte ihn aus Eigenem an. Wirklich fatal war mir das nur bei einem Attentate auf den König von Italien, dessen Ausgang ich auch inne geworden wäre, wenn man damals die Frauenmieder nicht so weit ausgeschnitten getragen hätte.

Kurz, ich benützte die Gelegenheit und als später mein Lehrmeister wieder kam und die Muster in etwas verkehrter Ordnung zusammengelegt fand, schmunzelte er ein wenig.

Als ich aber im dritten Lehrjahre in Abwesenheit des Meisters für den kleinen Almjackelbuben ein Beinkleid derart verschnitt, daß es der alte, halbblinde Almjackel selber unternahm, vor meinen Augen das Höslein wieder auseinanderzutrennen, mich aber damit zu entschuldigen, daß er sagte: »Gott dem Herrn geraten nicht alle Leute und dem Schneider nicht alle Hosen« – da stellte mich denn mein Meister etwas unwirsch darüber zur Rede.

So redete ich denn und sagte, das Zuschneiden, das verstünde ich nicht.

»Warum verstehst das Zuschneiden nicht? Hosenmachen habe ich schon in meinem ersten Lehrjahr können.«

»Aber der Meister hat mir ja das Zuschneiden nicht gezeigt.«

Jetzt stützte er seinen Ellbogen aufs Knie, schaute mich mit einem säuerlichen Lächeln an und versetzte: »Also, auf [254] das Zeigen wartest du? Armer Mensch, auf solche Art wirst du's nicht weit bringen.«

»Es ist halt eine harte Sach', das Zuschneiden,« meinte ich.

»Ja, leicht ist es nicht!« rief er. »Daß du's ohne Muster nicht zuweg bringst, kann ich mir denken.«

»Aber Muster, die habe ich nicht.«

Da sagte er: »Machst dir doch so gern mit Papier zu schaffen, warum hast du mir die Muster nicht nachgeschnitten?«

Auf diese Frage antwortete ich, daß ich keine Erlaubnis dazu gehabt hätte. Jetzt tat mein Meister einen schrillen Lacher. Nichts als einen Lacher, dann war er lange still. Er nadelte scharf, daß schier der Faden pfiff. Mir wurde unheimlich. Nach einer langen Weile hielt er mit großer Gelassenheit folgende Rede: »Ich habe meiner Tag' allerlei Lehrjungen gehabt, brave und unbrave, gescheite und andere – aber so – so ehrlich wie du, ist keiner gewesen. Der Riedelberger Zenz ist zur nachtschlafenden Stund' aufgestanden und hat mir die Kleidermuster heimlich nachgeschnitten. Der kleine Simmerl hat sie mir kurzweg gestohlen; und am gescheitesten hat's noch der Tonel getrieben, der ist mit meinen Mustern abgefahren und hat mir falsche dafür zurückgelassen, mit Fleiß verschnittene Muster, daß ich alles Gewand hätte verschneidern sollen und er meine Kunden bekommen hätte. So ein Spitzbub da! Aber was wirst machen? Jeder schaut, wie er obenauf kommt und gefreuen muß es mich doch, wenn einer, der bei mir gelernt hat, ein tüchtiger Meister wird. 's ist eine recht schöne Sach' um die Redlichkeit, Peter, aber gar viel Ehre werde[255] ich mit dir nicht aufheben, das sehe ich schon. Jetzt wartet er Woch' um Woch' auf das Freiwerden und hat seinem Lehrmeister noch kein Muster gestohlen.«

Sagte das, war zornrot im Gesichte und nadelte weiter.

Heilig habe ich mir zur selbigen Stunde vorgenommen; das Versäumte demnächst nachzuholen, aber der Meister gab nun die Muster nicht mehr aus der Hand und bewahrte sie mit Sorgfalt in seiner braunen Ledertasche.

Viele Jahre später war's, als ich in den Bergen mit meinem alten Lehrmeister einen Gedächtnistag beging. Es waren zwanzig Jahre verflossen, seitdem ich an jenem 5. Juli 1860 bei ihm in die Lehre eingestanden. Wir frischten mit gutem Naß allerlei Erinnerungen auf. Da gestand mir denn der Greis, er hätte mit mir manchesmal seine liebe Not gehabt, aber wahrhaft geärgert hätte ich ihn doch nur einmal, nämlich als ich ihm keine Muster gestohlen hatte.

Die Freisprechung und der ungarische Schneider
[256] Die Freisprechung und der ungarische Schneider.

Als die drei Lehrjahre um waren, sagte mein Meister zu mir: »Nächst' Erchtag wirst frei!«

»Was wird denn da sein?« fragte ich, mich erinnernd an die großen Veranstaltungen, Gebräuche und Feierlichkeiten, die sonst bei einer Freisprechung von Lehrlingen stattgefunden hatten. Ein neues Gewand, eine Prüfungsarbeit vor dem Richterstuhle der Innung, eine Predigt vom Lehrmeister, eine feierliche Erklärung und Aufnahme in den Gesellenverband, und Wirtshaus, viel Wirtshaus. Die Schneidergesellen haben ein großes Getue, wenn sie einen Neuen in ihre Mitte kriegen.

»Was wird denn da sein?« fragte ich, da der Tag nahte, ohne daß irgendwelche Anstalt getroffen wurde.

»Da wird gar nichts sein,« antwortete mein Lehrmeister. »Seit der Gewerbefreiheit ist das alles abgekommen. Heut' ist jeder Meister, der S teuer zahlt, hat er was gelernt oder nicht. Alldeswegen gibt's heut' Schuster und Schneider, daß es grad' schwanzelt. Wenn einer auch nichts machen kann, wenn er den Leuten nur's Maul machen kann. Der best' Schwatzer ist heut' der best' Handwerker. Wer den schon sehen, wohin das führt. – Was dich angeht, Peter, so braucht's nur, daß ich nächst Erchtag sag': die drei Jahr' sind aus – und du bist frei.

[257] Das Lehrstück schenk' ich dir, willst aber eins ablegen, so geh' heim und mach' deinem Vater eine neue Joppen. Wird froh sein. Willst extra noch was, so kannst nach Birkfeld hinabgehen und dir vom alten Innungsvorstand – ich weiß gar nicht, wer's jetzt ist – den Freibrief ausstellen lassen; brauchst sonst gar nichts, als meinen Namen und einen Gulden – den mußt du in die Lad' zahlen. Willst ein Freiessen anstellen, so werden dir die Birkfelder Schneider gern dabei helfen; sie können recht passabel Gesundheit trinken – zahlen mußt du. – Ja, mein Bub, ums Geld kann einer heut' alles haben. Zu meiner Zeit war's anders; da ist nur der Fleiß und die Tüchtigkeit was wert gewesen.«

Nach diesen Worten sah ich ihm ins Gesicht, ob in demselben nicht etwa Spuren wären von einem Seitenstoß, der mir gegolten hätte; denn über meine Tüchtigkeit im Handwerke hatte sich weder er, noch mein Gewissen bisher unumwunden ausgesprochen. Indes fuhr er fort:

»Daß dir jetzt das Loch in die Welt offen ist, das weißt. Nur um drei Wochen eher sagen in' mir's, wenn du dich fremd machen willst. Bleibst mir aber noch länger, so gefreut es mich und verhoff' ich, daß wir trutz der vielen Herren Schneider, die ins Land kommen sind jetzund, schon noch Arbeit haben werden, all'zwei. Bei mir hast die Wochen neunzig Kreuzer und kannst es mit der Zeit noch auf einen Gulden bringen. Wer mehr geben kann heutzutag, der zwickt's den Kunden ab. Ich tue, was recht ist.«

Und dieses Gespräch am Arbeitstisch war eigentlich die ganze Freisprechung. Des Meisters Wort hatte ich nun, aber den Gulden hatte ich nicht und so ließ ich den [258] Freibrief fahren. Wenn es in Birkfeld noch ein Schneiderinnungsamt gibt, so habe ich meinen Freibrief noch heute dort zugute. Ich möchte drum bitten.

Ich war freigesprochen, aber die Lehrjahre waren trotzdem für mich noch lange nicht aus. Ich hielt mich als fertig mit zwanzig Lebensjahren und ahnte nicht, wie unermeßlich viel ich in meinem Leben noch sollte lernen müssen.

Besiegelt wurde mein Eintritt in den Gesellenstand an einem der nächsten Sonntage im Wirtshause mit Wein und Braten, vom Meister feierlich vorgesetzt, für mich bezahlt und von mir verzehrt. An dem Abende desselben Tages auf meinem glückseligen Heimweg – denn glückselig war er in meinem Bewußtsein, daß an den Bauernhäusern, die am Wege standen, jetzt kein Schneiderlehrling vorbeiging, sondern ein »Gesell«, der mit anderen Gesellen offen du und du sein darf, und im Wirtshaus sitzen und Tabak rauchen und die Lehrbuben auslachen – auf diesem glückseligen Heimweg schlug sich der Schneider Steff zu mir. Das war ein junges, glattes Männlein mit einem blühweißen Gesicht und einem dunkeln Schnurrbärtchen, ein Freund der Bäuerinnen und ein Ärgernis der alten hausgesessenen Meister. Er hatte sich einige Zeit zuvor in unserer Gegend angesiedelt und in seinem schlechten Deutsch – er war ein Ungar – wußte er den Leuten die Vorzüglichkeit und Billigkeit seiner Arbeiten woltern klar und begreiflich zu machen. Das war der, den mein Lehrmeister mit dem »Schwatzer« gemeint und der uns letzt' Zeit aus dem Hintergrunde öfters das Leben versauert hatte. Der Steff rief mir jetzt einen so lustigen und kameradschaftlichen Gruß zu, als hätten wir seit Erschaffung [259] der Welt miteinander aus einer Schüssel gegessen. Und doch mußte er so gut als ich wissen, daß wir bisher Feinde gewesen waren, denn mein und jedes alten braven Meisters Glaubensbekenntnis mußte lauten: Ein Gott im Himmel und ein Schneidermeister auf Erden!

Ich wäre nun in den tausend Schneiderwerkstätten dieser Erde daheim gewesen, fühlte aber so heiß für die Sache meines Lehrmeisters, daß mich ein Schlag auf sein Geschäft und auf seine Ehre tödlich verwunden konnte. Er selbst war in dieser Sache viel gleichgültiger als ich und er sagte einmal: »Das Ärgern und das Prahlen hilft nichts. Brav und fleißig arbeiten. Die Leut' werden es schon einsehen.«

Der ungarische Schneider schlug mir seine Hand lustig auf die Achsel und beglückwünschte mich, daß ich die harte Lehrzeit hinter mir hätte und nun mein eigener Herr wäre. Hierauf riet er mir, von dieser Eigenschaft auch Gebrauch zu machen und – wie tüchtig mein Lehrmeister auch sein möge – doch zu versuchen, auch einem anderen etwas abzulernen. Ein junger Mensch dürfe nicht hocken bleiben und man lerne nie aus. Es sei auch nicht nötig, alsogleich in die Fremde zu laufen, es gebe auch daheim noch manch geschickten Mann, bei dem man sein Glück versuchen und sich vervollkommnen könne. Endlich lud er mich ein, daß ich bei ihm in Arbeit treten möge und versprach mir allerlei Vorteile und einen Gulden Wochenlohn.

Ich antwortete kurzweg: »Das tue ich nicht. Mein Lehrmeister hat die Plag' mit mir gehabt, so soll er jetzt einen braven Gesellen an mir haben.«

Schneider Steff setzte nun auseinander, wie die drei [260] Lehrjahre lang genug wären, daß ein Lehrmeister Plag' und Vorteil in denselben haben könne, und daß keiner seinen Lehrling freispreche, bevor er nicht zweifach für alle Mühe bezahlt wäre. Außerdem möge ich gelegentlich bei den Leuten auf dem Kirchplatz selber sehen, was für ein Unterschied sei zwischen seinen Hosen und denen meines Lehrmeisters. Er sei kein solcher, der etwa wegen Brotneids oder so was – aber das könne er dreist sagen, die Pantalons mache ihm keiner nach – keiner! mein Lehrmeister am wenigsten.

Das war mir genug. Ich hatte seitlings gar nichts zu tun, aber ich bog vom Wege ab. Ich fühlte mich sehr verletzt und bestrebte mich am nächsten Tage, meinem Lehrmeister doppelte Liebe angedeihen zu lassen, zur Entschädigung für das Feindselige, das über ihn gesagt worden war und von dem er zum Glücke nichts wußte.

Übrigens waren wir in diesen Tagen ein wenig pressiert. Wir arbeiteten auf der Ster beim Unterhefer und hätten gleichzeitig beim Stegbauer und beim Sprenzhofer arbeiten sollen. Dem Stegbauer hatte es der Meister schon an fünf Sonntagen auf dem Kirchweg versprochen: »Ja, du, 's ist wahr, du hast uns schon so viel lang nachgewartet, aber morgen – morgen kommen wir heilig; kannst dich verlassen.«

Und jedesmal war's heilig erlogen. Der Stegbauer wurde endlich ungeduldig und rief meinem Meister auf dem Kirchplatz und just vor dem Weihbrunnkessel zu: »Ihr verdankten Schneider! Ihr habt's mich gefoppt genug. Jetzt nehm' ich den Steff!«

Wir zwei werden vermutlich totenblaß geworden sein, und heute noch fühle ich es kalt über den Rücken laufen, [261] wenn ich an den Eindruck denke, den die Worte: »Jetzt nehm' ich den Steff!« in mir hervorgebracht hatten.

Mein Meister hatte dem Bauer nur noch entgegnet: »Wenn du meinst, daß dir der Krawat besser taugt! Nimm ihn. Ist mir ganz lieb.« Und halb betäubt waren wir vom Platz getorkelt.

Das Stegbauernhaus – seit Menschengedenken dem Natz getreu – war verloren. Hingegen der Spreitzhofer, ein guter Freund und Musikantenbruder vom Meister – mein Meister blies in der Kirche die Trompete, der Spreitzhofer das Flügelhorn – war ohne Mühe noch zu halten, wenn wir ihm die letzten Tage dieser Woche ins Haus kommen konnten.

So arbeiteten wir beim Unterhefer spät in die Nacht hinein und gingen erst um elf Uhr zu Bette. Da war's am Dienstagabend, wir hatten schon ausgelöscht und ich auf dem Stroh meinen Leib versucht, ob er nach einem sechzehnstündigen Gekrümmtsein doch etwa noch in die Grade und in die Länge ginge, als wir an der Haustür ein heftiges Gepolter hörten. Bevor man sich noch unter die Decke retten konnte, wurden auch schon Stimmen gehört: »Die Patrull ist da!«

Jetzt krochen wir hervor. Die »Patrull« hat für einen ehrlichen Menschen nichts Schreckliches, hingegen etwas sehr Beruhigendes, denn sie ist der Arm des Gesetzes. Anfangs ist sie bloß der Finger – und zwar der Zeigefinger. Da wird eines Tages dem Dorfrichter die Anzeige gemacht, es gebe allerlei Vagabunden und verdächtiges Gesindel in der Gegend. Eine Streifung und Säuberung tut not. – Die Mitglieder entlegener Landgemeinden sind ihre eigene Polizei und wenn ein Teil [262] ihrer Steuer »Sicherheitssteuer« heißt, so kommt der Name nicht etwa davon, daß der Staat durch diese Steuer die Sicherheit ihres Eigentums wahrt, sondern davon, daß sie versichert sein können: der Dieb kommt aus. Hingegen geht der Sicherheitswachmann hernach mit Nachdruck an die Verfolgung, er mißt die Dicke der Tür, durch welche eingebrochen worden ist, zählt die Sprossen der Leiter, über die der Dieb klettern mußte, untersucht das Stemmeisen, durch welches die Kästen gesprengt sind, läßt sich genau berichten, was entwendet, läßt auch schätzen, wie hoch sich das Entwendete im Wert beläuft – schreibt all das sauber auf einen Bogen Papier, zündet sich eine Zigarre an und trägt den Bogen Papier ins Bezirksamt, wo selbiger in das Fach der Diebstähle gelegt wird.

Jeder Staatsbürger tut daher gut, seine Sicherheitssteuer zu zahlen und darauf zu achten, daß ihm nichts gestohlen wird. Darum stand in einer Nacht der Dorfrichter von Hauenstein aus seinem Bette auf und untersuchte zuerst sein eigen Haus und Hof. Da fand sich außer einigen Unregelmäßigkeiten in den Liegerstätten des Gesindes nichts Verdächtiges vor. Dann ging der Richter zum Nachbar, weckte den auf: »Geh' mit, bettlerstreifen, 's tut not.« Sogleich wurde auch des Nachbars Haus durchsucht, dann gingen die zwei miteinander, klopften an jedem Hause: »Die Patrull ist da!« durchsuchten überall die Räume von oben bis unten und nahmen von jedem Hause für die weitere Streifung den Bauer und die Knechte mit. So wuchs die »Patrull« bald zu einem ansehnlichen Haufen und so hatte sie nun auch an das Tor des Unterhefers gepocht.

»Der Unterhefer ist nicht daheim, ist auf den Ochsenhandel [263] ausgegangen, und der Knecht liegt krank.« Diesen Bescheid rief mein Meister zum Fenster hinaus.

»Wer sagt's denn?« fragte der Dorfrichter.

»Der Schneider Natz.«

»So muß der Schneider Natz mit.«

»Mein Gesell' kann gehen, ich bin gar nimmer jung.«

»Der Gesell' muß auch mit.«

Es half uns nichts. Eine so seine warme Grube wir jeder in unserem Stroh uns gehöhlt hatten, wir mußten aufstehen und »streifen« gehen.

Im Unterheferhause fand sich nichts, nicht einmal der kranke Knecht Michel, der in der Scheune sein Bett hatte. Neben diesem Bette standen zwei große Medizinflaschen, worauf zu lesen: »Alle Stund' einen Eßlöffel voll.« Aber das Nest war leer und kalt, als hätte man seinen Inhaber schon hinausgetragen.

Ohne des Rätsels Lösung zu finden, zogen wir weiter zum nächsten Hause.

Hier fanden wir auf dem Heuboden eine Bettlerfamilie, deren Oberhaupt uns versicherte, daß es seit fünf und einem halben Jahre nichts mehr gestohlen habe. Die Leute wurden durch eine Abteilung der Patrull ins Gemeindehaus gebracht.

Beim Wallhofbauern sprang, als wir uns dem Hause näherten, ein Strolch aus dem Dachfenster, von dem der Wallhofbauer nicht wußte, wie er auf den Dachboden gekommen wäre.

»Den sperren wir nicht ein,« sagte der Dorfrichter.

»Warum nicht?« fragte ich entrüstet.

»Weil wir ihn nicht erwischen.«

Überall, wohin wir kamen, öffneten uns die Leute[264] Tür und Tor, und mancher Hausvater überantwortete uns den Gast, welchen er über Nacht unter sein Dach genommen hatte. Wer einen guten Paß hatte, durfte sich wieder auf die Haut legen.

Manch anderer jedoch war sehr erstaunt über das zur nächtlichen Weile so plötzlich hereinbrechende Strafgericht. Einer von diesen sagte: »Saggra, ihr seid's ärger als wie unsereiner. Wenn ich mir bei der Nacht in einem Hause schon was nehmen will, so geb' ich Achting, daß ich die Leut' nicht aus dem Schlaf schreck' – weil das nicht gesund ist. Und ihr da, ihr fallt's gleich über den nachtschlafenden Menschen her, schreit's ihm ins Ohr, daß er die Fraiß kunnt kriegen, nehmt's den ganzen Kerl mit und fragt's nicht, ob er euch gehört. Das ist eine Gewalttätigkeit, meine Herren, gegen die ich mich sehr verwarne!«

Der Schmiedmeister von Hauenstein war unter uns, der erschrak, als er diese Stimme hörte, die bekannte Stimme. Einen ehemaligen Gesellen von ihm als Vagabunden zu finden!

In einem anderen Hause, in einem Bette der Futterkammer, an dessen Wand zu Häupten der süße Name Maria stand, fanden wir – den kranken Knecht Michel vom Unterhefer.

»Michel!« rief der Dorfrichter, »du versäumst das Einnehmen. Alle Stund' einen Eßlöffel voll!«

Der im Zustande üppigster Gesundheit so schmachvoll ertappte Kranke sprang mit einem Fluch aus dem Bett und davon. Der Richter hielt die Laterne über das Bett und sagte zu einem großen Knäuel, welcher unter der Decke lag: »Jetzt hast auch du ein' Fried.«

Als wir unser »Patrull ist da!« vor dem Spreitzhoferhause [265] riefen und der Bauer zum Fenster auf uns heraussah, wollte er nicht ausmachen.

»Mußt was Verdächtiges haben in deinem Haus!« bemerkte der Richter.

»Gewiß nicht. Von was Verdächtigem ist bei nur keine Red', darauf könnt's euch verlassen.«

»So kannst uns um so leichter hineinlassen. Jedem wird heut' das Haus durchsucht.«

»Ich bin der Spreitzhofer, und wenn ich sag', in meinem Haus gibt's nichts Verdächtiges, so wird's auch so sein. Ich bin ein ehrlicher Bauer und aussuchen laß ich mich nicht.«

»Wie kommst mir denn vor, Spreitzhofer?« sagte der Richter, »bist sonst in so Sachen ja nicht selberhörig. Wirst es doch nicht drauf ankommen lassen, daß wir die Tür aufbrechen.«

Da öffnete der Mann. Als wir ins Haus traten und er in der Dunkelheit den Tisch noch abgeräumt hatte, reichte ihm mein Meister die Hand: »Daß du mir ja nicht bös wirst, Spreitzhofer, aber es ist uns bisher frisch nicht möglich gewesen. Beim Unterhefermüssen wir fertig machen, voreh. Aber wir kommen dir noch in dieser Woche, die letzten Tage. Aber schon ganz gewiß!«

Der Bauer murmelte was und ging mit uns, die Stuben, Gelasse und Gemächer seines Hauses aufzusperren. Überall alles in Ordnung. Auf der Rückkehr sagte der Richter: »Da ist auch noch eine Tür, die hast uns nicht ausgemacht.«

»Hab' den Schlüssel nicht bei der Hand,« antwortete der Spreitzhofer.

»So hol' ihn, wir warten ja gern.«

[266] »Haben ihm den Bart gebrochen, ist jetzt beim Schmied.«

»Bei mir hast keinen Schlüssel,« redete der Schmied drein. Jetzt bemerkte der Bauer, der bisher sein Auge immer auf mich und meinen Meister geheftet hatte, erst die Gegenwart des Schmiedes.

»Ja, ja, ja,« knurrte er, »mußt nit glauben, du wärst der einzige Schmied auf der Welt.«

»Teremtete! Draußen wos is für verdammtér Lärm!« rief innerhalb der geschlossenen Tür plötzlich eine Stimme. Die Männer blickten sich an. Mein Meister erblaßte, und ich wußte warum.

Der Spreitzhofer machte jetzt die Tür auf, und was sahen wir?

Den ungarischen Schneider in der Unterhose.

»Meister Steffan!« rief der Richter. »Aber Bauer, wesweg hast denn mit diesem braven Mann so heimlich getan?«

»Dumm genug,« sagte der Spreitzhofer mit einem ärgerlichen Seitenblick auf uns. »Aber man muß den Brotneid kennen.«

Jetzt trat mein Meister zum Bauer und fragte mit leiser, aber doch sehr nachdrücklicher Stimme: »Wie meinst du das, Spreitzhofer? Wenn es meinetwegen ist, und du glaubst, daß du mich beleidigen wirst, weil du mich auf die Ster gebeten und einen andern genommen hast, so irrst du dich. Ist mir allemal eine Ehr' gewesen in deinem Haus, aber drauf anstehn tu' ich nicht. Du kannst dir Schneider nehmen, welchen du willst, und wenn du einen hast, den du der Patrull verheimlichen zu müssen glaubst, so geht das einen andern nichts an.«

[267] Als ich diese herrlichen Worte des Meisters hörte, ging ein Wonnegefühl durch mein Herz. Der verhaßte Nebenbuhler einerseits und der abtrünnige Bauer anderseits hatten das ihre.

Hierauf graute der Morgen und die Patrull zerstreute sich. Wir gingen zum Niederhefer zurück. Am nächsten Abend, zwischen der Lichten, besuchte ich den kranken Knecht Michel in der Scheune. Er war wohl noch etwas blaß und erschöpft, aber Rekonvaleszent. Er schien keine Ahnung zu haben, daß ich von der nächtlichen Streifung etwas wisse. Als ich ihn fragte, wie er die Nächte zubringe, antwortete er, mißmutig die Achsel zuckend: »Schlaflos, schlaflos.«

Das Lehrstück
[268] Das Lehrstück.

Den Bauer auf der breiten Eben hatten wir bloß um vierzehn Tage belogen. Wir hatten ihm unser Kommen für den »nächsten Montag« zugesagt, und zwei Wochen später stiegen wir wirklich über seine Schwelle.

Wir hörten schon von Büchsenschußweite aus dem Hause ein dumpfes Pochen, und als wir eintraten, sahen wir das Unheil. Im Stubenwinkel, wo sonst der Tisch gestanden und wir stets unsere Werkstatt aufgeschlagen hatten, war ein schreckbar großer Schragen, ein Gerüste mit vielen Stäben und Balken ausgerichtet, und in diesen Schragen unter allerlei Gefädel und Geschleier hatte sich ein Weber eingesponnen. Der alte Weber Schoffel.

»Wenn's so ist, Bauer, haben wir bei dir keinen Platz,« sagte der Meister. Der Bauer von der breiten Eben war höllisch verlegen und stotterte, wir hätten ihn halt überrumpelt; wer hätte denken können, daß die Schneider nicht länger »zugäben«, er hätt' auf vier Wochen mindestens gerechnet, weil wir ihn sonst auch allemal so lang' hätten sitzen lassen.

»Ist auch recht,« sagte der Meister, »so gehen wir halt wieder.«

»Ja, das wär' 's Wahre!« rief der Bauer, »da kunnt' ich nachher Jahr und Tag warten und der Schulbub geht in seinem Gewand eh' schon wie ein zerrissener Pudel um. Ihr bleibt sein da; den Tisch rucken wir zum [269] anderen Fenster und so werden Schneider und Weber in meiner Stuben nit zu eng haben. Ja, bitt' Euch gar schön, Schneider.«

Der Weber Schoffel hatte mit seinem Geknarre nicht einen Augenblick eingehalten und man sah ihm's wohl an, daß er nicht gewillt war, seine Herrschaft in der Stube aufzugeben.

Der Weber Schoffel, das war ein Saurer. Bei einem Handwerk aber, wo sich alleweil was knüpft, spannt, verwirrt und zerreißt, kann kein Menschenblut süß bleiben. Der Mann kaute fortweg an gedörrten Feigen, angeblich für die Brust, in Wahrheit jedenfalls, um sich das Leben ein wenig zu versüßen.

Kaum wir uns auf dem angewiesenen Platze einzurichten trachteten und der Meister unter dem Krachen des Webstuhles noch sagte: »Na, gesegne es Gott unseren Ohren!« – traten zur Tür zwei Schuster herein. Es war der alte Leitner aus dem Fischböckgraben, unter dem Spitznamen »der scheltend' Schuster« bekannt, und sein Geselle.

Das war derselbig' scheltend' Schuster, der einmal solchergestalt in den Kirchbann getan worden sein soll, daß er für jeden Fluch, den er ausstieß, für kirchliche Zwecke einen Sechser opfern mußte, und der auf diese Weise einen Weihbrunnkessel für die Fischbacher Kirche zusammengeflucht hatte. Nun er alt wurde und ihm seine Mittel diese Passion nicht mehr zu erlauben schienen, beschied er sich mit Knurren und Zähneknirschen, und das tat er denn auch weidlich, als er jetzt in die Stube trat und in derselben in der einen Ecke den Weber und in der anderen die Schneider sah.

[270] Als sich's aufklärte, wieso auch die Schuster gekommen, waren wir Schneider gerechtfertigt. Wenn uns der Bauer auf der breiten Eben den Vorwurf gemacht hatte, daß wir diesmal zu wenig lang' gelogen, so mußte er an den Schustern erfahren, daß sie gar nicht gelogen. Sie waren am Tag zuvor, als am Sonntag, gebeten worden, sie hatten zugesagt auf »morgen« und der Bauer glaubte nach vielfachen Erfahrungen dieses »morgen« getrost auf drei Wochen hinaus verlegen zu können.

Leder, Garn, Sauborsten und Schmer waren allerdings in Bereitschaft, aber der Raum und der Essensvorrat für drei Landplagen auf einmal?! – Die Bäuerin war keines Wortes mächtig; der Bauer aber behielt seinen Kopf und sagte mit fester Entschlossenheit: »Was stellen wir jetzt an?«

Vom Weber traf ihn ein giftiger, vom Schuster Leitner ein wütender, von meinem Meister ein wehmütiger Blick. Da tat sich der Schustergeselle hervor, ein junger Bursch mit schusterblassem Gesicht, aber dunkeln frischen Augen und einem schwarzen Schnurrbart. Er warf gleich sein Zeugtrühlein, das er über der Achsel vorn, und seinen Leistenknäuel, den er über der Achsel hinten getragen, auf den Boden hin, daß es knatterte, sogar den Weber überknatterte, warf seine Mütze und seinen Rock von sich, streifte die Hemdärmel auf und sagte: »Schneider und Weber kümmern uns nit. Diese alte Kristen (ungefüg's Möbelstück) muß hinaus!« und legte seine Hand an das Ehebett der Bauernleute. Man stimmte bei und nach wenigen Minuten war es entschieden, wo für die nächste Zeit das ehrsame Ehepaar schlafen würde: draußen im Vorhause, unter den Stangen, wo die Hühner ihren [271] Aufsitz haben. Und in der Stube, wo das Bett gestanden, schlugen die Schuster ihre Werkstatt auf. Sie dehnten aber ihre Botmäßigkeit weiter aus. An den Webstuhlbalken spannten sie die gegerbte Kuhhaut aus, um sie zu schwärzen; an der Wand just über meinem Haupte schlugen sie den Haken ein, an welchem der schöne Schustergeselle mit Pech und Handfleck den Garndraht zog, daß es nur so dröhnte und die ganze Wand erzitterte mitsamt den Schneidern, die daran saßen.

Wir wurden miteinander bald gut Freund, nur der Weber blieb eingesponnen und kam bloß hervorgekrochen, wenn einmal das Schiffchen dem Garn entlief und hinausflog in die Stube.

So ging's nun an, der Webstuhl knarrte, die Schuster pochten und hämmerten, wir Schneider bügelten, das Haus ächzte, und dem Bauer auf der breiten Eben sollen zur selben Zeit alle Ratten und Mäuse ausgewandert und seither nicht wieder zurückgekehrt sein.

Die Mahlzeit bewies, daß der Hof auf der breiten Eben einem dreifachen Angriff gerüstet war; sie wurde an unserem Schneidertisch eingenommen. Der Weber hatte seinen Durchziehfaden mit zum Tisch gezogen, so daß es spielte, als ob ein knurrender Kettenhund zum Troge gehe. Er schluckte fürs erste die gedörrte Feige hinab, alsogleich war sein Angesicht noch bitterer. Als die Knödeln kamen, betupfte er den seinen auf dem Teller mehrmals mit der Gabel und sagte dann zu der mit dem Fleischtopf erscheinenden Hausfrau:

»Du, gelt, Bäuerin, den Taufschein hast nit zuweg vom Knödel da?«

[272] »Wie meint das der Meister?« fragte das Weib bescheidentlich.

»Das Geburtsjahr von ihm tät' ich gern wissen,« antwortete der Weber mit sanftmütiger Stimme. Die Hausfrau sprang in die Küche und war trostlos. Da beugte sich aber der schöne Schustergeselle vor und sagte: »Weber, das ist ein alter Spaß, sicherlich viel älter als diese Klöße da, die sind gar nit so schlecht, daß man deswegen die Bäuerin kränken sollt. Daheim in deiner Keuschen wärst froh, Weber, wenn du solche Knödeln hättest, wolltest nach keinem Geburtsjahr fragen, das weiß ich.«

Der alte Schoffel hatte für diese kecke Rede des Schustergesellen nichts, als einen Blick der Verachtung, es war der letzte, den er auf den Burschen warf. Um so freundlicher sah ich den schönen Schuster an, er hatte mein Wort gesprochen; auch ich verteidigte die Klöße, und zwar am nachdrücklichsten dadurch, daß ich ihrer drei Stück verzehrte. Beim dritten schaute mir mein Meister schon ein wenig scharf auf den Teller; die Leute müßten rein glauben, ich hätt' seit einer Woche nichts mehr gegessen.

Das Schwierigste kam erst gegen Abend. Die Bäuerin wagte sich nicht mehr in die Stube; der Bauer trat herein, ließ hinter sich aber die Tür offen, um im Falle es zur Flucht käme, ungehinderten Ausweg zu haben. Darauf teilte er mit, daß im Hause nur ein einziges Handwerkerbett sei, in welchem nicht mehr als zwei Mann Platz hätten.

In dem Augenblick blieb der Webstuhl stehen, die Schuster hörten auf, das Leder zu hämmern und uns Schneidern erlahmte der Arm.

»Ich nicht, ich,« knurrte der Weber, »daß ich der Narr [273] sein werde. Ich bin der erste im Haus gewesen, ich forder' meine Liegerstatt.« Und schob eine frische Feige in den Mund.

»Ich bin nit heikel,« sagte mein Meister, »bin leicht mit was zufrieden, aber ein gutes reines Bett geht mir über alles.«

Der alte Schuster Leitner hieb jetzt mit doppelter Gewalt auf die Stiersohle und knirschte: »Das ist ganz höllisch in dem Haus.«

Jetzt tat der schöne Schustergeselle den Mund auf – er hatte milchweiße Zähne – und sagte: »Es bleibt nichts anderes übrig, wir müssen Sauborsten ziehen. Unser sind drei Parteien; brauchen zwei kurze und eine lange; die lange hat das Bett.«

Was geschah? Er nahm drei schweinerne Nadeln zwischen die Finger – ich zog für uns Schneider – und zog die lange.

»Soll ich alter Mann etwa unter dem Webstuhl schlafen?« fragte der Weber und kaute mit Macht.

»Gar nit, gar uit,« besänftigte der Bauer, »wer im Bett nit Platz haben sollt, für den hätten wir schon ein frisches Stroh draußen im Geschoß; liegen Sommerszeit auch die Dienstleute im Nebengeschoß, ist ihnen lieber, sagen sie, als wie in der dunstigen Stuhen. Ist eh' wahr auch.«

»Ist mir auch noch nit vorkommen,« brummte der Schuster Leitner, »daß die Lehrbuben im Bett liegen und die Meister auf dem Stroh.«

Darauf sagte mein Meister: »Mein Peter da, das ist kein Lehrbub mehr, im vorigen Monat hab' ich ihn freigesagt.«

[274] »Hab' nichts gehört davon,« versetzte der Schuster, dann stand er auf und sagte: »Ist er bei der Innung gewest? He? Hat er in die Lad gezahlt? Haben ihm Meister und Gesellen ein Willkomm gebracht? Hat er getrunken mit bedeckter Schulter und unbedecktem Haupt, mit stehendem Fuß ohne Zucken und Rücken, ohne Bartwischen? Hat noch gar keinen, der Lecker. Weiß er den Gesellenspruch, als: seid züchtig vor Vater und Mutter, vor Schwester und Bruder, wo Ihr gehet und stehet, und in dem Meisterhaus. Kömmt keine Klag', so ist keine Straf', das Gebot ist aus. – Weiß er das? Hat er ein Lehrstuck gemacht? He?«

Auf das verteidigte mich mein Meister: »Wirst wohl wissen, Nachbar, daß seit der Freiheit der alte Brauch nit mehr not ist. Der Peter hat nit getrunken, aber das Lehrstuck hat er gemacht. Seinem Vater eine neue Joppen mit grünen Aufschlägen und Schößeln – ist genug für einen dreijährigen Lehrbuben.«

»Dem Lenz seine neue Schößeljoppen?« rief der Schuster und tat einen lauten Lacher. Mir ging der Lacher tief ins Mark, denn ich war mir wohl bewußt, woran die Joppen litt.

»Ich brauch' kein Bett,« sagte ich, »lieg' auf dem Stroh!«

Mein Meister rief scharf gegen den Schuster hin: »über meinen Gesellen seine Arbeit hat niemand zu lachen.«

»Ja wohl gewiß nit,« war die Antwort, »und er selber am wenigsten. Das ist ein Lugendichter und Leutausrichter!«

»Ich lieg' auf dem Stroh!« rief ich.

[275] »Beweis' was, Schuster Leitner,« forderte ihn mein Meister auf.

»Oh, recht gern. Hat er's nit ausg'sprengt, der Lump, daß ich, der ehrliche Schuhmachermeister, den neuen Weihbrunnkessel in der Fischbacher Kirchen zusammengescholten hätt'!«

»Ich schlaf' auf dem Stroh!« schrie ich laut.

Der Schuster hieb schreckbar wild auf das Leder ein. –

Bald darauf kam die Dämmerung, wir schlossen das Tagwerk, und ich ging hinaus unter die Bäume. Ich sah die lustigen Burschen und die heiteren Mädchen vom Felde heimkehren, da vergaß ich bald auf die Kränkung, die wir uns angetan hatten. Und nun fügte sich's, daß mich eine halbe Stunde später der Schuster Leitner beim Rockkragen in die Stube führte.

»Da, da hast ihn!« knurrte er und schob mich vor meinen Meister hin, »jetzt hab' ich ihn einmal erwischt dabei, da draußen im Schachen – deinen sauberen Gesellen.«

»Was hat er denn angestellt?« fragte mein Meister.

»Frag' ihn nur selber, untersuch' ihn, wirst es schon finden! Wirst es schon finden!«

»Ich mach' ja kein Geheimnis daraus,« sagte ich und übergab meinem Meister ein Notizbüchlein, »da hab' ich was hineingeschrieben.«

»Gegen den Schustermeister?« fragte mich der Meister.

»Gegen den nichts, und Schlechtes ist's auch nichts,« sagte ich, »mir ist's nur so eingefallen und ich hab's nicht bei der Arbeit gemacht. Wenn's dem Meister nicht recht sein sollt', so kann ich's für ein andermal ja lassen.«

[276] »Ich verlang', daß du mir's vorliest!« befahl mein Meister.

»Ich nicht, ich les' das nicht,« rief ich, »wenn's der Meister selber lesen will.«

»Mir ist's schon zu finster. Hat einer gute Augen?«

War der schöne Schustergesell' da, er hätt' gute Augen.

»So lies das Zeug vor,« sagte mein Meister, »will ich doch wissen, was mir der Bub hinter meinem Rucken zu kritzeln hat. – Halt, Peter, nichts davongeschlichen jetzt, du bleibst da!«

Der schöne Schuster legte seine Finger an ein schlecht geschriebenes Wort und fragte mich: »Was soll das heißen?«

»Das muß Höll' heißen,« antwortete ich mit Fassung.

»Von der Höll' ist's was,« murmelte der Weber, »nachher kann's nit viel Gottloses sein.«

»Na, fang' an!« brummte der Schuster Leitner; sein Geselle tat einen erzwungenen Huster und begann:


Ih bin jüngst verwichn

Hin zan Pfora gschlichn:

»Därf ih's Dirndl liabn?«

»Untasteh dih nit, ba meiner Seel,

Wan du's Dirndl liabst, so kumst in d' Höll'.«


»Ist recht brav das, recht brav!« machte der Weber und wendete seine Feige. Der Schuster fuhr fort:

Bin ih vul Valonga

Zu da Muada gonga:

»Därf ih's Dirndl liabn?«

»Oh mei Kind,« sagt sie, »es is noh zfrua,

Dirndl gernhobn, loß da Zeit dazua.«


[277]

War in großn Nötn,

Hon ihn Vodan betn:

»Därf ih's Dirndl liabn?«

»Duners Schlangl?« schreit er in sein Zurn.

»Willst mein Steckn kostn, konst es tuan.«


Wos is onzufonga?

Bin zan Herrgott gonga:

»Därf ih's Dirndl liabn?«

»Ei jo freili«, sogt er und hot glocht,

»Wegn an Büaberl hon ih's Dirndl gmocht.«


Der schöne Schuster hatte zu Ende gelesen, alles schwieg und sie lugten ganz wunderlich drein und blinzelten; aber mein Meister sagte nach einer Weile zu mir: »Wo hast denn du das her?«

»Das hab' ich gar nirgends her,« antwortete ich, »das hab' ich mir nur so zusamm' denkt.«

»O du Lump du!« riefen sie jetzt aus, »was das für ein Spitzbub ist, ein heimlicher! Man sieht ihm's gar nit an.«

Mein Meister nahm mich beiseite und sagte: »Peter, da muß ich schon ein ernstes Wort mit dir reden. Ich hab's nit gern, wenn du so lüderliche Gsangeln schreibst. So was wird gleich weitergetragen und auf Ja und Nein weiß der Pfarrer davon. Deswegen, ich sag' dir's in Güten: reiß das Blattl heraus und verbrenn's, aber« – setzte er leiser hinzu, »abschreiben laß mir's früher.«

Der schöne Schuster machte hierauf folgenden Vorschlag: »Die Meister sollen im Bett schlafen, so gehört sich's; haben schon Platz, alldrei, ist keiner gar groß. Ich und der jung' Schneider gehen aufs Stroh.«

Und so wurde es.

[278] Aufs Stroh schien durch eine Dachluke der Mond herein, den ruf' ich zum Zeugen. Im Augenblick, wo ich just einschlafen will, legt mein schöner Schustergesell' die Hand auf mich herüber und sagt: »Liegst gut?«

»Ja,« sag' ich, »liegst du auch gut?«

»Das schon,« sagt er, »aber schlafen kann ich nit. Weißt, ich muß alleweil dran denken.«

»An was mußt denken, Schuster?«

»Schneider,« sagt er, »du bist ein höllisch gescheiter Mensch.«

»Wenn du hänseln willst, Schuster, so geh' auf ein anderes Stroh, ich will schlafen.«

Da springt er empor und gerade auf mich her und sagt: »Du, Schneider, wenn du glaubst, daß es Schimpf ist, was ich dir gesagt hab', so bist ein Esel! Geh' her und schau um und nenn' mir einen, der so ein Gedichtetes zuweg bringt! Mußt nit bös' sein, Schneider, ich versteh' in deinem Handwerk nit viel, aber nach dem, wie ich deinem Vater seine neue Joppen betracht', kann ich dir sagen: Schneider wirst du keiner zum besten. Dein Liedl – wenn du willst, ich sing's gleich – dein Liedl, das ist ein Lehrstück! Du, denk' drauf, da beim Bauer auf der breiten Eben im Haferstroh hat's dir ein Schuster gesagt: Du bleibst nit Schneider. Du kommst in die Stadt und wirst was; du wirst ein Buchbinder! Paß auf, du wirst noch ein Buchbinder!«

»Hat dir denn mein Gedichtet's so gut gefallen?« frag' ich.

»Sag' dir nur soviel: den Ausgang davon schreib' ich der Meinigen. Der greift an. Wirst ihn gewiß auch der Deinigen schicken.«

[279] »Hab' mir noch keine ausgesucht.«

»Hast keine!« ruft er, »und wegen was schreibst nachher so Sachen auf?«

»Weil sie mir grad' einfallen, und jetzt laß mich schlafen.«

Der schöne Schustergeselle sagte nichts mehr weiter, stand aber leise auf und schlich davon. – Am nächsten Morgen, als durch die Dachluke der glutrote Sonnenstrahl hereinfiel, lag mein Schuster mit nassen Stiefeln im Stroh. Ich weckte ihn mit Mühe und fragte, wo er in der Nacht gewesen sei?

Er rieb die Augen, kraute sich die Strohsplitterchen vom Haar und sagte: »Ei ja so, das meinst. Na, weißt, dein Gedichtet's hab' ich probiert.«

»Ist's was nutz?«

»Für ein Lehrstück passiert's.«

Ich suchte und wußte nicht was
[280] Ich suchte und wußte nicht was.

Ich war innerlich sehr unstet geworden. Die wenigen freien Tage, die ein Handwerker hat – ich wußte kaum, wie ich sie verleben sollte, daß etwas in mir zur Befriedigung kam.

Ich sing nun an, ins Hochgebirge hinaufzusteigen, um von oben in die Welt hinauszuschauen. Dabei sind mir mitunter Abenteuerchen zugestoßen, wovon ich auch einige erzählen muß, weil sie in meine Lehrjahre gehören.

Einmal stieg ich dem Hochschwab zu, dem höchsten Berge, der im Gau steht.

Als ich von der ersten Höhe niederschaute in das Tal, wo auf Feld und Straßen winzige Menschlein mit ihren Haustieren krabbelten, fiel mir das Wort eines Sonderlings ein: »Der Laster (die Menge) Ungeziefer auf der Weltkugel! Wie mit den Insekten, es ist kein Austilgen, je kleiner sie sind. Der ganze Planet ist zernagt über und über.«

In Thörl bei Aflenz trank ich ein Schöppel, dann geriet ich ins Gestein. Ich kam zum hintersten Dorfe, auf welches die Alpenwildnis niederschaut, starr und finster, als wäre sie mit unsereinem nicht gut Freund. Die Kirche dieses Dörfchens ist ganz im Sinne des Waldlebens gedacht; es wohnen darin der heilige Jäger Eustachus und der heilige Hirschkuhmann Ägidius. Die drei Kronleuchter, welche vom Emporium niederhängen, sind [281] aus Hirschgeweihen zusammengesetzt. Was wird das in dieser Kirche bei den Wildschützen für eine Andacht sein!

Hinter dem Dorfe kniete ein Knab' am Wege, mit bittenden Händen eine Gabe heischend. Leutselige Wanderer müssen ihm schon manchen Heller in den Hut geworfen haben, denn er bat ziemlich dreist. Aber ich habe feindseligen Gemütes dem lieben Kleinen die Freude nicht machen mögen.

»Was? Ein so frischer, hübscher Bursche und betteln?!« sagte ich. Das Wort war keck für einen Handwerksburschen.

Sogleich war der Knabe auf den Füßen und blickte munter drein.

»So, Kleiner, und jetzt wollen wir Freund sein. Du bist so gut und sagst mir, ob da weiter drin in den Felsen auch noch ein Haus steht?«

»Ja!« Und mit flinker Hand strich er sich die lichten Locken aus der Stirne. »Ganz drin ist eins, sie haben gestern unser Kalb hineingetrieben.«

»Gut, Bub, nun hast du dir was verdient.«

Ich gab ihm den Kreuzer. Mit Befremden sah er drein; jetzt hatte er gar nicht gebettelt und wußte kaum, war die Gabe für das hinterste Haus oder für das Kalb.

Der Weg zieht zwischen den Wänden. Das schmale Tal mit den Wiesen und den verkümmerten Bäumen ist so eben, daß der Bach auf weißem Kalkgrunde kaum hörbar rieselt. Der glatte, feinsandige Weg ist so sauber, wie in einem Parke. Hie und da eine wilde Schutthalde läßt den Jähzorn spüren, mit dem solche Gebirge behaftet sind. Selten geschieht's, aber wenn dieser Zorn losbricht, dann gnade Gott dem Tale!

[282] Links ruhen die noch ziemlich zahmen Ausläufer der Meßnerin, rechts das Zerbeneck und der zerhackte Reidelstein. Im Hintergrunde, grau vor dem Schatten des Abends, ragt wie eine Stütze des Himmels das Gewände des Hochschwab. Seine Häupter, er hat deren sieben, wie das Ungeheuer in der Offenbarung Johannes, sind in Wolken gehüllt. – Dort oben zu ruhen am höchsten Fels, umwallt von zwiefachem Schleier der Nacht und des Nebels zu träumen – und träumend Jakobsleitern zu bauen!

Doch, so ist's zumeist: wo Seele und Körper uneins sind, dort behält letzterer Recht. Im Meierhofe, welcher den Herren des Stiftes Lambrecht gehört, aß ich, ruhte ich die kürzeste Nacht des Jahres. Im Morgenrote führte der Steig zu den wilden Herrlichkeiten der Trawiesen hinan. Im Tale noch Dunkelheit, hoch oben Alpenglühen. In allem, was wir ersinnen und ersehen: hoch über unseren Wegen lodert das Licht – wir haben kaum den Widerschein. Der moderne Drang der Menschen, hohe Berge zu erklimmen, vielleicht hängt er mit der neuerwachten Sehnsucht nach Licht und Hoheit zusammen.

Bin doch ein rechter Träumer gewesen, und mit solchen Morgengedanken hätte ich mich an diesem Tage gewiß in den lebensgefährlichsten Unsinn verstiegen – da war's meine alte, kleine Sackuhr – sie ist nicht fünf Gulden wert –, die mich wieder auf irdischen Boden rief.

Als sie mir die vierte Stunde wies und ich sie veranlassen wollte, auf weitere vierundzwanzig Stunden ihren Dienst zu tun, da ergab es sich, daß ich keinen Uhrschlüssel im Sacke hatte.

Zwei Stunden wird sie's noch treiben, dann geht der Termin aus. Und ohne Uhr im Gebirge wandern, auf[283] fremden Wegen, in eingefallenem Nebel keine Zeit kennen? Unratsam. Wie ist einer Sackuhr die nötige Spannung beizubringen?

Am Waldrande schritt ein hinkender, abgezehrter Mann dahin. Er wich mir aus. Ich eilte auf ihn zu und rief: »He, habt Ihr eine Uhr?«

Er erschrak.

»So um vieri herum wird's sein,« war die Antwort.

»Nicht um die Zeit, sondern um die Uhr frage ich, weil –«

Er wollte fliehen, da verließen ihn die Füße, er hob die Arme und gurgelte: »Nur nit zur Halbscheid', um Gottes willen! lieber gleich ganz umbringen.«

Als ich sah, daß mich der Alte für einen Raubmörder hielt, erschrak ich selber und eilte weiter.

Bald darauf entdeckte ich die Holzknechthütte des Sackwaldes. Die Leute kochten ihr Frühstück, schärften Beile und Sägen und rüsteten sich zur Arbeit. Auch zu diesen zog's ihn hin, der heute ausging, die Menschen zu meiden. Fürs erste erzählte ich ihnen das kleine Abenteuer mit dem Alten. Die Männer lachten und sagten: der Geizhals! er hätte zusammengelegtes Silbergeld, fürchte sich stets vor dem Beraubtwerden und traue niemandem.

In Sachen meiner Angelegenheit kam nun jeder mit seinem »Knödel«, wie sie die Taschenuhren nannten, und stellte mir den daran hängenden Uhrschlüssel zur Verfügung. Die meisten viel zu groß, ein paar zu klein – und passend keiner.

Gerade wollte ein Braunbart sein Zeug wieder in die Tasche stecken, als ihm ein junges Blaßgesicht über die Achsel glotzte und die Frage gab: »Was hast denn du für eine Uhr?«

[284] Nach einer Pause entgegnete der andere: »Geht's wen was an?«

»Ja!« rief das Blaßgesicht, »mich geht's was an. Das ist dieselbig' Uhr, die ich vor Wochen der Waberl hab' gegeben.«

»Der Zirmwaberl?«

»Ja, der Zirmwaberl. Hast ihr's leicht abgeschwatzt?! – Her damit!«

Wilden Griffes riß er dem anderen die Uhr aus dem Sacke, und mit einem Fluche schleuderte er sie in die Herdglut.

Eine Sekunde lang stand der Braunbart da, starr wie ein Baumstamm, dann warf er sich auf das Blaßgesicht. Zwischen beiden begann ein Ringen, fest aneinander geklemmt fuhren sie in der Hütte herum, prallten an Wand und Pfosten; einen Moment bekam das Blaßgesicht seine Hand frei, um nach seinem Messer zu haschen. Die übrigen Männer hatten anfangs den Ringenden zugejohlt; jetzt erhob sich ein Gemurmel, welches von dem Poltern und Schnaufen der Streitenden übertönt wurde. Als der Braunbart in der Hand seines Gegners das Messer sah, übte er einen Stoß, und das Blaßgesicht taumelte zur Uhr auf das Herdfeuer hin, daß die Funken stoben.

»Gefehlt wär's! Das wär' gefehlt!« riefen nun die anderen und warfen sich zwischen die Kämpfenden. Nach vieler Mühe ließen diese voneinander ab und sanken erschöpft und blutend in die Winkel.

»Jetzt habt ihr gleich in aller Herrgottsfrüh einen Raufhandel gesehen,« sagte einer der Holzarbeiter zu mir, »der Teufel hol' die eifersüchtigen Leut'!«

Und das war die Moral. Ich trachtete wieder hinauszukommen [285] in die »Herrgottsfrüh«, wie der Mann so schön gesagt.

Da hatte ich wollen über den Menschen sein, und zum Trotz führte mich die Sackuhr mitten unter die leidenschaftlichsten hinein. Aufwärts stieg ich und beschloß, keinen mehr um den Uhrschlüssel zu fragen.

Nach zwei Stunden war ich auf der Sackwiesen, am stillen Hochsee. Pyramiden von verwitterten Fichten umstehen wie struppige Brauen das Wasserauge, in welchem sich die Tafeln des Hochstein spiegeln. Als ich oben über die glitzernden Schneemulden der Speikböden hinschritt, war es die achte Stunde – meine Uhr ging immer noch, gleichsam, als wirke auch auf sie das Naturgesetz, daß man auf hohen Bergen nicht leicht ermüdet.

Und endlich saß ich auf der Warte, hoch über einer Wüste von Gestein und Schnee. Nicht Rundschau hielt ich, sondern Rückschau und Vorschau, auf das, was war und was kommen soll...

Als ich wieder erwachte zur Gegenwart, da war der weite Kreis der Berge um mich versunken. Nebel hüllte mich ein, und die Uhr stand still.

Noch war's der Nordwind – den ich an seiner Schärfe erkannte –, der mir die Richtung deutete. Daraus erklügelte ich den Westen, gegen den ich niederstieg. Bald war unter mir wieder das Grüne, über mir die Sonne. Im Moos schreckte ich Gemsen auf; sie eilten in das Gefelse des Ebenstein empor. Ich wendete mich den Sonnschinhütten zu. Diese waren noch winterlich verschlossen, erst unten in den Bribitzhütten fand ich Milch und Brot und Schwaigerin. Bevor ich mich erquickt hatte, merkte ich nichts, aber als ich insoweit gesättigt war, sah ich [286] am Busen der jungen Sennin ein rotes Bändchen. Auf Almen darf man wohl naturforschen, und so hielt ich mich an die Spur dessen, was ich suchte. Jede Almerin muß ihre Uhr und jede Uhr ihren Schlüssel haben. Wir löseten die Dingelchen nicht erst gegenseitig los, wir standen zusammen. – Der Schlüssel hat gepaßt.

Und so ist frisches Leben gekommen in die Nachbarin meines Herzens, sie zeigte mir darauf vierundzwanzig gute Stunden.

Im Reigen der Neuberger Alpen erhebt sich ein Gebirgsstock, der oft sein Haupt in den Schleier der Wolken birgt, auch wenn auf den Wäldern und Felstafeln der niedrigen Nachbarberge Sonnenblick ruht.

Ich war damals ein Unhold, und gerade die unwirtlichsten Berge mochte ich – leicht an Gewicht – am liebsten erklimmen, besonders wenn ich wußte, daß oben hinter den bedrohlichen Felszinnen weiche Hochmatten waren und Sennhütten.

So war es an einem Sommertage, daß ich den Gebirgsstock emporstieg. Als ich sah, daß ein kecker Windzug oben den Schleier in tausend Fetzen zerrissen hatte, wollte ich aufjauchzen und hüpfen, wie das nachbarliche Gemslein, aber ich hielt weislich ein und hielt haus mit meiner Lunge und der Kraft meiner Beine. Der Tannenwald ging nicht mehr weit mit mir empor, und bald hatte ich es mit den kahlen, heißen Schroffen zu tun. Die Sonne verteidigte die Veste wacker, sie warf alle ihre glühenden Speere nach mir, aber ich kletterte still und langsam weiter.

Schon war ich so hoch, daß ich von einer unten im Tale losgehenden Flinte nur den weißen Rauchstrahl sah, [287] kaum aber den Knall hörte. Da setzte ich mich in die Spalte eines Felsens, wie sie allmählich das Eis gegraben hatte und ruhte ein wenig. So kauert das Insekt in der Mauerritze, wie ich in der Spalte des Gewändes saß, und ich vermeinte, zu dieser Stunde eine Verwandtschaft zu spüren zwischen mir und der graugefleckten Eidechse, die an meinen Füßen vorüberhuschte. Nach Sauerklee spähte ich umher, um meinen durstigen Gaumen zu atzen, aber zwischen den schattenlosen Wänden wächst kein Sauerklee, nur Zirmgenadel und Moos.

Wie ich so lugte, sah ich einen Menschen am Gewände quer gegen mich niedersteigen. Der Schäfer von der Schauerheide war's, wie ich nachher erfuhr, ein junger, stramm gewachsener Bursche, der keinen Fehltritt tat, so kühne Sprünge er auch machte von einer Kante auf die andere. Er mußte seiner Sache sicher sein.

Er rückte schier vornehm sein graues Hütchen, als er mich sah.

»Ist's noch weit hinauf?« fragte ich.

»Ja,« sagte er, »da ist's freilich noch weit! Wenn der Herr etwan durstig wird und Er ist von da noch drei Büchsenschuß gegangen, so ruck Er ein wenig links vom Wege ab – da wird das Kaiserbründl sein, ein rechtschaffen frisch Wasser.«

Da hat es in mir ordentlich zu kochen angefangen aus lauter Dankbarkeit, und ich habe nach seiner Hand gefahndet, daß ich sie recht drücken konnte. Darauf ist der Bursche rot geworden und hat gestottert: »Geh', wegen so ein Wasser da – hat leicht sein können – wird wohl noch für alle auslangen« – und ist davongelaufen.

Jetzt erhob ich mich aus meiner Felsenklemme, um[288] den Wasserquell zu suchen. Aber – drei Büchsenschuß? Fünf- oder sechshundert Schritte stieg ich langsam an, da hörte ich das Kaiserbründl rieseln. Es rieselte im Schatten einer Felskluft und war so klar, daß jedes Sandkörnlein funkelte im Becken. Ich habe mich zu ihm hingelegt und getrunken.

Wäre ich dieses einzigen Trunkes wegen emporgeklettert in das Gewände, der Mühe wäre Lohn genug gewesen. Dann ging ich fürbaß, und zwei Stunden später stand ich auf dem Felsendiadem und hatte das weite, zackige Gebirgsrund zu meinen Füßen und liebäugelte ein wenig mit dem Herrgott im nahen Himmel.

Nachher aber fielen mir die Sennhütten ein, sie liegen in einem weiten grünen Kessel unterhalb eines Kares; aus dem Bretterdache einer einzigen stieg dünner Rauch auf.

Vor der Hütte plätscherte ein Brunnen in einen weiten, tiefen Trog, in welchem ein See des hellsten, reinsten Wassers lag. Und die sinkende Sonne schien hinein. Voll Schweißes und Staubes, wie ich war, kamen mir Badegelüste. Ich vergaß ihrer einen Moment, als ich die Sennin sah. Ihr Leute, das war eine Sennin! – Einer ordentlichen Schönheit tue ich nie die Schmach an, sie zu besingen. Ich fragte die Sennin, wie sie heiße. Sie sagte, sie heiße Zili und lachte dabei.

Sie gestand mir gern die Nachtherberge zu und kam mit Milch und Brot und Butter. Ich aber fand mich in der Hitze nicht behaglich, und das Wasser plätscherte so wohlig – auf den Bergen wohnt die Freiheit.

»Zili!« sagte ich.

»Ja?« sagte sie.

»Weißt du, was ich möchte?«

[289] »Nein,« sagte sie.

»Ich möchte mich da in den Brunnentrog hineinlegen.«

»Uh Jesses!« rief sie aus und lachte, »da wird eins ja waschelnaß!«

»Freilich,« sagte ich, »und das meine ich ja, und wenn du's erlaubst?«

Da lachte sie noch mehr: »Meinetweg kann Er sich einilegen.«

»Und wirst etwan dieweilen ein wenig beiseite gehen?« fragte ich natürlich nicht ohne einige Befangenheit.

»Mein Lebertag!« rief sie, »meint Er, ich hätt' noch keinen im Wasser gesehen? Gewiß nicht, daß ich mich drum scher', ich geh' in meinen Stall,« setzte sie bei und ging davon.

So entledigte ich mich meiner Hüllen, warf sie auf den Kopf des Troges, und bald lag ich versenkt im lauigen Wasser.

Und jetzt kamen die Kühe und Ziegenherden von ihren Weiden heran und dem Brunnentroge zu. Anfangs erschraken sie baß, als sie im Wasser das Ungetüm sahen, aber die kühneren und durstigsten wagten sich doch heran und tranken. Eine der Ziegen, wie diese Tiere schon vorwitzig sind, hub mit meinen Haaren Händel an, und als sie diese nicht genießbar fand, nagte sie an meinen Kleidern herum und zerrte einen Teil derselben in das Wasser hinein. Jetzt verließ mich der Humor, und ich sprang auf, daß alle Tiere in der Runde weit zurückfuhren. Wer konnte nun so in die durchnäßten Kleider schlüpfen. Ich tauchte wieder zurück in das Wasser und rief nach der Sennin um ein trocken Hemd.

»Du meiner Tag, mein Lebertag!« lachte diese im[290] Stalle. »Wo nähm' eins jetzund a Hemat! – Ja, und haben muß Er doch eins, selb' seh' ich wohl ein. Ist seines pritschnaß, da wird Er mir zuletzt gar marod. Du meiner Tag, ist das a G'scher mit so Leuten!«

Nicht lange nachher brachte sie mir ein frisches Hemd. Sie brachte es selber herbei. »Ich werd' mich nicht an seiner Statt a Weil' schämen,« sagte sie, »und jetzt geh' Er was essen!«

Eine Stunde später trockneten meine durchnäßten Kleider an der Wandstange, und ich lag, noch eine Weile das Herumtrippeln der Sennin behorchend, auf dem übergeschoß in weichem Federgrasheu. An allen Ecken und Enden verspürte ich das rauhe Hemd der Sennin, – mir wurde heiß darin.

– – Heiß, wie die Sonne niederbrennt auf den Acker, auf dem das halberwachsene Mädchen den Flachs jätet und ausrupft. Dieser Flachs, ein drei Geviertklafter großes Fleckchen, ist des Mädchens einzig Erbteil von den verstorbenen Eltern – es will sich ein Kleid daraus bereiten. Es ist ein heißer Sonntagnachmittag, die anderen Dienstleute des Großbauern ruhen im Schatten oder sitzen im Wirtshause – das Mädchen aber erntet den Flachs – der Sonntag ist seine einzige freie Zeit dazu. Der Kuhhirt, ein stillheiterer Junge, kommt des Weges; der hat heute auch freie Zeit, solange den Rindern auf der Weide noch die Hitze zu groß ist. Der Junge steht eine Weile still und sieht dem Mädchen zu. »Ich will dir helfen, Cäcilie,« sagt er dann, und nun rupfen sie zusammen emsig an dem Flachs.

Da die Regentage des Herbstes kommen, liegt der Flachs zur Bleiche auf dem Heideland. Jedem Stämmchen [291] ist der Kopf weggerissen mit der Riffel; das hat Friedel, der Kuhhirt, getan.

Zur späten Abendstunde der Adventzeit höre ich in der Scheune das Brechelscheit klappern. Cäcilie bricht den gebleichten und nun auch gedörrten Flachs; neben ihr auf Garben sitzt der Kuhhirt und ist traurig, daß er nicht helfen kann. Sie lacht ihn aus, daß er so dasitzt und nicht schlafen geht. Da sagt er: »Cäcilie, ich mag nicht schlafen: es muß mir den Kopfpolster wer verhext haben, ich heb' mannigmal im Schlafe an, ihn zu halfen.« – »Geh', du und dein Kopfpolster, ihr seid mir auch die rechten,« lacht das Mädchen, »einer ist um kein Haar besser wie der andere.« Da steht der Friedel auf und geht davon.

In einer Nacht des Eismonats, da alles im Hofe längst schon schläft, sitzt Cäcilie in der kalten Kammer und spinnt. Der Faden wird stellenweise bauchig und stellenweise dünn zum Brechen: ihre Finger sind so ungelenk; den ganzen Tag über haben sie im Walde beim Holz und auf der Tenne beim Stroh gearbeitet. Die anderen Leute stärken sich jetzt für das morgige Tagwerk im Schlafe; sie stärkt sich beim Spinnen. Und sie ist glücklich im Gedanken: aus der Erbschaft ihrer Eltern bereitet sie sich eine neue saubere Pfaid. Da klopft plötzlich ein Unhold aus Fensterchen. Der Friedel ist's. »Muß ich dir das Radel treiben, Cäcilie?« lispelt er herein. – »Nicht vonnöten,« flüstert das Mädchen, »aber wenn du mir die Türe willst gehen zumachen, sie ist in Angeln offen.« Er geht die Türe zumachen, aber so, daß er innerhalb derselben zu stehen kommt. Dann sitzt er eine Weile neben der Spinnerin, und als diese das letzte Haar vom Rocken hat, geht sie und macht die Türe wieder auf. »So [292] ein Zumachen hat wenig geholfen,« sagt der Bursche verdrießlich und schleicht davon.

Als den langen Winter über für den Kuhhirten wenig zu tun war, hat er sich in der Stallkammer einen alten Webstuhl zusammengestellt und aus sich selbst das Webern gelernt. Dann sagt er eines Tages halblaut zur Cäcilie: »Gib her deine Spulen.« – Er webert ihr die Leinwand. Sie sitzt daneben und kann's mit ihren Augen kaum verfolgen, wie das Schiffchen fliegt von einem Ende zum andern. »Du bist schon gar ein guter Weber,« lacht sie. Er gibt keine Antwort, er webert. Ihr Herz ist sehr voll, fast schwer, da lacht sie, bis es leichter wird. Und als der Endfaden durch die Randfransen zuckt und das Stück gewebert ist, sagt der Friedel: »Cäcilie, da hast deine Leinwand. Sie ist wohl hübsch steif, aber ist die Pfaid fertig, dann helfe ich dir sie weich walken.« – »Und dieweilen sag' ich: Vergelt's Gott!« lacht das Mädchen.

Und als sie an einem Sonntagnachmittag wieder beisammensitzen unter dem Schatten des blühenden Kirschbaumes, da näht Cäcilie an dem Hemde. »Heirat' ich denn in dieser Pfaid drin, daß sich der Faden so knüpft?« lacht sie und streift den Zwirn in die Länge. – »Jetzt weiß ich's schon, was es mit meinem Kopfpolster ist,« sagt der Bursche, »es ist ein lebendiges Haar drin, oder so was.« – »Geh', z'weg nicht etwan gar!« schreit das Mädchen. – »Das ist gewiß, und willst meiner Red' nit glauben, so geh' mit und probier's. So, just so nehm' ich den Polster allemal im Schlaf – so!« Da nimmt er sie um den Hals, und ein Kuß schnalzt, und ein paar schneeweiße Kirschbaumblüten tänzeln nieder auf die zwei jungen Leute.

[293] Wie dann der Hochsommer kommt, muß der Friedel dem Mädchen die Kühe überlassen, und Cäcilie zieht mit denselben hinan auf die hohe Alm. Da denkt der Friedel bei sich: Darf ich schon mit den Kühen nicht, auf die Alm will ich dennoch fahren! – und wird Schäfer.

Da ist es heiß, und da blüht das rote Kohlröschen mit seinem honigsüßen Hauch, und da reist der Alpenrose wiegende Knospe, und da ist ein Tag, an welchem es der Sennin beikommt: Heut' kunnt sie die neue Pfaid probieren. Der Schäferfriedel – –

Da hat mich ein heller Juchschrei aus dem Traume geweckt. Ich steckte sofort meinen Kopf zur Dachluke hinaus. Es ist ein reiner lichter Morgen, und von der Hütte hinweg über die tauige Hochmatte hüpft jauchzend und jodelnd der Schäfer von der Schauerheide, der mir gestern unten im Gehänge den Wasserquell gewiesen hatte.

Und wenn mein wunderlicher Traum im neuen Hemde der Sennin nicht ganz eitel Schaum war, so ist euch der Lotter nächtlicherweil' in der Hütte gewesen, um die steife Pfaid zu suchen. Und fand nur die Maid.

Ich bin niedergestiegen in das Tal, und um das Haupt des Gebirgsstockes war der Nebel.

Er hat recht; arkadisches Hirtenglück will sorgsam verhüllt sein. Ich hätte auch geschwiegen, aber ich habe mir aus dem Hemde der Glücklichen, das mich eine einzige Nacht umfangen hat, ein Fädchen gezupft, und das möchte ich gern dehnen und weiterspinnen um die ganze Welt, auf daß mit mir und dir und allen die Freude sei.

Als ich Freigeist ward
[294] Als ich Freigeist ward.

Es läßt sich nicht leugnen, das Ding treibe ich nun schon seit meinem zwölften Jahre. Seit ich anfing, in Bücher zu gucken. Meine erste literarische Arbeit war eine »Lebensbeschreibung des heiligen Joachim«. Von diesem großen Heiligen hatte ich nämlich nirgends eine Lebensbeschreibung gefunden, also machte ich ihm eine, wozu ich alle Daten und Begebenheiten selbst beistellte, ganz aus eigenem, und so mit grimmigem Ernst eine unbewußte Parodie der Legende schrieb. Dem heiligen Joachim folgten drei Jahrgänge »Kalender für Zeit und Ewigkeit«, in welchen ich nach der bekannten Manier von Alban Stolz dem Leser die Erde recht schlecht, den Himmel recht hoch und die Hölle recht heiß machte. Mit Vorliebe behandelte ich die vier letzten Dinge, in der löblichen Absicht, alle Leute gruseln zu machen und alle Sünder zu bekehren. Aber während der junge Autor die Menschen dem Himmlischen zuwenden wollte, sank er selbst beträchtlich dem Weltlichen nahe. Dem »Kalender für Zeit und Ewigkeit« folgte ein Werk »Freue dich des Lebens«, in welchem Jugendübermut, lustige Fabelei und schüchterne Liebessehnsucht hervorzubrechen begannen und diese interessanten Dinge sogar in Bildern anschaulich gemacht wurden.

In dem von meinem Heimatshause eine starke Stunde entfernten Orte Sankt Kathrein am Hauenstein lebte der [295] Kaufmann namens Haselbauer. Er hatte eine große Anzahl Kinder, Buben und Mädeln, die alle meine Freunde waren; er war seit Menschengedenken Gemeindevorstand von Sankt Kathrein, und die große Stube in seinem Hause gab an Sonn- und Feiertagen einen beliebten Versammlungsplatz aller ab, die eintreten wollten, um Einkäufe zu machen, oder eine amtliche Angelegenheit zu besorgen, oder sich am Ofen zu wärmen, oder Tabak zu rauchen, oder zu plaudern, oder auch alle Erbauungsbücher und Neuigkeitsblätter, die da umherlagen, zu durchblättern. Die Leute, Männer und Weiber, Alte und Junge, Bauern und Knechte, Holzhauer und Kohlenbrenner durcheinander, waren mein Lesepublikum. In der großen Stube beim Haselbauer hinterlegte ich nämlich meine Schriften, die, insofern sie weltlichen Sinnes, lediglich nur für die jungen Haselbauer beiderlei Geschlechts verfaßt worden waren. Da die Schriften in der Stube des Gemeindevorstandes stets auf dem Tische und den Fensterbrettern umherlagen, so konnte jedermann Einsicht in dieselben nehmen, und da gab's viel Kopfschütteln über den Fabelhans, der, anstatt fleißig zu arbeiten, »lauter solche Sachen« treibe.

Darob wurde eine alte Magd im selben Hause allmählich mit einiger Besorgnis erfüllt. Sie konnte selber nicht lesen, mußte nur hören, wie über die Schriften des Waldbauernbuben manchmal gemunkelt und gelacht wurde; also packte sie eines Tages, da just niemand zugegen war, die Sachen zusammen, trug sie um die Dämmerungsstunde in den Pfarrhof und beschwor den Pfarrer, die Schriften zu prüfen, ob wohl nichts in denselben enthalten sei, was den frommen Seelen der Leser Schaden tun könne.

[296] Der Pfarrer von Kathrein war ein alter kränklicher und gutmütiger Herr mit stets vorgeneigtem Kopfe und schon grauem Haar.

Er genoß das besondere Vertrauen der Bevölkerung, denn er war noch einer der wenigen Geistlichen, welche die hochröhrigen, glänzenden Stiefel außen über der Hofe trugen. Die meisten Priester hatten damals schon neumodische lange Beinkleider, die schlotternd bis auf den Rist hinabhingen. »Bei den Hosen fängt der Antichrist zuerst an!« pflegte die alte Magd Liesel zu sagen, und an dem ehrwürdigen Herrn Plesch fand sie soweit nichts auszusetzen. Der alte Herr hing übrigens darum so genau an der altmodischen Beschuhung, weil diese nach seiner Überzeugung die Füße wärmer hielt als die neuartigen Stiefletten. Wohlverwahrte warme Füße dünkten ihn als die erste Bedingung alles Gedeihens. Als Hauptursache aller Krankheiten des Leibes und der Seele erklärte er die Erkältung der Füße, und wenn er an ein Krankenbett gerufen wurde, so war nach Vollzug der heiligen Handlung sein erstes, daß er den Kranken warm zudeckte an den Füßen.

Diesem guten Herrn brachte also die alte Liesel meinen »Kalender für Zeit und Ewigkeit« und das »Freue dich des Lebens«.

Der Herr Pfarrer und ich waren von der Sonntagsschule und dem Beichtstuhle her gute Bekannte. »In der Schule weiß der Peterl am meisten von allen, und im Beichtstuhl am wenigsten!« Dieses rühmende Wort hatte der Pfarrer einmal über mich ausgesagt und dadurch mein Ansehen in der Gemeinde außerordentlich erhöht.

Nun, eines Sonntags nachmittags nach dem Segen[297] hinterbrachte auf dem Kirchplatz der Kirchendiener mir den Befehl, ich möchte ein wenig in den Pfarrhof kommen, der Herr habe mit mir etwas zu sprechen.

Das freute mich unbändig, und sofort eilte ich in die Wohnung des Pfarrers. Dieser stand in langem Talare an seinem Lesepult, vor sich die Schnupftabakdose und den blauen Sacktuchknullen, mit dem er sich manchmal unter die Nase fuhr. Als ich mein »Gut Nachmittag!« gesagt hatte und, das Tuchkappel in der Hand, höflich an der Tür stehengeblieben war, rief er mit seiner etwas dünnen Stimme: »Bist da?«

»He, he,« lachte ich. Wer auf obige Frage eine bessere Antwort weiß, der hebe die Hand auf.

Hierauf holte er unter dem Pulte hervor mancherlei Papier, und darunter meine Schriften.

»Setz' dich nur nieder,« sagte der Pfarrer, nahm mir gegenüber in seinem Lehnsessel Platz und hub an, in den Schriften zu blättern.

»Aus wo hast du denn diese Sachen abgeschrieben?« fragte er so halb singenden Tones.

Jetzt war die Antwort noch leichter. Abgeschrieben hätte ich sie gar nicht; sie wären mir halt nur so eingefallen.

»Hast du denn schon einmal einem jüngsten Gerichte beigewohnt, weil du es so genau weißt?«

»Beigewohnt, das nicht,« hierauf mein Bescheid, »wie halt Euer Hochwürden immer einmal gepredigt hat, so hab' ich mir's gemerkt.«

»Ich? Ich hätte so was gepredigt?« rief er aus.

»Ja, auch am vorigen Ostersonntag.«

[298] »So, so. Na wird wohl so sein. Brav bist, daß du dir das Wort Gottes also merkest. – Nur fort so.«

Ich glaubte schon, die Sache wäre abgetan und wollte mich erheben. Da schlug er das Heft »Freue dich des Lebens« auf. »Dahier – –« er blätterte, suchte dann die Brille, zwängte sie auf die Nase, blätterte wieder, »dahier – ist etwas – . Schau, der Teuxel will nicht auseinander!« Mit vieler Umständlichkeit klebelte er endlich die Blätter auf, – »dahier, das wirst du von mir nicht gehört haben!«

Er schaute ernsthaft auf mich, ich aufs Papier. – Gedacht hatte ich's. Die Liebesgedichte!

»Diese Verse da,« fragte er, »sind dir die auch nur so eingefallen?«

»Ja,« antwortete ich leise und beugte mich nieder auf den Tisch.

Jetzt steckte der Pfarrer sein glattrasiertes Gesicht zu mir vor und schrie: »Wickelkind du! Und weißt du denn, was Liebe ist?«

Ich ward stumm. Diese Frage hatte ich nicht erwartet.

Der alte Herr stand auf, ging mehrmals mit großen Schritten die Stube hin und her, so ernst und feierlich, daß mir angst und bang wurde. – »Weißt du, was Liebe ist?« hallte es schauerlich, und er hatte das Wort doch nicht wiederholt. – Endlich trat er auf mich zu, und in unendlich gütigem Tone sagte er die Worte: »Die Schriften kannst du wieder mitnehmen. Der liebe Gott behüte dich!« –

Die Tage kamen und gingen. über Tags mußte ich arbeiten in Feld und Werkstatt, des Abends schrieb ich bei [299] trübrotem Kienspanschein, des Nachts schlief ich so fest, daß am Morgen der Waldbauernbub genau noch so auf dem Stroh lag, wie er des Abends hingefallen war. Einmal aber mitten in der stillen Nacht hörte ich plötzlich eine dünne, grelle Stimme: »Weißt du was Liebe ist?« Ich schrak auf, es war aber nichts weiter und bald werden die Augen wieder zugesunken sein.

Um so klarer hielt ich sie tagsüber offen, und da sah ich denn im Laufe der Zeit, wie die Welt beschaffen ist, und wie die Menschen geartet sind. Was mir gefiel, das pries ich, was mir nicht gefiel, das verdammte ich keck und übergoß es mit Hohn. Und wen ich am wenigsten schonte, über wen ich mich am öftesten und unbarmherzigsten lustig machte, das war – der Waldbauernbub. Denn er hatte genau dieselben Fehler und Lächerlichkeiten wie alle anderen, und wenn ich auf diesen Sack schlug, so meinte ich nicht bloß den Sack, sondern auch den Esel. Immer neue Schriften verfaßte ich, immer neue Falten des Lebens taten sich mir auf. In manchen tiefen Abgrund habe ich schauen müssen; heute wundert es mich, daß ich nicht besonders darüber erschrak, daß ich Abgründe für selbstverständlich hielt. Das Weh darüber kam erst später, damals waren die Unbegreiflichkeiten des Menschengeschickes gerade gut genug, um flink darüber zu dichten und zu schreiben. – Und die Schriften trug ich in die große Stube des Kaufmannes und Gemeindevorstandes Haselbauer, wo sie fürs erste meine Freunde lasen, die mich dafür lobten oder auch brav auslachten, je nachdem die Sache klug und sein oder närrisch ausgefallen. Wenn sie gerade beim Auslachen waren, da tat auch die alte Magd Liesel tapfer mit, denn diese war immer noch des [300] Mißtrauens voll, und ein böser Geist, so überlegte sie ganz schlau, der nicht totzupredigen sei, müsse totgelacht werden. Bei diesem Totlachen lachte ich aber selber mit und wurde dabei immer noch lebendiger.

Und dann war es einmal, daß in einem meiner Hefte ein naturgeschichtlicher Aufsatz zu lesen stand.

Eustach, der älteste Sohn des Haselbauer, las ihn eines Tages bei Tische vor, und dieser naturhistorische Aufsatz lautete wie folgt:

Der Mensch.

Eine zoologische Studie.

Der Mensch gehört zur Gattung der Säugetiere, erlangt ausgewachsen die Höhe von sechs Schuh und ein Alter von achtzig Jahren. Er kommt in allen Ländern vor und ernährt sich von Fleisch, wie auch von Pflanzen. Sein Fell ist glatt, der Scheitel behaart, beim Männchen auch die Schnauze. Von Natur sanft, kann er gereizt zum blutdürstigsten Raubtiere werden, in welchem Zustande er in Massen sich gegenseitig tötet. Leidenschaftlich ergeben ist er dem Safte der Trauben und hat er gesoffen, so ist er –«

Der Vorleser brach plötzlich ab. Die Zuhörer hatten gelacht und nun fragte der alte Herr Haselbauer: »Nun, wo fehlt's denn, daß du nicht weiter liesest?«

»Es ist zu dumm!« lachte der Vorleser Eustach.

»Nu, dann laß es gut sein.«

Und es wurde darüber zur Tagesordnung geschritten.

Die alte Liesel, welche dem Vorgange beigewohnt hatte, nahm die verdächtige Geschichte aber durchaus nicht so leicht. Heimlich wußte sie sich das Heft zu verschaffen [301] und eilte damit in die Strohkammer, wo ihr der eben anwesende Schusterwenz, der ein alter Schriftgelehrter war, den Aufsatz vorlesen mußte, und zwar einschließlich der Stelle, die »zu dumm« war. Die Magd schlug beide Hände zusammen und vermochte kein Wort zu sprechen. Der Schusterwenz schwieg auch, sie waren beide sprachlos und starrten einander an.

Kurze Zeit hernach war das Heft beim Pfarrer. Und ein paar Tage später saß dieser auf dem Hügel, der hinter der Kirche aufragt und mit Kiefern und Weißbirken bewachsen ist. Unter einer solchen Birke saß er, seine manchmal ein wenig gichtischen Beine mit einem Wollentuche zugedeckt: »Nur Wärme an den Füßen!« Das war ja das einzige Gut, welches er energisch von all den Genüssen dieser Welt begehrte. Sonst war er zufrieden und wußte gar nicht, wie arm er war. Er blätterte jetzt in den neuesten Schriften des Waldbauernbuben. Da geschah es denn, daß dieser zufällig des Weges kam. Der alte Herr duckte sich und ließ den Burschen vorbeigehen bis zum Kreuze hin. Als der Peterl demselben nahte, zog er den Hut vom Haupte und ging vorüber. Der Pfarrer atmete auf: »Gottlob, das heilige Kreuz kennt er noch.« Dann rief er laut: »He, Peterl, komm' her einmal!«

Dieser kehrte um und trat an den Birkenbaum, sich entschuldigend, daß er Hochwürden früher nicht gesehen hätte.

»Um so mehr bin ich mit dir beschäftigt,« sagte der Pfarrer und schlug das Heft zurecht; »da lese ich gerade eine schöne, wie es heißt, zoologische Studie, benamset: Der Mensch. Sage mir, hast du das selber erdacht?«

Ich widersprach nicht.

[302] »Aber Kind, was treibst du denn?« rief er aus, »der Mensch Säugetier! Raubtier! – Der Mensch ist ja ein Ebenbild Gottes!«

»Das leugne ich nicht,« hierauf meine Antwort.

»Nun dann kannst du wieder gehen.«

Und die Inquisition war zu Ende. Das Heft aber hatte er bei sich behalten, woraus ich schloß, daß es ihm gefallen müsse.

Später habe ich erfahren, daß einen Tag nach dieser kurzen Begegnung unter den Birken die alte Liesel wieder beim Pfarrer war, um sich zu erkundigen, wann der Scheiterhaufen für den Ketzer denn eigentlich errichtet werde. Der Pfarrer soll ihr geantwortet haben, seitdem die Eisenbahn gehe, sei das Holz zu teuer.

»So!« gab die Alte scharf zurück, »und in der Hölle wird die ganze Ewigkeit hindurch geheizt!«

Hierauf der alte Pfarrer achselzuckend: »Möglich, daß sie dort Steinkohlen brennen!«

»Und hat der hochwürdige Herr nicht gelesen von der behaarten Schnauze und daß der Mensch, wenn er gesoffen hat, ein Schweinehund ist? He?«

»Na, das ist ja leider manchmal wahr!« sagte der Pfarrer.

Und nun konnte auch die alte Liesel gehen. Sie hat mich von dieser Zeit an nicht mehr verklagt, wich mir aber aus, wo sie konnte. Nur einmal noch gab sie ihrer Stimmung gegen mich deutlichen Ausdruck. Am heiligen Christabende war's, als der alte Haselbauer seinen Kindern die Haare schnitt. Als er mit allen fertig war, rief er mir, der ich beim Ofen saß, zu: »Nu, Peterl, setz' dich her da auf den Dreifuß, will auch dir deinen Pelz herabscheren; [303] um ein Schaf mehr oder weniger kommt's mir nicht an.« Und mir, der ich an langen Haaren nie Mangel litt, war das recht. – Nun, als er mich in der Arbeit hatte, rief die Magd, welche eben den Tisch scheuerte, dem Haarschneider zu: »Wirst die Schere schartig machen – bei dem!«

»Wieso?« fragte der alte Haselbauer.

»– wenn du unversehens in die Hörner schneidest – ?«

So drastisch faßte der Pfarrer meine Verwandtschaft mit dem Bösen nicht auf, aber eine gewisse Besorgnis meinetwegen war ihm doch anzumerken. Und als die Zeit kam, von der nun bald erzählt werden soll, und da ich vor meiner Auswanderung vom guten alten Herrn Abschied nahm, faßte er mit seinen beiden kühlen Händen meine Rechte und sprach: »Kind! Du bist zwar jetzt schon groß geworden, für mich bist du aber immer noch das Kind, das ich gesegnet, dem ich die erste heilige Kommunion gereicht, das ich unterwiesen in unserem christlichen Glauben und das ich immer recht lieb gehabt habe. – Du gehst jetzt fort von Heim, du gehst in die weite Welt. So einfältig wie ein Kind gehst du dahin und weißt nicht, welche Gefahren dich dort erwarten. Du freuest dich auf die große Stadt, und recht so, du wirst viel lernen. Aber du weißt nicht, wie ganz anders dort die Menschen sind, als daheim bei uns. Sie werden dir anfangs recht gefallen, doch glaube mir, wenn du so wirst wie sie, dann bist du verführt! Du hast Neigung zur Weltlichkeit, auch ein wenig zur sogenannten Aufklärung. Ist ja gut, man soll sich aufklären lassen soviel man kann, das heißt, man soll sich der Wissenschaft befleißigen und Gott auch kennen lernen in all seinen Werken. Aber eins soll man [304] nicht, und das mußt du mir jetzt versprechen, mein Kind: Unseren lieben Heiland Jesus Christus vergiß nicht. Seine heilige Lehre, die dir deine gute Mutter, dein frommer Vater, dein besorgter Seelenhirte beigebracht haben, vergiß nimmer. Bist du im Glück oder in der Not, des Herrn Wort sei dir Wegweiser und Trost, das wünschet dir dein alter priesterlicher Freund, der jetzt vielleicht das letztemal zu dir spricht in diesem Leben. – B'hüt' dich Gott, b'hüt' dich Gott, mein Kind! Und achte stets darauf, daß du dich an den Füßen nicht erkältest!«

Er hatte recht, der liebe alte Herr, es war das letztemal gewesen damals, daß er zu mir gesprochen. Doch seiner Worte gedenke ich heute noch mit Rührung, achte stets auf einen christlichen Lebenswandel, besonders aber, daß ich mich an den Füßen nicht erkälte.

[305] Bübchen, wirst du ein Rekrut!

Jenen Februarmorgen vergesse ich nicht. Er war vorauszusehen und hat uns doch überrascht.

Ich war ein wenig über zwanzig Jahre alt; obwohl ich mich durchaus schon als junger Mann fühlte und auch bestrebt war, als solcher zu handeln, so gehabte ich mich doch noch immer wie ein Kind, weil ich von meinen Eltern stets als solches geachtet wurde. Ich mußte mich schon bücken, wenn ich durch die Tür ins Haus trat, und wenn ich in der Stube am Tischwinkel stand, so reichte ich mit meinem Haupte hinauf bis zu der heiligen Dreifaltigkeit an der Wand, um deren Geheimnis zu erspähen ich als Knabe so oft Stuhl und Tisch erklettert hatte. Aber die Leute riefen mich immer noch bei meinem kleinen Kosenamen, und ich hörte noch immer auf denselben – und so schlich in aller Stille jener Februarmorgen heran.

Es war ein Sonntag, an dem ich mich, von einer weiten Ster heimgekehrt, recht behaglich auszurasten gedachte. Als ich erwachte, stand in der Nähe des Bettes mein Vater, der sagte, es wäre Zeit zum Aufstehen, er hätte mit mir was zu reden.

Ich streckte mich nicht nach der Decke, sondern nach allen Seiten weit unter derselben hinaus. Ich gähnte frisch drauflos, und da der Mund schon einmal offen war, so fragte ich meinen Vater, ob ich es nicht auch liegend hören könne, was er mir zu sagen hätte.

[306] »Bist du beim Bürscherwirt z' Krieglach 'leicht was schuldig?« fragte er mich und harrte mit Spannung auf eine Antwort. Aber ich fragte meinerseits, wesweg er diese Frage stelle; was ich beim Bürscherwirt getrunken, das hätte ich allemal bezahlt.

»Hab' mir's ja auch gedacht. Nur weil der Bürscher heut' ein' Zettel schickt, der, mein' ich, dir tät' gehören.«

Er gab mir den Zettel; derselbe war grau, und ich wurde rot. Der Vater bemerkte das und sagte: »Mir kommt's vor, es steht halt doch eine Schand' drin!«

»Schand' keine,« sagte ich und wendete mein Auge nicht von den Zeilen, die zum Teile gedruckt und zum Teile geschrieben waren, »da schon eher eine Ehr'.«

Der Zettel lautete:

Vorrufung. Roßegger Peter, Haus-Nr. 18 in Alpel, im Jahre 1846 geboren, von der Gemeinde Krieglach, hat behufs seiner Militärwidmung am 14. März 1864 Vormittags 8 Uhr am Assentirungsplatze zu Bruck rein gewaschen und in gereinigter Wäsche verläßlich zu erscheinen, widrigens er als Recrutirungsflüchtling behandelt werden und sich die diesfälligen gesetzlichen Folgen zuzuschreiben haben würde.

Kindberg, den 15. Februar 1864.

Der k. k. Bezirksvorsteher

Westreicher m. p.
Los-Nr. 67.

Altersklasse I.

Jetzt war schon auch die Mutter da. Sie konnte es nicht glauben. – Wie lang tät's denn her sein, daß ich kleber (kaum) ein Halterbübl wär' gewesen. Und jetzt auf einmal Soldat!

[307] »Noch ist er's nicht,« sagte mein Vater.

»Laß nur Zeit. Und schau ihn nur an. Den schicken sie dir nicht mehr heim. Maria Josef! und die Brust wachst sich jetzt auch aus. Dein schmales Brüstel ist mir allerweil mein Trost gewesen. Daß du letzt' Jahr aber gar so viel daher gewachsen bist!«

Ich war aus dem Bette gesprungen, wußte aber nicht, wie ich mich gegen den Vorwurf der trostlosen Mutter verteidigen sollte.

Mein Vater sagte zu ihr: »Sei froh, daß er gesund ist. Willst denn ein' Krüppel haben? Wär' dir das lieber, als wie ein braver, sauberer Kaiserlicher?«

»Recht hast so wohl auch, Lenzel (Lorenz); wenn ich ihn nur bei mir haben kunnt! 'letzt muß er gar noch vor den Feind. Ich darf gar nicht dran denken.« Und die Schürze vor ihr Gesicht.

»Wärst liegen blieben noch,« sagte zu mir der Vater, »hättest ja noch liegen bleiben können, wenn's dir taugt.«

Mir war nicht mehr ums Liegen. Mir war heiß in allen Gliedern. Ich hatte diese Vorrufung wohl insgeheim mit Bangen erwartet; nun sie da war, fühlte ich was Frisches in mir. Lust und Stolz empfand ich. Es hatte mich der Kaiser gerufen. Ich sprang vor die Tür, ich hätte es mögen ausschreien von Haus zu Haus, von Berg zu Berg: »Ich bin Rekrut!«

Bis zum 14. März waren noch mehrere Wochen. Die Mutter wollte, daß ich gar nicht mehr auf die Ster gehen, sondern zu Hause bleiben sollte, damit sie mich die kurze Zeit noch um sich hätte. Mein Meister, der immer gütige, er gab ihr nach. Sie verlor sich in Sinnen und [308] Plänen, wie sie mir diese Zeit, die letzte, die ich um sie sein sollte, angenehm machen könne. Sie besann sich auf all meine Lieblingsspeisen. Sie sprach die Botengeherin an, daß sie ihr rote Rüben und getrocknete Kirschen verschaffe, Dinge, die meinem Gaumen damals zur Lust gewesen sind. Sie streute den Hühnern Hafer über Hafer vor und suchte ihnen zu bedeuten, daß ihnen den ganzen nächsten Sommer über die Pflicht erlassen sei, nur jetzt in dieser großen Zeit sollten sie Eier legen, sonst wisse sie sich nicht anders zu helfen, als Kopfabhacken, denn der Kaiserliche, wenn er keine Eierspeise kriege, so esse er auch gebratene Hühner, und wären sie noch so alt und zäh; man glaube nicht, was so ein junger Mensch, der just im Soldatwerden ist, für Zähne hat!

Geliebtes Mutterherz, so heiß einst und so treu! Wie kann es möglich sein, daß du heute ein kühles Stück Erde bist! Wie strebe ich heute dir zu! Wie bitte ich dich, daß du dich von mir lieben lassest, sowie einst du mich gebeten hast. Du bist mir nun fast noch kühler, als ich damals zu dir. Ich habe nicht daran gedacht, wieviel Liebesfreudigkeit und Opfersehnsucht in den kleinen Gaben und Freuden verborgen war, die du mir bereitetest! Ich habe dich genommen, wie man den Morgenhauch, den Sonnenschein nimmt, ohne dafür zu danken.

So nahm ich damals, als die Soldatenstellung bevorstand, die Güte der Mutter ziemlich gleichgültig hin, und anstatt bei ihr zu Hause zu bleiben, ging ich zu den Nachbarn und machte Gemeinschaft mit den Burschen, welche, wie ich, die Vorrufung erhalten hatten. Es waren welche darunter, mit denen ich sonst wenig zu tun hatte – ich hielt's nicht gern mit meinen Nachbarsburschen, unsere Neigungen [309] gingen allzustark auseinander – aber das gemeinsame Schicksal führte uns nun zusammen, wir gingen miteinander um, wir zechten miteinander in den Wirtshäusern, und weil ich ganz von Zusammenhaltigkeit beseelt war, so gab ich mich nicht weniger ausgelassen als die anderen.

Jeder rauchte Tabak, und zwar jetzt nicht mehr aus den Pfeifen, sondern Zigarren, so daß die Leute mei nen sollten, der Kaiser habe seinen jungen Rekruten schon Kommißwurzen vorausgeschickt. Jeder strengte sich an, hübsch gerade und aufrecht zu gehen, es soll aber – wie ich später vernahm – etwas gespreizt herausgekommen sein. Ob jeder sein Liebchen hatte, weiß ich nicht; gewiß ist nur, daß jeder von seinem Liebchen sang. Die Lieder sind da, für Schöne und Häßliche, für Treulose und für Verlassene, für Begehrte und Heißherzige, Lieder für den täglichen Gebrauch und für besondere Anlässe. Ich sang bei jedem Liede kecklich mit, als ob ich Mädchen allerlei Gattungen besäße. Und doch war mir im geheimen bange um den Rekrutenstrauß.

Hier diene zur Belehrung, daß der Bursche, welcher zur Rekrutierung muß, von seinem Liebchen einen bunten Strauß mit Bändern auf den Hut geheftet erhält. Die Bänder sind zumeist rot und flattern – wenn die Träger gerade recht Wind machen – wie Fahnen. Die Rosen und Knospen sind meist aus gefärbter Leinwand, oder aus Papier geschnitten, sie haben den Vorteil, daß sie immer hell und frisch bleiben und nicht gleich die Köpfchen hängen lassen wie natürliche Blumen – denn das Kopfhängerische taugt bei Rekruten einmal nicht.

Nur ein grünes Stämmchen Rosmarin ist dabei, das ist die Seele des Straußes, und in diesem grünen Zweig [310] redet die Liebste zum Liebsten. Solange es die Liebste mit Rosmarin zu tun hat, ist noch Maien in der Liebe.

Von woher nun sollte ich meinen Strauß nehmen? Ein Liebchen! Ich wußte eins, aber ich hatte keins; ich hatte nie daran gedacht, wie unerläßlich für den Rekruten das Mädel ist.

Sollte ich nun – während alle anderen mit wallenden Sträußchen von hinnen zögen – sollte ich »munsad« (ohne Kopfschmuck) hintendrein trotteln? Und was nützt mich das Soldatwerden, wenn kein Mädel daheim weint?

Der Tag kam heran.

Die Mutter tat gefaßt, ja bisweilen sogar heiter, hatte aber rote Augen. Einmal ging sie zu meinem Meister und weinte ihm vor. Aber er lachte und sagte, er sehe nicht ein, worüber man sich da zu grämen hätte; der Peter brauche sich vor dem Militär gar nicht zu fürchten, der hätte die Schneiderei gelernt, der könne sogar einmal ein Zuschneider bei den Kommißschneidern werden, und da lache er alle aus. – Aber die gute Mutter wollte jetzt vom Lachen nichts sehen und nichts hören, sie blieb trostlos – es war ihr dabei verhältnismäßig am wohlsten. Sie bereitete mir die feinste Wäsche, die aufzutreiben war; es wurde aber nichts weiter von der Rekrutierung gesprochen bis zur letzten Stunde, da ich fortging, und da die Mutter mich bis nach Krieglach begleiten wolle.

»Um Gottes willen, nur das nicht!« rief ich aus; wie hätte sich das gemacht, wenn ich an Mutters Seite dahergegangen wäre, und vor uns die Burschen mit tollen Spottliedern! – Ei, das hätte sich freilich übel gemacht! So sehr des Teufels ist oft die Jugend, daß es Zeiten gibt, [311] in welchen das weichherzigste Muttersöhnchen sich seiner Eltern schämt.

»Na, na, Alte,« sagte mein Vater zu ihr, »mitgehen kannst nicht; du taugst nicht dazu, und den Buben täten sie hänseln.«

Die Mutter sagte kein Wort mehr. Sie ging, um mich nicht etwa dem Spotte der Vorüberkommenden auszusetzen, nicht einmal bis vor die Haustür mit mir. Drinnen in der Stube tauchte sie ihren Finger in das Weihbrunngefäß und machte damit ein Kreuz über mein Gesicht und eilte dann in ihre Nebenkammer. Und gutstehen will ich nicht dafür, ob ich im dunkeln Vorhause mit dem raschen Strich über die Augen nicht auch die feuchte Stelle des Kreuzzeichens ausgetilgt habe.

Beim Stockerwirt am Alpsteig kamen wir alle zusammen. Jeder hatte, wie ich geahnt, seinen Hut voll Herrlichkeiten; nur mein Haupt war glatt, wie das eines armseligen Böckleins, dem noch keine Hörner gewachsen, das mit den langen Ohren allein zufrieden sein muß. Demnach war ich noch beim ersten Glase todesunglücklich, beim zweiten fiel mir schon der Tschako ein, auf dem der Kaiseradler prangt, und der mir so sicher war, als den anderen.

Es waren saubere Kerle darunter, aber auch elendigliche Knirpse, denen die breiten Hutbänder den Höcker, den Kropf und – wenn ich ein wenig übertreiben darf – fast auch die Säbelbeinigkeiten verdecken sollten. Wo die nur ihre Mädels hergenommen hatten, daß sie zu den stolzen Sträußen kamen? Alle hatten ihre Hüte auf, nur ich hatte den meinen in einen Winkel geworfen, um den Hohn zu vermeiden.

[312] Als wir endlich aufbrachen und ich meinen Hut doch wieder hervorholen wollte, fand ich ihn nicht. Denn an seiner Stelle war ein anderer mit prächtigem Strauß und mit zwei Bändern, das eine rot und das andere weiß; und ich sah es nun, daß es doch mein Hut war, der von unbekannter Hand so glorreich zu Gnaden gekommen. – So hatte ich denn doch vielleicht ein Liebchen? Ich besann mich, aber es fiel mir keines ein, dem ich es zutrauen wollte, daß es mich, den »Traumihnit«, gern hätte. Der Stockerwirt hatte schöne Töchter, aber sie waren schon alle verheiratet. Die alte Stockerwirtin war einer Sage nach auch einmal jung gewesen, aber aus diesen Zeiten konnte der Strauß und der Rosmarinstamm doch nicht stammen.

Die alte Wirtin hatte keinen anderen Anteil an der Sache, als daß sie mir zulispelte, es wäre am Hause eine vorbeigegangen, und die hätte mir den Buschen zugeschanzt.

Nun, ich hatte ihn einmal, und er stand schöner und üppiger als wie alle der anderen. Was ich mir nun unter diesem Strauße den Kopf zerbrach! Tat aber den anderen gegenüber, als ob ich recht gut wisse, von wem ich ihn hätte, und brachte es auch so weit, daß ich selbst an eine Bestimmte dachte, glaubte und schließlich überzeugt war, welche es sei, die ich liebte. 's ist nicht zu sagen, wie sehr eine solche Gewißheit gleich mannbar macht! Ich war nun unterwegs auf der Straße der Herlebigste unter allen, und mehrere waren dabei, die sagten, sie hätten es nicht gewußt, daß der »Lenzische« (der Sohn des Lorenz) ein solcher Teufelskerl sei. Des habe ich mir nicht wenig eingebildet.

Einer der unzähligen Späße war, daß wir in Krieglach »den Eisenbahnzug zum Stehen« brachten. Wir[313] stellten uns vor der Bahnstation auf und riefen dem einfahrenden Zug ein gellendes: »Halt, stehenbleiben!« zu. Blieb er denn stehen, und wir stiegen lachend ein. Immer ging's so harmlos nicht ab.

Als wir schon auf der Eisenbahn saßen – der Gemeindevorstand in Krieglach hatte uns das Fahrgeld angewiesen, welches, wie wir glaubten, geradeswegs vom Kaiser geschickt kam – warf einer von uns, der Zedelzenz, den Vorschlag auf, wir sollten einmal all unsere Rosmarinsträuße untersuchen; wessen Stamm ins Welken übergehe, der sei zu öftest im Arm der Liebsten gewesen. – Und da stellte es sich heraus, daß der grüne Zweig auf meinem Hute sich ein wenig weich an die roten Leinwandblumen schmiegte. Mich versetzte das innerlich in neue Unruhe. Sollte denn dieser Rosmarinbusch mehr von ihr und von mir wissen, als ich selber?

»Ja, ganz selbstverständlich!« lachte ich auf.

Aber, statt damit Achtung zu erzielen, zog ich mir Spott zu. Sie sprachen von Wiegenholzführen. – Wen das was anginge? fragte ich schneidig, wem's nicht recht wäre, der solle nur hergehen! – Denn mir war es eingefallen, ein echter Rekrut dürfe sich nichts gefallen lassen, müsse wild werden können und einen Raufhandel anheben. Und so polterte ich, bis ich mich wirklich in den treuherzigsten Zorn hineingepoltert hatte, mit den Füßen stampfte, mit den Armen herumfocht und glücklich eine Fensterscheibe zertrümmerte.

Jetzt war der Kondukteur da: Welcher das Glas zerschlagen hätte?

»Der Lenzisch!« krähte einer, »der Schneider!« Aber [314] die anderen schrien, es wäre nicht wahr, und es würde nicht gesagt, wer es getan hätte.

»Von euch brauch' ich keine Vertuscherei!« fuhr ich drein, »ich hab' die Scheiben zertrümmert, was kostet der Bettel?«

»Das wollen wir in Bruck miteinander abmachen,« entgegnete der Kondukteur, »wirst schon zahm werden, Bursch', beim Militär.«

– Jetzt, dachte ich bei mir, Lenzischer, jetzt bist Soldat. Hierauf soll ich ruhig geworden sein, als hätte mich die Winterluft, die durch das zerbrochene Fenster strich, hübsch abgekühlt.

Auf dem Bahnhofe in Bruck war von der Glasscheibe keine Rede mehr, und als wir die Stadt durchjohlten, schlang ich meine Arme um die Nacken meiner Nebengehenden und fühlte Dankbarkeit, daß sie mich als Täter hatten in Schutz nehmen wollen.

Von den Fenstern der Häuser schauten Stadtfräulein auf unser tolles Treiben herab, und wir waren überzeugt, daß sie alle in uns verliebt sein müßten, je ungebärdiger wir taten und je wilder unsere Hutbänder flogen. Wir hatten ein bißchen Ahnung davon, daß so ein vor Trotz und Übermut wiehernder Bauernbursch' aus dem Gebirge, der als Ritter des Vaterlandes ausmarschiert, auch für das Stadtweibervolk immerhin ein kleines Begehr hat.

Schon von Korporälen geleitet, zogen wir auf der anderen Seite wieder zur Stadt hinaus und einem alleinstehenden Gebäude zu. Da hinein. Jedem von uns war ein wenig wirr, keiner wußte, als was er wieder aus diesem Hause gehen würde. Hier in der Stadt sah sich das Soldatenleben nicht mehr ganz so glorreich an, als [315] daheim in den Wäldern. Die meisten von uns – die wir sonst nicht die Frömmsten waren – seufzten, als wir die Stiege hinanpolterten, ein »in Gottesnamen!«

Wir kamen in einen großen Saal, der fast Ähnlichkeit mit einer Scheune hatte, und wo schon über hundert junge Männer versammelt waren, so daß es ein Gesurre und Durcheinanderhuschen und einen seltsamen Anblick gab. Einige hüpften und sprangen, des Galgenhumors voll, in bloßen Strümpfen oder barfuß drüber und drunter; andere banden ihre Kleider zusammen und setzten sich auf die Bündel und waren todestraurig. Wieder andere lehnten und standen an den Wänden herum wie geschnitzte Heilige, und der Angstschweiß stand ihnen auf der Stirne. Gerade von den Zwergen und Krüppeln könnte man sagen, daß ihnen das Herz am tiefsten in die Hosen gefallen wäre, wenn sie noch welche angehabt hätten.

Ich ging im Saale herum, meinte es mit jedem gut, wollte aber mit keinem reden; sie wunderten sich, daß ich so gleichgültig sein konnte; von der großen Aufregung, die in mir war, habe ich nichts merken lassen.

Plötzlich wurde die Eingangstür geschlossen, so daß einer murmelte: »Schaut's, jetzt ist die Fuchsfallen zugeschnappt!« Dafür ging eine gegenüberliegende Tür auf, ein paar Soldaten – das waren aber schon fix und fertige – stiegen unter uns um und beförderten einen um den anderen durch die Tür in den inneren Raum. Die meisten schritten übrigens recht tapfer durch die verhängnisvolle Pforte. Wir waren numeriert. Damit an einer und derselben Altersklasse in der Reihenfolge der Vorrufung keine Willkürlichkeit herrschen konnte (dieweilen es für den Rekruten gewöhnlich vorteilhaft ist, einer der [316] Letzten zu sein), so wird die Reihenfolge einige Wochen früher stets durch das Los bestimmt, welches jeder Stellungspflichtige persönlich ziehen oder durch beliebige Personen ziehen lassen kann. Für mich hatte der Krieglacher Vorstand gezogen, und zwar die günstige Nummer 67.

Die Nummern bis 60 hinauf kehrten fast zur Hälfte nicht wieder. Ein Feldwebel holte ihre Kleider. Wir wußten, was das zu bedeuten hatte. Die aber zurückkehrten, brachten ein um so vergnüglicheres Gesicht mit, kleideten sich so rasch als möglich an oder nahmen aus Furcht, daß es die Herren drinnen gar noch reuen könne, sie laufen gelassen zu haben, eilig die Kleider unter den Arm und entschlüpften durch irgendein Loch davon.

Von Nummer 51 bis 65 kehrte jeder zurück. Die Nummer 66 erschien nicht mehr; der Feldwebel kam um ihren Anzug. So wurde endlich nach Nummer 67 gerufen. Ich schritt mit möglicher Gemessenheit – eher zu schnell als zu langsam – in die Löwenhöhle.

Was war denn da Besonderes? Drei oder vier Herren in schwarzen Röcken mit funkelnden Knöpfen, silbernen Halskrägen, Säbeln und Schnurrbärten. Zigarren rauchten sie. Mein erster Gedanke war, ob sie nicht durch ein höfliches »Guten Morgen« zu bestechen wären. Aber ich hatte von meinen Vordermännern gehört, daß die Herren auf solchen Gruß gar nicht gedankt hätten; wir waren nichts als eine Sache, und wer wird denn mit einer Nummer 67 Gruß tauschen? Ich biß also die Zähne zusammen und schwieg und warf den trotzigsten meiner Blicke vor mich hin.

Sofort wurde ich an eine aufrechtstehende Stange gestellt. Einer der Offiziere schob mit sachtem Händedruck [317] die Brust hervor, die Knie zurück und sagte: »Vierundsechzig ein halb!«

Ein anderer schien das aufzuschreiben.

»Brust frisch; Muskeln bildungsfähig.«

»Noch ein Jahr laufen lassen,« sagte ein anderer.

»Geh' und zieh' dich an!«

Das war der ganze Vorgang. Ich wußte kaum, wie ich wieder in den Vorsaal gekommen war. Beim Ausgang an der Treppe hielten die wachehabenden Soldaten das Bajonett vor den Weg; das ist eine Bitte an die Glücklichen um Trinkgeld. Es bedürfte des Bajonettes nicht, jeder gibt: ist es doch der Moment, in welchem er aus dem verhängnisvollen Hause und seinen oft harten Folgen wieder in die liebe Heimat zurückkehren darf.

Die »Gebliebenen« durften zumeist auch noch ein mal heimgehen und dort die Einrückung abwarten; aber erst werden sie in Gewahrsam gehalten, bis die Herren mit der Assentierung fertig sind; dann werden sie zu den Regimentern eingeteilt und haben den Fahneneid zu leisten, und nun sind sie – Soldaten.

Wir erwarteten sie in den Wirtshäusern von Bruck, sie wurden mit lauten Geschrei empfangen, und sie wurden gefeiert mit Wein und Gesang, und wenn mancher der »Behaltenen« ins Brüten wollte versinken darüber, daß er heute sein heiteres Jugendleben in den grünen Bergen verloren und nun fortmarschieren soll vielleicht in ein fremdes Land, vielleicht aufs weite Feld, und daß er – er lebte so gern wie die anderen – sein junges Blut soll einsetzen: so weckte ihn das Gejohle der Zechgenossen immer wieder zu neuer Wirtshauslust, und endlich war in allen eine Stimmung, als wäre bloß dieser eine Tag, [318] aber er hätte kein Ende, er versinke nur in die Nacht und die Nacht in Wein.

Doch es kommen und vergehen die Stunden, und es kommen und vergehen die Räusche. Am anderen Tage sonderten wir uns, und nach Krieglach-Alpel ging, was nach Krieglach-Alpel gehörte. Aus unserem Schocke waren zwei Mann zu Soldaten geworden: ein blutarmer, aber bildschöner Kohlenbrennerssohn und ein Bauernknecht. Der Bauernknecht stellte sich lustig und fast ausgelassen und wollte mit manchem Straßenwanderer, der uns begegnete, Händel anfangen. Der Kohlenbrennerssohn war traurig. Wir wußten nicht, was denn er durch das Soldatenleben verlor, er wußte es auch nicht – er schaute die hohen Berge an und die Waldbäume...

Um so mehr sorgten wir anderen und die Wirtshäuser am Wege, daß die tolle Rekrutenlust nicht entschlafe. Auch in Bauernhöfe sprachen wir zu um einen Trunk. Den Strauß und die Bänder sollte nach der Väter Sitte nur der als Soldat zurückkehrende Rekrut auf dem Hute behalten. Wir aber machten es anders, wir behielten alle die Sträuße auf, um damit um so mehr Aufsehen zu erzielen.

»Schau, schau, 's wird 'leicht wohl Krieg werden,« meinte manch ein Bäuerlein, »weil sie jetzund alle behalten – gleich alle nach der Reih' her. Wird wohl wahr sein, was die alten Leut' haben gesagt, daß die Weibsleute um den Stuhl raufen werden, auf dem einmal ein Manneder ist gesessen.«

Hinter dem Dorfe Freßnitz erreichten wir einen Bettelmann, der seinen Leierkasten auf dem Rücken trug. Sogleich forderte ihm einer den Drehhebel ab, und während ein zweiter den Alten voranführte wie ein Zaumroß, [319] werkelte ein dritter auf dem Rücken des Bettelmannes alle Weisen, die im Kasten staken, und wir übrigen tanzten und hüpften auf der gefrorenen Straße. Solchen Aufzuges kamen wir nach Krieglach, wo wir unser musikalisches Gespann ins Wirtshaus mitnahmen. Der Alte war gar sehr vergnüglich und versicherte uns, daß wir Engel von Rekruten wären gegen jene zu seiner Zeit. Er hätte es auch getrieben, und wenn sie einmal einen Bauer, der im Wagen saß und sich von seinem Esel den Berg hinanziehen ließ, an die Deichsel gespannt und dafür den Esel in den Wagen gesetzt hätten, so wäre das noch nicht das Keckste gewesen. Er ließ uns leben und pries die alte Zeit.

Über den Alpsteig hin wurde viel gesungen. Ich möchte die Lieder nicht wiedergeben; wir sangen uns warm, wir sangen uns heiser. Als uns an der oberen Reide eine Hausiererin, die Eiermirzel aus dem Jackellande, begegnete, welche im Korb die Dingelchen, von denen der Volksmund singt: »'s ist ein länglichrund Kastel, hat kein Türl und kein Astel, ist eine Kaiserspeis' drein«, nach Mürzzuschlag trug, kam mir das Wort aus: »Lene (weiche) Eier wären gut gegen die Heiserkeit!«

»Das werden wir aber gleich sehen!« riefen die anderen, nahmen dem Weibe den Korb ab und tranken ihre sämtlichen Eier aus. Der Köhlerssohn trank auch mit – ich ebenfalls.

Die Eiermirzel konnte in ihrer Entrüstung sonst kein Wort hervorbringen, als: »Ihr seid's Lumpen!«

»Das macht nichts,« antwortete ihr der Zedelzenz, »wenn wir einmal Geld haben, zahlen wir.«

Sie kehrte nun mit ihrem leeren Korbe um und äußerte brummend ihre verschiedenen Ansichten über uns [320] und unser Gehaben. Wir huben wieder an zu singen, und die Eier taten ihre Schuldigkeit.

Beim Stockerwirt ließen wir's noch einmal toll übergehen. Ich unterließ es nicht, hier neuerdings nach der Straußspenderin zu forschen, und war fest entschlossen, dieses Mädchen, wann und wo ich es auch ergriffe, mit ganzer Herzensseligkeit zu lieben.

Die alte Wirtin zwinkerte vielsagend mit den kleinen Äuglein, aber näheres habe ich bei ihr nicht erfahren.

Vor dem Wirtshause trennten wir Burschen uns in dem unerschütterlichen Bewußtsein, nach diesen Tagen der Gemeinsamkeit uns gegenseitig die zusammenhaltigsten Kameraden zu bleiben. Für den Tag, wenn die beiden Gebliebenen fort müßten, wurde noch ein Abschiedsfest beim Stockerwirt bestimmt. Nach verrauschter Lust fast öde war es in meinem Innern, als ich hinausging gegen mein Heimatshaus. Zu jedem Fenster sah schon ein lachender Kopf auf mich heraus. Der Vater ging mir langsam entgegen und schlug mir mit dem Arm den Hut vom Kopf, daß die Bänder rauschten im hartgefrorenen Schnee.

Ich wußte im ersten Augenblicke nicht, was das zu bedeuten hätte, aber mein Vater ließ mich hierüber nicht lange im ungewissen.

»Macht dir das nichts,« sagte er, »daß du mit einer brennroten Lug auf dem Hut heimkommst? Vonwem du den Besen hast, davon werden wir später noch reden. Jetzt frag' ich dich nur, wieso du deiner Mutter das antun kannst? Wie hart ihr ums Herz ist in der Angst, daß sie ein Kind kunnt verlieren, das weißt du hundsjunger Laff freilich nicht. Aber daß du uns so hättest erschrecken mögen! Von dir hätt' ich's nicht vermeint. Wenn nicht [321] just die Eiermirzel gottsgeschickt daher kommt, so hättest du mit deinem verdanktleten Buschen eine saubere Geschicht aufheben können. Wo die Mutter eh' alleweil kränklich ist!«

Ich zitterte am ganzen Leib. Der Rekrutendusel war weg, ich sah plötzlich meine Niedertracht. Mein Herz tat einen Schrei nach der Mutter. Und dieselbe Eiermirzel, die wir auf der Straße – ich sage den rechten Namen – ausgeplündert hatten, war in ihrer Gutmütigkeit vorausgelaufen, um den Meinen, von denen sie manche kleine Wohltaten empfangen hatte, zu sagen, daß sie sich vor dem Soldatenstrauß, mit dem ich wahrscheinlich heimkommen würde, nicht erschrecken möchten, ich wäre glücklich davongekommen.

Der freudvolle Händedruck der Mutter vergrößerte noch meine Zerknirschung. Da hielt mir schon der Vater den Strauß vor die Nase: »Und jetzt, Bub, mußt wohl so gut sein und mir sagen, woher du das schöne Geblümel hast! Ziehst mir gar schon etwa mit einer um? Das muß ich wissen!«

So Vieles und Süßes von hübschen Dirndln ich in mir dachte, so gern ich davon mit meinesgleichen sprach, vor dem Vater sah das Ding anders aus.

Ich versicherte, daß ich noch mit keiner umziehe und daß ich nicht wisse, wer mir den Strauß gegeben hätte. Er lachte auf, dann fuhr er mich zornig an, von wegen »der dummen Keckheit, ihm so was vorlügen zu wollen«.

Die Mutter kam dazwischen und sagte, man könne froh sein, daß ich wieder daheim wäre, und man solle mich nicht erst hart schelten.

»Du machst ihn in seiner Schlechtigkeit noch stark?« [322] rief er, »wenn er mir hell ins Gesicht lügt. Oder ist dir so ein Halbnarr schon vorgekommen, der nicht weiß, von wem er den Buschen auf dem Hut hat?«

»Jetzt muß ich lachen auch noch,« sagte die Mutter, »dasmal kann's der Bub' freilich nicht wissen, weil ich selber ihm den Strauß heimlich auf den Hut stecken hab' lassen, daß er doch auch was Färbig's haben soll, wie die anderen.«

Heimlich hat sie's getan, weil sie wohl geahnt, ihr Sohn verlange nach fremden Rosen und könne die Spende der Mutter verschmähen. Sie hat ihm seine Undankbarkeit schon im vorhinein verziehen. – Und der heimkehrende Sohn hätte sie mit demselben Strauß zu Tode erschrecken können!

Daß die Kinder nur immer so ins Weite und ins Fremde streben, nach Liebe hungern und nach Liebe haschen, die sie doch so rein und reich und unendlich nimmer finden, als daheim an der ewigen Liebe Quell – am Mutterherzen!

Die Sonnenwende
[323] Die Sonnenwende.

Hier muß ich einmal stillstehen, muß zurückdenken an das vierzehn- oder fünfzehnjährige Waldbauernbübel.

Damals beiläufig war es, daß ich in den Thomasnächten nicht schlafen konnte. Den Hexen, welche in dieser Wintersonnwendnacht auf den Blocksberg zur Ratsversammlung reiten, kann ich an meiner Schlaflosigkeit keine Schuld beimessen, denn dazumal war nur alles, was Hexe hieß – ob jung, ob alt – über die Maßen gleichgültig. Aus dem Lager selbst ist auch nichts Besonderes zu berichten, denn ich erinnere mich, daß zur Winterszeit die Bettdecken allwöchentlich einmal in den heißen Ofen kamen, in ein Klima, welchem nachgerade jeder der braunen Springer zum Opfer fiel.

Die Ursache meiner Schlaflosigkeit war wohl der am nächsten Tage stattfindende Thomasmarkt.

Das Geld hatte ich stets beisammen und hielt es in einem hohlen Ei, welches aus Holz bestand und rot gefärbt war, wohl verwahrt. Die Hühner in Alpel legten keine hölzernen Eier, aber eine alte Hausiererin ging um, die mir, dem »gamperen Bübel« 1, jenes schenkte, mit der genauen Anweisung, wie man es auseinanderschraube und Geld hineintue. Das erstere war keine Kunst, aber das letztere, wie man Geld hineintue, gelang mir nur.

[324] Wenn ich eins hatte. Da nun aber der Mensch einmal das hohle, hölzerne Ei besitzt, so hat der liebe Gott die Hühner erschaffen, welche andere Eier legen, die so eingerichtet sind, daß sie die Mutter verkaufen kann. Und so schickte mich denn – wie schon früher erzählt worden – die Mutter stets mit einem Handkörbchen voll Eier zu Dorfwirten in Krieglach, woselbst ich für meinen Teil stets zwei Kreuzer »Tragerlohn« erhielt. Solche Einnahme tat ich regelmäßig in mein hölzernes Ei, das ich sonach allemal fest zuschraubte und als Schatzkästlein aufbewahrte. Ich erinnere mich noch, wie mir bei diesem Einschrauben der Kupferkreuzer einmal ein weitläufiger Vetter zugeschaut und gesagt hat: »Bub, du hast in deinem Ei ja kein Eiweiß drinnen! Da seh', ich geb' dir eins.« Und legte mir ein blinkendes Silbergröschlein hinein.

So oft ich ins Dorf zur Kirche ging, nahm ich mein Ei mit. Und wenn ich dann am Obstkrämer vorbeiging oder am Lebkuchenstand, griff ich in den Sack nach meinem Ei, zog es aber nicht heraus, sondern dachte: Wenn ich wollt', ich kunnt mir gut Sach' kaufen, aber ich mag nicht, ich heb' mein Geld für den Thomastag auf.

Und am Thomastag – es mochte schneien oder der alte Schnee vor Kälte winseln – gingen wir zur frühen Morgenstunde mit einer Spanfackel den weiten Weg nach Krieglach zur Rorate und zum Markt. Als wir über den Kirchplatz schritten, wo bei Fackelbeleuchtung die Krämer ihre Buden errichteten, blickte ich jedesmal gegen das Eckhaus hin, an welchem schon ein leerer, kahler Bretterschragen stand, der mir das Herz rascher klopfen machte. Die feierliche Rorate war für mich an diesem Tage so viel als verloren; mein ganzes Herz fühlte ich [325] in der rechten Hosentasche, denn in derselben stak das hölzerne Ei.

Nach dem Gottesdienste drängte ich mich durch die surrende Menschenmasse und zwischen den prangenden Buden gegen das Eckhaus hin. An den Wänden und Dächern der Häuser lag schon der Schimmer des ausgehenden Tages; oftmals auch zitterte ein Nebel von Schneeflocken nieder auf die wimmelnde Menschenmasse und auf die Zelte der Verkaufsstände, und da strebte ich mit doppelter Ungeduld dem bewußten Holzschragen zu, besorgt, ob dort die Dinge gegen den Schnee wohl gut verwahrt seien.

Und so sehe ich dich im Geiste noch heute stehen, du lieber Mann aus Kindberg mit deinem weiten Lodenmantel und deinem grünen Steirerhute – hast noch einen Fetzen davon, so schenke ihn mir; du glaubst es nicht, wie du mir noch teuer bist aus jener Zeit, da du in den Reihen der anderen Krämer dastandest und zwischen dem Pelzkragen deines Mantels und deinem blonden Schnurrbarte gemächlich den Rauch der Zigarre hervorbliesest und so auf deinen »Stand« hinschmunzeltest, auf welchem die Güter ausgebreitet lagen. Ich konnte damals nur nicht begreifen, wie du die Schätze gegen eitel Geld hinzugeben vermochtest; aber mir kam dieser dein Leichtsinn gut zu statten, soweit mein Eiweiß und Dotter reichte. –

Bücher! Bücher hatte der merkwürdige Mann. Aber nicht Bücher mit vergilbten Blättern und verschimmeltem Schweinsledereinband; nicht Bücher mit lateinischen Predigten, wie der Schwendtoni eines besaß, und aus welchem er seine Zauberformeln zu lesen vorgab, wenn er das Wetter oder eine Krankheit seiner Rinder beschwören [326] wollte – bis es erst spät offenbar wurde, daß im Buche nicht Zauberformeln stünden, sondern lauter Predigten »gegen die Verdamblichkeit der Hexereyen und denen Folgen in derer und der anderen Welt«. – Ganz neue Bücher hatte mein merkwürdiger Mann. Sonst war mir fast gewesen, Bücher stammten alle aus alter Zeit, Bücher mache man heutzutage gar nicht mehr. (Den Irrtum mögen mir Gott und die fünfzehntausend deutschen Schriftsteller von heute vergeben!) Und hier sah ich Bücher, deren Blätter so weiß waren, wie der Schnee, der darauf fiel, mit schönen Bildern irdischer Dinge und mit einem Drucke, der so glatt und scharf war wie feinster Streusand. Diese Eigenschaften hatten vor allem die »Volkskalender«. Der Kalender war daran das wenigste, diesem aber folgten Geschichten, Lieder, Weltbeschreibungen und possierliche Späße, daß es schon eine Freude war.

Anfangs starrte ich immer nur so von weitem darauf hin, lange aber ließen sich die Finger nicht zurückhalten, obschon der Mann im Lodenmantel einigen Zweifel in die Zahlungsfähigkeit des kleinen Knirpses zu setzen schien.

»So ein Büchel da – was es denn kostet?«

»Das da? Das kostet sechsunddreißig Kreuzer.«

»Schlechtes Geld?«

»Gutes Geld.«

Zu jener Zeit war nämlich die Wiener Währung unter der Bezeichnung »schlechtes Geld« und die Konventionsmünze als »gutes Geld« in Umlauf. Letzteres wog schwer – und ganz ging er dran und drauf, der Inhalt meines hölzernen Eies. Hingegen war der Volkskalender mein Eigentum.

Während ich meinen Schatz in den Sack preßte, nahte [327] der Herr Pfarrer. Wohlgefällig blickte er mit seinem breiten Gesichte, auf welchem sehr viel Freundlichkeit Platz hatte, zu dem Bücherstand hin und blätterte in den Werken. Dann langte er gemächlich in den Rocksack und zog die Brieftasche hervor. – Jetzt paß' auf! sagte ich zu mir selber, jetzt kauft der Herr Pfarrer die Bücher alle weg! Wahrlich, so ein Herr hat den Himmel schon auf der Welt. – Der Herr Pfarrer machte ein paar Schritte seitwärts und kaufte sich – ein Kistchen Zigarren. Ohne sich weiter um den Bücherstand zu kümmern, nahm er das Kistchen unter den Arm und ging, stets das Handküssen der Leute von sich abwehrend, durch die Menge davon. Ich hatte ihm lange nachgestarrt. Ich konnte mich ob der Selbstverleugnung und Entsagung des Herrn Pfarrers kaum fassen. Endlich warf ich noch einen Blick auf die Bücher und machte mich auf den Heimweg. Ich konnte mir an diesem Tage keine Semmel kaufen, denn das Ei war erschöpft, und ich hatte wahrlich auch keinen Hunger; Herz, Seele und Magen klammerten sich an das Buch, das ich im Sacke trug.

Und als hernach – nein, man mag nicht alles haarklein erzählen – kurz, ich las das Buch von Anfang bis zu Ende, las im Kalender jeden Heiligen, jede mutmaßliche Witterung, jede Bauernregel, jede Finsternis, ich betrachtete an den Bildern jeden Strich und erbaute mich zum Schlusse noch an den Anzeigen von allerlei Gegenständen, die mich nur deshalb innerten, weil sie im Kalender standen. Und als ich mit dem allen fertig war, sing ich von vorn wieder an. Es ist wahr: so werde ich den Kalender mit der gleichen Aufmerksamkeit und Freude im Laufe des Jahres wohl drei- oder viermal gelesen [328] haben. Und dabei zählte ich schon die Tage bis auf den nächsten Thomastag, da ich mir den neuen Jahrgang zu erwerben hoffte.

Da begegnete mir in dem nächsten Jahre, so etwa anfangs Mai, ein Unglück.

Unsere Hühner, die – ich sage es etwas absichtlich – mit ihrem Eheherrn stets in bestem Einvernehmen lebten, überschütteten alle Nester, Heuböden und Scheunen mit Eiern, und ich mußte wöchentlich zweimal mit der Ware ins Dorf, was meinen Vermögensverhältnissen recht zustatten kam.

Auf solchem Wege traf ich einmal mit des Brotschimmelschneiders Marianne zusammen. Sie ging immer barfuß und war gerade so lang wie ich, und ich hatte ihr, wie schon früher erzählt, mehrmals auf die Zehen getreten, ohne daß es ihr besonders wohl und mir besonders weh getan hätte. Die Marianne trug heute auch einen Eierkorb.

Wir gingen eine Zeitlang still nebeneinander her, sie mit den Eiern, ich mit den Eiern. Endlich redete ich sie an: »Tragst Eier?«

Darauf sie: »Tragst du auch Eier?«

Und ich: »Wie gibst sie denn du?«

Und sie: »Wie gibst sie denn d u?«

Und ich: »Wo gehst denn hin?«

Und sie:


»Zum Schmied um Zinn,

Zum Bäckn um Brot,

Dein Frogn host rot.«

2

[329] Damit bog sie wegsab. So hinreißend gottlos war das! Ich wendete ihr mein Auge nach, meine Füße stolperten über eine Baumwurzel – im nächsten Augenblicke war der Pfad übergossen mit Eiweiß und Dotter. Das erstemal, daß es mir passierte. Freilich wohl auch das letztemal, denn an diesem Tage entsetzte mich meine Mutter vom Eiertransporte; das Geschäft und dessen Ertrag fiel auf meinen jüngeren Bruder.

Insoweit verschlug es nichts, ich hatte es nun auf dem Kirchwege viel bequemer als sonst, konnte mich zu anderen Burschen gesellen, die mich früher spöttisch das »Eiertrappel« genannt hatten. – Als jedoch der Thomastag kam, war im hölzernen Ei fast kein Geld da für den neuen Kalender. Ich stand wohl lange vor dem Bücherladen und las von weitem die Titel. Ich sann und sann, wie ich doch zum Kalender käme, aber unumstößlich war die Tatsache: Hast kein Geld, so kannst keinen kaufen. – In dieser Stunde kam mir der Gedanke: Und kannst keinen kaufen, so mach' dir selber einen! – Rasch wandte ich mich um, verschaffte mir durch meine wenigen Kreuzer Papier, Tinte und Feder und ging heimwärts. – Derselbe Weg war nicht minder glückselig als jener, da ich den neuen Kalender in der Tasche getragen hatte. Heute trug ich ihn im Kopfe. Allerlei fiel mir ein, was ich in das Buch schreiben würde, und als ich nach Hause kam, ergriff ich Nadel und Zwirn, nähte flink aus weißen Papierbogen ein Büchelchen zusammen und begann zu schreiben. Das wurde der erste der fünf Jahrgänge jener wunderlichen Erzeugnisse, die ich »Volkskalender« benannte und die heute noch in meiner Lade aufbewahrt liegen. Ich schrieb Erzählungen, Gedichte und allerlei andere Aufsätze [330] hinein, ich zeichnete die Bilder dazu, ich verfaßte das Kalendarium und traf's in der »mutmaßlichen Witterung« so gut, wie jeder »gelernte Kalendermacher«. Für den nächsten Pfingstmontag kündete der gedruckte »Mandelkalender« meines Vaters: Sonnenschein, in meinem Jahrbuche aber stand für diesen Tag Donnerkeul und Regen; und siehe, schon zur Morgenstunde, da wir in die Kirche gingen, hub es an zu donnern und zu regnen, daß an unserem Leibe kein Faden trocken blieb. Meine eingetroffene Weissagung wurde verbreitet, mein Kalender gewann an Ansehen. Leider ist dieser gute Ruf nur zu bald kläglich zuschanden geworden, als im nächsten Jahrgange unerhörterweise – Pfingsten vor Ostern stand.

Für das Lesen der Kalender oder das Besehen der Ausstattung hatte ich zwei Kreuzer (schlechtes Geld) als Sold bestimmt; doch seit ich aus jenem unseligen Versehen Pfingsten, das liebliche Fest, auf Ende März verlegt hatte, wollte keiner von meinem Volkskalender mehr etwas wissen. Nur der Schanzschusterflorl kam eines Samstag abends, verlangte den Kalender anzuschauen, und als er damit fertig war, begehrte er die zwei Kreuzer.

So blieb nichts übrig, als meine Volkskalender selbst zu lesen. Trotzdem fabrizierte ich an den Jahrgängen fort; der weitläufige Vetter, der öfter zu uns ins Haus kam, sah mir bei meiner Arbeit sogar mit stillem Vergnügen zu, und einmal, als ich aus weißem Papier wieder ein Buch zusammenheftete, um es frisch vom Kopfe weg voll zu schreiben, zog er seine Pfeife aus dem Mund und sagte: »Ich seh's, Bub, du bist kein Bauer nicht, du bist zu was anderem geboren. Was du findig bist und flink mit der Nadel! Du mußt ein Schneider werden.«

[331] So ist es der weitläufige Vetter gewesen, der zuerst mein Talent entdeckt hat. Und sein Wort ist denn in Erfüllung gegangen. Doch nach wie vor, an stillen Feierabenden und in langen Nächten, schrieb ich Kalender und Bücher, die ich mir zum großen Teile während der Arbeit zurecht gelegt hatte, so daß mein Meister weit öfter als einmal gefragt hat, wo ich denn meine Gedanken hätte? Da ich sie verleugnete, so war anzunehmen, daß gar keine vorhanden. Ich schrieb ein Predigtbuch unter dem Titel: »Weg in die Ewigkeit«. In Stunden weltlicher Stimmung schrieb ich an einer periodischen Schrift: »Freue dich des Lebens«. Da zwischen arbeitete ich an Dramen und Lustspielen. Später verfaßte ich eine Monatsschrift, benannt: »Fröhliche Stunden, erscheint alle Vollmondnächte«. Ferner gab ich eine Zeitschrift, betitelt: »Meine Gedanken«, heraus und auch ein Prachtwerk, von eigener Hand ganz besonders glänzend illustriert, zwei Jahrgänge »Museum«. (Ich wiederhole hier der Übersicht wegen.)

Die Leute verwunderten sich, wollten aber mein Gebaren nicht recht gutheißen; allerdings sagte mein Lehrmeister mehrmals: »Wenn er nicht sonst so brav tät' sein und ehrsam, ich wollt' ihn gleich fortschicken; bei der Arbeit ist er gar nicht so gescheit. Es stecken ihm allzuviel Fabelei'n im Kopf.«

So vergingen die Jahre, und die Zahl meiner Schriften wuchs von Woche zu Woche. Da begann sich in mir allmählich jener Teufel zu regen, den manche meiner Leser vielleicht aus eigenem kennen – ein ruhelos Gespenst, schmeichelnd und trügerisch – die Sehnsucht nach der schwarzen Kunst. Heute weiß ich's: die Druckschwärze ist so harmlos und wohlfeil wie Stiefelwichse und wird [332] zuweilen auch als solche verwendet. – Die Zeitung! Ich kannte sie vom Einschlagpapier her, in welches der Kaufmann die Kleiderstoffe, den Zwirn und die Knöpfe zu wickeln gewohnt war. An einem Freitagsabend spät war's, da ich neben meinem schlummernden Meister noch nähte, als mir der Gedanke kam, etwas von mir Gedichtetes in die Zeitung zu geben. Am nächsten Sonntag verfaßte ich das Schreiben und sandte es nach Graz. Nicht lange, und ein Brief vom Leiter der Zeitung, der alle meine bisher verfaßten Dichtungen zu sehen verlangte. Ich erschrak. Woher das Postporto nehmen, wenn der einfache Brief schon fünf Kreuzer (Gutes Geld) kostete?!

Zu jener Zeit aber wurde ich inne, wozu auf Erden ein Firmpate unter anderem gut ist. Mein Firmpate, der brave Schmiedhofer in Alpel, hatte zur selben Zeit einer Waldangelegenheit wegen in Graz zu tun. Der ließ den Eisenbahnzug im Mürztale lange pfeifen und ging zu Fuß den sechzehn Stunden langen Weg in die Hauptstadt. Bevor er fortging, fragte ich mich bei ihm an, ob er mir eine Gefälligkeit erweisen wolle.

»Von Herzen gern, Peter, tu' mir's nur sagen, was du für ein Anliegen hast.«

»Ob der Göd nicht so gut sein wollt' und meine G'schriften nach Graz mitnehmen und in die Zeitung tragen?«

»Warum denn nicht? Tu' mir das Zeug halt zusammenrichten.«

Der arglose Mann! Als er meine »G'schriften« sah, schlug er die Hände zusammen und rief: »Jesses, da muß ich ja einen Buckelkorb nehmen!«

Die Papiere gaben wohlgewogen fünfzehn Pfunde.

[333] »Im Gottesnam'!« sagte der Pate, »wenn du den ganzen Kram im Kopf hast tragen können, so werde ich ihn doch 'leicht wohl auf dem Buckel tragen mögen.« Und nahm einen Tragkorb, und lud auf – und ich sah dem Manne lange nach, als er, fast gebeugt unter der Last, mit all meinen Dichtungen den steinigen Waldweg hinschritt und endlich im Schatten der Tannen verschwand.

Ich glaube, ich bin in jener Stunde dagestanden, lahm und starr, als wär' meine Seele davongetragen worden.

Diese aber ging voraus – Quartier machen.

Fußnoten

1 niedlichen Jungen

2 »Dein Frogn host rot« ist eine beliebte Abfertigung und heißt soviel als: »Das Fragen kannst du bleiben lassen, es ist überflüssig.«

Als ich davonging
[334] Als ich davonging.

In der Weihnachtswoche des Jahres 1864 hatten wir, mein Meister und ich, weit drinnen in einem Grabenhäusel der St. Kathreinpfarre auf der Ster gearbeitet, um den armen Leuten, die schon seit Michaeli her in ihrem Linnengewande froren, endlich für den Winter neue Lodenkleider zu machen. Es hatte die Tage arg geschneit und gestürmt, so daß ich insgeheim schon in großer Angst war, wir wären eingeweht und würden die Feiertage über müssen in der ödweiligen, rauchenden Hütte verbleiben. Schrecklicheres als das hätte ich mir nicht denken können; meine Hoffnung und Sehnsucht das Jahr über waren die lieben Weihnachten mit ihrer Weihe im Heimatshause, mit ihrer Glorie in der Kirche, mit ihrem Festmahle und mit ihrer hübschen Reihe von Feiertagen. Da konnte ich bei meinen Büchern, Schriften und Zeichnungen sein. Ich konnte mir nun Schreibzeug kaufen, denn so außerordentlich hatte sich meine Lage gebessert, seit es Wochenlohn gab.

Es standen fröhliche Weihnachten bevor, und ich machte mir an den langen Winterabenden bei Nadel und Zwirn im stillen manchen Plan für Erzählungen, Gedichte, Dramen usw »den ich in den Feiertagen beim Ofen und bei der Fackel daheim ausarbeiten wollte.

[335] Und wenn wir dann spät um zehn oder gar um elf Uhr – bei dringender Arbeit vor Festtagen mußten wir stets tief in die Nacht hinein fleißig sein – aufs Stroh gingen, das uns die Bäuerin auf dem Fußboden in der Stube nahe an unserem Arbeitstisch ausgebreitet hatte, betete ich, daß die Witterung sich zum Guten wende.

Ein frischer Wind, ein heiterer Himmel, gute trockene Kälte, hie und da ein Schneeschaufler – so war der heilige Abend. Mittags um ein Uhr sagte der Meister: »So, jetzt machen wir Feierabend.« Ich zog die Fäden aus den Nadeln, steckte die Nadeln in das Kissen und das Kissen in das Ränzl: die Schere, den Pfriemen, den Fingerhut dazu, fröhlich pfeifend, wie allemal zur Feierabendzeit – wie hätte ich wissen können, daß es das letztemal war? – Mein Meister sagte noch die Worte: »Na, wie oft hab' ich dir schon gepredigt, daß man den Faden nicht aus dem Ohr zieht, wenn man einpackt – der gehört dem Schneider, und das Jahr über macht's einen Strähn. Bist auch just keiner, der seine Sach' wegzuwerfen hat.«

Ein lieb- und sorgenreiches Wort. Ich weiß nicht mehr, ob ich den Faden noch mitgenommen habe. Die Bäuerin brachte die heiße Milchsuppe und den überzuckerten Semmelkuchen, dann kam der Bauer, zahlte dem Meister den Arbeitslohn und der Meister mir den Wochensold aus, dann sagten wir gegenseitig »Vergelt's Gott!« und »Bedank' mich fleißig« und »Glückselige Feiertage!« und gingen davon. Mein Meister ging in seinem Pelzspenser und mit dem Tuchkäpplein auf den grauenden Haaren gegen Hauenstein hinab; ich eilte meinem Alpel zu.

Um vier Uhr war ich daheim und stieg mit den schlanken Beinen hoch über meine Schwester hin, die eben [336] an der Türschwelle kauerte, um den Rest des Fußbodens zu scheuern. Auf dem Herde war ein wütiges Prasseln, meine Mutter schmorte vom geschlachteten Schwein das Fett aus. Mein Vater – ich kannte ihn schon an seinem langsamen, gelassenen Auftreten – ging oben auf dem Überboden herum, vielleicht um die Festtagskleider zu holen, oder den Weihrauch für das an diesem Abende gebräuchliche Räuchern im Hofe.

»Bist da?« sagte meine Mutter mit ihrem vom Feuer geröteten Gesichte.

»Ja,« antwortete ich in fröhlich singendem Tone.

»So geh' zum Ofen und tu' die Schuhe aus; ich hab' dir die Patschen schon hingestellt. Bist hungrig?«

»Nein,« sagte ich. – Das waren zur Winterszeit immer die ersten Worte, die zwischen mir Heimkehrenden und der Mutter gewechselt wurden.

In der Stubenecke stand ein kleiner Winkelkasten, dem ging ich zuerst zu – es waren meine Bücher und Schriften drin. Nun die vielen Feiertage da, sollte das wieder ein Leben werden! – Aber die Feiertage sind mir in diesem Jahre für meine Arbeiten nicht gedeihsam gewesen. – Fast plötzlich begann es zu geschehen.

Kaum hatte draußen das Schmoren ein Ende, so kam meine Mutter in die Stube, schaute ein paarmal zum Fenster hinaus, was sie immer tat, wenn ihr irgend etwas anlag.

»Du, Bub,« sagte sie endlich, »weißt es schon?«

Ich sah sie an. Wenn sie mit den Worten: Weißt es schon? etwas einleitete, so konnte man stets auf mas gefaßt sein, das man noch nicht wußte.

[337] »Du sollst morgen nach Krieglach hinabgehen,« redete die Mutter weiter, »auf der Post sollen allerhand Briefe und Sachen für dich da sein. Der Knittler Kohlenführer hat es uns wissen lassen. Er kriegt's nicht mit, weil auch was zu unterschreiben ist.«

»Briefe? Auf der Post?« Alle Geister waren in mir aufgeregt. Aber die Mutter ging so ein paarmal durch die Stube und guckte wiederholt zum Fenster hinaus. Es kam noch was nach.

»– Und in der Neu – .Zeitung sollst auch stehen,« sagte sie plötzlich.

»Wer? Ich? In der Zeitung? Wer hat denn das gesagt?«

»Der Kohlenführer hat's gesagt. In Krieglach täten die Leut' seit etlichen Tagen nichts reden, als von dir. Weiß selber nicht, was das bedeuten soll.«

Meine Ruh' war hin.

Nicht erst morgen. Sofort zog ich mein Sonntagsgewand an, ließ mir die Stallaterne herrichten, die seit Jahr und Tag auf einer Seite die zerbrochene Scheibe hatte, und machte mich auf den Weg nach Krieglach. Die Nacht war dunkel, der Pfad im Schnee schmal und löcherig. Dennoch hatte ich soviel Sammlung, unterwegs an all die mutmaßlichen Ursachen zu denken, welche denn die »vielen Briefe und Sachen« für mich gebracht haben konnten. Vom Zeitungsherrn, dem ich durch den Firmpaten meine Schriften zutragen ließ?

Das konnte wohl einen Brief geben; aber viele? – Ich hatte keine Bekannten in der meiten Welt; was soll's denn sein?

Um elf Uhr nachts, als sie schon das erstemal zur[338] Mette läuteten, kam ich in Krieglach an. Fenster und Türen der Postkanzlei waren mit Eisenläden fest verschlossen. Wenn ich warten mußte in meiner Aufregung bis zum lichten Morgen – was konnte das für eine Nacht werden?

Als der mitternächtige Gottesdienst anhub, ging ich in die Kirche. Ich sah die Kerzenflammen, die mich sonst so sehr entzückt, das erstemal nicht mehr! – ich hörte die Krippenlieder nicht. Ich betete, daß mich Gott den Morgen möchte erleben lassen.

Nach dem Gottesdienste nahm mich ein Bekannter, der beim Lebzelter Pferdeknecht war, mit in den Stall und teilte mir mit, daß er gestern im Gastzimmer an drei Tischen von mir sprechen gehört habe, jedoch nicht klug geworden wäre, ob's eine Ehrensach' gewesen, oder eine andere. Der Schleiferbub sei halt auch in der Zeitung gestanden, wie sie ihn eingesperrt hatten.

»Ich werde nicht eingesperrt!«

»Das denk' ich wohl auch,« sagte der Pferdeknecht gelassen, »aber du hast voreh einmal Papierzehnerln nachgemacht –, hab' wohl eines gesehen. Und wenn du deswegen in der Zeitung bist, dann wirst auch eingesperrt.«

Es war eine böse Nacht, aber der Christtag kam mit seiner Poststunde.

Um sieben Uhr stand ich schon mit verfrorener Nase vor dem Posthause. Um acht Uhr erst ging die Eisentür auf. Der Briefausträger machte sich eilig zu schaffen. Leute, die ihre Sachen selbst holten, kamen herbei, die Lotterieschwestern drängten (beim Postamt war auch die Lotterie), und endlich redete der Beamte mich an, was ich wolle.

[339] »Briefe sollen für mich da sein?«

»Wie heißen Sie?«

Ich nannte meinen Namen, da hob der Beamte sein Haupt, sah mich eine Weile an und sagte dann: »Wollen Sie etwas später kommen, bis der Andrang vorbei ist.«

Ich ging nicht mehr fort, im Winkel hinter der Tür blieb ich stehen und hatte bittere Gedanken. Alle anderen kriegen ihre Briefe; warum ich nicht? Endlich jedoch ließ das Gedränge nach, und als das letzte Lottoweib glücklich bei der Tür draußen war, sah der Beamte lächelnd auf mich hin, hob dann aus einem Fache eine schwere Handvoll Briefe, Scheine und Paketchen, legte dieselben vor mich auf das Pult und sagte: »Alles für den steirischen Naturdichter.« –

So war's, als die erste Botschaft zu mir kam von jener Schicksalswende meines Lebens. Ich weiß nicht, ob es recht ist, daß ich selbst davon so rede; aber ich tue es deswegen, weil ich von anderen Leuten diese meine Sach' schon oft und immer ganz unrichtig erzählen gehört habe. Will es aber nicht versuchen, die Gefühle zu schildern, als ich den Aufsatz las, den Doktor A. V. Svoboda, der Redakteur der Grazer »Tagespost«, in dieser Zeitung über mich und meine ihm gesandten poetischen Versuche veröffentlicht hatte.

– Es möchten sich Wohltäter finden, die es dem jungen Naturdichter ermöglichen, aus seinen kümmerlichen Verhältnissen hervorzutreten und sich etwa in der Stadt eine entsprechende Ausbildung zu erwerben! Das war die Bitte Svobodas. Und Gedichtproben dabei.

Nun waren Anträge da, freundschaftlich beglückwünschende Zuschriften, Bücher, sogar Geldspenden »auf ein gutes Glas für Weihnachten«. Mir schwindelte der Kopf.

[340] In einem Jubelrausche taumelte ich nach Hause – und habe des Christmahls vergessen. Den Meinen las ich alles vor, sie verstanden noch weniger als ich, was es war. Aber die Mutter sagte: »Du Bub, gib acht, daß sie dich nicht zum Narren machen!« – Es war nahe dran, und ich sagte mir noch: Schau, wenn du jetzt aus diesem Traume plötzlich erwachst, so mußt nicht verzweifeln!

In den nächsten Tagen erhielt ich wieder Bücher und neue Briefe und darunter auch einen freundlichen Antrag vom Herrn Buchhändler Giontini aus Laibach. – Ich kann, wenn ich Lust habe, in sein Geschäft eintreten und die Buchhandlung lernen. Er macht mir so vorteilhafte Bedingungen, daß mir blau vor den Augen wird. Während der Lehrzeit monatlich acht Gulden und die volle Verpflegung in seinem Hause und das Reisegeld!

Was soll ich tun! Sofort schrieb ich nach Graz an Doktor Svoboda. Ich schrieb meinen Dank, ich bat um Rat.

Nach Laibach gehen! war die Antwort. In Graz selbst war eben noch keine Nachfrage nach mir gewesen.

Nach Laibach! Nun war das Wichtigste, zu erforschen, wo das Laibach wäre, und mittlerweile war auch schon das Reisegeld da.

Ja, sollte es denn ernst sein? Sollte ein Neues werden? Und sollte mein bisherig' Leben plötzlich abreißen, dort, wo es an zweiundzwanzig Jahre alt und im Begriffe war, eine gutbestallte Schneiderexistenz zu werden?

Am nächsten Werktage ging ich in die Wohnung meines Lehrmeisters, er saß längst auf seiner Bank, hielt das linke Knie an den Tischrand und nadelte. Er machte ein finsteres Gesicht und überhörte meinen Gruß, denn es war um eine gute Stunde später, als ich sonst das Tagwerk [341] anzufangen pflegte. Da er aber sah, daß ich im langen braunen Tuchrock und ohne Ränzel vor ihm stand, sagte er: »So? Von woher hast du dir den heutigen Feiertag kommen lassen? So einen möcht' ich auch haben.«

»Meister,« sagte ich klopfenden Herzens, »es hat sich was gar so närrisch geschickt, und jetzt soll ich nach Laibach hinein!«

Er ließ die Hand mit der Nadel auf dem Knie liegen, hob den Kopf und fragte: »Wo sollst hinein?«

Ich packte alle dazugehörigen Urkunden aus, die Zeitung, auf der ich gedruckt stand, den Antrag des Buchhändlers Giontini, den Beirat Doktor Svobodas und das Reisegeld.

Der gute Meister sagte lange kein Wort; endlich hub er an den Kopf zu schütteln; seine feinberunzelten Wangen waren rot, seine Lippen zuckten, und er sprach: »Ist's doch wahr, was man hört. Schau, schau, da ist auch wieder einmal einer, der das Gutsein nicht verbringen mag. – Nu, ich halt' dich nit auf. Bist dein eigener Herr, kannst gehen, wohin du willst – wenn du's nur nit einmal bereuest.«

Solche Worte machten mir das Herz nicht leichter. – »Mir wär' halt auch darum zu tun,« meinte ich nach einer Weile, »daß der Meister nicht harb (ungehalten) sein tät'.«

»Gibst das Handwerk auf?«

»Freilich möcht' ich mein Glück anderswie probieren.«

»Da hat man's!« rief der Meister und erhob sich, »so lang's ein Elend war mit dir, hab' ich dich gehabt, jetzt, weil du zu brauchen wärst, läufst mir davon!«

Erstarrt stand ich da und heftete meinen Blick auf den Meister.

[342] Er holte das Bügeleisen vom Ofen und drückte seine neue Naht aus, er schnitt ein Unterfutter zurecht und heftete das Lodentuch darauf. Endlich fragte er: »Wie lang willst denn noch so dastehen?«

Da regte ich mich und murmelte: »Ich bleib' schon.«

»Meinetwegen geh' nur,« sprach er, »ich möchte keine Schuld haben und mir nit vorwerfen lassen, ich wär' dir zu deinem Glücke hinderlich gewesen. 's mag dir ja recht gut gehen, ich wünsch' es.«

»So bedanke ich mich tausendmal für alles,« fuhr ich erleichtert drein, »was mir der Meister Gutes getan hat, und die Ellen hab' ich noch vom Meister, die schick' ich durch meinen Bruder zurück, und halt nichts für übel haben!«

So ähnliches wurde gesprochen, dann ging ich fort. Und als ich draußen an der Wand hinschritt, klopfte es am Fenster: ich sollt' noch einmal zurückkehren.

Ich tat's, der Meister kam mir zur Türe entgegen, tat sein Sacktäschchen hervor und drückte mir zwei Geldstücke, die zusammen fünfzehn Kreuzer ausmachten, in die Hand. »Da,« sagte er, »das nimmst mit. Geht's dir wie der Will', das gibst nit aus, das bewahrst zum Andenken an die Zeit, wo du dir, frisch und gesund, des Tag's fünfzehn Kreuzer hast verdient. Vergiß dein Handwerk nit. Behüt' dich Gott!«

So ist der Abschied vom Meister gewesen.

Anders war der von der Mutter. Sie war einverstanden mit meinem Davongehen. Der Vater war's anfangs nicht. »Schlechter geh'n wird's ihm nicht, als daheim,« meinte er, »aber verdorben wird er uns.«

[343] »Ich hab' ein gutes Vertrauen,« sagte die Mutter, »und wenn du das nimmst, unser Herrgott (sie meinte den Herrn Jesu Christi) ist auch in der Welt herumgekommen und doch nicht verdorben worden.«

»Unser Herrgott und unser Bub' ist gar kein Vergleich!« sagte der Vater, gab aber endlich doch seine Einwilligung.

Emsig war die Mutter beschäftigt in Anordnung der wenigen Dinge, die zu meiner Abreise nötig waren. Mir lag vor allem daran, irgendwo ein Holzkistchen zu bekommen, um meine Bücher, Schriften und eigenhändigen Zeichnungen, mit denen ich mich zusammengewachsen fühlte, einzupacken; alles andere, was noch mitzunehmen, war mir Nebensache.

Und am 14. Februar 1865, nachmittags 2 Uhr, saß ich am Tische und sollte mein Scheidemahl essen.

Meine kleinen Geschwister standen alle in der Stube und sahen mich an. Ich nahm einen Löffel voll vom Roggenmus – wie Sägespäne war's; und die Mutter hatte gewiß in ihrem Leben nichts mit jener Sorgfalt gekocht, als dieses Mahl. Übersatt stand ich auf. Meine ältere Schwester stand schon mit dem kleinen Pack, den sie mir bis Krieglach zum Bahnhofe tragen sollte. Ich ging im Hause herum und suchte Vater und Mutter.

Den Vater fand ich im Hof am Brunnentrog, wo er mit einem Beil das Eis aufhackte, daß man zum Wasser gelangen konnte.

»Jetzt geh' ich halt, Vater,« sagte ich.

Er lehnte das Beil hin und ging ohne ein Wort zu sagen mit mir in die Stube. Dort saß jetzt die Mutter auf einem Schemel. Und als sie sah, wie ich nun das[344] letztemal auf sie zuging, um dann weit von ihr zu wandern, da hub sie zu weinen an.

»Fort willst! ja, warum willst uns denn fortgehen? Und wir wissen nicht wohin, und wir wissen nicht, was die fremden Leute mit dir wollen.«

Rasch verließ ich das Haus auf dem Berge und ging noch ein letztesmal die bekannten Wege durch Gräben und Wälder, über Höhen und Niederungen hin gegen Krieglach. Meine Schwester schluchzte hinter mir drein.

Im Walde begegnete mir der Almhalter von den Heugräben, der fragte, ob ich eine Sackuhr oder Geld hätte.

»Geld hab' ich.«

»Fürchtest du dich nicht vor schlechten Leuten auf der Straßen?«

»Na.«

»Hörst, wenn dir einer unterkommt, dem du nicht recht traust; nur gleich anbetteln. Keck das Hütel herab und anbetteln; gibt er dir nichts, so nimmt er dir nichts. Behüt' dich Gott und laß dir Zeit auf dem Weg.« Sollte das Wort ein Almosen für meine Zukunft sein? –

Das Wirtshaus zu Krieglach, wo ich über die Nacht bleiben mußte, war voll von Gästen. Sie hielten mir Hände und Gläser entgegen, als ich eintrat, sie waren alle meinetwegen zusammengekommen; ich hatte gar nicht gewußt, daß ich in dem großen Dorfe so viele Freunde besaß. Erst jetzt gaben sie sich zu erkennen, die Schäker. Und alle redeten mich mit »Sie« an und riefen mich beim Schreibnamen und setzten jedesmal das »Herr« dazu. Vor diesem Tage hatte kein Mensch auf der Welt »Sie« zu mir gesagt, aber als später, nach Jahren, im lieben Krieglach wieder das »Du« an die Ordnung kam, [345] hatte es einen ganz anderen Klang und Sinn, als vorzeitlich, da ich der arme scheue Alpelbauernjunge gewesen war.

Am feinsten unter der Versammlung mar die Tochter des Wirtes, welche mir zur Ehr' mit Begleitung der Laute nach schrecklich langem Stimmen der Saiten den »Abschied von den Bergen« sang.

Und am anderen Tage in der nebelfrostigen Morgendämmerung ging ich dem Bahnhofe zu. Der »gemischte Zug« führte mich davon. Ich blickte zum Fenster hinaus, sah aber von meiner Heimatsgegend nichts, als den grauen Nebel, und da sagte ich mir: jetzt schon bist in der Fremde.

In Graz stieg ich auf einen Tag aus, um meinen Gönner zu sehen. Für die Wunder der großen Stadt hatte ich keine Zeit, mein Wichtigstes war, in der Welt Fuß zu fassen.

Doktor Svoboda lächelte, als er das Urbild seines von ihm öffentlich beschriebenen Naturdichters sah.

»Besitzen Sie keine Handschuhe?« war eines der ersten Worte, die Svoboda zu mir sprach, als er beim Händedruck meine krebsroten, eiskalten Finger fühlte. Nach seinem Überrocke eilte er, brachte ein Paar braune Tuchhandschuhe herbei und schob sie mir an die Hände. Und das war der erste Schritt zur Kultur – heute noch überflüssiger Aufwand, morgen Bedürfnis... Du mein lieber Gott, was diese ersten Handschuhe alles mit sich gezogen haben!

Doktor Svoboda lud mich zu seinem Tische. Ich sprach ihm von meiner Vergangenheit, er mir von meiner Zukunft. Der Plan zu einem neuen Lehen baute sich auf, daß ich erstaunte.

[346] Unter den Büchersendungen nach Alpel waren auch Schillers Werke gewesen, aber ohne Namen des Spenders. Daß man was schenken kann, ohne sich selbst dabei zu zeigen, zu nennen, war mir was Neues, und ich wurde sehr neugierig auf den Freund, der so mit mir Versteckens spielte. Svoboda wußte es, wer der Spender war, und nannte mir den Grazer Großindustriellen Reininghaus. Ich wollte ihn besuchen.

»Sie werden abgewiesen werden,« meinte mein neuer Führer. »Zwar von ihm nicht, aber von der Dienerschaft. Der Herr ist nicht zu sprechen, nicht zu Hause wird es heißen. Doch dringen Sie darauf, und gehen Sie nicht eher vom Fleck, als bis Sie den Herrn gesehen haben.«

Die Welt ist so eingerichtet, daß man nur durch Keckheit und Beharrlichkeit zu etwas kommen kann. Ich ging in das Fabrikgebäude und handelte nach der Weisung. Weil ich den Namen vergessen hatte, so fragte ich dem »Reineke« nach. Kein Mensch wußte, wen ich nur meinen konnte, bis mir ein Lastwagen zurecht half, der mit schwarzen Lettern den gesuchten Namen trug. Seither vergaß ich ihn freilich nicht wieder. Eine kleine Stunde stand ich neben dem Torwart, nach welchem der Herr richtig nicht zu Hause war. Als er aber sah, daß ich warten wolle, bis der Herr nach Hause käme, wies er mich in das Gebäude. Ich fand mich in dem großen, von Menschen, Pferden, Ochsen und Wagen belebten Hof nicht zurecht, der Lärm der Maschinen von allen Seiten betäubte mich, ich verlor den Mut und sah mich nach dem Ausweg um. Da klopfte mir plötzlich einer ziemlich stark auf die Achsel: »Wen suchen Sie?«

[347] »Den Herrn Reininghaus.«

»Was wollen Sie ihm denn?«

»Mich bedanken; er hat mir Bücher geschickt.«

Jetzt sah mich der Mann an. Da kommt so ein Junge; nicht um zu bitten, sondern um zu danken! – Reininghaus war es. Er führte mich in seine Wohnung, die so fabelhaft schön war, daß ich gar nicht wußte, wie mir geschah. Ich sah mich in den Wänden widerspiegeln, ich hörte meine eigenen Tritte nicht; der Fußboden war mit lauter blumigen Tüchern belegt. Drr Stuhl, auf den ich mich setzen mußte, war viel zu weich, als daß es ein gutes Sitzen gewesen wäre. Hier wurde wieder nach meiner Lebensgeschichte gefragt; und die war so langweilig, daß ich mich fast schämte, sie dem Herrn zu erzählen.

»Ich habe gelesen, daß Sie auch zeichnen können!« sprach er und legte auf seinen Schreibtisch Papier und Bleistift hin. »Zeichnen Sie mir da mal was!« – Ich setzte mich hin und sann. Was soll ich denn zeichnen? Ich schaute herum. über dem Schreibtisch hing das Bild einer jungen, schönen Frau. Das sah ich an und sah es an und – legte den Bleistift wieder hin: »Ich kann nicht zeichnen!« Das Bild hatte meinen Künstlermut gebrochen.

Schließlich gab er mir Geld.

»Gehen Sie in Gottes Namen jetzt nach Laibach,« sagte er, »und wenn Sie Rat und Tat nötig haben, so denken Sie an mich.«

Und am anderen Morgen fuhr ich davon. So lernbegierig war ich, daß ich unterwegs alle Bahnstationen[348] aufschrieb und auswendig lernte. Die Welt kennen lernen, da mußten ja doch auch die Bahnstationen dabei sein.

Nach einer siebenstündigen Fahrt war ich in der Hauptstadt Krains. Hier derselbe Frost und Nebel wie im Mürztale, aber die Leute hatten eine Sprache, die ich nicht verstand.

Es war schon abendlich, als ich mit meinem Reisepack unter dem Arm in die Buchhandlung trat und etliche Ladengehilfen ansprach, ob sie der Herr Giontini wären, bis ich endlich vor dem rechten stand, mich auswies und die Frage tat, ob ich nicht sogleich anfangen solle? Was ich gefürchtet, traf nicht ein, mein neuer Herr antwortete mir in deutscher Sprache. »Heute,« sagte er, »richten Sie sich in der Wohnung ein, dann sehen Sie die Stadt an und mein Geschäft. Morgen werden wir's versuchen.«

Im Zimmer der Gehilfen wurde mir ein gutes Bett angewiesen. Ich stellte über demselben meine Bücher auf. Dann war ich eingerichtet und starrte die Hausfrau nur befremdet an, als sie mir eine Lade öffnete, in welcher ich meine Kleider bergen konnte. Für meine Kleider wußte ich nachgerade keinen besseren Platz als meinen Leib. Das viele Geld, das ich besaß, steckte ich hinter die Lade. Dann ging ich und sah die Stadt an, und wo eine Kirche offen war, trat ich hinein, um zu beten.

Als ich mich hierauf in der großen Buchhandlung, der ich nun angehören sollte, es war eine vorwiegend deutsche, umsehen durfte, erschrak ich über die Unwucht von Büchern.

Am nächsten Morgen, als ich aus einem anmutigen Heimatstraum geweckt wurde – einer der Gehilfen hatte derb an der Decke gerüttelt – war ich etwas unangenehm berührt, daß ich mich in einem weltfremden Hause befand.

[349] Tagsüber wollte ich mich im Geschäfte nützlich machen – es gab Pakete zu binden, andere zu lösen, ein slavische Heiligenlegende wurde gefalzt; aber ich mußte zu wenig anstellig sein, man arbeitete mir die Sachen schweigend von der Hand weg und ließ mich im Winkel stehen. Ich fühlte, daß ich mir nicht einmal den süßen Kaffee und das Butterkipfel, so ich an dem Tage schon genossen, würde verdienen können.

Erst am Nachmittage des dritten Tages führte mich Herr Giontini in seine an die Buchhandlung stoßende Leihbibliothek, zeigte mir die Ordnung der Bücher, wo verlangte zu finden, zurückgebrachte einzuschieben wären, und sagte mir, das würde von nun an mein Geschäft sein.

Jetzt war ich zufrieden und wollte gleich all die kleinen Unordnungen der großen Büchersammlung am ersten Tage schlichten – und erfuhr es abends, wie unglaublich eine derartige Hantierung mit Büchern ermüde und im Kopf und Herzen leer lasse. Am Abend sank ich ins Bett und schlief; aber das mir stets durch ein scharfes Rütteln abgezwungene Erwachen am Morgen war übel. Mein Lehrmeister hatte mich auch jedesmal aufrütteln müssen, doch ich war durch dasselbe nicht in die Fremde geworfen. Hier aber war ich in fröhlichen Träumen die ganze Nacht daheim in den Waldbergen, daher das Erwachen eine Enttäuschung. Und wenn ich dann die Socken anzog, die mir noch die Mutter selber gestrickt hatte, wurde mir weh. Und wenn ich das Sacktuch hervortat, war es dasselbe, welches die Schwester so sorglich gewaschen und mit drei roten Kreuzchen gemerkt hatte, da wurde mir weh.

Und so kam ich hinein in jene Stimmung, die mir alle Freude an meiner neuen Stellung verdarb. Am[350] vierten Tage schon fragte mich Frau Giontini, warum ich so rote Augen hätte. Ich antwortete beiseite gekehrt, das käme vielleicht vom Bücherstaub.

Die Bücher, die sonst meine einzige Freude gewesen, ekelten mich an, und kam mir einmal ein solches zur Hand, das ich in Alpel schon gelesen hatte, da tat mir erst das Herz weh.

Am fünften Tage mochte ich meinem Herrn nicht mehr geheuer vorkommen, denn er trat in die Leihbibliothek und sagte zu mir: »Es scheint, mein lieber Junge, daß Ihnen die beständige Zimmerluft nicht wohl tut. Gehen Sie mitunter ins Freie und etwas spazieren.«

Ich ging zur Sternallee hinaus und weinte. Dann ging ich bis zur Eisenbahn hin und sah die Schienen an. Das waren ja dieselben Schienen, die von hier ununterbrochen bis Krieglach führten. Dieser Gedanke tröstete mich außerordentlich. Ich ging in eine Kirche, um dem lieben Gott für den Trost zu danken und ihn zu bitten um weitere Stärke, daß ich es in der Fremde aushalten und zu einem besseren Leben bringen möchte. Dann eilte ich in das Geschäft zurück und arbeitete frisch.

Bei einem Spaziergang am sechsten Tage war der Nebel weg, und ich sah die Berge. Die Bäume waren beschneit und bereist wie in Alpel, und es waren doch ganz andere, die in fremdem Lande standen und unter Menschen, die eine fremde Sprache redeten. Eine mächtige Sehnsucht erfaßte mich nach den beschneiten Bäumen in Alpel. In meiner Herzensnot beschloß ich, zu Doktor Costa zu gehen. Doktor Costa, eine bekannte Persönlichkeit Krains, hatte mir nämlich auf den Artikel in der Zeitung Bürgers Gedichte nach Obersteier geschickt. Mein [351] väterlicher Freund in Graz hatte mir geraten, mich dem Herrn gelegentlich in Laibach vorzustellen.

Er war ein alter grauköpfiger Mann. Ich stellte mich ihm vor, dankte für die Gedichte, und als er mich fragte, wie es mir in Laibach behage, hub ich zu schluchzen an.

»Was denn? Was ist denn?« rief er, »was fehlt Ihnen? Brauchen Sie etwas?«

Ich schüttelte den Kopf: »Heim.«

»Ei so,« sagte er gelassen, »Heimweh haben Sie. – Ja, Lieber, das müssen Sie überwinden. Wenn Sie es zu etwas bringen wollen, so müssen Sie ein Mann sein.«

Ohne Trost verließ ich ihn. »Daheim, o mein Daheim! Und wärst du auch mit einem Dornenkranz umflochten. Leiden läßt sich's überall auf Erden, freudig sein im Herzen nur daheim!« – So schrieb ich an jenem Tage in mein Büchlein, und weiter: »Zum Lieben und zum Scherzen war die Hütte der Heimat, nur zum Jugendtraum gebaut. Zum Leben und zum Taten zieh' ins Weite, und nur zum Ruhen kehre wieder heim.«

Traurig kehrte ich zu den Büchern zurück, schlug eins ums andere auf und wieder zu, und so übel war mir zumute, daß ich heute noch in den Buchhandlungen jenen Druckschwärze- und Papiergeruch nicht vertragen kann, der damals mich übersättigte. Heimweh ist ein von nur wenigen gekanntes Weh, aber wer es kennt, der wird mir's glauben: Nie in meinem Leben war ich ärmer als in jenen Tagen. Am zweiten Tage hatte ich einen Brief geschrieben an meine Eltern, daß ich glücklich angekommen wäre und wie gut es mir gehe. Am fünften Tage schrieb ich wieder, aber der Brief fiel so aus, daß ich ihn nicht [352] abschicken konnte, sollte ich nicht auch noch meine Mutter unglücklich machen.

Von neuem zur Arbeit wollte ich meine Zuflucht nehmen. Am siebenten Tage sprang ich wie besessen die Wandleitern auf und ab und reihte Bücher ein. Neu von der Handlung kommende zeichnete ich mit dem Stempel der Firma und ordnete sie für den Buchbinder. Kunden wurden bedient, wohl oder übel. Und sobald ich wieder allein war, nagte im Herzen tief und tiefer das Weh. Traurig lehnte ich des Abends am Pulte, und über mir brannte mit ausgebreiteten Flügeln still die Gasflamme. Ich kam mir vor, wie eine verlorene Seele. Es war Zeit zum Torschluß. Ich wollte in die Wohnung gehen und den Eltern schreiben, daß ich glücklich wäre und immer an sie dächte. Vielleicht, wenn ich ihnen meine Stellung recht freundlich ausmalte, daß mir leichter würde. – Noch hatte ich ein paar Bände »Gartenlaube« in den Schrank zu stellen. Einer dieser Bände fiel mir zufällig zu Boden, daß die Blätter rauschten. Ich hob ihn auf, bog die Ecken zurecht; dabei fiel mein Auge auf folgendes Gedicht von Albert Träger:


»Wenn du noch eine Heimat hast,

So nimm den Ranzen und den Stecken

Und wand're, wand're ohne Rast,

Bis du erreicht den teuren Flecken.«


Das war entscheidend.

Eilig drehte ich die Flamme ab, ging in die Wohnung zu Herrn Giontini und teilte ihm mit, daß ich nach Hause müsse.

»Ich dachte mir's,« sagte er. »Nun, gehen Sie mit Gott. Und wenn Sie wollen, so kommen Sie wieder.«

[353] – Gewiß nicht! schrie es in mir, während ich von Herzen und unter Freudentränen dankte für sein Wohlwollen und daß er mir mein Fortgehen von seinem freundlichen Hause nicht für übel halte. Das war kein Schlafen in derselbigen Nacht, das war eine Jubelstimmung, und am anderen Tage war ich mit Sack und Pack um eine Stunde zu früh auf dem Bahnhofe.

So ging's wieder der Heimat zu. Als wir bei Trifail über die steirische Grenze fuhren, gab's mir einen Ruck in der Brust. Herzerl, dein Freudensprung!

Heim nach Alpel und wieder das fleißige Schneiderleben und an Sonntagen auf freiem Felde bei den Herden und im grünen Wald! Die Welt reißt den Menschen auseinander. Sie ist zu ruhelos, zu heiß, zu kalt. Bleibst daheim und lebst zufrieden. –

Da kam das Merkwürdige. Je weiter ich in unser Steierland hereinfuhr, je mäßiger wurde die Sehnsucht nach der Heimat. In Graz gedachte ich auf einen Tag auszusteigen, um mich bei meinen Gönnern für ihren guten Willen zu bedanken und dann für immer ins stille Waldtal zurückzukehren. Spät abends kam ich in die Stadt und übernachtete bei einem jungen Bekannten, einem Schriftsetzerlehrling, den mir auch der Zeitungsartikel zugeführt hatte. Der gute Junge wohnte bei einem Schuhmacher und schlief die Nacht auf zwei aneinandergerückten Stühlen, um mir sein Bett zu überlassen. Wir wurden noch an demselben Abende du und du zusammen, und er sagte mir, daß ich in Graz im Herzen des Landes daheim wäre, und daß ich doch nicht daheimer als daheim sollte sein wollen.

Am anderen Tage ging ich zu Doktor Svoboda; dort [354] wurde ich anfangs tüchtig gescholten und dann mit jener treuen Herzlichkeit zu Tische geladen, mit welcher der wackere Mann in den verschiedenen Lagen meines Lebens mein unwandelbarer Freund geblieben ist. Am Nachmittag begab ich mich zu Reininghaus. Er lachte, als er mich sah und meinte, es wäre recht, daß ich wieder zurückgekommen. Es wäre eine Schande für das Land, wenn junge strebsame Leute, die arm sind, aber was lernen wollen, über die Grenze hinausziehen müßten. Ich solle in Graz bleiben, brav studieren und das weitere seine Sorge sein lassen.

Am nächsten Tage eine Bitte in der »Tagespost«, es möge eine Lehranstalt unentgeltlich sich öffnen für den jungen unbemittelten Naturdichter, dessen jüngst gedacht worden.

Aber die Pforten aller öffentlichen Lehranstalten in Steiermark hatten rostige Angeln. Doktor Svoboda gewann einen Studierenden, der mir täglich ein paar Stunden Privatunterricht im Rechtschreiben und Rechnen erteilte. Erst gegen Ostern hin gelang es, mir an einer Privatanstalt, der Akademie für Handel und Industrie, einen Freiplatz zu verschaffen.

Und wie das nachher weiterging auf ungeahnten Lebensstraßen, das wird in dem Buche »Mein Weltleben« zu lesen stehen.

[355] Fremd gemacht!

Denen, welche so liebevoll waren, diese Erzählungen aus meinem Lebenslaufe zu verfolgen, muß ich noch in Erinnerung bringen, daß – als ich aus der Waldheimat in die Welt ging – mich mein Lehrmeister mit einigem Mißmute entlassen hatte.

Er hielt mich nicht auf, aber da er mich in sein Handwerk eingeweiht und mir selbst das Geheimnis vertraut hatte, wie man Maß nehme, ohne daß ein anderer nach diesem Maß arbeiten könne, so mußte er sich wohl ein immerwährendes Anrecht auf den Schneider in mir erworben haben.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, welche mein Vater oft erzählt und die sich zu Zeiten seines Großvaters zugetragen hatte. Dieser Großvater hatte einen Nachbar, welcher einmal in einer Nacht den Grenzstein versetzte, so daß dadurch der Großvater um einige Klafter Wiesengrund benachteilt wurde. Der Nachbar starb, ohne sein Unrecht gut gemacht zu haben, und was geschah? Jede und jede Nacht mußte er aus seinem Grabe steigen und den Grenzstein auf seinen ursprünglichen Platz zurücktragen. Der Großvater meines Vaters selbst hatte den Geist des Nachbars mehrmals gesehen, wie dieser an der Grenzscheide hin und her ging, bis der Großvater den [356] Grenzstein amtlich richtigstellen ließ und zum Zeichen seiner Verzeihung für den Nachbar eine Messe opferte. Von dieser Zeit an war der Geist nicht mehr zu sehen, er war erlöst, er konnte ruhen.

Nicht viel besser wie diesem Nachbar ist es auch mir ergangen. Ich war denn fortgezogen von meinem Meister und seinem Handwerk. Ich habe in der Welt gelebt und gestrebt – und habe doch noch bei ihm sitzen und nähen müssen. Viele Jahre sind vorbei, seit ich von meinem Lehrmeister gegangen bin; viele Jahre ist es, seit ich jeden Tag an der geistigen Ausbildung und Vollendung meines Wesens arbeite, Hunderte und Hunderte von Büchern lese und selbst welche schreibe; und seit vielen Jahren war es, daß ich gar manche Nacht neben meinem Lehrmeister in irgendeinem Bauernhause saß und schneiderte.

Ich erzähle Träume und sage Wahrheit. Ich erfreue mich sonst eines gesunden Schlummers, aber ich habe die Ruhe von so mancher Nacht eingebüßt, ich habe neben meinem bescheidenen Studenten- und Literatendasein den Schatten meines Schneiderlebens durch die langen Jahre geschleppt, wie ein Gespenst, ohne seiner los werden zu können.

Es ist nicht wahr, daß ich mich tagsüber in Gedanken so häufig und und lebhaft mit meiner Vergangenheit beschäftigt hätte. Ein der Haut eines Handwerkers entsprungener Welt- und Himmelsstürmer hat anderes zu tun. Aber auch an seine nächtlichen Träume wird der flottgewordene Bursche kaum gedacht haben; erst später, als ich gewohnt worden war, über alles nachzudenken, oder auch, als sich der Philister in mir mehr zu reaen begann, fiel es mir auf, wieso ich denn – wenn ich überhaupt [357] träumte – allemal der Schneidergesell' sei, und daß ich solchergestalt schon so lange Zeit bei meinem Lehrmeister unentgeltlich in der Werkstatt arbeite. Ich war mir, wenn ich so neben ihm saß und nähte und bügelte, recht wohl bewußt, daß ich eigentlich nicht mehr dorthin gehöre, daß ich mich jetzt mit ganz anderen Dingen zu befassen hätte; doch hatte ich stets Ferien, war stets auf der Sommerfrische, und so saß ich zur Aushilfe beim Lehrmeister. Es war mir oft gar unbehaglich, ich bedauerte den Verlust der Zeit, in welcher ich mich besser und nützlicher zu beschäftigen gewußt hätte. Vom Lehrmeister mußte ich mir mitunter, wenn etwas nicht ganz nach Maß und Schnitt ausfallen wollte, eine Rüge gefallen lassen; von einem Wochenlohn jedoch war gar niemals die Rede; oft, wenn ich mit gekrümmtem Rücken in der dunkeln Werkstatt so dasaß, nahm ich mir vor, die Arbeit zu kündigen und mich fremd zu machen. Einmal tat ich's sogar, jedoch der Meister nahm keine Notiz davon, und nächstens saß ich doch wieder bei ihm und nähte.

Wie mich nach solch langweiligen Stunden das Erwachen beglückte! Und da nahm ich mir vor, wenn dieser zudringliche Traum sich wieder einmal einstellen sollte, ihn mit Gewalt von mir zu werfen und laut auszurufen: es ist nur Gaukelspiel, ich liege im Bett und will schlafen! – Und in der nächsten Nacht saß ich doch wieder in der Schneiderwerkstatt.

So ging es jahrelang in unheimlicher Regelmäßigkeit fort. Da war es einmal, als wir, der Meister und ich, beim Alpelhofer arbeiteten, bei jenem Bauer, wo ich in die Lehre getreten war, daß sich mein Meister besonders [358] unzufrieden mit meinen Arbeiten zeigte. »Möcht' nur wissen, wo du deine Gedanken hast!« sagte er und sah mich finster an. Ich dachte, das Vernünftigste wäre, wenn ich jetzt aufstünde, dem Meister bedeutete, daß ich nur aus Gefälligkeit bei ihm sei, und wenn ich dann davonginge. Aber ich tat es nicht. Ich ließ es mir gefallen, als der Meister einen Lehrling aufnahm und mir befahl, demselben auf der Bank Platz zu machen. Ich rückte in den Winkel und nähte. An demselben Tage wurde auch noch ein Geselle aufgenommen – bigott, es war der Böhm', welcher vor vielen Jahren bei uns gearbeitet hatte und damals auf dem Wege vom Wirtshause in den Bach gefallen war. Als er sich setzen wollte, war kein Platz da. Ich blickte den Meister fragend an, und dieser sagte zu mir: »Du hast ja doch keinen Schick zur Schneiderei, du kannst gehen, du bist fremd gemacht.« – So übermächtig war hierüber mein Schreck, daß ich erwachte.

Das Morgengrauen schimmerte zu den klaren Fenstern herein in mein trautes Heim. Gegenstände der Kunst umgaben mich; im stilvollen Bücherschranke harrte meiner der ewige Homer, der gigantische Dante, der unvergleichliche Shakespeare, der glorreiche Goethe – die Herrlichen, die Unsterblichen alle. Vom Nebenzimmer her klangen die hellen Stimmchen der erwachenden und mit ihrer Mutter schäkernden Kinder. Mir war zumute, als hätte ich dieses süße, dieses friedensmilde und poesiereiche, helldurchgeistigte Leben, in welchem ich das Glück der Beschaulichkeit so oft und tief empfand, von neuem wieder gefunden. Und doch wurmte es mich, daß ich mit der Kündigung meinem Meister nicht zuvorgekommen, sondern von ihm abgedankt worden war.

[359] Und wie merkwürdig ist mir das: seit jener Nacht, da mich der Meister »fremd gemacht« hatte, genieße ich Ruhe, träume nicht mehr von meiner in ferner Vergangenheit liegenden Schneiderzeit, die in ihrer Anspruchslosigkeit ja so kindlich froh gewesen, und die doch einen so langen Schatten in meine späteren Lebensjahre hineingeworfen hat.

Ein Letztes vom alten Meister Naz
[360] Ein Letztes vom alten Meister Naz.

Bevor ich von jenem Waldwanderleben als Schneiderbub ganz Abschied nehme, muß ich noch meinen guten Meister Naz zur Ruhe bringen. Erst von einem Besuch bei ihm will ich sagen, und dann sein Leben betrachten, das so schlicht und so vornehm zugleich gewesen ist. Es war zwar »fremd gemacht«, doch das Band zwischen ihm und mir ist nicht mehr gerissen. –

Im Sommer 1882 kam eines Tages eine muntere Stadtgesellschaft in mein Landhaus geschwirrt und lud mich ein zu einer Gebirgspartie in die heimatlichen Wälder.

»Mit Vergnügen!« sagte ich tief atmend.

»Aber Sie seufzen ja!« rief ein ältliches, doch rührsames Fräulein, das sie Komtesse nannten.

»Ich habe nur aufgeatmet,« war meine Entgegnung.

Die Partie war reich an hübschen Naturbildern, zu denen ich den mündlichen Text zu liefern hatte. Ich tat's nach bestem Wissen und Dichten. Die Herren waren teils übermütig, teils gelehrt und teils geistreich. Die Damen waren überaus gefühlsselig und poetisch gestimmt; erst als auf dem Rückwege ein großer Durst in sie kam und wir kein Wasser fanden, trat die Natur in ihre Rechte und etliche der Hübschesten und Liebenswürdigsten wurden launenhaft. Nur das ätherische, alte Komteßchen blieb in seiner schwärmerisch bonhomen Stimmung und ließ das Herz ausfließen über die lieben, guten Leute, so oft ein [361] zerzauster Hirtenjunge vorüberhüpfte oder ein altes, keifendes Weib vorbeihumpelte. Ich hatte tüchtig zu tun, die fortwährenden Erinnerungen und Vergleiche der Dame zwischen meiner Vergangenheit und den gegenwärtigen Waldleuten zu schlichten.

Nun kamen wir zu einem kleinen, einsam im Walde stehenden Hause. Eine Schüssel Milch oder Trinkwasser heischend traten wir in die dunkle Stube, und da drinnen saß ganz allein und still niemand anderer, als mein alter Meister Naz beim Schneidertisch.

Ich war unbesonnen genug, in der ersten Freude des Wiedersehens seinen Namen auszurufen und den guten Alten als meinen voreinstigen Lehrmeister der Gesellschaft vorzustellen. Da hatte ich was Schönes angerichtet! Der Naz hatte sich anfangs gestellt, als sehe und kenne er mich nicht und hatte sein Haupt mit den weißen Haarresten tief auf sein Lodentuch niedergebeugt; als er nun aber doch auf die alte Bekanntschaft eingehen mußte und mir treuherzig die Hand reichte: »Grüß' Gott, Peter! Er ist halt wieder gewachsen!« da brach auf ihn der Ansturm der Frauen los. Sie überhäuften ihn mit Artigkeiten und Fragen; sie gaben ihm Blumensträuße, die sie im Walde gepflückt hatten, und die eine wollte dafür von ihm eine Nadel geschenkt haben, die andere einen Faden; die Komtesse fahndete gar nach einer Haarlocke und legte hingegen Semmel und Zwieback und Schokolade auf den Tisch zu seinen Gunsten. Der Naz wußte sich vor Verlegenheit nicht zu helfen; soviel Unschickliches auf einmal war noch niemals über den alten Mann gekommen, als jetzt, da der Rudel Städter sein ärmliches, bescheidenes Wesen umgaukelte. – Was denn das für Leute sind, die mir der [362] ins Haus bringt! mochte er sich denken, was diese stockfremden Herrlichkeiten doch mit mir für ein Getue haben! Das Leben kunnt ich ihnen gerettet haben, just so treiben sie's. Man weiß nicht, wie man's nehmen soll, ist's ihr Ernst oder wollen sie einen foppen. – Ich wußte es freilich, es war ein wenig Neugierde, und ein wenig Koketterie, und ein wenig Duselei, und ein wenig Fopperei, und ein wenig wirkliche Herzlichkeit – aber in dieser Fassung nimmt sie der Bauersmann nicht. Er nadelte und sagte kein Wort.

Ableitend tat ich nun die Frage, ob die Frauen nicht was zu trinken haben könnten?

»Die Hausleute sind halt auf der Wiesen,« sagte jetzt der Natz, »und ich bin nur auf der Ster da und fremd und darf nichts hergeben. In einer Stund' krieg' ich meine Jausenmilch; wenn ihr wollt, dann kann ich schon damit aufwarten.«

Die Komtesse hatte über ein solches Anerbieten schon Tränen im Auge, aber die übrigen entschieden sich für das Wasser, das in einem großen Kübel neben dem kalten Feuerherde stand.

Und als sie getrunken hatten, setzten sie sich um den Tisch, so daß der Meister mit seinem Arbeitszeug eng zusammenrücken mußte, und betasteten und beschauten Schere, Pfrieme, Nadelkissen und fragten, ob er im letzteren etwa nicht noch eine von dem poetischen Schneidergesellen stecken habe? Und beguckten das Bügeleisen, ob es noch jenes wäre, das der Waldbauernbub geschleppt? Und betrachteten die Elle, ob mit derselbigen etwa der Lehrling – ?

Jetzt ließ der Meister das Nähzeug auf dem Knie ruhen, erhob sein Haupt und sagte sehr ernst und ruhig: [363] »Ich habe mehr als ein halb' Dutzend Lehrlinge gehabt, aber geschlagen habe ich keinen.«

Da hatten sie denn einmal was Neues gehört, die klugen Städter, die sich keinen Lehrling ohne Prügel denken können.

Plötzlich fiel es jetzt einer Dame ein, ich sollte mich spaßeshalber einmal neben den Meister hinsetzen und versuchen, ob ich noch schneidern könnte. Beifallsjubel der anderen, und ich wollte mich schon anschicken, ihnen ein possierliches Schaustücklein zu bieten, erstens des Spaßes halber und zweitens, um zu zeigen, daß ich das Handwerk noch nicht vergessen hätte. Der Mittelfinger meiner rechten Hand dehnte sich schon nach einem Fingerhut und in die übrigen Finger kam sogleich die Bewegung und Empfindung des Nadeleinfädelns, als wären nicht siebzehn Stunden, geschweige siebzehn Jahre verflossen, seit ich das Zeug aus der Hand gelegt. Plötzlich aber und fast unwillkürlich zog sich mein Arm zurück. »Nein, ich tu's nicht, ich kann's nicht mehr.«

Der Meister rieb sich die Augen; es wollte nicht mehr recht gehen mit dem seinen Zwirn, auch zitterte seine Hand schon, so daß es nicht ganz mehr die glatten, gleichen Stiche wurden, die einst dem Lehrbuben so anstrebenswert erschienen waren.

»Es ist Zeit zum Ausbruch!« gab ich nun zu bedenken und half den Damen, daß sie wieder wanderfertig wurden. Mit Mühe gelang es mir nach vielem Drängen, den Meister zu befreien, und so führte ich hernach meine Truppe waldabwärts gegen das Tal der Mürz. Als ich sie auf die breite Straße des Alpsteiges gelenkt hatte, stellte ich ihr vor, daß sie sich jetzt nicht mehr verirren [364] könne, daß sie dieser Weg ganz sicherlich zum Bahnhof leiten würde; ich müsse mich hier verabschieden, da ich im Walde noch Verwandte aufzusuchen hätte. Da die Komtesse sofort wünschte, auch diese kennen zu lernen, so verlegte ich das Haus der Verwandten rasch auf einen so unwirtlichen Berg, daß die Besteigung desselben den Füßchen einer zarten Dame unmöglich zugemutet werden konnte.

Endlich war ich allein und eilte nun in das Haus zurück, wo mein alter Meister arbeitete, um mich für meine wunderliche Gesellschaft zu entschuldigen und ihm vielleicht sonst irgendwie zu zeigen, daß ein braver Geselle – er sei wo und was immer auf Erden – seines Meisters nimmer vergißt. Er saß noch allein dort, denn die Hausleute hatten sich draußen auf der Wiese so sehr in das Heu verbissen, daß sie des alten Schneiders vergaßen, der in der dunkelnden Stube seiner Jausenmilch wohl mit Geduld, aber gewißlich auch mit Verlangen entgegensah.

Ich setzte mich nun zu ihm und auf meine Bemerkung sagte der Meister: »Ah na, den Stadtleuten ist das nicht aufzumessen, aber du hättest gescheiter sein können, Peter, und drauf eingehen, wie ich getan hab', als täte ich dich nicht kennen. Aber du bist halt schon doch über deinen Namenspatron, der hat seinen Meister verleugnet, du hast es nicht getan, schau, und das freut mich doch wieder. – Und noch mehr hat es mich gefreut, daß du – ich sag' halt gleich noch alleweil du zu dir, ich mag dich nicht anders heißen – daß du, sag' ich, vorhin, wie sie dich haben schneidern sehen wollen, nicht gleich zur Nadel hast g'rissen. Du bist sonst jetzt schon stark mit den Stadtleuten und habe ich wohl etwelches von dir gehört, was mir nicht gefallen will. Aber eins hast gottlob doch noch: Die [365] Arbeit hast noch in Ehren, mit dem Handwerk, das dir vorzeit dein Brot gegeben, treibst keinen Spaß. Das gefreut mich von dir. Sie hätten woltern gelacht dazu und ihre Ergötzlichkeit gehabt und ich hätt's nimmer vergessen können, daß ich einmal einem das Handwerk gelernt, der nachher damit für andere den Lustigmacher gespielt!«

»Wissen möchte ich's aber doch, ob ich noch was kann,« meinte ich nun und machte mich bereit zum Nähen, denn mich dünkte, daß es weder mir noch dem Meister schaden könne, wenn ich ihm die paar Stunden etliche Nähte besorgte, während sich seine alten Augen und Finger ein wenig ausruhen möchten.

»Ist recht,« sagte er, »probier's mit dem Ärmling da. Schau, greifst es nicht schlecht an; flink bist alleweil gewesen bei der Arbeit. Ich weiß es recht gut, just in dieser Woche wird es zweiundzwanzig Jahr, seit du bei mir eingestanden bist. Was ich dir im Handwerk gelernt hab', heut' kann ich's schier selber nimmer. Wer fünfzig Jahr Meister ist, der verlernt's wieder. Und ich kann bei keinem Meister mehr einstehen als Lehrling, mich verlassen die Augen schon. Bei den jungen Leuten ist das ein ganz neumodisches Tragen heutzutag', das ich nicht versteh'. Den alten Leuten in der Hinter (in der Einöde), die es nicht heikel raiten, denen bin ich noch recht. – Peter, du hast jetzt den Loden verkehrt auf dem Knie liegen; auf solche Weise kriegt die Naht gern Falten; und nur fest anziehen, sag' ich alleweil, der Bauernzwirn reißt nicht.«

So war ich auf einmal wieder mitten in der Schneiderschaft – in der Lehrzeit. Fast überkam mich ein Gefühl, wie bei jenem phantastischen Traum, von dem erzählt worden. Eine lichte Welt versunken mit Qualen [366] und Freuden, ein Leben mit bunten Dingen versunken und nichts mehr um mich, als der kleine kümmerliche Alltagskreis des bäuerlichen Handwerkerlebens. Aber den Weltbrauch, das Sinnieren, konnte ich doch nicht mehr lassen. Und so berechnete ich nun, da ich den Greis im langen Tagwerk vor mir sitzen sah, wieviel dem fleißigen und tüchtigen Naz seine fünfzigjährige Meisterschaft eingebracht haben könne. Wenn's gut ging, im Jahre hundertfünfzig Gulden Arbeitslohn, wobei der Meisterprofit von Gesellen und Lehrlingen schon mitgerechnet ist! Wenn ich's jetzt dem Meister gesagt hätte, daß er sich in seiner Lebenszeit mehr als siebentausend Gulden verdient habe – er würde seine runzeligen Hände zusammengeschlagen haben über das viele Geld und sich für einen Verschwender ausrufen, der in fünfzig Jahren mehr als siebentausend Gulden verzehrt und verbraucht! Alle Sonntage ein Seidel Wein beim Hausteinerwirt oder sonst wo, wenn er schon einmal eine besonders lustige Welt im Kopfe haben wollte. Er würde sich darob bittere Vorwürfe machen, denn sein Alter, das bereitete ihm Kummer.

Sind das nicht schlimme Zustände, wo der tüchtige und fleißige Handwerker nach fünfzigjähriger Arbeit auf diesem Punkte steht!

»Dir ist ja mein Fingerhut zu groß worden!« rief der Meister, indem er sah, daß das Messingkäppchen auf meinem Finger allzu locker war, um der Nadel in den festen Loden hinein den nötigen Nachdruck zu versetzen. »Doch nicht etwan, daß es dir schlecht geht, Peter?«

»Mager wird der Poet, aber gottlob, abgehen tut ihm nichts.«

»Meinst, daß dir das Handwerk besser anschlagt, zu [367] jeder Stund' kannst bei mir einstehen. – Geh', zeig her deine Arbeit ein wenig.«

Er nahm den Rockärmel, den ich zusammengenäht hatte, zog die Naht auseinander, hielt sie mir vor die Augen und sagte ganz leise: »Schau her da!«

Die Naht klaffte, die Stiche des grauen Fadens grinsten hervor.

»Vergessen,« sagte er mit seinem guten Lächeln, »vergessen hast das Handwerk noch nicht, das sehe ich, du machst es noch wie früher. Da hast ein Messer. Wenn du acht gibst, daß du mir den Loden nicht zerschneidest, so kannst die Naht auftrennen, sonst tu' ich's.«

»Auf das möchte ich nur wissen, ob der Meister sein Wort noch anhält – wegen meinem Einstehen!« so sagte ich nun mit einer ganz merkwürdigen Mischung von Ärger und guter Laune.

»Warum denn nicht?« sprach er, »du bist noch jung, und wenn ich dort anheben darf, wo wir vor siebzehn Jahren aufgehört haben, so getraue ich mich einen richtigen Schneider aus dir zu machen.«

Die Verhandlung wurde unterbrochen, es kam die Bäuerin nach Hause, und als sie mit der Schüssel in die Stube trat und meiner ansichtig wurde, rief sie aus: »Uh, Halbesel! jetzt sind zwei Schneider da! Nachher hab' ich zu wenig Milch!«

Alsogleich versicherte der gute Meister, er trinke heute keine, er sei noch rechtschaffen satt vom Mittag her. Gott möge es vergelten, wie er noch satt sei! –Hierauf stritten wir eine Weile um das Recht, wer dem andern die Jausenmilch überlassen dürfe, bis wir uns endlich dahin einigten: Wir nehmen jeder einen Löffel beim Stiel und essen zusammen, [368] so lange was da ist. Das war ein langweiliges Essen! Der Meister machte sich dabei mit dem Loden, dem Zwirn, dem Nadelkissen zu schaffen, fuhr heute und morgen einmal in die Schüssel; füllte den Löffel kaum halbvoll und kaute und schluckte nach jedem Löffelzug derart lange, als ob die saure Kuhmilch aus eitel Zwieback wäre. Mich verdroß es, daß er mich überlisten wollte, ich warf den Löffel weg und rief: »Vorhin da draußen auf dem Rain Wildkirschen essen und jetzt saure Milch drauf – das kunnt eine hübsche Metten geben!«

»Ja, wenn sie sonst niemand ißt,« meinte er, »Gottesgab' soll der Mensch nicht verschmähen.« Und machte sich mit größerem Eifer über die Schüssel her.

So habe ich's doch endlich erreicht, daß er zu seiner Jause kam.

Nun hatte ich aber noch ein Anliegen. Es war wohl Zeit, daß ich mich auf den Weg machte, wenn ich noch vor der Finsternis mein Nest im Tale erreichen wollte. So mußte ich endlich hervorrücken.

»Meister,« sagte ich und machte mir mit meinem Hutband zu schaffen, das ich löste, um es wieder knüpfen zu können, denn es gibt Augenblicke im Leben, wo man dem Nächsten nicht offen ins Gesicht schauen mag. »Meister,« sagte ich, »hat sich der Meister das kleine magere Fräulein angesehen, das vorhin bei der Gesellschaft war?«

»Die ihre Haare wie ein Mannsbild geschnitten gehabt hat?«

»Dieselbige. Das ist ein merkwürdiges Weibsbild gewesen. Wenn sie in einem Buche stünde, man müßte sagen, sie wäre erdichtet. Eine steinreiche Gräfin ist sie [369] und die hat mir das da mitgegeben, für einen armen Menschen, hat sie gesagt.«

Damit schob ich ein kleines Ding über den Tisch hin, er schob es aber mit dem Zeigefinger zurück und sagte: Ihm gehöre es nicht, er sei kein armer Mensch.

»Habe ich gesagt ein armer Mensch?« wollte ich mich verbessern, »dann weiß ich nicht, wo ich heute meine Gedanken habe, einem arbeitenden Menschen, sagte die Gräfin, muß sie alle Tage was geben. 's ist so ihre Gewohnheit.«

»Ein Arbeitender? Der braucht's nicht,« entgegnete der Meister kurz. »Peter, vor lauter Gutheit unredlich sein, das mußt ein andersmal nicht tun. Schau, wenn du mir offen sagst: Meister, Er ist schon ein alter Mann, ich will Ihm was schenken, so werde ich offen antworten: Dank' dir Gott, Peter, so lang' ich arbeiten kann, ist's nicht vonnöten. Geht's einmal nicht und du hast mehr als ich, dann wird's für keinen eine Sch and' sein, wenn du mir einmal was Gutes tun willst – und brauchen wir keine merkwürdige Gräfin dazu.« –

Fast gedrückt verließ ich das einsame Haus, das ich so selbstbewußt betreten hatte. Was er leistete, konnte ich nicht; was ich konnte, brauchte er nicht. – Was ich sein mag und was erist, das muß ich mir sagen: Er ist trotz allem und allem bis auf den heutigen Tagmein Meister geblieben.

Und als wieder eine lange Reihe von Jahren dahingegangen war, hatten sie ihn unter den Rasen gebracht, du oben. –

Bis ums siebzigste Jahr war er ein frischer, rüstiger [370] Mann gewesen, und um diese Zeit, da andere ins Greisenalter eintreten, begann für ihn noch einmal eine Art froher, einfältiger und frommer Kindheit. Von der Mühsal des biblischen Alters hat er nicht viel erfahren. Mit 50 Jahren noch Junggeselle, beging er mit 87 Jahren lustig die Hochzeit seiner Tochter. Etliche Tage nachher legte er sich schlafen.

Obschon der Naz in seiner Waldverborgenheit während der ganzen 87 Jahre der Welt nicht ein einzigesmal aufs Hühneraug' getreten war, so ist doch öffentlich von ihm die Rede gewesen. Zuerst hatte ihn der »Waldheimat«-Schreiber in seiner Wahrheit und Dichtung aufgezeigt, den guten Ignaz Orthofer, Schneidermeister zu Kathrein am Hauenstein. Und derselbe, der das erste Wort über ihn gesprochen, möchte auch das letzte sagen.

Wie 1860 der siebzehnjährige Waldbauernbub als Lehrling eintrat beim »Schneidernaz«, war dieser ein zierliches, rühriges Männlein von 45 Jahren. Er hatte schon eine starke Glatze und das Haar des Hinterhauptes begann zu grauen. Das etwas magere Gesicht mit der »Stubenfarbe« und den gütigen, ausdrucksvollen Augen war stets glatt rasiert, auf das legte er Gewicht. Wie beneidete ihn der Lehrling um den Bart, den der Meister wöchentlich wegzuwerfen hatte, während der Junge alle Fenstergläser fragte, ob bei ihm nicht endlich das erste Gränchen zum Vorschein komme.

Mehr als auf den Bart hielt der Naz auf ein seines Gewand. Sein zumeist schwarzes Tuchgewand saß ihm wie angegossen. Er mußte für sein Gewerbe ja selber der Auslagekasten sein, um die Konkurrenz zu besiegen, die damals zum Beginne der Gewerbefreiheit allenthalben [371] auftauchte. Im nahen Mürztale gab es Schneider, die in ihren Schaufenstern ganze Weltausstellungen veranstalteten. Das schreckte den Meister Naz wenig. Nicht darauf komme es an, wie die Hosen im Fenster liegen, sondern wie sie am Leibe sitzen. Und damit konnte er sich schon sehen lassen. Wenn nun zu dem adretten Anzug die schneeweiße Wäsche kam, die an Hals und Ärmlingen und auch hinter der offenen Weste hervorschimmerte, da gab es gar nichts Zierlicheres als den Meister Naz, der flink wie ein Reh bei den Stergängen noch lieber bergauf als bergab lief. Als Knabe war er bei Holzknechten Ziegenhirt gewesen und daher sein antilopisches Hüpfen gar leicht zu begreifen. Auf sonnigem Berghange bewohnte der Naz (wenn er nicht in Bauernhöfen auf Arbeit war) ein gemietetes Holzhäuslein, das er sich selbst instand hielt. Er fegte, er wusch, er kochte und was am eigenen Herde schon einmal gar nicht zustande zu bringen war, das kaufte er um bares Geld bei nachbarlichen Bauernhöfen. Geld hatte er immer in der Brieftasche, manchmal sogar bis zu zwanzig Gulden! Und dazu die Mär, daß der Naz noch ganz andere Reichtümer besitze, was er weiter nicht bestritt, weil sie ihm niemand nehmen konnte, denn das Sparkassebüchel war auf seinen Namen festgemacht. Er durfte das Büchel verlieren, es konnte ihm gestohlen werden, kein Mensch bekam in der Sparkasse zu Graz die zweihundert Gulden samt Zinsen, als der Herr Ignaz Orthofer, Schneidermeister zu Kathrein am Hauenstein. Nein, da konnte ihm niemand an, nicht einmal das Steueramt. Leute mit seinem Jahreseinkommen sind noch Freiherren. Nur, daß durch den Verrat eines neidischen Berufsgenossen der gute Ignaz, nachdem er 25 Jahre lang die menschlichen[372] Blößen unangefochten verhüllt hatte, für dieses christliche Werk der Barmherzigkeit plötzlich eine Erwerbssteuer von fünf Gulden zahlen mußte. Diese Neuerungen, die Gewerbefreiheit einerseits und die Erwerbssteuer anderseits, hatten dem Meister die »Segnungen der Neuzeit«, denen er sonst nicht feind gewesen, etwas verleidet. Geldgierig war der Mann nicht. Anf der Ster rechnete er im Tage höchstens fünfzig Kreuzer für sich und zehn Kreuzer für den Lehrling. Das Geschäftshaus Orthofer und Kompagnie brauchte also gerade keinen Buchhalter. In früheren Zeiten hatte er manchmal ja Wanderburschen aufgenommen, doch seit solche Schneidergesellen sich dann allmählich in der Gegend einnisteten und als selbständige Meister zu arbeiten begannen, schenkte er jedem anklopfenden Burschen einen Kreuzer und den Rat, sich davon zu machen. Und begnügte sich mit einem Lehrling, der nicht jeden Tag seine zehn Kreuzer wert war.

Wie aus Gesagtem schon ersichtlich ist, eine Gesellin hatte er nicht. Denn dieser Meister war, wie jemand launig sagte, selber Geselle, nämlich Junggeselle. Obschon er zeitweise recht gerne mit hübschen Mädchen schäkerte und tanzte, überlegte er sich's doch bei jeder länger, als sie warten wollte. Unter den Ortsgenossen war er einer der Angesehensten. Er warf sich nicht an den Erstbesten weg, hielt etwas auf sich und war sogar Kirchenmusikant! Das Flügelhorn blies er und man spottete oft lobend, daß es merkwürdig sei, wie dieses Schneiderlünglein aus dem Blech so helle Klänge hervorbringen könne. Seine liebste Körperübung und Zerstreuung – er gönnte sich solche aber nur an Sonntagnachmittagen – war das »Kegelscheiben« (Kugelschieben).

[373] Er war der beste Schieber in der ganzen Gegend und der verwegenste »Rater«, aber es ging nicht immer glatt dabei ab. Einmal verlor er an einem einzigen Nachmittage sechs Gulden. Das war der blutige Verdienst von zwei langen Wochen. Er weinte an demselben Abend über die abscheuliche Gewohnheit, Kugel zu schieben – gab sie aber nicht auf. Nicht lange Zeit nachher gewann er an einem Nachmittage mit Schieben und Raten einem armen Holzknechte den ganzen Monatslohn von neunzehn Gulden ab. Der Holzknecht zahlte seinen Verlust aus, sagte lachend, jetzt gehe er ins Wasser – und ging. Sein Lachen war so gewesen, daß dem Naz ein Schauder kam, er lief ihm nach, am Mühltümpel rangen sie eine Weile, denn der Holzknecht wollte sich von einem Schneider keine Spielschuld schenken lassen; endlich hatte er den Geldknollen doch fast meuchlings in seinem Rocksack, schob also das Inswassergehen auf. Der Naz floh wie ein Verbrecher und schwor sich pathetisch, das Kugelschieben aufzugeben. Am nächsten Sonntag war es derselbe Holzknecht, der ihn einlud zu einem »Bot Kegelscheiben«. Das nahm der Meister so, als hätte der Herrgott ihn des Schwures entbunden, und er kegelte. Die Kameraden spotteten, er habe sich nur das Kugelschieben verschworen, aber nicht das Kegelscheiben.

Bei der Arbeit pflegte der Naz wenig zu sprechen, wohl aber – wenn beim Zuschnitt das Tuch reichte und beim Anprobieren die Joppe paßte – lustig zu pfeifen. War das Tuch knapp oder die Joppe ein wenig uneben, was dem besten Schneider passieren kann, wenn die Leute an unrechter Stelle Höcker haben, dann pfiff er nicht, dann schwieg er mäuschenstill und suchte den Schaden mit Sorgfalt [374] zu decken. Schelten oder Fluchen habe ich nie von ihm gehört, höchstens daß er brummte: »Ein verdanktes G'frött!« aber da mußte der Schaden schon stark sein. So ernst er mit mir bei der Arbeit war, so gesprächig wurde er am Samstagfeierabend, wenn wir selbander durch Wald und Flur nach Hause trippelten, jeder einen Ranzen um, ich noch extra das Bügeleisen und die Elle in der Hand, und am Stock über der Achsel im blauen Sacktuch den Brotlaib, den uns die Sterbäuerin mitgegeben hatte. Dieser »Sterlaib« ist nach alter Sitte eine Aufbesserung, wenn der Handwerker mindestens eine Woche in einem Hause gearbeitet hat. Mein Lehrmeister pflegte – besonders wenn der Weg weit war – statt des Brotlaibes sich zwanzig Kreuzer auszubitten. Diese enthielten zwar weniger Nahrung, bedurften aber auch weniger Kraft zum Tragen. Auf solchen Heimwegen nun, im Angesicht des bevorstehenden Sonntags, waren wir beide lustig und der würdige Lehrmeister plauderte und scherzte mit dem windigen Lehrling wie mit seinesgleichen. In der Abenddunkelheit an Bauernhöfen vorbeikommend, geschah es sogar, daß wir zärtlich an die Fensterscheibe klopften, hinter welcher ein sauberes Dirndel geahnt wurde. Der Erfolg solch sinniger Abendgrüße war spärlich – ein bißchen Gekicher drinnen – das war alles. Zum Glück sind siebzehnjährige und fünfundvierzigjährige Schneider nicht auffallend unbescheiden.

An Sonntagen ging's in der Kirche zu St. Kathrein allemal hoch her. Mindestens eine Klarinette, eine Trompete und ein Flügelhorn gab's immer, und weil das Blasen nicht bloß volle Backen, sondern auch Durst macht, so gönnte sich mein Ignaz darauf gerne beim Hausteinerwirt [375] ein Seidel Wein. Wenn da nun etliche muntere Gesellen zusammenkamen, so gab's bisweilen, aber nicht oft, das Mißgeschick. Lustig war's, geplaudert, gelacht, gesungen wurde, dabei um ein Seidel zuviel, und am nächsten Tage war – Kopfwehmontag. Hätte er ihn zu einem blauen gemacht, so würde niemand etwas davon erfahren haben. Doch der fleißige Mann ging in die Arbeit, und so tapfer er den Kater unterzukriegen trachtete, das Beest guckte doch überall hervor. Und dann knurrte er wohl auf: »Der Wein ist schlecht!« da er doch tags zuvor gerade das Gegenteil gefunden hatte.

Unsere Verpflegung in den unterschiedlichen Bauernhäusern war stets ungleich gewesen. Hier die Fleischtöpfe Ägyptens, dort das Kraut- und Bohnenhäferl. Wo letzteres in wirklicher Armut seine Ursache hatte, litt unser Humor nicht darunter, wir halfen den Leuten fröhlich fasten und trachteten nur, mit der Arbeit ehestens fertig zu werden. Anders, wenn Geiz uns den Tisch kümmerte, da wurde der Meister unwirsch und einmal sogar dreist. Als solch eine geizige Bäuerin, bei der wir arbeiteten, eines Tages ins Dorf ging, um Tuch, Knöpfe und Zwirn einzukaufen, drückte ihr der Naz ein Sechserl in die Hand: »Wenn du so gut wärst, Bäuerin, und uns vom Bäcker etliche Semmeln tätest mitbringen. Aber nit gar z'lang ausbleiben!« Semmeln brachte sie nicht, doch die Kost war von diesem Tage an wesentlich zureichender. Am besten erging es uns stets beim Hausteinerwirt, da gab's des Morgens Kaffee, mittags und abends Fleisch, vormittags und nachmittags Wein. Da beeilten wir uns nie sonderlich, mit der Ster fertig zu werden. Einmal nach einer solchen üppigen Hausteiner Zeit waren ein paar [376] rührende Tage. Der Lehrmeister sagte mir, daß er in einer Hütte des Fischbacher Waldes etliche Tage lang zu tun habe, wo es etwas arm zugehen werde, weshalb ich derweil zu meinen Eltern heimgehen könne. Da antwortete ich: »Wegen dem, daß es arm zugeht, das macht mir nix. Wenn's der Meister kann aushalten.« – »Recht ist's mir schon, wenn du mitgehst!« sagte er, und wir gingen in die Fischbacher Gegend zum »Waldpeter«. Dieser Waldpeter war ein alter Taglöhner, der erst vor kurzem geheiratet hatte, und zwar eine alte Frau mit einem runzeligen, freundlichen Gesicht. Diese Frau war aber niemand anderes als die Mutter meines Lehrmeisters, von der er mir bisher nie gesprochen hatte. Wir machten den alten Leuten Lodenkleider. Die Verpflegung war einfach, aber voller Güte, nie ist mir das Bohnenhäferl so lieb gewesen, wie in dieser Waldhütte. Der betagte Sohn war mit seiner greifen Mutter kindlich zart und mit mir, dem Lehrling, ganz ausnehmend freundlich, dankbar dafür, daß ich die Ärmlichkeit so fröhlich mit ertrug. Als wir mit der Arbeit fertig waren, ging ich nicht weniger schwer als der Meister von der trautsamen Hütte fort. Die alte Frau machte ihm zum Abschiede mit dem Daumen das Kreuz übers Gesicht und tat dann dasselbe mir, als ob auch ich ihr Kind geworden wäre.

Das nur so etliche Beispiele davon, wie der Ignaz Orthofer gewesen während der vier Jahre, als ich bei ihm in Lehr und Arbeit gestanden. Viele Schilderungen dieses Buches hat Meister Naz noch gelesen; manchmal soll er dabei etwas sonderbar dreingeguckt haben. Verdenken kann ich ihm's nicht. »Das Zuschneiden hat er nicht bei dir gelernt, aber das Aufschneiden,« soll einmal jemand zu ihm [377] gesagt haben. Er hat die Echtheit des Bauernlodens bei meinen literarischen Joppen nie bestritten, nur mag ihm hie und da etwas zuviel Aufputz vorgekommen sein. Was das Zuschneiden anbelangt, das müssen, wie schon früher in diesem Buche dargetan, die Jungen den Alten heimlich abgucken. Mein Lehrmeister merkte wohl, daß mir dazu die Findigkeit fehlte, und hat öfters als einmal die papierenen Zuschneidemuster bei mir vergessen, als er fortging. Ich habe dieses bedruckte Papier wohl gelesen, aber nicht nachgeschnitten, und so hat er es mir öfter als einmal vorausgesagt: »Peter, aus dir wird nichts. Ich habe schon im zweiten Lehrjahre meinem Meister die Muster gestohlen!«

Eine so hohe Meinung Meister Naz von der Handarbeit hatte, an mir hat er sie als Lehrmeister und Erzieher nie geübt. Nicht ein einzigesmal versuchte er die Elastizität meiner Ohrläppchen, und so oft er über mich auch den Kopf geschüttelt haben mochte, mir hat er ihn nie geschüttelt. Mehr als mit einem gütigen Wort hätte er gewiß auch nicht mit einem Handschlag erreicht. Ich hatte vor dem Meister Naz einen großen Respekt, widersprach ihm nie mit einem einzigen Wort und machte die Arbeit, so gut es meine unermeßliche Zerstreutheit zuließ. Diese Zerstreutheit bei der Schneiderarbeit aber war nichts anderes als ein zu großes Gesammeltsein in der Poeterei oder in der »Peterei«, wie ein Jugendfreund, auf meinen Namen anspielend, bemerkte. Während der Lehrmeister manchmal fast händeringend bei mir auf gänzlichen Mangel an Intelligenz schloß, war doch ein Geistlein in mir tätig. Im Laufe der vier Jahre meiner Schneiderzeit sind über zwanzig Bände »Dichtungen« entstanden[378] – die sich alle noch vorfinden, während von den Gewandstücken aus meiner Hand Freund Schruf in Mürzzuschlag nur noch eine einzige alte Weste aufzeigt.

Als die Lehrjahre endlich vorüber waren, stand es trotz alledem so, daß der Meister mir per Woche neunzig Kreuzer versprach, wenn ich als Geselle bei ihm verbleiben wolle. Da kam nun das Unerhörte. Alles, was der Lehrling in langen Jahren und mit vieler Mühe erlernt hatte, warf er plötzlich von sich und lief davon. Und wurde ein Bettelstudent.

Wir gingen auseinander, kamen uns nun aber erst näher. Er war damals an die fünfzig Jahre und da schrieb er mir einmal in die Stadt, daß ihn der Kopf friere. Sein Haar war fast alle geworden. Der liebe Gott würde es nicht übelnehmen, wenn er Sonntags in der Kirche, wo andere mit ihrem Haarpelz dasäßen, eine Perücke trüge. Sie könne schwarz sein oder grau oder »suchsad«, das sei ihm gleich – nur nicht zu teuer. Ich schickte ihm aus Graz eine billige Perücke mit braunen Jünglingslocken. Wenige Wochen später kam die Nachricht, daß der Naz – geheiratet habe. Als ich ihn nachher in seinem jungen Eheglück einmal besuchte, erschien er mir mindestens um zehn Jahre jünger, aber nur von vorne gesehen. Am Nacken guckten die Reste des grauen Haares hervor, denn die Perücke war zu seicht. Obschon ich mich für einen Austausch einsetzte und obschon sein Eheweib soweit ganz gern einen gleichfärbigen Mann gehabt hätte, gab er die Perücke mit den braunen Jugendlocken nicht mehr zurück, sondern wußte sich anders zu helfen. Er stückelte hinten einen Streifen Katzenpelz an. Um diese Zeit erst, wo andere zusammenpacken und Feierabend machen, ging des [379] guten Orthofers eigentliches Leben an. Der Himmel segnete ihn mit zwei frischen, hübschen Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, zur Freude und Stütze seines Alters. So spät sie gekommen waren, er lehrte ihnen noch sein Handwerk und erlebte ihre Versorgung. Während der kleine, noch immer behendige Greis daheim in der Waldhütte, wo sie zur Miete wohnten, der Nachbarschaft die Kleider ausbesserte, ging sein ebenso fleißiges Weib ins Tagewerk aus und seine Kinder schneiderten in Bauernhöfen und brachten ihren Erwerb dem Vater heim. Sein Sohn ist heute Postmeister zu St. Kathrein.

Zur Sommerszeit haben wir uns häufig gesehen und auch dem Achtzigjährigen war der fünf Stunden lange Weg nicht zu weit, um wieder einmal mit seinem längst verwichenen Lehrling über alte, schöne Zeiten zu plaudern. Schöne Zeiten! Wahrlich auch für mich! Das Leben war ja so jung, so einfach, so hart und so sorglos gewesen wie ein antikes Schäfergedicht. Wenn man so gar nichts besitzt, als sich selber und seine Jugendlust, und so gar nichts weiß von der glotzäugigen, heißhungerigen und doch so übersatten Welt – wenn man so ganz sich selbst ist, daß man kaum merkt, wie die Zehen frieren im schadhaften Schuh – das heißt Mensch sein! Mensch sein heißt ich sein. Später, wenn die Verhältnisse und Kreise sich weiten und verwirren, ist man alles Mögliche, nur nicht ich. Nur so selten ich. Wenn sie hätten Leben tauschen können, der alte Orthofer und der »berühmte Schriftsteller«, letzterer würde es kaum gewagt haben, sein in alle Weiten flachgezerrtes Leben dem Alten anzubieten für dessen einheitliches, kindliches, friedsames Seelensein. – Aber davon sprachen wir nie. Solch spießige Gedanken haben [380] im Gottesfriedenkreise eines alten Waldkindhauptes nicht Platz.

Das letztemal war es, daß der Naz von Freunden eingeladen wurde, nach Mürzzuschlag zu kommen, um sich dort einige gute Tage anzutun. Flink kam der Alte herüber in sein aus früheren Zeiten geliebtes Mürztal. Aber das war auch anders geworden. Der gewaltige Eisenbahnverkehr, die großartige Industrie, die Wunder der Elektrizität, die Fremden aus aller Welt, die sich an ihn drängten und allerlei krauses Zeug schwatzten – alles das und anderes ward ihm unheimlich. Obschon dankbar für die Gastfreundschaft, machte er sich bald aus dem Staube, um wieder in die reine Luft seines stillen Waldlandes zu kommen. Damals ist er auch, das erstemal im Leben, photographiert worden, und als sein Bild dann gar in den Zeitschriften aller Welt erschien und ihm diese zugeschickt wurden, war er geradezu erschrocken – was er denn angestellt habe, daß sie es plötzlich so mit ihm trieben! Da waren auch Gönner aufgetaucht, die dem Alten durch mancherlei Aufmerksamkeit Freude bereiteten. Ach, wie leicht war er zu erfreuen und wie dankbar sind solche Menschen! Hatte er gleichwohl in den Zeiten seiner tüchtigen Arbeitskraft großes Ansehen genossen in der Gegend, so wird doch ein alter, armer Mann bald der Niemand. Aber jetzt auf einmal, als sein Konterfei durch die Welt ging, als Fremde nach St. Kathrein kamen und dem Herrn Ignaz Orthofer nachfragten, da suchten die Einheimischen ihn hervor aus dem Winkel und staunten darüber, daß ihr kleiner, bescheidener Alter der Berühmteste der ganzen Pfarre war. Doch der Naz hatte über all diese Anfechtungen seinen Humor nicht [381] verloren. Es sei gerade ein bißchen zu spät, meinte er einmal, jetzt gehe ihm schon der Faden aus. Früher, wenn er so noble Kunden gehabt hätte, würde er sie nicht verschmäht haben.

Im nächsten Herbst fiel es ihm ein, er wolle das Berghaus auf der Pretuler Alm sehen, das den Namen seines einstigen Lehrlings trägt. In Begleitung seines Sohnes stieg der Sechsundachtzigjährige hinauf und wurde dort vom fürsorglichen Hauswart mit Jubel empfangen und beherbergt. In derselben Nacht erhob sich ein wilder Sturm, der den Berg mit Regen und Schnee überschüttete, so daß am nächsten Tage Vater und Sohn durch Gestöber und Windbrüche nur unter großen Anstrengungen zu Tale gelangen konnten. Einen launigen Brief schickte er mir, er sei stärker gewesen als der Sturm und auch ohne Bügeleisen festgestanden.

Im darauffolgenden Winter lud er mich zur Hochzeit seiner Tochter ein. Wir sollten, so schrieb er, doch noch einmal einen lustigen Tag miteinander begehen. Der Alte soll dabei zu den Fröhlichsten gezählt und weit über Mitternacht in der jubelnden Gesellschaft ausgehalten haben; ich habe nicht dabei sein können, der Schnee war zu tief, in den das Alpendörfchen eingebettet lag, kein Schlitten wollte fahren und kein Wagen konnte fahren. Im Frühjahre, so ließ ich sagen, würde mein Besuch nachgeholt werden.

Ja, dieses Frühjahr! Das war gerade die Zeit, wo der Rasen zu grünen anhub über dem alten Meister Naz.

[382][383][3]

Vierter Band: Der Student auf Ferien

Die ersten Ferien
Die ersten Ferien.

Im Schatten der grünenden Bäume.

Da sitz' ich so gerne allein.

Da fallen mir goldene Träume

Der fernen Vergangenheit ein.

(Volkslied.)


Die ersten Vakanzen waren kaum zu erwarten.

Man sollte meinen, ein lernbegieriger Mensch, der sich so spät und so schwer in die Lehrsäle fand, wäre aus denselben kaum mehr herauszubringen gewesen. Und rieten mir ja meine Freunde, ich sollte über die zwei Ferienmonate hübsch in der Stadt bleiben und den erst vor wenigen Monaten begonnenen Unterricht durch Privatlehrer an mir fortsetzen lassen. Der Rat war gut, aber er machte mir übel bis in den Magen hinab, denn das Heimweh war in dem zweiundzwanzigjährigen Waldbauernbuben größer, als die Lernlust. Wenn meine Freunde und Lehrer nicht Seelenkenner gewesen wären und es nicht so eingeteilt hätten, daß ich mitten in meinem grünen Heimatlande und selbst in den Waldbergen lernen konnte, ich wäre ihnen entlaufen, ich wäre daheim ein verkommener Mensch geworden und es wäre ein Elend gewesen.

Nun, die ersten Vakanzen waren endlich da, ich nahm meine Bücher in eine große Seitentasche und eilte aus der heißen, blendenden Stadt in die kühlen Berge, in deren [5] Tälern der Duft der jungen Heumahd war und über deren Höhen der hochsommerliche Julihimmel lag.

Das Haus stand noch auf den Matten zwischen den Wäldern und es hatte sich in demselben gar nichts verändert, als daß die Schwalben wieder um die grauen Bretterdächer schwirrten, auf welchen bei meinem Fortgehen der Schnee gelegen war. Selbstverständlich, es war eine große Freudigkeit, als der Student einkehrte, und meinem Vater kam ich ganz besonders recht. Es war die genötige Zeit, ich sollte zu den Heuschöbern oder zum Vieh, was ich am liebsten wollte – so einem angehenden »Herrn« da muß man schon die Wahl lassen.

Es war ein böses Ding. Denn ich wußte, meine Lehrer würden mich zum Beginne des neuen Schuljahres nicht nach Heu und Vieh fragen, sondern nach den Grundsätzen der deutschen Sprachlehre, der Rechenkunst usw. Und wie auch sollte ich es von meinem Vater verlangen können, daß er mir Dach und Tisch gebe, und ich leistete nichts dafür! Dann die Nachbarn: Jetzt ist er schon wieder daheim und arbeitet nicht; der bringt seine Eltern an den Bettelstab!

Verstimmt ging ich über den Bergrücken nach Haustein oder Hauenstein hin. Der dicke Hausteiner Wirt, Lorenz Haas hieß er; ein Mann, weit und breit bekannt wegen seiner Herlebigkeit, denn er warf jeden Gast, der ihm nicht zu Gesichte stand, zur Tür hinaus; wegen seiner Gutmütigkeit, denn er verlieh und verschenkte allmählich den größten Teil seines Vermögens an die Leute; wegen seiner Wohlbeleibtheit endlich, denn in seinen besten Jahren mußten wir Schneider um ihn herumlaufen, wie um die alte Dorflinde, wollten wir ihm einen Rock anmessen.[6] – Herr Lorenz Haas ließ mir jetzt zum ersten Male das Glas Bier auf einer blechernen Ehrentasse vorstellen und tat die Bemerkung, ich hätte als Schneidergeselle ein lustigeres Gesicht gemacht, denn jetzo als Studiosus.

Da vertraute ich ihm denn, daß der Studiosus auf seinen Vakanzen keinen rechten Platz zum lernen habe und sich werde bequemen müssen, seine Studien auf der Hutweide fortzusetzen.

Sagte Herr Lorenz: »Das wäre nicht übel!«

Sagte ich: »Es ist aber sehr übel.«

Hierauf ließ er sich seinen feingeschliffenen Weinstutzen zur Hälfte mit Wein, zur andern Hälfte mit Wasser füllen; dann sagte er rasch und schnarrend: »Ich weiß dir was!«

»Gut wäre es gewesen, wenn ich in meiner Kammer zu Graz verblieben wäre,« meinte ich.

»Das wäre gut gewesen,« sagte Herr Lorenz Haas, »aber noch besser ist, daß du über die acht Wochen zu uns herausgekommen bist. Eine Wohnung weiß ich dir. Da steht ein Bett und ein Tisch und ein Schrank drinnen, und zu den zwei Fenstern winken die Birken herein! Wenn dich nur die Nachbarschaft nicht geniert.«

Des wäre ich nicht heikel, meinte ich, Lärm mache mir nichts.

»Sie macht auch keinen. Meine Taverne oben auf dem Föhrenriegel, die kennst?«

»Ja, recht gut,« sagte ich, »bin in ihr ja einmal vier Wochen in die Schule gegangen, zum Firmunterricht.«

»Jetzt ist schon lang keine Schule mehr in meiner Tavern, wie du weißt, jetzt steht sie leer. In der früheren [7] Schulstube hat der Küster das heilige Grab stehen, welches am Karfreitag in der Kirche ausgerichtet wird, und die Bahrstangen, glaube ich; und anderes Kirchengeräte. Und im Stübl; wo der Schulmeister gewohnt hat, hätte jetzt prächtig so ein fleißiger Studiosus Platz. Die Aussicht ist auch nicht übel.«

»Ja, über den Kirchhof hin,« sagte ich.

»Macht dir das was?« fragte Herr Lorenz.

»Das macht mir nichts,« antwortete ich, »aber der Mietzins?«

»Der wird dir auch nichts machen. Mich soll es freuen; wenn du dich in meiner Taverne einwohnst, und zum Essen hast nur einen kleinen Weg herab in mein Haus. An einem Tisch, wo für Zehn gekocht ist, wird für den Elsten auch noch ein Teller sein. Mach' dir nichts draus, Waldbauernbub, ich hab' dich allfort gern gehabt, und jetzt sei bei mir daheim.«

's war doch ein guter Mann. Und jetzt hatte ich eine Stunde von meinem Vaterhause eine ruhige Wohnung, wo ich unbeirrt von Heu und Vieh lernen konnte.

Ich vergesse es auch nicht mehr, das Stübchen in der Taverne zu Haustein. Wenn ich des Morgens in meinen weißen Linnen erwachte, war das eine Fenster voll von Wald, wie er jenseits des engen Tales am Berge stand. Das Dörflein tief im Tale, das sah ich nicht, es war versteckt unter den hellen, quellenden Büschen und unter den alten Ahornen und Linden. Und am andern Fenster zitterten die Schatten der Birkenzweige und zwischen den Birkenzweigen schimmerten die bemoosten Steine des nahen Föhrenriegels und die wettergraue Wand des Kirchturmes, hinter dem die Sonne aufstieg, die rein, [8] wie ich sie seither nirgends mehr gesehen, durch die großen Glasscheiben auf die blankgescheuerten Dielen meiner Stube fiel.

Und um die Kirche liegt der Kirchhof, ein wenig uneben, hie und da ein wenig ausgetreten. Alles miteinander steht auf einem Hügel und ist mit einer niedrigen Mauer umgeben, über die vom Hange herauf die Baumwipfel ragen. Und alles frisch duftig und sonnig, und wenn ich das Fenster öffnete, strömte eine kühle, von Vogelsang durchklungene Waldjugend herein. –

In der Pfarre Haustein sterben jährlich bloß vier oder fünf Menschen – und diese nicht einmal gern. Und der Boden des dortigen Kirchhofs ist so festgetreten und hat einen so dichten Rasen, daß man darauf wandelnd nicht jenes Gefühl hat, wie auf andern Friedhöfen, wo mit jedem Schritte der Boden zu wanken und zu sinken scheint.

Meine Stube war in Ordnung. Die Bücher hatte ich schön hingestellt in den Schrank und das weiße Papier hingelegt auf den Tisch. Als ich jedoch das erstemal zum Frühstück hinabgestiegen war ins Haus des Herrn Lorenz Haas, da sagte ich: »Zum Studieren will sie mir nicht passen.«

»Wer,« fragte Herr Lorenz.

»Die Taverne. Das ist ein so liebes, stilles, einsames Haus, daß ich fast glaube, in ihm werde ich dichten.«

»So dichte.«

Als ich wieder zurückkam in meine Stube, war das Bett und alles hübsch in Ordnung gebracht; da setzte ich mich an den Tisch und schaute zu den Fenstern hinaus, einmal in den besonnten Wald, das anderemal auf den [9] betauten Kirchhof, und in mir war das Gefühl des heimatlichen Friedens, der mit gleicher Größe ist über der lebendigen Welt und über dem Rasen der Schläfer.

In der Morgenstunde stieg auch der Pfarrer zur Kirche herauf und las sein Amt. Die Orgel klang zart zu meinem Stüblein herüber. Dann schritten die wenigen Kirchengänger an meinem Fenster vorbei und guckten wundershalber auch ein bißchen herein auf diesen jungen Menschen, der auf der Welt so eigen herumregiert, jetzt als Waldbauernbub, jetzt als Schneidermensch, jetzt als Stadtstudent und jetzt wieder wie ein Einsiedler bei den Toten.

Dann ging vielleicht einmal ganz langsam und be) scheidentlich die Tür auf und meine Mutter kam herein und schaute, ob ich in meiner neuen Wohnung wohl alles habe, was ich brauche, machte sich etwas zu schaffen, daß es mir gut sei und sagte dann gegen das Kirchhoffenster deutend: »Das Fenster ist dir einmal gesund, kannst schön aufs Sterben denken.«

Ein anderes Mal kam mein Jugendfreund Eustach, der gab sich laut und lustig, und wenn ich ihm mit meiner Kirchhofspoesie anhub, lachte er mich aus und sagte, ich wäre ein Student, der auf die Totengräberei studiere. Der gute, lebenslustige Bursche! Heute ist er Moder, aber nicht auf dem friedensstillen Gottesacker zu Haustein, sondern im weiten, dürren, staub- und lärmumbrausten Leichenfeld einer großen Stadt.

Als er nämlich später gehört hatte, mir ginge es gut und ich gedächte sein, war er mir nachgekommen in die Stadt und hatte Arbeit genommen in einer Fabrik. Von Woche zu Woche wurde er blässer; wenn wir am [10] Sonntage miteinander gingen, riet ich ihm stets, er solle wieder heimkehren zur ländlichen Arbeit in der Waldluft. Er antwortete: nein. Und als ich ihn fragte, warum er nicht mehr heim wolle, antwortete er noch entschiedener: nein. Erst im Spital gestand er mir, er möchte wohl sein Heimatstal noch einmal sehen, aber er wolle der Leute Spott nicht hören. Er hätte bei seinem Fortgehen gesagt, er käme nur als »Herr« wieder zurück aus der Stadt; nun sei er aber noch ärmer geworden, als er gewesen, und die boshaften Leute, die seinen Fortgang verhöhnten, würden seine Rückkehr noch mehr verhöhnen. Da sterbe er lieber in der Fremde. Ich kam hierauf noch drei Tage nacheinander zu seinem Lager, wo er so emsig beschäftigt war, Atem zu holen. daß er dazwischen kaum noch einige Worte zu sprechen vermochte. Am vierten Tage war sein Bett leer und mit der Decke zugehüllt. Der Wärter bedeutete mir, er sei in der Nacht fertig geworden. Ich ging in die Leichenhalle, sah lauter fremde Gesichter, aber das seine nicht. Ich ging in den Seziersaal und hatte mit den Herren einen Streit. Der Leib meines Freundes wurde dann unverletzt aufgebahrt und in christlichen Ehren bestattet.

So ward es später mit Eustach, der jetzt meine stille Taverne am liebsten zu einem Tanzboden umgestaltet hätte. Er blieb selten lange bei mir und so war ich allein den langen Tag, nur daß draußen mitunter der alte Bettlerhiesel vorüberwankte, dem die Leute so viel Almosen gaben, weil sie ihn so sehr fürchteten. Der Bettlerhiesel tat nämlich solche Leute, die ihm zu wenig gaben, »in die Höll' hinabbeten«. Das heißt, er hub mit seiner eintönigen Stimme langsam an zu fluchen, und wankte [11] so, mit entblößtem weißen Haupt, tiefgebeugt am Stabe, leise und beharrlich fluchend um das Haus, bis alle Einwohner mit Haut und Haar in die unterste Hölle verwünscht waren. Er tat jeden einzeln ab und nahm stets auch dessen Vater und Mutter und ganze Verwandschaft mit, sie mochten noch leben, oder schon im Grabe ruhen. Gewöhnlich geschah es dann, daß ein Nachtragsalmosen aus dem Hause kam, was die Folge hatte, daß der Bettler anhub, die in die unterste Hölle Verwunschenen in die mittlere, von da in die obere Hölle heraufzubeten und von dieser sie endlich in den Himmel emporzusegnen. Beides, nach unten und nach oben hin, tat er ohne Haß und ohne Liebe, es war Geschäftssache. Er trieb auch sonst allerhand sonderbare Stücklein und die Leute nannten ihn einen Halbnarren, weil er ihnen für einen ganzen zu närrisch schien. Als er starb, hat man in seinem Strohsack Geld gefunden, was zum Teile die Bruderschaft eines Stiftes in Empfang nahm, um den Bettlerhiesel in den Himmel hinauf zu beten.

Wenn nun aber um meine Taverne stundenlang kein lebendiger Mensch war und nicht einmal ein alter Bettlerhiesel über den Kirchhof hinkte, erinnerte ich mich, daß der Herr Pfarrer zu Haustein gesagt hatte, ich solle mich doch bisweilen bei ihm anmelden. Es war damals die Zeit, wo jeder Simpel über religiöse Dinge rasch und wegwerfend aburteilen zu müssen glaubte; ich setzte des Pfarrers Wein zu und führte dabei als einer, der jetzt hoch im Studium sei, eine sehr naseweise Sprache. Der geistliche Herr war geduldig und sagte: »Gott beschütze dich noch manches Jahr, die Klärung wird sich dann schon vollziehen.«.

[12] Öfters ging ich in den kühlen Waldgräben hin und wählte mir am rauschenden Bach ein Sitzplätzchen zum Studieren; als ich aber drauf saß, schaute ich auf die grünbemoosten Steine, um die das Wasser gischtete, oder in die finsteren Schatten zwischen den Baumstämmen hinein und es vergingen die Stunden. Dann ging ich auf den weißen Sandwegen der Berghöhen und schaute über die Birken- und Kiefernwälder bis zu den fernen blauen Bergen, und über die ganze weite Gegend war der sonnige Sommernachmittag hingehaucht. Wenn ich endlich des Abends zurückgekehrt war in meine dunkle Taverne, da dämmerten die hellen Bilder noch lange in meiner Seele, ich setzte mich an das Fenster und schaute auf den Kirchturm oder auf das Berggrat, wo man das Farbenspiel der untergehenden Sonne sah, und tat, was ich den ganzen Tag getan hatte, ich träumte.

An einem solchen Abende war die Stunde, mit der meine zweiundzwanzig Lebensjahre voll wurden. Da sagte ich zu mir: Jüngling! Blut Gottes! ist es nicht schade um die kostbare Zeit, daß du sie verträumst?! Siehe da hinab in die Häuser und Hütten, die Menschen denken nicht an die Schönheit dieser Welt, aber sie lieben sie. Sie fügen sich zusammen in warmen Freuden und begehen süße Stunden. Dem Schneiderjungen schon waren Herzen offen gewesen, dem Studenten mit den langen Locken werden deren noch mehr offen sein. Nur dreihundert Schritte brauchst du zu gehen – und selbst wenn es vierhundert wären – und du stehst vor jemandem, der lange heimlich nach dir auslugt, der sich vor einem Kusse nicht länger sträuben wird, als es fürs erstemal Sitte ist.

[13] Die Kirchturmspitze funkelte noch ein letztesmal in der Sonne und der Junge blieb sitzen am offenen Fenster, und sah den Abend dämmern und sah die Nacht werden.

Und in der Nacht; da spielte der sinkende Halbmond draußen auf der Kirchhofsmauer und in den stillen Büschen. Da waren blasse Streifen und Tücher gezogen über den Rasenplatz hin und es rührte sich einmal ein Zweig und es zitterte einmal ein Laub, und doch war es stiller als still – die Kirchturmuhr aber schmiedete in ihrem langsamen Tiktak an dem Ring der Ewigkeit.

Endlich, da der Mond vergangen war und die schwere Nacht lag, in welche ich auch noch eine Weile hinausstarrte, weil man in solcher Nacht fiebernde Gedankenungeheuer tief versenken und verhüllen kann – zündete ich endlich das Licht an und deckte mir mein Bett auf. Und als ich auf dem Bette saß und noch immer wachend träumte und mir leid war um den Tag, der verträumt worden, und mir leid war um die Nacht, die verschlafen werden sollte, flog plötzlich etwas zum offenen Fenster herein, kollerte klappernd auf den Boden und lag dann mitten auf demselben still. Ich schaute hin, es war ein rundes, löcheriges Ding. Der Atem blieb mir stehen, wie ich so darauf hinstarrte und wie es so auf mich hergrinste. Es war ein Totenschädel.

Vor Entsetzen waren meine Glieder lahm und meine Gedanken. Als ich zu mir kam, schloß ich das Fenster und schloß die Läden, daß nicht etwa noch das ganze Zugehör zu mir hereinspringen konnte. Endlich kam ich mit mir dahin überein: Von selber kommt so ein Ding nicht geflogen. Wenn es auch einmal ein Menschenhaupt gewesen war, das Unsinn trieb, so verläßt es jetzt doch [14] nicht sein kühles Kissen, um mitternächtig eine Geburtstagsvisite zu ma chen. Mein wunderlicher Gast – er blieb liegen, wo er lag und grinste mich an – war eigentlich ganz jugendlich, er hatte noch alle Zähne – vielleicht waren wir zusammen in die Schule gegangen. Fürs erste verrammelte ich nun die Tür und setzte mich in Wehrstand – nicht gegen den Knochen, sondern gegen den, der ihn wohl aus dem Beinhause in die Stube geschleudert haben mochte. Aber draußen regte sich nichts. So wurde ich allmählich dreister, hob den Totenschädel auf und stellte ihn auf den Tisch.

Doch mit einem solchen Gesellen ist es schwer, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Wie wir uns eine Weile so still gegenübersaßen, war es sehr langweilig. über Sein und Nichtsein wäre ein nicht unpassendes Gesprächsthema gewesen. Aber keiner sing an.

Nachdem das Grauen sich verzogen hatte, wurde unsere Bekanntschaft insofern traulicher, als ich den Schädel in die Hände nahm – so ein Ding wiegt viel leichter als man glaubt – und ihn einmal über und über betrachtete. Und jetzt war auf einmal alle Beklemmung weg, mit der Berührung der Masse war das gespenstische Wesen zerstoben. Wie der Tod im Grunde doch harmlos ist! Nur das Leben bäumt sich so närrisch dagegen auf und stößt jenen Angstruf aus, vor dem es dann selbst bis ins Mark erschrickt.

Und dann ertappte ich das Ding bei einer menschlichen Schwäche. Ich nahm wahr, daß ein Vorderzahn des Oberkiefers mit einem lockeren Metallstift am Kiefer befestigt war. Also falsche Zähne! Sollte in diesen Höhlen das Gehirn einer Frau geherrscht haben? Kannte [15] ich nicht auch einen Mann, der sich einen vorderen Oberzahn; den er sich beim Klarinettblasen ausgebissen, zum Behufe des Klarinettblasens wieder ersetzen ließ? Der lustige Musikantenjackel; Gott habe ihn selig, er starb in jungen Jahren, nachdem er ausgespielt hatte, was das Zeug hielt. Bei meines Vaters Hochzeit soll er der Lustigmacher gewesen sein; der Mann hatte Grütze gehabt da drinnen in dieser Beinbüchse. Ja, wahrlich, das war niemand anderer, als der Schädel des Musikantenlackel – erschienen, um mir das Geburtstagsständchen zu bringen.

Die Nacht war übrigens geruhsam. Am frühen Morgen stieg ich hinab zu meinem Frühstück. Herr Lorenz hatte mir heute das Tischchen mit einem rotblumigen Tuch bedecken und darauf einen Rosenstrauß und einen Gugelhupf hinstellen lassen.

Ich fragte, seit wann in Haustein die Glückwünscher nächtlicher Weile zu den Fenstern hereinflögen?

»Wieso?« sagte Herr Lorenz.

»Ser Musikantenjackel hat mich aufgesucht.«

»Der ist ja schon seit wenigstens fünfzehn Jahren tot!« rief mein Gastherr.

»Freilich ist er tot,« sagte ich, »und das ist eben das Verdächtige. Da seht ihn!« – Und hielt den Schädel hin.

Herr Lorenz trat einen Schritt zurück.

»Junge,« sagte er dann, »mit solchen Sachen treibt man keine Späße.«

»Aber solche Sachen treiben sie mit uns. Um Mitternacht ist er mir zum Fenster hineingeflogen.«

Jetzt hörte ich hinter dem großen Backofen, in welchemd [16] die berühmten Hausteiner Semmeln gebacken wurden, ein gurgelndes Lachen. Saß der alte Bettlerhiesel dort und lachte mich aus. Jetzt stand's nicht lange an, so glaubten wir zu wissen, wer den Knochen in meine Stube geschleudert hatte. Herr Lorenz schritt sehr rasch auf den Alten zu und hob sein fünffingeriges Hausgericht drohend über das graue Haupt.

Mir gelang es noch rechtzeitig, die Gefahr abzuwenden, worauf der Bettlerhiesel sich erhob, feierlich vor mich hinstellte und anfing in langsamer, eintöniger Art etwa so zu reden: »Vergelt's Gott, Herr. Hundertmal vergelt's Gott, Herr. Glück in dein Haus und Dach und Fach. Dein Rat und Tat soll gesegnet sein. Vergelt's Gott, Herr. Deine arme Seel' soll in den Himmel fahren. Deine Freunde in den Himmel fahren. Deine Feinde in die Höll' fahren. Vergelt's Gott, Herr. Der heilige Erzengel Gabriel soll dein Diener sein. Im ersten Himmel ist dein Vorhof. Im zweiten Himmel ist dein Hochzeitsmahl. Im dritten Himmel soll dein Ehebett sein. Gott der Vater wird dich krönen. Gott der Sohn wird dich umarmen. Gott der heilige Geist wird deine Freud' und Seligkeit sein in alle Ewigkeit, Amen. Vergelt's Gott, Herr. Vergelt's Gott, Herr.« –

Ter Schädelschleuderer war er also wohl doch nicht gewesen. Ich habe auch nicht wieder nachgeforscht. Möglich, daß der Eustach etwas gewußt hätte. – –

Es mutet mich seltsam an, heute, da diese Dinge in meinem Gedächtnisse wieder aufstehen. Es ist die Flut einer fremden Welt darüber hingefahren, aber sie verlief und aus dem Schlamme steigen die alten Gewächse, die mich wie Schlingpflanzen stets von neuem [17] umweben. Andere sehen die Zukunft in leuchtenden Farben, die Vergangenheit ist ihnen dunkel geworden, sie wenden sich von ihr ab, als von einem unwiederbringlich Verlornen. Mich deucht, nichts ist so sehr unser Eigentum, als unsere Vergangenheit, die uns aufgebaut hat, die wir sind. Es sind unbedeutende Dinge; mag wohl nicht immer gerechtfertigt sein, daß ich sie erzähle, denn so kann ich sie nimmer vor die Seele der Leser stellen, als sie vor meiner eigenen stehen – so traumhaft bunt und magisch, so wehmutsreich und mild, daß ich mir nach meinem Tode gar keinen andern Himmel wünsche, als den, meine Vergangenheit noch einmal durchleben zu dürfen. Wenn der Bettlerhiesel die Macht gehabt hätte, den Menschen ihr vergangenes Leben zurückzubeten, so hätten ihn wohl viele vielleicht zur Tür hinausgewiesen, ich aber hätte ihm alles, alles dafür gegeben, was mein war.

Ich wäre ja doch wieder dazukommen.

Der erste Christbaum in der Waldheimat
[18] Der erste Christbaum in der Waldheimat.

Bist doch noch kommen! Wir haben schon gmeint, 's Wetter! Der Nickerl hat schon gröhrt, hat glaubt, du kunntst im Schnee sein stecken blieben. Na, weil d' nur da bist. Was magst denn gleich? Ein Eierspeis'? Ein Kaffee? Weihnachtsguglhupf han ich ah schon.«

Kennt ihr sie? Kennt ihr sie nicht? Das ist ja die Stimme der Mutter!

Es waren die ersten Weihnachtsferien meiner Studentenzeit. Wochenlang hatte ich schon die Tage, endlich die Stunden gezählt bis zum Morgen der Heimfahrt von Graz ins Alpel. Und als der Tag kam, da stürmte und stöberte es, daß mein Eisenbahnzug stecken blieb ein paar Stationen vor Krieglach. Da stieg ich aus und ging zu Fuß, frisch und lustig, sechs Stunden lang durch das Tal; wo der Frost mir Nase und Ohren abschnitt, daß ich sie gar nicht mehr spürte; und durch den Bergwald hinauf, wo mir so warm wurde, daß die Ohren auf einmal wieder da waren und heißer, als je im Sommer. Der Nase vergaß ich, doch stak sie sicher fest im Gesicht, wo sie heute noch steckt. Auch mein Bündel Bücher schleppte ich, denn die Professoren waren so grausam gewesen, mir Hausaufgaben zu zeichnen, besonders in der Mathematik und Grammatik, die ich [19] heute noch hassen künnte bis aufs Blut, wenn es nicht gar so blutlose Wissenschaften wären.

So kam ich, als es schon dämmerte, glücklich hinauf, wo das alte Haus, schimmernd durch Gestöber und Nebel, wie ein verschwommener Fleck stand, einsam mitten in der Schneewüste. Als ich eintrat, wie war die Stube so klein und niedrig und dunkel und warm – und urheimlich. In den Stadthäusern verliert man ja allen Maßstab für das Waldbauernhaus. Aber man findet sich gleich wieder hinein, wenn die Mutter den Ankömmling ohne alle Umstände so grüßt. »Na, weil d' nur da bist!«

Auf dem offenen Steinherd waberte das Feuer, in der guten Stube wurde eine Kerze angezündet.

»Mutter, nit!« wehrte ich ab, »tut lieber das Spanlicht anzünden, das ist schöner!«

Sie tat's aber nicht. Das Kienspanlicht ist für die Werktage. Weil der Sohn heimkam, war für die Mutter Feiertag geworden. Darum die festlichere Kerze.

Und für mich erst recht Feiertag!

Als die Augen an das Halblicht sich gewöhnt hatten, sah ich auch den Nickerl, das achtjährige Brüderl. Es war das jüngste und letzte. Es stand in seinem blädernden Höslein gerade wie ein Bäumchen da und hatte natürlich den Finger im Mund. Seine schwarzen Augen waren weit offen und ganz rund, so verwundert schaute er mich an. Der, um den er schon »gröhrt« hatte, war jetzt da und die Vertraulichkeit stellte sich erst allmählich ein. Selbst als ich ihn zum Kaffee einlud, war es noch nicht so weit, daß er den Finger für das Stück Guglhupf vertauschen wollte.

[20] »Ausschaun tust gut!« lobte die Mutter meine vom Gestöber geröteten Wangen. Sie hatte ihr Gesicht, das nicht gut und nicht schlecht ausschaute – das alte, kummervolle und doch frohgemute Mutterantlitz. Ich schaute dieses Gesicht nie lange an, immer nur verstohlen – es war immer eine Schämigkeit da, bei ihr auch so, wie bei zwei heimlichen Liebsten. Zärtlich bin ich mit ihr nie gewesen, wohl auch nie grob – und diesmal bei der Heimkehr haben wir uns nur die Hände gegeben. Aber wohl war mir! Wohl zum Jauchzen und Weinen. Ich tat keines, ich blieb ganz ruhig und redete gleichgültige Dinge.

Der kleine Nickerl sah blaß aus. »Du hast ja die Stadtfarb, statt meiner!« sagte ich, und habe gelacht.

Die Sache war so. Der Kleine tat husten, den halben Winter schon. Und da war eine alte Hausmagd. die sagte es – ich wußte das schon von früher – täglich wenigstens dreimal, daß für ein »hustendes Leut« nichts schlechter sei, als »der kalte Luft«. Sie verbot es, daß der Kleine hinaus vor die Tür ging, sie hielt immer die Fenster geschlossen, ja auch die Tür durfte nur so weit und so kurz ausgehen, wie eben noch ein Mensch rasch aus- oder einschlüpfen kann. Die Eltern wußten es der Alten Dank, daß sie so gewissenhaft für den Kleinen mitsorgen half. So kam der Knabe nie ins Freie und kriegte auch in der Stube keine gute Luft zu schnappen. Ich glaube deshalb war er so blaß, und nicht des Hustens halber. Gehustet hatte auch ich als Knabe, aber damals gab's noch diese alte Magd nicht und ich trieb mich mit meinen Geschwistern in der freien Weite um, wälzte Schneeballen, rodelte über [21] Berglehnen, rutschte auf dem Eis die Hosen durchsichtig, so lange, bis der Husten wieder gut war. Aber der arme Nickerl hatte keinen gleichgesinnten Kameraden mehr, er war unter Großen das einzige Kind, das Hascherlein im Hause und fügte sich hilflos den Gesetzen. Ich nützte die wenigen Ferientage gewissenhaft, um ihn der lebensgefährlichen Fürsorge der Hausmagd abspenstig zu machen. Ich lockte ihn aus dem Hause, verleitete ihn zum Schneeballenwerfen, zum Schneemandelbauen, wobei er warme Hände und rote Wangen bekam. Und am Abende hustete er noch mehr. Mich schützte meine Stadtherrenwürde zwar vor dem Schlimmsten, aber das konnte die Alte nicht bei sich behalten, daß ich lieber in meinem Steinhaufen hätte bleiben sollen, als da herkommen, um Kinder zu verderben. Wir setzten munter unsere Winterfreuden fort und noch eh ich in die Stadt zurückkehrte, war beim kleinen Brüderl der Husten vergangen.

Aber ich laufe der eilenden Zeit voraus. Und will mich doch beim lieben Christfest aufhalten.

In der demselben vorhergehenden Nacht schlief ich wenig – etwas Seltenes in jenen Jahren. Die Mutter hatte mir auf dem Herde ein Bett gemacht mit der Weisung, die Beine nicht zu weit auszustrecken, sonst kämen sie in die Feuergrube, wo die Kohlen glosten. Die glosenden Kohlen waren gemütlich; das knisterte in der stillfinsteren Nacht so hübsch und warf manchmal einen leichten Glutschein an die Wand, wo in einem Gestelle die buntbemalten Schüsseln lehnten. Aber die Schwabenkäfer! die nächtig aus den Mauerlöchern hervorkrochen und zurzeit einmal Ausflüge über die Glieder und das Gesicht eines Studenten machten! Indes wird [22] ein gesunder Junge auch die Schwabenkäfer gewohnt. Aber sie nicht ihn. – Da war's ein anderes Anliegen, über das er noch obendrein schlüssig werden mußte in dieser Nacht, ehe die Mutter an den Herd trat, um die Morgensuppe zu kochen. Ich hatte viel sprechen gehört davon, wie man in den Stadten Weihnacht feiert. Da sollen sie ein Fichtenbäumchen, ein wirkliches Bäumlein aus dem Walde auf den Tisch stellen, an seinen Zweigen Kerzlein befestigen, sie anzünden, darunter sogar Geschenke für die Kinder hinlegen und sagen, das Christkind hätte es gebracht. Auch abgebildet hatte ich solche Christbäume schon gesehen. Und nun hatte ich vor, meinem kleinen Bruder, dem Nickerl, einen Christbaum zu errichten. Aber alles im geheimen, das gehört dazu. Nachdem es soweit taglicht geworden war, ging ich in den frostigen Nebel hinaus. Und just dieser Nebel schützte mich vor den Blicken der ums Haus herum arbeitenden Leute, als ich vom Walde her mit einem Fichtenwipfelchen gegen die Wagenhütte lief, dort das Bäumlein in ein Scheit bohrte und unter dem Karren- und Räderwerk versteckte. Dann ging ich nach Sankt Kathrein zum Krämer, um Äpfel zu kaufen. Der hatte aber keine, sie waren im selben Jahre zu Pöllau und Hartberg nicht geraten und so war kein Obstträger in die Gebirgsgegend gekommen.

Nun fragte ich den Krämer, ob er vielleicht Nüsse habe.

»Nüsse!« sagte er. »Zum Anschauen oder zum Aufschlagen? Ich habe ihrer noch ein Sackel, vom vorigen Jahr her. Aber die sind nur zum Anschauen. Schlagst sie auf, so hast einen schwarzen oder verdorrten Kern, der nit zum Essen ist.«

[23] Die Nüsse ließ ich ihm. Das wollte ich dem Brüderl nicht antun: Eine schöne Schale und kein Kern. Solche Sachen darf man ihm nicht angewöhnen.

Was sollte ich nun kaufen. Er hatte ja allerhand schöne Sachen; der Krämer. Rote Sacktücheln, Hosenträger, Handspiegel, Tabakspfeifen, sogar Maulwetzen (Mundharmoniken). Doch abgesehen davon, daß der angehende Pädagoge manches nicht passend fand, hatte ich mit meinem Geldvorrat zu rechnen, der mich ja auch wieder nach Graz bringen sollte.

»So wär' ich halt umsonst gegangen,« sagte ich.

Darauf der Krämer: »Damit du nit umsonst gegangen bist – wenn man noch du sagen darf zum Herrn Studenten – so trink da ein Stamperl Roten.« Tamit goß er mir aus der Flasche süßen roten Schnaps in ein Gläschen.

Als ich den getrunken hatte, war mir der Mut gestiegen und die Geldsorge gesunken. Aber nicht beim Krämer wurde eingekauft, daraufhin war der Rote auch nicht gespendet vom alten braven Haselbauer (auch Haselgräber geheißen). Ich ging über das Brückerl zum Bäcker und kaufte einen Vierkreuzerwecken, den ich in die Brusttasche steckte, so daß der Fuhrmann Blasel, der mir nachher begegnete, lachend auf mich herrief: »Nau, der Waldbauernpeter hat ja eine Hühnerbrust bekemma!«, denn die Vierkreuzerwecken in Sankt Kathrein waren damals nicht danach, daß sie unter dem zugeknöpften Rock unbeachtet bleiben konnten.

Ich kam nach Hause und nun war für den Christbaum alles beisammen. Aber kaum mir darob behaglich ward, fiel mir ein, daß gerade noch etwas sehr[24] Wichtiges fehlte: die Kerzen. Ich hatte der kleinen Wachskerzen vergessen; wo nehme ich sie her?

Ich nahm sie einfach her.

In einem Bauernhause ist für alles Rat, nur gehört zur Herbeischaffung manchmal eine Notlüge. Sie ist nicht schwer zu machen. Zur Mutter ging ich und bat, ob sie mir nicht ihren roten Mariazellerwachsstock leihen wollte. Sie fragte wozu? Na, dann tat ich's halt. Ich ginge in der Nacht zur Christmette, wo in der Kirche alle Leute ihre Lichter hätten, so möchte ich auch eins haben. Sie langte nur in ihren Gewandkasten; da hatte ich den Wachsstock.

Dann ward es Abend. Die Gesindleute waren noch in den Ställen beschäftigt, oder in den Kammern, wo sie sich nach der Sitte des heiligen Abends die Köpfe wuschen, und ihr Festgewand herrichteten. Die Mutter in der Küche buk die Christtagskrapsen und der Vater mit dem kleinen Nickerl ging durch den Hof, um ihn zu beräuchern und dabei schweigend zu beten. Dasschweigende Beten, sagte die Mutter gern, sei wirksamer als das laute.

Wenige Jahre vorher hatte ich dem Vater bei diesem priesterlichen Amte noch geholfen, nun tat es schon das Brüderl, und gewiß auch mit jener ehrfürchtigen Andacht, die den Geheimnissen dieser Nacht gebührt.

Dieweilen also die Leute alle draußen zu tun hatten, bereitete ich in der großen Stube den Christbaum. Das Bäumchen, das im Scheite stak, stellte ich auf den Tisch. Dann schnitt ich vom Wachsstock zehn oder zwölf Kerzchen und klebte sie an die Ästlein. Das plagte ein wenig, denn etliche wollten nicht kleben und fielen herab.

[25] Ich hätte sehr gern Geduld gehabt, um alles ordentlich zu machen, aber jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen und vorzeitig wer hereinkommen. Gerade diese zitternde Hast, mit der sie behandelt wurden, benützten die Kerzchen, um mich ein wenig zu necken. Endlich aber wurden sie fromm, wie es sich für Christbaumkerzchen geziemt und hielten fest. Es war gut. Unterhalb, am Fuße des Bäumchens legte ich den Wecken hin.

Da hörte ich über der Stube auf dem Dachboden auch schon Tritte – langsame und trippelnde. Sie waren schon da und segneten den Bodenraum. Bald würden sie in der Stube sein, mit der wir den Rauchgang zu beschließen pflegten. Ich zündete die Kerzen an und versteckte mich hinter den Ofen. Noch war es still. Ich betrachtete vom Versteck aus das lichte Wunder, wie in dieser Stube nie ein ähnliches gesehen worden. Die Lichtlein auf dem Baum brannten so still und feierlich – als schwiegen sie mir himmlische Geheimnisse zu. Aber da fiel es mir ein – wenn sie niederbrannten, bevor die Leute kommen! Wie konnte ich's denn hindern? Wie sollte ich sie denn zusammenrufen? Da konnte ja alles ganz dumm mißlingen! Es ist gar nicht so leicht, Christkindel zu sein, als man glaubt.

Endlich hörte ich an der Schwelle des Vaters schuhklöckeln – man wußte schon immer, wenn es so klöckelte, daß es der Vater war. Die Tür ging auf, sie traten herein mit ihren Weihgefäßen und standen still.

»Was ist denn das?!« sagte der Vater mit leiser, langgezogener Stimme. Der Kleine starrte sprachlos drein. In seinen großen runden Augen spiegelten sich wie Sterne die Christbaumlichter. – Der Vater schritt[26] langsam zur Küchentür und flüsterte hinaus: »Mutter! – Mutter! Komm ein wenig herein.« Und als sie da war: »Mutter, hast du das gemacht?«

»Maria und Josef!« hauchte die Mutter. »Was lauter haben's denn da auf den Tisch getan?« Bald kamen auch die Knechte, die Mägde herbei, hell erschrocken über die seltsame Erscheinung. Da vermutete einer, ein Junge, der aus dem Tale war: Es könnte ein Christbaum sein. Sollte es denn wirklich wahr sein, daß Engel solche Bäumlein vom Himmel bringen? – Sie schauten und staunten. Und aus des Vaters Gefäß qualmte der Weihrauch und erfüllte schon die ganze Stube, so daß es war wie ein Schleier, der sich über das brennende Bäumchen legte.

Die Mutter suchte mit den Augen in der Stube herum: »Wo ist denn der Peter?«

»Ah,« sagte der Vater, »jetzt schon, jetzt rait ich mir's schon, wer das getan hat.«

Da erachtete ich es an der Zeit, aus dem Ofenwinkel hervorzutreten. Den kleinen Nickerl, der immer noch sprachlos und unbeweglich war, nahm ich an dem kühlen Händchen und führte ihn vor den Tisch. Fast sträubte er sich. Aber ich sagte – selber feierlich gestimmt – zu ihm: »Tu dich nicht fürchten, Brüderl. Schau; das lieb' Christkindl hat dir einen Christbaum gebracht. Der ist dein.«

Und da hub der Kleine an zu wiehern vor Freude und Rührung, und die Hände hielt er gefaltet wie in der Kirche.

Öfter als vierzigmal seither hab' ich den Christbaum erlebt, mit mächtigem Glanz, mit reichen Gaben [27] und freudigen Jubels unter Großen und Kleinen. Aber eine größere Christbaumfreude, ja eine so heilige Freude habe ich noch nicht gesehen; als jene meines kleinen Bruders Nickerl – dem es so plötzlich und wundersam vor Augen trat – ein Zeichen dessen, der vom Himmel kam.

So lange die Lichter brannten, war es wie ein Gottesdienst; während der Mutter auf dem Herde richtig ein paar Krapfen verschmorten. Erst als sie verloschen, eins ums andere, bis auch das letzte mit ein paar knisternden Flackern dahin war, huben die Leute an zu reden und einer brachte, weil es finster geworden war, von der Küche ein rötliches Spanlicht her ein.

»Was denn da drunter liegt!« sagte der Vater und zeigte auf den Wecken. »Nickerl mich deucht, das gehört auch dein.«

Der schöne bräunliche Wecken, mit Weinberln gespickt – weil es Weihnachtsgebäck war – wurde dem Kleinen in die Hand gegeben. Er hielt ihn ganz hilflos vor sich. Die Freude wurde nicht größer, weil sie nicht mehr größer werden konnte. Der Christbaum allein hatte sein ganzes Herzlein ausgefüllt, sowie er auch unsere Kinder ausfüllen würde, wenn der himmlische Lichterbusch nicht so sehr mit irdischem Tand verweltlicht ware.

Nachher beim Nachtmahl wurden allerhand Meinungen laut.

»Heut' tat eigentlich 's Krippel auf den Tisch gehören,« meinte die alte Magd.

»'s Krippel ist eh da oben,« entgegnete der Vater und wies gegen den Wandwinkel, wo neben mehreren [28] Heiligenbildern mit kleinen Figuren auch die Darstellung der Geburt Christi war.

»'s kommt halt eine neue Mod' auf,« wußte der Junge aus dem Tal zu sagen. »Der lutherisch Verwalter in Mitterdorf hat in ganz Mürztal den Christbaum aufgebracht. Aber da sind wenigstens gute Sachen dar: unter, und daß jeder was kriegt.«

»Aha, wenn du Geschenke kriegst,« sagte ich gereizt, »da magst auch einen lutherischen Christbaum, gelt!«

»Still seid's!« gebot der Vater, der solche Reden nie leiden konnte, und heut am wenigsten.

Also ist die Weihnachtsstimmung schön gewahrt geblieben. Und während wir gekochte Rüben und Sterz aßen, saß der Nickerl beim Christbaum und aß ein Stückchen Wecken, das ihm die Mutter herabgeschnitten hatte. Sich und dem Vater und mir, so war sein Wille, sollte sie auch ein Stück herabschneiden; aber mir war der lang entbehrte Sterz lieber. So zehrte der Kleine noch am Christtag und am Stephanitag und am Johannstage an seinem Wecken. Aber die Weinberln hatte er alle schon am ersten Tag aus der Rinde gekietzelt. Endlich war der ganze Wecken weg.

Aber das Bäumlein war noch da, wenn auch kahl und leer, wie sie im Walde stehen. Der Nickerl ließ es auf die Leiste über seinem Bettchen stellen. Und dort stand es gewißlich bis die Nadeln begannen zu fallen. Dann nahm es die Mutter heimlich weg, hackte es klein, und legte es fast zärtlich auf das prasselnde Herdfeuer.

Als wir das Geld haben fortgetragen
[29] Als wir das Geld haben fortgetragen.

Ich war wieder auf Ferien, schaute durch das Fensterglas hinaus und plante, wie denn dieser junge, freie und lustige Bursche einstweilen am besten zu verwenden wäre? Das Fensterglas wurde alsbald trübe, weil ich ihm mit dem Munde zu nahe kam. Und mit vielem andern ist es auch so: die größten Freuden werden oft trüb oder vergehen gar, wenn sie der Hauch eines Mundes berührt. Studenten kümmert das nicht.

Jetzt, wie ich wieder einmal so ins Freie guckte, war hinter mir ein Räuspern und da stand der Ortsvorstand von Kathrein am Hauenstein. Er hatte höflich den Hut abgezogen und glättete nun mit der Hand sein graues Haupthaar und schaute mich sehr gutmütig an.

»Muß doch ein wenig nachsehen, was du machst – wenn man noch du sagen darf!« lautete seine Anrede.

Dusagen, ja das versteht sich. Der Haselbauer, der Karl, – und das war der Ortsvorstand – ist mir während der Handwerkerzeit einer meiner liebsten Menschen gewesen, weil er gar gutherzig war und weil er eine so besondere Art von Töchtern hatte – doch, das gehört auf einen anderen Fleck. Kurz, beim Dusagen blieb's, und so sagte denn der Vorstand: »Hättest nicht Lust, morgen mit wir eine Lustreise nach Vorau zu machen? [30] Das Chorherrenstift ist schön anzuschauen und die geistlichen Herren haben einen guten Wein.«

Es waren Gründe da, mich zu besinnen.

»Ich habe dort ein verwunderliches Geschäft,« fuhr der Karl fort, »und weil mir durch den großen Wald allein woltern die Zeit lang wird, so wär's mir frei ein Gefallen, wenn du mittun wolltest. Daß ich dich zehrungfrei halten tät, müßtest mir halt nicht für Übelnehmen.«

Die Gründe, mich zu besinnen, waren nun nicht mehr da. Mit Freuden war ich zur Lustreise nach Vorau bereit.

»Ein bissel was zu tragen haben wir halt auch,« sagte der Vorstand, »wir wollen damit brüderlich abwechseln und so wird's für einen nicht schwer sein. Vielleicht passiert dir ein solches Tragen dein Lebtag nicht mehr«

»Was wird's denn sein?« fragte ich.

Nun hob er seinen Zeigefinger auf und sagte: »Da will ich dich einmal raten lassen, Studiosus. Morgen ums Sonnaufgehen kommst zu mir aufs Frühstück, vielleicht hast du's bis dahin fertig.«

Ich hatte an demselben Abend vor dem Einschlafen richtig ein paar Stunden nachgedacht, was wir denn nach Vorau zu schleppen haben würden. In Vorau war das Bezirksgericht, das nimmt allerhand Sachen, aber diesmal mußte es nach den Andeutungen des Karl was Besonderes sein.

Ums Sonnaufgehen war ich da; auf dem Tische dampfte schon der Kaffee, der in der Morgenfrische, die zu den offenen Fenstern hereinströmte, köstlich duftete. Und auf dem Tische lag die braune Seitentasche des Karl, [31] die er auf seinen Kaufmannsfahrten nach Graz – er war ja der Ortskrämer – stets mit hatte und an deren behaarter Decke noch die Klauen des Rehbockes waren, von dessen Haut die Tasche stammte. Diese Tasche war heute ganz gewaltig vollgepfropft, war schwer wie Blei und klirrte ein wenig, wenn man sie hob und schob.

Anfangs trug sie der Karl, später nahm ich sie über die Achsel.

»Wie schwer schätzest du sie?« fragte mich mein Genosse.

Ich berechnete nach dem mir damals noch immer am nächsten liegenden Anhaltspunkt.

»Das sind zum wenigstens drei Bügeleisen,« sagte ich, »wiegen zwölf Pfund.«

»Hast nicht schlecht geschossen und wenn ein Pfund Silbertaler auch so schwer ist; als ein Pfund Bügeleisen, so schleppen wir heute zwölf und ein Viertel Pfund nach Vorau.«

»Wir werden doch keine Silbertaler schleppen?« war meine Frage.

»'s wird aber doch nicht weit gefehlt sein,« sagte der Karl.

»Ja, wachsen denn heuer in Kathrein am Hauenstein die Silbertaler auf den Bäumen, wie Holzäpfel?«

»Auf den Bäumen wie Holzäpfel nicht, aber unter der Erde, wie Erdäpfel. Ja, Studiosus, wie du itzt dahertrabest, hast du einen vergrabenen Schatz über der Achsel hängen. – Bist durstig, so wollen wir beim Mostmichel abrasten.«

Beim Mostmichel im Narrenhof nahmen wir eine Labnis; und dort; wo der Vorauerwald beginnt, der[32] den stundenlangen Bergrücken bedeckt und zu beiden Seiten weit hinabgeht in die Lehnen und Engtäler, wo dann am Saume die Bauernhöfe und kleinen Dörfer hängen – an der Straße also, wo dieser Wald beginnt, setzten wir uns in den Schatten und rasteten eine Stunde lang.

Der Karl sah mich von der Seite an und rief hernach, auf die Ledertasche schlagend: »Na, was sagst du dazu?«

So richtete ich mich denn empor, tat den Mund auf und sagte: »Da kann ich gar nichts sagen.«

»Und ich sag',« versetzte der Karl, »ich sag', das Geld ist eine harte Sach'!«

»Ja, besonders wenn's von Silber ist –«

»– und nicht dem gehört, der's tragen muß.«

»Gehört es also nicht dir?« fragte ich.

»Schau mich an, Student. Kann ein Mensch, der so ausschaut, wie ich, Silbergeld haben? Wird ein Kaufmann seine Barschaft anderswo vergraben, als in abgestandenen Waren? Kann ein Mensch, der jetzt im neunten Jahr Ortsvorstand zu Kathrein am Hauenstein ist, einen vergrabenen Schatz besitzen?«

»Ich weiß es wohl, Karl, daß du als Vorstand für die Leute, die gepfändet werden sollen, die Steuern oft aus deinem eigenen Sack zahlst. Wie oft hast du den Stegbauer ausgelöst, den Schachenhans, den alten Grabentickel!«

»Ten alten Grabentickel,« murmelte der Karl, »ja, ja, den Grabentickel habe ich richtig auch ein paarmal ausgelöst. Die Witwe von ihm ist erst vor etlichen Wochen gestorben.«

»Der hast gewiß auch du das Begräbnis gezahlt!«

[33] »Beileib' nicht, die hat Geld genug gehabt, schier so viel, daß zwei Männer, ein junger und ein alter, dran zu schleppen haben. Ja, Studiosus, dieser Ranzen voll Taler ist von der Grabentickelin! Sie hat ihn mir auf dem Totbett anvertraut.«

»Dahinter steckt gewiß eine merkwürdige Geschichte.«

»Ah, versteht sich, und die soll ich dir nun erzählen,« sagte der Karl. »Ja, ich habe mir oft schon gedacht, wenn ich einen alten Silbertaler in der Hand gehabt: Wüßte einer die Geschichte von deinem Lebenslauf!«

»Bisweilen wird's besser sein, man weiß sie nicht.«

»Das sag' ich auch. Aber bei den Talern der Grabentickelin kann man sich seinen Teil herausnehmen – heißt das, nicht aus dem Ranzen, sondern aus der Geschichte. – 's ist noch nicht vier Wochen aus,« erzählte der Karl, »just am Magdalenentag ist's gewesen, daß ich aus der Kirche eilends zur kranken Ticklin gerufen werde. – Bin ja kein Arzt und kein Priester, sage ich. – Macht nichts, meint der Bote, sie wolle just den Vorstand haben. Drauf bin ich in ihr Häusel gegangen und hab' sie wolter krank gefunden. Ich muß mich gleich zu ihr setzen, sie nimmt mich bei der Hand und sagt, daß sie zu mir das Vertrauen hätte, und hebt an zu erzählen; von ihrem Mann, dem Grabentickel, zuerst, wie er sie geheiratet hat. Er ist Holzknecht in Kreßbach gewesen. Und da wäre der Tickel halt alleweil so viel unruhig und aufgeregt gewesen, und sie hätte nicht gewußt, warum. Nachher, am ersten Tage nach der Hochzeit habe er ihr's frei mit Zittern und Fiebern vertraut, er wäre nicht so arm, wie die Leute von ihm meinten, er habe von seinem Vater her noch ein Erspartes und er selber hätte sich[34] auch was erwirtschaftet; er habe das Geld zwar gut verwahrt oben unter dem Hausdach, zwischen den Brettern, die doppelt übereinander liegen und wo kein Dieb hindenke, aber er sei halt immer in Angst, daß es ihm gestohlen werden könne. – Die Tickelin soll den Tickel sehr gern gehabt haben, doch sie hätte sich nicht viel aus dem Geld gemacht: ist's da, so ist's gut, und ist's nicht, so lebt man wie andere Leut', die auch nichts haben, als den lieben Gesund und den Fried. Sie haben aber nicht gelebt wie andere Leut', sie haben schlechter gelebt und der Tickel soll sich halb zu tot gearbeitet haben, daß sich nur um Gottes willen das Geld alleweil vermehren möcht'. Und dabei die immerwährende Angst, ob nicht doch auf einmal wer einbricht, oder das Haus niederbrennt, oder das Silbergeld auf andere Weise zugrunde geht. Endlich hat ihm darüber gar kein Essen mehr geschmeckt, er hat die lieben, langen Nächte nicht schlafen können, und was ihm das Weib auch zugeredet hat, er sollt' sich sein Leben doch nicht mit dem Geld verderben; wenn er's schon verderben wollt', so sollt' er's lieber mit Essen und Trinken tun. Soll nichts genutzt haben, noch alleweil ärger soll es worden sein mit der Angst und mit dem Geiz beim Tickel, bis das Weib dem Geld spießfeind worden ist. – Was meinst, Student, was wird jetzt geschehen sein?«

»Den Verstand wird er verloren haben,« mutmaßte ich.

»Nein,« sagte der Karl, »das Geld hat er verloren. Denn wie das Weib jetzt fest davon überzeugt gewesen: Tickel, dieses Silbergeld ist dein Unglück! hat sie es ihm heimlich weggenommen und vergraben für eine Zeit, wo sie den Sparpfennig einmal gut brauchen möchten.«

[35] »Vergraben!« rief ich in meiner Entrüstung (ich verlegte mich damals stark auf das Gescheitmachen des Landvolkes), »vergraben und nicht in die Sparkasse gelegt?«

»Die Tickelin da oben im Kreßbachwald hat von einer Sparkasse all ihrer Tage nichts gehört,« belehrte mich der Karl, »oder hat sich darunter einen Tontiegel mit einem Loch vorgestellt, durch das man die Taler hineinstecken, aber nicht mehr herauskriegen kann. Anstatt das Geld in fremde Hände zu geben, hat sie gemeint, es wäre gescheiter, es in einen Eisentopf zu tun und sicher zu vergraben.«

»Und was hat denn ihr Mann dazu gesagt?«

»Der Tickel soll freilich schauderhaft wild und schier verrückt worden sein, wie er wahrgenommen, das Geld wär' weg und sein Weib hat ihn beim Glauben belassen, daß es Diebe fortgetragen hätten. Nachher soll der Tickel ein anderer worden sein. Wenn's mit dem Sparen so ausgeht, ist's gescheiter, den Verdienst flottweg wieder verbrauchen, soll er gesagt haben und von dem Tag an – hat mir die Ticklin erzählt – sollen sie brav gegessen und getrunken und keine Not gelitten haben. Jetzt sind auch die Sorgen weg gewesen, von wegen des Geldes, und der Tickel – nu, du hast ihn ja auch noch gekannt, Student – ist dick und fett worden. Freilich soll er ein paarmal, wie er so ein Häufl Geld vor sich liegen gehabt, vom Aufsparen gesprochen haben, aber sein Weib hat allemal gesagt, für Diebe wollten sie nicht fleißig sein, und hat ihn nicht mehr anfangen lassen. Und richtig ist's so gegangen, daß sie von dem heimlich vergrabenen Gelb keinen Kreuzer benötigt haben. Der Tickel hat ohne viel Sorg' gelebt und ist auch so gestorben. Und [36] wie die Tickelin auf dem Totbett gelegen ist, hat sie mir das alles anvertraut und ich habe nachher in Gegenwart von Zeugen das Geld ausgegraben und die Sach' bei Gericht gemeldet.«

»Was geschieht jetzt mit dem Geld,« war meine Frage.

»Das geht zum Bezirksgericht und will warten, bis sich ein Herr dafür findet.«

»Darauf wird's nicht lang zu warten brauchen,« war meine Ansicht.

»Vielleicht recht lang,« sagte der Karl. »Es sind reine Verwandten da. Ein Bruderssohn vom Tickel soll noch leben, aber man weiß nicht, wo er ist. Wird er in Jahr und Tag nicht gefunden, so ist das Geld verfallen.«

Nun wußte ich die ganze Geschichte und wir rückten wieder an.

Zu Vorau am Stifte, vor dem Herrn Bezirksrichter, hat der Karl das Silbergeld in eine große Lade geschüttet, daß es gar merkwürdig geklimpert hat. Die Beamten in den anstoßenden Kanzleien haben gestanden, sie hätten Zeit ihrer Praxis niemals ein solch' schönes Klimpern gehört.

Der Herr Bezirksrichter selbst unterließ es nicht, mit seinen Fingern die Silberstücke ein wenig aufzukrausen und wir weideten – zu Lohn für das Tragen – unsere Augen. Uralte Münzen waren dabei, aus aller Herren Länder und Zeiten. Die meisten trugen wohl das Bild Leopolds und der Maria Theresia. Sie waren gar abgegriffen, so daß man die Prägung oft nicht mehr erkennen konnte. Manche waren durchlöchert, beschnitten und gar nicht mehr rund. Etliche waren so groß, daß der Karl sagte: »Helle Kaffeetopfdeckeln!« – Hätte ich [37] damals nur einige Münzkenntnisse besessen, ich wüßte sicherlich Wunderdinge zu berichten von diesem Schatz des Grabentickel.

Endlich, nachdem das Geld von Berufenen geschätzt worden und alles in Ordnung befunden war, schob der Bezirksrichter die schwere Lade zu und wir konnten nun gehen.

Wir taten uns was zugute im Wirtshaus und dann gingen wir leicht und lustig heimwärts. Ein paar Tage lang hatte die Haut meiner rechten Achsel, auf welcher der Riemen gelegen, einen blauen Streifen. Dann vergaß ich der Sache und erst nach vielen Jahren ist mir jenes Geldtragen nach Vorau wieder in Erinnerung gekommen. Ob sich für das Silbergeld des Grabentickels der rechtmäßige Erbe gefunden hat, das weiß ich nicht. Vermutlich haben die schönen Taler ihrem neuen Herrn bessere Dienste erwiesen, als ihrem alten; möglicherweise auch noch schlechtere.

Wie es dem weisen Stin als Zuschauer erging
[38] Wie es dem weisen Stin als Zuschauer erging.

Der alte Kerl beschloß ein weiser Mann zu werden und machte sein Testament. Sein Werkzeug verschrieb er dem Meister Natz, sein Gewand dem Trödler Absalon, seine Seele Gott dem Herrn und seinen Leib der braunen Schafmarl.

Die braune Schafmarl aber sagte: »Wozu brauch' ich seinen Leib, ich hab' selber einen.«

»Eben deswegen,« hatte hierauf ein loses Maul bemerkt, »Gott ist dreifach, und wenn der Mensch Gott ähnlich werden will, wie es auf der Kanzel verlangt wird, so muß er wenigstens zwiefach sein, sonst kann er dreifach sein Lebtag nicht werden.«

So töricht redete unser Geselle Stin nicht, der beschlossen hatte, ein weiser Mann zu werden.

»Wenn sie meinen Leib nicht will, die braune Schafmarl,« sagte er, »es macht nichts; er soll der armen Seel' noch als Ausgedinghäusel gut sein, bis sie der Herr zu sich nimmt.«

Nun bedurfte aber das Ausgedinghäusel ein Dach. Der weise Stin hätte sich zwar nicht geschämt, das Ebenbild Gottes unverhüllt herumspazieren zu lassen, aber die Leute haben schwache Augen und endlich durfte er es auch der edeln Schneiderzunft nicht antun, sie mit einem neuen Brauch [39] zugrunde zu richten. Also der Trödler Absalon muß das Gewand noch ein wenig hängen lassen auf dem langen Stin und sonach darf der Meister Natz einstweilen seine Hand auch nicht aus Werkzeug legen, das ihm von dem liederlichen Handwerksburschen Schulden halber zu Recht verschrieben ist.

So blieb es äußerlich beim Alten. Wer aber, wie ich, Gelegenheit hatte, näher mit dem Gesellen zu ver: kehren, der konnte wohl erfahren, was der Stin für ein schreckbar weiser Mann geworden war.

»Leute!« sagte er trostweise, wenn ihnen irgend etwas schief ging. Und als der Schnaller Hies der Welt die Drohung in das Gesicht schleuderte: wenn sie fortfahre, so jämmerlich zu sein, so werde er sich erhängen! »Leute,« sagte der Stin, »machen wir den Spaß mit, so lange er dauert. Er dauert nicht lang' und wir haben noch immer Zeit genug, tot zu sein.«

Der Schelm! Nach diesem Grundsatz kann der größte Weltverächter das Leben hundert Jahre oder länger tragen. Zum Todsein haben wir immer noch Zeit genug. Der Grundzug der Weltanschauung meines Gesponses war aber ein anderer. So sagte er einmal zu mir: »Kind, die Welt ist ein Theater.«

»Ganz recht,« warf ich ein, denn auch ich wollte weise sein, »ein Theater! Aber ein Trauerspiel, und wir müssen mitspielen, mein Lieber!«

»Wer schafft (befiehlt) mir's denn?« fragte der Stin. »Ich bin Zuschauer, habe mein Eintrittsgeld gezahlt und will mich unterhalten.«

»Du hast ein Eintrittsgeld gezahlt? Wieso?«

»Oder meine Eltern für mich.«

[40] »Deine Mutter vielleicht. Dein Vater schon gar nicht, der hat bei deinem Eintritt noch was heraus) bekommen. Ja, mein Lieber, der Eintritt in dies Theater ist umsonst gewesen, aber den Austritt mußt du bezahlen!«

»Ich kaprizier' mich nicht auf den Austritt,« lachte der Stin, »ich bleibe meinetwegen in Ewigkeit da sitzen und schau' der Komödie zu. Langweilig wird mir nicht, wenn ich sehe, wie der dumme Teufel geschunden wird und der Schlechte zieht die Haut des Geschundenen an, bis er darunter selber erstickt.«

»Schindest du oder wirst geschunden?«

»Ich tu' nicht mit, ich bin Zuschauer. Ich pfeife oder klatsche, und geht's mich weiter nichts an.«

»Und wenn sie vor deinen Augen deinen Bruder sengen und brennen?«

»Ja, mein Schätzbarer!« rief hierauf der lange Stin, »das, was man so unter Brüdern Mitleid nennt, das muß wan sich abgewöhnen, sonst ist man das elendeste Geschöpf auf Gottes Erden. Bei Auftritten, wo du nicht lachen kannst, mußt du weidlich schimpfen, und wo das auch nicht geht, da halte dir Augen und Ohren zu und gib acht, daß dich selber nichts zwickt.«

»Aber ehrenhalber mußt du dich doch kümmern um die Mitmenschen!«

»Ehrenhalber? Wein junger Genosse und Milchbruder beim frischen Wasser, was heißt ehrenhalber? Ehre ist das, wenn du so tapfer und klug bist, dir die besten Bissen zu verschaffen, und Schande ist das, wenn du ein armer Schlucker bleibst.«

»Je, Herr Philosophus und Schneidergeselle!« rief ich aus, »Ihr seid ja ein Rindvieh!«

[41] »Nicht ganz genau,« antwortete er, »Rindvieher haben bei diesem schönen Theater zwar auch keine großen Rollen, sie sind Choristen; ich aber bin Zuschauer, und wie oft soll ich dir das sagen?«

Einmal war ein Kirchweihfest und als Glanzpunkt desselben beim Schanzwirt ein martialisches Raufen. Der lange Stin war auch dabei, aber er duckte sich hinter den Ofen und guckte hervor und kicherte und schrie »Bravo!« als sie aneinandergerieten. Sie zogen die Schlagringe und Messer, die Unbeteiligten wollten beschwichtigen, der Zuschauer hinter dem Ofen aber klatschte – als der erste Geschlagene auf den Boden hingetaumelt war – mit den Händen und schrie: »Bravo! Bravo!« Alsbald rief einer: »Was geht's den an, hinter dem Ofen! Frotzeln will er uns!« Sie zerrten ihn hervor und sättigten ihm den Buckel unter gewaltigem Applaus aller Anwesenden.

Als der Philosoph arg zertrillt zur Tür hinauswankte, zischelte ihm einer zu – wetten mag ich nicht, ob ich's nicht selber war – diesmal hätte der Zuschauer auch seinen Teil bekommen an der Handlung, diesmal sei es umgekehrt gewesen, hätten die Schauspieler Beifall geklatscht. Da ward der Zuschauer zum Rezensenten und knirschte: »Hundsgemeine Bande, das!«

Damit war es aber noch nicht vollkommen abgetan. Die Gerechtigkeit streckte ihre Hand aus, nahm etliche der Raufer beim Schopf, und darunter auch den weisen Stin. Der sei die eigentliche Ursache, hieß es, der habe mit seinem Geklatsche und Bravogeschrei so lange gehetzt, bis die Metten losgegangen. Wurde hierauf der Stin feierlich in den Gemeindekotter getan. Früher hatte er mehrmals geäußert, er werde sein Lebtag nicht »sitzen«, [42] dazu könne man keinen zwingen; sperre man ihn schon ein – was übrigens unmöglich sei, weil er sich ja grundsätzlich an nichts beteilige – so wolle er stehen, damit man nicht sagen könne, er sei einmal »gesessen«. Im Gemeindekotter ging das nun aber nicht, denn der war für den langen Bengel zu niedrig. Er kauerte also auf seinem Stroh und wenn man zum winzigen Fensterlein hineinguckte, so stellte er sich tot.

Ich bin gegen sehr weise Leute von jeher boshaft gewesen; so rief ich eines Tages durch das Loch hinein: »Guten Abend, Zuschauer! Du gibst es aber vor nehm, jetzt hast du gar eine Loge!«

Er tat das Klügste des Weisen, er schwieg.

»Einen Gucker haben sie dir auch hergetan,« fuhr ich fort, auf das Fensterchen deutend, »nur ein klein bissel schade, daß dir das Haus des Gemeindevorstandes seine hintere Seite zukehrt. Ein Kehrichthaufen und das Bretterhüttel daneben.«

»Es ist höchst langweilig,« knurrte der Stin.

»Vielleicht geht dir das Welttheater bald zu Ende,« tröstete ich, »bereite dir dein Austrittsgeld. Wenn die zwei sterben, die deinetwegen niedergeschlagen worden sind, so kostet's dir bloß den Kopf.«

»Meinetwegen, wenn's keine edleren Körperteile trifft!« sprach er; daraus schloß ich, daß er noch bei Humor war.

In denselben Tagen hatte der Ochenberger auf seiner Ödgart Feuer angezündet, um das abgehauene Gestrüppe zu verbrennen. Zur nächtlichen Zeit erhellte dieses Feuer auf dem Berghang das ganze Dorf. Ich ging zufällig zur [43] Nachtstunde wieder am Gemeindekotter vorüber. »Schläfst du schon, Zuschauer?« rief ich zum Loch hinein.

»Hol's der Teufel!« knirschte er, »mach', Kamerad, daß sie mich auslassen.«

»Schau, Augustinus, ich bin jetzt auch auf deinem Standpunkt; bei dieser Weltkomödie ist es wirklich am besten, man mischt sich nicht drein, macht den Zuschauer und unterhält sich. Man müßt' sonst aus der Haut fahren bei dem Elend. Zum Beispiel jetzt. Denk' dir, Stin, das Unglück! Das Dorf brennt. Am unteren Rand hat es angefangen. Drei Häuser sind schon hin, der Wind trägt die Flammen über alle Schindeldächer her, siehst du den Schein? Siehst du ihn? Das ganze Dorf gilt's! Schau du, just hebt schon dem Gemeindevorstand sein Hausdach an zu brennen!«

Der Stin war dermaßen aufgesprungen, daß sein Kopf in die Decke schier ein Loch stieß. »O Freund, edler, treuer Mensch!« rief er und hielt die Arme zum Fensterchen heraus, »befreie mich! Rette mich! Sie vergessen meiner!«

»Geniere dich nicht, verbrenne ganz ruhig,« so mein Zuspruch; »mir geschieht nichts, ich bin schon so klug, etwas zurückzutreten, wenn mir's zu heiß werden sollte. Und wenn du mir schon einen Spaß machen willst: stirb recht heldenmütig, so etwas sieht sich immer gut an. Halt, jetzt ist mir ein Funke an den Rock geflogen.«

»Sackermentsgesindel!« wütete der Stin, »verbrennen lassen sie einen! Keine Nächstenlieb', keine Menschlichkeit mehr auf der Welt!«

»Mach' dir nichts draus, Kamerad. Es ist eben ein Theaterbrand, wo auch die Zuschauer mit zugrunde[44] gehen. Nichts weiter. Aber verdammt heiß wird's da, vor deiner Loge.«

»Höhne mich,« sagte der Stin in sich zusammenbrechend. »Höhne mich, wie du willst, ich hab's verdient.«

»Wenn du sagst, du hast es verdient,« rief ich, »so hast du es nicht verdient. Das Leben ist ein Schauspiel, ich lasse es gelten, aber wir sind Zuschauer und Mitwirkende zugleich. Leiden und mitleiden, sich freuen und mitfreuen, das heißt Menschenleben. So halten wir's, so tragen wir's, bis es klingelt und der Vorhang fällt.«

Der Stin wimmerte in seinem Kotter.

»Gute Nacht, Stin. Der Brand ist gelöscht. Morgen, hat der Gemeindevorstand gesagt, wirst du frei, dann streiche einen Teil deines Testaments durch. Dein Werkzeug und dein Gewand behalte für dich. Deine Seele magst du Gott dem Herrn empfehlen und deinen Leib der braunen Schafmarl; Freuden auf Erd' und im Himmel, Freuden im Überfluß, aber lauter gemeinsame. Gute Nacht, Stin!«

Ob der weise Stin wieder »töricht« genug geworden, um ein guter, echter Mensch zu sein, ich weiß es nicht. Wenige Tage nach seiner Befreiung aus dem Kotter hat er sich fremd gemacht und ist in die weite Welt gegangen.

Als der Gestorbene zurückkam
[45] Als der Gestorbene zurückkam.

Es war mitten in einer Sommernacht. Vor mir lag der breite Weg zwischen den finsteren Waldbäumen in einem weißen Band, denn es schien der Vollmond darauf. Dort und hier stand von einem hohen Tannenwipfel der schwarze, zackige Schatten mitten in die Straße herein; hier und dort lag querüber ein schwarzer Balken, welchen die Füße des einsamen Wan) derers mühelos durchbrachen, denn es war wieder nichts, als der Schatten eines hoch über den Wald aufstrebenden Stammes. Wo Lichtungen und Büsche waren, schwebten in stillen Bogen Leuchtwürmchen; zu hören war kein Lüftchen und kein Wasserrauschen, meine Schritte gingen gleichmäßig wie eine Pendeluhr, und in meinem Haupte erzählte die Erinnerung Geschichten aus der Vergangenheit?

Hier auf dieser Waldstraße mußte ja die Stelle bald kommen, oder war ich an ihr schon vorüber, wo mein Jugendfreund Johann Würtel verunglückte? Der Köhlerhansel; wie er genannt wurde; an einer dieser steilen Berglehnen hat ihn beim Holzriefen ein abgleitender Baumstrunk totgestoßen.

Denke einmal nach, Leser, ob du nicht etwa einen Jugendfreund und Gedankenspielgenossen gehabt hast, mit [46] dessen Hilfe du die Welt erschaffen hättest, wenn sie nicht schon in aller Breite um euch dagelegen wäre! Da die Hauptsache aber einmal geschehen war, so mußtet ihr euch mit Reformen begnügen und eine Weltordnung aufstellen, die alles Elend und Unrecht von dieser Erde verbannt haben würde, die auch sehr leicht durchführbar gewesen wäre, wenn die Leute nur gewollt und eueren großen Absichten nicht schnurgerade entgegengearbeitet hätten. Sie wollten nicht, daher mußtet ihr endlich alle Pläne fallen lassen und euch selbst durch das Elend Unrecht winden, so gut es ging.

So auch war es mit meinem Freunde Johann und mir. Es gäbe auf der Welt heute keinen Armen und Kranken, keine Bösewichter, keine Gewalttaten und Kriege mehr, wenn es damals nach unserem Willen gegangen wäre. Besonders mit allen Religionszwistigkeiten hätten wir auf das reinste aufgeräumt. Denn – um es nur recht zu sagen – der Köhlerhansel, so jung an Jahren und so weltlustig er gewesen sein mochte, war ein Gottes) gelehrter. Anfangs pflegte er vor allem die heilige Dichtung. So verfaßte er ein Weihnachtsspiel, welches er mir wiederholt vorlas. Es war in Strophen abgeteilt, jede Strophe schloß mit den Worten: »Ehre sei Gott dem Vater und dem Sohn, und dem heiligen Geist im Hexenthron.« Als ich ihn einmal darüber zur Rede stellte, was er eigentlich mit seinem »Hexenthron« sagen wolle, war der Hansel geradezu empört über meine »langen und doch so unzulänglichen Ohrwaschel«, die statt »höchsten Thron« »Hexenthron« hören konnten. über diesen Punkt aufgeklärt, fand ich nun die Dichtung tadellos.

Einen ganzen Winter über schrieben wir uns gegenseitig [47] Briefe philosophischen Inhalts, worin ich mehr in das Sentimentale, er mehr in das Theoretische schlug. Er grübelte, wenn die stillen Gluten seines Meilers und vielleicht auch die seines Herzens nichts zu tun gaben, über der Bibel und anderen heiligen Schriften, und vielfach konnte man ihn bei diesem Lesen und Grübeln den Kopf schütteln sehen: Es ist nicht in Ordnung, und es ist nicht in Ordnung. Einmal sagte er mir so dreist, daß ich erschrak: »Peter! Sünder! Heide! Bruder! Unser Glauben ist ganz höllisch verfahren. Wenn Gott nicht gar so gütig wäre, er müßte uns auslachen.«

Ich wußte aber nicht recht, wie er das meinte, und er sagte damals auch nichts weiter. Allmählich aber kamen wir doch ins Spintisieren, und weil uns dabei Gedanken und Ideen anflogen, die uns ob ihrer Großartigkeit und Gottheiligkeit selber überraschten, so beschlossen wir, daß ich mein Handwerk liegen und stehen lassen, zu ihm in den Wald kommen sollte, und daß wir beide zusammen eine neue Religion gründen wollten. Einstweilen kamen wir nur am Sonntag nachmittags zusammen in der Köhlerhütte, um die Hauptgrundsätze aufzustellen. Dabei besserte der Johann sein Gewand aus; ich half ihm nicht dabei, obzwar ich es besser verstanden hätte, denn mir, dem Schneider, war das eine Werktagsarbeit, und die war auch nach unseren Satzungen an Sonn- und Feiertagen verboten. Hingegen erinnere ich mich, daß wir uns während der Religionsgründung einmal gegenseitig die Haare schnitten, und daß ich dem Johann mit dem Schermesser die jungen Bartsprossen wegkratzen mußte, wobei es etwas Blut gab, was aber für Religions) gründer gar nicht uneben stand.

[48] Derlei Spielereien kamen uns aber teuer zu stehen. Anstatt daß wir eine neue brauchbare Religion zustande brachten; verloren wir – wie das schon zu gehen pflegt – die Gläubigkeit bei der alten, und eines schönen Tages warfen wir die Frage auf, ob es denn wirklich einen Gott gäbe und ob es mit der Unsterblichkeit der menschlichen Seele wohl seine Richtigkeit hätte? Es war damals nämlich Brauch geworden, daß Leute, um sich den Anschein tieferer Bildung zu geben, beides leugneten und sich auf »Materialisten« hinausspielten. Nun, wir zwei jungen Männer wollten mit dieser Sache auch noch fertig werden. Weil wir sie aber doch ein wenig ernster nahmen, als das sonst bei Leuten unseres Alters vorkommt, so blieben wir mitten im Zweifel stecken und konnten weder vorwärts noch zurück.

So stand es um die Zeit, als wir uns trennen mußten. Ich ging in die Fremde, er blieb in der Köhlerhütte. Der Abschied war in einem Wirtshaus, nachdem wir bis spät in die Nacht dort beisammengesessen und beim Obstmost noch einmal, gleichsam zusammenfassend, unsere gewohnten Gespräche geführt hatten. Noch erinnerte ich mich, daß sich mein Freund in bezug auf unsere Zweifel folgendermaßen geäußert hatte: »Im Gottesnamen, ist nichts, so ist nichts; deswegen werd' ich kein Lump, das sag' ich.« So war auch mein Fürnehmen. Dann begleitete mich der Hansel bis zur Linde. »Da gilt's,« sagte er und hielt meine Hand noch fester, anstatt sie zu lassen. »Freund, ich weiß noch was. Wir werden uns nimmer untreu. Sehen wir uns nicht mehr, so ist's das erste- und letztemal. Gib mir ein Bussel. So. Und ietzt will ich dir was sagen. Wenn einer von [49] uns früher stirbt als der andere, und es ist ein Gott und eine Ewigkeit, so muß er zurückkehren auf diese Erden und es dem anderen sagen. Ist dir das recht?«

Ich war einverstanden.

»Ängstigen wollen wir uns nicht, mit Gespenstersachen oder so,« fuhr der Hansel fort, »wenn's mich zuerst sollt' treffen, ich komme zu dir wie ich bin, beim Tag oder bei der Nacht, und will dir's berichten.«

»Aber wenn der Leib in der Erden liegt, wie willst denn kommen?« war in tiefem Ernst meine Frage.

»Komme ich nicht, so weißt, es ist nichts. Sonst wirst mich schon erkennen. Siehst du mich nicht, so will ich dir's anders kundmachen, ein Zeichen sollst haben. Und trifft's dich früher, so besuche du mich. Jetzt geh'. Leb' wohl, Peter, und schreib' einmal.«

So war's und nichts weiter. Wir waren weit auseinander gekommen; der Köhlerhansel und ich, und wir haben uns noch ein paarmal geschrieben. Jeder von uns lebte sich sachte in einen besonderen Kreis ein, die Dinge, die uns einst zusammengehalten, hatten sich aufgelöst oder anders gestaltet, wir verließen einander, ohne daß wir es merkten, ohne daß es uns weh tat. Jahre später fand sich bei einem Briefe, den mir ein Bekannter aus der Heimat geschrieben hatte, alspost scriptum folgender Bericht: »Mache Dir auch zu wissen, daß im vorigen Monat der Köhlerhansel, den Du auch gekannt hast, im Zedelwald beim Holzen verunglückt ist. Hat ihm ein rutschender Baumstamm die Brust eingestoßen, ist auf der Stelle tot geblieben.«

Die alten Zeiten und die alten Gestalten sanken[50] immer tiefer in den Abgrund. Als ich jetzt aber nächtlicherweile still und allein jene Waldstraße ging, und durch den Zedelwald, in welchem mein armer Freund in jungen Jahren plötzlich hat sterben müssen, da ward mir alles wieder wach, was ich einst mit dem Hansel erfahren, getrieben und gesprochen hatte. Und da trat mir auch jene Verabredung beim Scheiden lebhaft vor die Seele und ich dachte: Wenn er jetzt käme?

Wenn er mir jetzt begegnete und brächte mir die Botschaft von einem Leben in der anderen Welt!

Um mich war der heilige Frieden der Mondnacht. In geheimnisvollem Lichte lag der Pfad vor mir zwischen den finsteren Tannen, und als sich die Straße um eine Böschung bog, sah ich etwa zwanzig Schritte vor mir, dort, wo eine Mulde den Berg herabging, eine weiße Gestalt stehen. Sie stand ganz unbeweglich, als warte sie auf mich, bis ich herankäme.

Schmal und schlank war sie und hatte einen großen, fahlschimmernden Kopf. Eine hölzerne Säule war's, die eine Tafel trug; und auf der Tafel standen – vom Mond jetzt hell und klar beleuchtet – die folgenden Worte:

»Alhier habe ich, Johann Würtel, am 19. Oktober 1870 beim Holzen mein Leben müssen lassen 33. Jahr meines Alters. Wanderer, bete für mich ein Vaterunser, auf daß Gott meiner armen Seel in jener Welt gnädig und barmherzig sei.« – – – - – –

Also war mir mein Freund erschienen. Ein Grauen ging durch mein Wesen, als ich so, gleichsam Aug' um Auge, dem längst Begrabenen gegenüber stand. Er war [51] mir erschienen und ich konnte doch nicht sagen, daß ein Wunder geschehen.

Das Wunder vollzieht sich still in der Seele des Lebendigen, des Zweifelnden, des nach trostreicher Wahrheit Ringenden.

Das eine ward mir von neuem klar: die Toten leben in unserer Erinnerung; ob sie außer dieser geistigen Welt noch in einer anderen leben oder nicht, darüber laut zu sprechen wage ich nicht. Ich für mich weiß es wohl.

Die Botschaft des lachenden Hausel
[52] Die Botschaft des lachenden Hausel.

Der Mur entlang, ins Gebirge hinein – und weiter als gewöhnlich.

Meinen braven Hammermeister Sallinger wollte ich wieder einmal sehen, den behäbigen, lebenslustigen Mann, der täglich glatt rasiert war wie der Pfarrer, bis auf den weißen Schnurrbartbusch, der zu den breiten roten Wangen und zu den kleinen grauen Äuglein kein schlechtes Farbenspiel gab – ein gutmütiger, stets frohgesinnter Herr; der freilich leicht munter sein konnte, weil das ganze Tal ihm gehörte – die pochenden Zeug- und Sensenschmieden, die klappernden Mühlen, die schnarrende Brettersäge, die Huben und Hütten und auch das Dorfwirtshaus, in welchem er zugleich Wirt und Gast war.

Verfinstert konnte sein rundes Gesicht nur werden, wenn von Napoleon III. die Rede war, der dazumal mit der Weltkugel Kegel schob, wie Herr Sallinger sagte. Der Hammerschmied war als grimmiger Franzosenfeind bekannt weitum, und wer schneidig gegen den Napoleon loszog, wenn auch nur mit der Zunge, dem war er ein opferwilliger Freund und traktierte ihn im Wirtshaus mit Wein und Tabak. Der Hammermeister las seine Zeitung, und dem geradsinnigen Bergsohn war die Falschheit, Politik genannt, mit der Napoleon damals Europa regierte, von jeher ein Greuel gewesen. Dann war noch [53] ein besonderer Grund dazu gekommen. Im Jahre 1859 mußte sein Sohn, trotzdem er »losgekauft« war, zu den Soldaten und ward bei Solferino in Welschland auch glücklich erschossen. Jenen Krieg hatte Napoleon gemacht; so betrachtete der gute Hammerschmied »diesen größten Schurken, der je eine Krone getragen«, nicht bloß als das Unglück seines Vaterlandes, sondern auch als seinen persönlichen Feind. Einmal hörte ich ihn sagen: »Nur deswegen möchte ich in die Hölle kommen, daß ich zuschauen könnte, wie die Teufel dieses Biest zwicken und stechen und braten und mit den Zähnen zerreißen werden.« Die Sensen, die der Schmied machte, hatten für Sensen fast zu wenig Krümmung. »Sie sollen auch als Säbel zu brauchen sein,« sagte Herr Sallinger.

Anfangs der siebziger Jahre machte ich die Bekanntschaft dieses Mannes. Ich war damals auf Ferien in die Gegend gekommen, hatte im Wirtshause absichtslos über den großen Taschenspieler an der Seine ein Wort fallen gelassen, worauf der behäbige Herr sich ins Gespräch mischte und mich schließlich einlud, in seinem Hause mich als Gast zu betrachten und mir wohlsein zu lassen, so lange es gefällig wäre.

Sehr gern machte ich, der damals heimatlose Bursche, davon Gebrauch, blieb mehrere Wochen im Orte, fuhr im Wagen des Hammerherrn durch das Tal, machte zu Fuß Ausflüge ins Hochgebirge, und die Abende verbrachte ich in Gesellschaft Sallingers, der allerhand Spaß wußte, ein Freund von Schabernack war, dazwischen auf das, was ihm nicht gefiel, in deutscher Derbheit losfluchte, manchen Gesellen, der ihm widersprach, zur Tür hinauswarf und andere, die er leiden konnte, mit Wohltaten [54] überhäufte. Er lebte immer in einer Art Gefühlsrausch, dem er sich ganz hingab, sei es in Zuneigung oder in Haß. Ich hatte oft meine Not, Gespräche zu vermeiden oder unauffällig abzubrechen, in deren Gegenständen ich ihm nicht beistimmen konnte; um so freier und flotter ließ ich mich gehen, wo wir einer Meinung waren. Als der Herbst kam, fragte er mich, ob ich nicht den Winter bei ihm zubringen wolle, er lasse mir ein recht behagliches Zimmer einrichten mit der Aussicht auf den Fluß, den ich ja schon so hübsch beschrieben hätte und auf die Waldberge, über denen ich meinen lieben Freund, den Winter, sattsam wüten sehen könne. Studieren und Dummheiten schreiben, meinte mein Gastherr, könne ich auch bei ihm auf dem Lande; die langen Abende würden wir bei einem guten Glase gemeinsam zubringen. Es war verlockend, allein dem kleinen Orte fehlte eine regelmäßige Postverbindung, die ich bei der Natur meiner damaligen Arbeiten nicht leicht entbehren konnte.

Wöchentlich ein- oder zweimal wurde ein Bote in das Murtal hinausgeschickt, um in einem Buckelkorbe Welt ins Gebirgsdorf zu tragen, Kleinigkeiten, die man beim Krämer daheim nicht bekam und deren man doch nicht ganz entraten konnte. Dieser Bote, der lachende Hausel genannt, brachte auch etwaige Briefe mit und die Zeitung, welche Herr Sallinger hielt. Der lachende Hausel war ein Mensch jener Gattung, die man im Gebirge »Halbpelzer« nennt. Er war der Sohn eines Blechschmieds und ging manchmal hausieren mit dem Vorrate alter Waren, die sein Vater ihm als Erbschaft hinterlassen. Immer hatte er eine Anzahl von Kerzenleuchtern, Lichtputzen, Drahthafteln usw. in seinem Korbe, die er in [55] jedem Hause, wo er zu tun hatte, mit seinem breiten, lächelnden Bartstoppelgesichte ausbot, und die er nirgends mehr an Mann brachte, seitdem die Kerzen vom Petroleum, und die Drahthafteln von den Beinknöpfen verdrängt worden waren. Statt ihm etwas abzukaufen, schenkte man ihm kleine Gaben, denn er hatte außer sich selbst auch noch seine alte Mutter zu ernähren. Sein Sprechen war nur ein abgebrochenes Stammeln und alle Eigennamen sprach er wie ein Kind in verkleinernder Form aus. Weil er beständig lächelte, so hatte er den Spitznamen »der lachende Hausel« bekommen. Ich habe selten so vergnügte Gesichter gesehen auf der Welt, als das dieses armen Burschen gewesen.

Eines Abends saßen wir, Herr Sallinger und ich, zusammen beim großen Tisch in der Wirtsstube, tranken Obstwein, rauchten etwas dazu und besprachen die Nach) richten vom Kriegsschauplatz, die Schlachten von Saarbrücken und Wörth und wie es sonst den »Preußen« ergehen mochte in Frankreich. Draußen auf den Bergspitzen leuchtete noch die Septembersonne. Das Gesinde brachte seine Arbeitsgeräte in Gewahrsam und schickte sich an zum Nachtmahlessen. Da torkelte zur Türe der lachende Hausel herein, lachte uns an und stellte mit vieler Umständlichkeit den Korb auf eine Sitzbank. Hernach begann er die mitgebrachten Sachen auszupacken: Ein paar Faßpippen vom Drechsler, ein Stück Preßgerm vom Brauer, eine alte Sackuhr vom Uhrmacher, der ihr neue Spindeln eingesetzt hatte, ein paar zerknitterte Briefe, die draußen in der rußigen Postmeisterstube anscheinend schon ein Weilchen den Fliegen als Tummelplatz gedient hatten, und Zeitungen.

[56] »Da halt noch was haben, Herrle kaufen,« sagte der Hausel bescheidentlich, »schöne Kerzenleuchter, Lichts putzen –«

»Ist schon gut, Hausel! Brauchen keine!« rief ihm Herr Sallinger ins Ohr, denn der Hausel war auch schwerhörig; dann befahl er, daß dem Boten eine Schüssel voll Fleischbrühe und ein Glas Obstwein gereicht werde, setzte sich abseits an einen Tisch und begann die Zeitung zu lesen.

Der Hausel kam nun an mich heran und feilte mir eine halbverrostete Lichtschere.

»Vielleicht braucht der Herr Pfarrer eine,« redete jetzt ein alter Schmiedgeselle vom Nebentisch her drein.

»Wieso just der Herr Pfarrer?« fragte ich.

»Weil er das neue Licht noch nicht hat und beim alten das Schneuzen schon gewohnt ist.«

Ich lugte den schwarzen Gesellen nicht ganz ohne Mißtrauen an. Es wurde damals gerade Kulturkampf gespielt und ich vermute fast, daß die Bemerkung vom Lichtschneuzen einen bösartigen Hintergedanken hatte.

Plötzlich in der Stube ein schreckbar greller Schrei. Herr Sallinger an seinem Tische war aufgesprungen, hieb – das Zeitungsblatt in der Hand – mit den Armen in der Luft umher und rang nach Athem. Wir alle waren auf das höchste entsetzt und ich erwartete, daß er im nächsten Augenblick vom Schlage getroffen zusammenstürzen werde. Anstatt dessen fiel er mir um den Hals und schlug – im Auge helle Tränen – ein schallendes Gelächter an.

»Was ist Ihnen? Was ist Ihnen?« fragte ich.

[57] »Ah – ah! – da!« gurgelte er und stieß mir das Zeitungsblatt an die Brust, »– ich kann – kann nicht – lesen Sie!«

Was war geschehen?

Mit zitternder Hand nahm ich das Blatt, und während er offenen Mundes und ächzend vor Aufregung auf das Papier starrte, suchte mein Auge nach der Ursache und – fand sie auch.

In der Zeitung stand das amtliche Telegramm von einem großen Siege der Deutschen gegen die Franzosen bei Sedan und von der Gefangennahme Napoleons.

Ich selbst hatte die Fassung verloren. Das ganze Haus war in größter Bestürzung zusammengelaufen und wußte nicht, was denn geschehen sein mochte, daß der Herr Sallinger und der Student sich in den Armen lagen und laut weinten und lachten.

Endlich war es doch so weit, daß Sallinger, die Zeitung wie eine weiße Fahne schwingend, laut ausrufen konnte: »Liebe Leute! Morgen ist Feiertag! Essen, trinken, was gut und teuer ist! Musikanten her! Pöller laden! Freudenfeuer! – Der Napoleon gefangen! Von den Preußen! Na, na, von den Deutschen! Die Franzosen besiegt! Von den Deutschen! Schmiedmichel, ein Bussel kriegst! Und du auch eins, Großknecht! Und du auch eins, Stalldirn! – Jesses, mein Weib! Die liegt auf dem Kirchhof! Aufwecken! Der Napoleon ist hin! Gelobt sei Jesus Christus in Ewigkeit, Amen!« – So schrie er und umarmte jeden und jede vor Glückseligkeit.

In solchem Freudentaumel war er auch an den Hausel gekommen, der bei seiner Suppe saß. Vor diesem wurde Sallinger ruhig und er sagte laut, daß es alle[58] hören konnten: »Hausel! In Gold kann man dich nicht fassen, weil du darin ersticken müßtest. Du hast uns die Botschaft gebracht. Die allergrößte Freud' in meinem ganzen Leben hast du mir gebracht! Vom heutigen Tag an hast du bei mir das Gnadenbrot. Das Häusel unten bei der Brücken, das gehört dein, so lang' du lebst. Und jetzt, Hausel, lachender, himmlischer Kerl du, jetzt kriegst eins!« Er packte ihn am Haupt und bedeckte es mit Küssen.

Der Hausel wischte sich den Mund ab und glotzte sehr verwundert drein. Als er es endlich faßte, die Franzosen wären danieder, machte er mit den Fäusten die Miene des Zustoßens, dann kam wieder sein Lächeln.

Das Volksfest begann sofort, währte die ganze Nacht und den nächsten ganzen Tag. Im Keller rannen zwei Weinbrunnen ununterbrochen. Was tanzen konnte, das tanzte, wer Stimme hatte, der sang und jauchzte. Auch die Kerzenleuchter des Hausel kamen zu Ehren, denn im Hause wurden die Lampen zu wenig. Sallinger wollte unbändig viel Licht haben und ließ alles anzünden, was an Öl, Kerzen und Lunten vorhanden war. Um Mitternacht war auf der nächsten Anhöhe auch der Holzstoß fertig geworden, und zur Stunde, als er bei Pöllerkrachen in Brand gesteckt wurde, kam mein Gastherr mit verstaubten Flaschen aus dem Keller. Vor Jahren war draußen im Stifte zum Heiligen Kreuz Kellergut versteigert worden. Der Hammerherr hatte ein paar Dutzend Rheinweinflaschen erstanden und damals gesagt:

»Der Tropfen wird getrunken, wenn der alte Schwindler an der Seine umsteht!«

Was nun geschehen, war mehr als »umstehen«, also Rheinwein! Rheinwein! [59] Der Herr Pfarrer; der natürlich mit uns war, wollte anfangs die richtige Stimmung nicht finden. Es sei sehr zweifelhaft, meinte er, ob die neuesten Ereignisse zum Heile der Kirche ausschlügen. Beim goldenen Rheinwein verwandelte sich der künstliche Römer in einen echten, wackeren Deutschen, als der er ja in einem oberländischen Bauernhofe geboren worden, und wir stießen unsere Becher an auf die Herrlichkeit des deutschen Volkes. –

Der Tag ist mir unvergeßlich. Als das Fest vorbei und im Tale wieder die gewöhnliche Ordnung zurückgekehrt war, fuhr Herr Sallinger hinaus zum Notar und verschrieb Form Rechtens dem Baldhauser Lechhammer das Häusel an der Brücke und die Verpflegung für ihn und seine Mutter auf lebelang.

Endlich war für mich der Tag der Abreise gekommen. Bei derselben sagte mein Wirt: »Die letzten Ereignisse haben mich um zehn Jahre jünger gemacht. Also hoffe ich noch lange zu leben und Sie noch oft in meinem Hause zu sehen. Jedenfalls mache ich es Ihnen zur Pflicht, den Jahrestag von Sedan allemal dort zuzubringen, wo Sie ihn das erstemal gefeiert haben. Sie sollen auch nirgends als dort einen besseren Wein finden.«

Mein Geschick nahm einen etwas unvorhergesehenen und unsteten Verlauf; und volle fünfzehn Jahre vergingen, bis es mir vergönnt war, der Einladung Folge zu leisten.

Endlich aber doch. Der Mur entlang ins Gebirge hinein – und weiter als sonst.

Um die Nachmittagszeit kam ich ins Tal. Es fiel mir nicht auf, daß die Eisenhämmer schwiegen. An der [60] Brücke, die zum Dorfe hinüberführte, unter dem Mautbaum saß ein altes Männlein, dessen unbedecktes Haupt fast wie ein Schneeballen aussah, so weiß waren Haar und Bart, wovon das kleine runzelige Gesicht schier verdeckt schien. Ich trat zu ihm, um mich nach Herrn Sallinger zu erkundigen. Er stand auf und mir mit gebogenem Finger winkend, torkelte er ins Haus. Ich folgte ihm, doch anstatt drin mir etwas vom Hammerherrn zu erzählen, begann der Alte ein in Lappen gewickeltes Ding zu enthüllen und fragte lächelnd und lallend, ob ich ihm nicht eine Lichtputze abkaufen wolle?

Also der gute Hausel. Und wenn der schon so schneeweiß war, der dazumal braun gewesen, wie weiß mußte erst mein vor fünfzehn Jahren schon grauer Hammerherr sein! Ich stieg den Berg hinan gegen das Wohnhaus. Leute begegneten mir, die herabkamen und allerlei Gegenstände, Kästen, Wanduhren, Sessel, Bilder und andere Hausgeräte mit sich führten. Sie hegten miteinander lebhafte Gespräche, und jedes schien sich seines Gegenstandes zu freuen. Das kam mir wunderlich vor. Nun eine Gruppe von Weibern, die miteinander zankten; so viel ich aus dem wirren Geschrei merkte, hielten sie sich voneinander für übervorteilt. In einem dieser Weiber, das buckelig am Stock daherhumpelte, erkannte ich die Schwester des Hammerherrn, welche ihm vor Jahren den Haushalt geführt hatte. Sie hatte mich auch erkannt. »Ist das nicht der Student?« rief sie. »Ja, der kommt zurecht. Wir sind just fertig worden.«

Was es denn gäbe, war meine Frage.

»Haben gerade den Bruder vergantet!« schrie sie fast lustig. »Kein Wandnagel ist ihm verblieben. Von der [61] Hosen, die er anhat, gehört kein Faden und kein Knopf mehr sein. Ja, ja, so geht's den Herren Verschwendern!«

Damit war der Rudel vorüber.

Nun wendete ich mich an einen Mann, der gebückt unter einer großen Matratze herabkam. Der warf seine Last an den Wegesrand hin, setzte sich drauf, und deutete mir mit wenigen abgerissenen Worten an, wieso das gekommen war. – Schlechte Zeiten. Große Fabriken haben die Eisenhämmer umgebracht. Hammerherren sind das Wohlleben gewohnt. Geld aufnehmen. Schulden. Wucherer. Gant. Bettelmann. – Das war's. Ich fühlte mich dem Manne ordentlich dankbar, daß er sich nicht in lieblosen Ausdrücken erging.

»Wo finde ich jetzt Herrn Sallinger?« war meine Frage.

»Da kommt er schon,« antwortete der Mann, packte sich das Bett auf und haftete wegsher.

Von der Anhöhe herab kam ein Steirerwäglein auf dem Radschuh dahergeschliffen; eine eckige, kopfhängerische Mähre hatte zu tun, das Gefährte zu halten, es wollte allzu schnell talwärts. Auf dem Wäglein neben einem großen Handbündel saß mein guter Sallinger. über sein Aussehen erschrak ich freudig. Das war noch das runde, wohlrasierte Gesicht; und das Haupt? Mit weißen Haaren gab sich dieses nicht ab, lieber gar keine.

Da man auf solchem Wege, wie er ihn eben machte, nicht gerne einen guten Bekannten begegnet, so wollte ich mich hinter einen Busch bergen, bis er vorüber war. Doch er hatte mich gesehen.

»Sie kommen schon en spät, wenn Sie was kaufen[62] wollen,« redete er mich an und hielt den Pferderiemen fest. »Wir sind fertig!«

»So etwas – hätte ich nicht erwartet....«

»Warum?« fragte er. »Finden es doch in jedem Tal heutzutag, daß die alten Hammerschmiede abwirtschaften.«

»Ist alles hin?« war meine Frage.

»Nein,« antwortete er und hieb mit der breiten Hand auf das Bündel. »Das ist mein! Das Roß wär' mir am End' auch noch geblieben, brauch's aber nicht. Nur zum Siedeln.«

»Wohin fahren Sie; Herr Sallinger?«

»Im Murtal draußen habe ich Verwandte, die will ich jetzt einmal besuchen.«

In diesem einen, so zuversichtlich hingesprochenen Worte enthüllte sich mir seine ganze bemitleidenswerte Zukunft.

»Aber so setzen Sie sich doch zu mir!« rief er und machte auf dem Wäglein Platz. »Draußen dem Lahmbachwirt kaufen wir ein Glasel Wein ab.«

Ich wollte nun dem heimatlosen Alten über diese Tage hinweghelfen, so gut es ging.

»Rauchen wir eine!« sagte Herr Sallinger jetzt und langte in seine Rocktasche, um mir eine Zigarre auszuwarten. Es war aber keine drin. Zum Glücke – es war mir ein wirkliches – hatte ich deren bei mir und staunend sah ich zu, wie er sich den Stengel mit aller Behaglichkeit anbrannte.

Als wir zur Brücke kamen, senkte sich vor unserem Pferde so eine Art Schlagbaum. Ich langte nach dem Mautgroschen.

[63] »Gott, es ist ja nicht das!« lachte Herr Sallinger; er will uns nur seine Kerzenleuchter und Lichtputzen verkaufen. – »Brauchen keine, Hausel, brauchen keine!« rief er dem Alten zu, der neben dem Wege stand und die Kette des gesenkten Schlagbaumes in den Händen hielt.

»Vorwärts!« befahl Herr Sallinger.

»Nein! Nein!« gröhlte der alte Hausel und seine Hände zitterten vor Aufregung. Nur zur Not verstanden wir es, als er nun schrie: »Herrle nit fortgehen! Dableiben! Sein Häusel das! Sein Häusel!« Er sprang an die Tür des kleinen Hauses, stieß sie auf und lud den Herrn mit bittender Gebärde ein, auszusteigen und einzutreten. »Ich gar nicht brauchen!« lallte er, »ich hausieren gehen. Herrle heim! Herrle heimbleiben!«

Wir blickten uns an.

»Ist dieses Haus, welches Sie damals dem Boten verschrieben haben, auch mitvergantet worden?« war meine Frage.

»Das gehört ja dem Hausel,« antwortete Herr Sallinger.

»Es gehört Ihnen!« rief ich.

»Es ist wahr,« sagte er. »Wir würden uns ganz gut miteinander vertragen, der Hausel und ich. – Na, Fuchs, dann könnten wir ausspannen.«

Er hat seine Verwandten im Murtale nicht besucht und die sollen darob nicht trostlos gewesen sein. Er ist unter der Pflege einer rührsamen alten Magd im Häuschen verblieben, das er voreinst dem Sedanboten zugeeignet. Der Hausel ging manchmal zu den Leuten umher, um seine Lichtputzen und Drahthafteln auszubieten, [64] die längste Zeit jedoch saß er am Schlagbaum und nahm die Mautgroschen ein.

Herrn Sallinger ging es – wieer selbst versicherte – nun sehr gut, er hatte keine Wirtschaftssorgen und keine Behelligungen von Gläubigern mehr auszustehen. Sein einziges Mißgeschick war, daß er immer wohlbeleibter wurde. Zwei Jahrestage des Sedansieges hatten wir noch mitsammen gefeiert, und zwar bei der gebenedeiten Blume des Rheins. Als ich das drittemal angerückt kammit meinem Flaschenkorbe, bot mir der Hausel keine Lichtschere zum Kauf. Er brauchte sie just selber, indem er damit die zwei Kerzen auslöschte, die an der Bahre des alten Hammerherrn Franz Sallinger gebrannt hatten.

Die Geschichte vom Staufel mit den sieben Krankheiten
[65] Die Geschichte vom Staufel mit den sieben Krankheiten.

Als vor sehr vielen Jahren eines Tages ein Schafhirte in die Holzknechthütte des Heschelwaldes trat, kam er just zurecht, wie der Kristenstausel anfing zu sterben.

Der Kristenstausel, ein Holzknecht im Heschelwalde, war eine Stunde früher noch dagestanden stramm und starr wie die Wettertanne vor der Hütte. Ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann mit brauner Haut, schwarzem Schnurrbartbuschen und dunkeln, brennenden Augen, die – wie man sagte – nicht ins Pulverhorn gucken durften, ohne daß ein Unglück geschah. Holzknecht war er nur zur Hälfte, zur andern Hälfte war er Wildschütz. Die beiden Hälften hätten vielleicht einen ganzen Kerl gegeben, wenn der Staufel nicht alleweil so arg krank gewesen wäre. Er hatte nämlich ein »saures Geblüt« und den »Knochenschimpet« und die »Lungelsucht« und die »Abzehrung« und das »Magengromeln« und den »Herzdampf« und die »Schlagelsucht«. Sieben schwere Krankheiten, das war kein Spaß! Schon eine allein bringt die Leut' um; aber es war vielleicht gerade gut, daß ihrer mehrere waren, so nagte eine an der andern und ließen den Staufel in Ruh'. Wenn aber sechse in ihren Nestern schliefen und etwa nur der Herzdampf munter war oder das Magengromeln, da konnte es der Kranke oft schier nicht aushalten, da lag er zu allerlängs hingeworfen [66] auf der Holzbank und ächzte und vermachte sein Gewand den Kameraden. Aber schon nach kurzer Zeit mußten sie das Gewand wieder zurückgeben, weil er es selber anzog und in den Holzschlag ging.

Ein Hirtenmädel war in demselbigen Walde, das hatte Gott dem Staufel zum Ärger erschaffen. Das kam öfters in die Hütte und trällerte den Holzknechten in einem Atem folgende Sache vor: »Springt da Hirsch übern Boch tritt ma mei zwiedopplts driedopplts Brombirlab Blättablott oh is schon a hüscha Mon der ma mei zwiedopplts driedopplts Brombirlab Blättablott in oan Othn nena kon der wird mei Mon.« – Der Stausel konnte nicht ihr Mann sein, denn mit seinem kurzen Atem brachte er es nur bis zum ersten »Brombirlab Blättablott«; dermachte er es noch bis zum »hüsche Mon«, da war schon nicht mehr so viel Luft in seiner »Lungel«, daß davor ein Streichholzflämmchen auch nur hätte zucken können, und das war die Folge des »Herzdampfes«.

»Das »Magengromeln« (Knurren im Magen) plagte ihn alle Tage; nahm er etwas dagegen ein, so bekam er das »saure Geblüt«, welches sich besonders durch »Sengen« (Sodbrennen) kundgab. Nahm er nichts ein, so drohte die »Schlagelsucht«, da kam ein Zustand über ihn, den der Stausel selbst am besten zu schildern wußte: »Just souviel schricki bin ih. Wans himlazt (blitzt) oder dunnert, do schreckts mih, wans sist wou an Rumpla mocht, do schrecks mih, wan gach a Schuß sollt, do schrecks mih ah! Da sollt ma 's Geblüat van Koupf owi, ganz owi und wird ma blow vor n Augnan.« Wenn der baumstarke Holzknecht und Wildschütz mit kläglicher Fistelstimme [67] solches sagte, da war es ordentlich zum Weinen, falls man nicht hätte lachen müssen.

Manchmal hatte er, besonders nach Anstrengungen, ein krebsrotes Gesicht, aber das kam nur vom »sauern Geblüt«; oft mußte er, besonders im Sommer, arg schwitzen, das kam aber nicht von der Hitze, sondern vom »sauren Geblüt«. Ein Bauernarzt hatte ihm geraten, recht viele Süßwurzeln zu essen, es half aber nichts. Zucker aß er in ganzen Stücken, die er mit den Zähnen zerknackte. Honig aß er löffelweise, es half nichts, das Geblüt wurde alleweil noch saurer. »Es steht oh,« sagte er mit ergebener Miene. »Däs is holt a sou, wia ba da Milch, in da großn Hitz oder in an schlechtn Gschirr wirds saur, zageht, wird Wosser und Toupfn – astn kon mas weckschüttn. Mit mein Geblüat is s akrat a sou. Da Bruggnthomerl (das war der Winkelarzt) hot gsogg, sa long nouh an oanzigs guats Bluatströpfl in mir war, wurds as holtn, wiar oba s leßti Tröpfl saur is, astn is s gor.« – Wiederholt hatte der Kristenstausel sich Egel setzen lassen, aber die waren auch nicht so dumm, als sie aussahen, das süße Blut sogen sie ihm aus, das saure ließen sie ihm drinnen.

Fast noch schlimmer als das »saure Geblüt« war der »Knochenschimpel«. Bei den Zähnen hatte er angefangen, die wurden braun und morschten ab, so viel er auch Tabak kauen mochte, was dagegen das beste Mittel ist. Dann kam's in die Fuß- und Handknochen, dort zwickte und zwackte es, bohrte und »bremselte« (juckte), und das war der »Knochenschimpel«. – »Die Boan«,« sagte er, »wern ma schimpel (schimmelig), wiar a Stuck Brot in an Keller. Zerst, moant da Bruggnthomerl, [68] wurdns rauch wiar a Budlhaubn, astn wia die Knouchn über und üba rauch sein, astn frißt sih da Schimpel einwendi eini, astn wirds Geboan morb wiar a Mouder und astn bricht da Mensch zsom wiar a faula Bam.«

Gegen diesen fatalen »Knochenschimpel« gab es nur ein Mittel, des Abbeten. Die alte Holzmieslin, eine in wunderwirkenden Dingen erfahrene Frau, strich ihm mit dem Daumen kreuzweise über Arme und Beine: »Menschenhand (oder Fuß), ich streich dich, Menschenhand, ich bekreuz' dich, mit unseres Herrn Jesu Kreuz und Pein soll dein Fleisch und Bein gesegnet sein, heilig, heilig, heilig sei der Herr Sabaoth in alle Ewigkeit, Amen.« – Als auch das nicht anschlagen wollte, sagte die Holzmieslin: »'s is ols zspot, da Schimpel hat sih scha z'weit einigfräissn.«

Also wurde es mit dem Stausel immer schlechter und auch die »Schlagelsucht« trat immer drohender hervor. »Mitn Schagel (Schlag) däs is a sou,« belehrte uns der Stausel über seinen Zustand: »An iada Mensch hot in sein Koupf drei Bluatstroupfn, de henkn in Hirn, as wia die Tautroupfn af an Grosholm. Wan da rechti Bluatstroupfn owifollt, seln straft (streift) in Menschn s Schlagl af da rechtn Seitn; wan da linggi Troupfn owifollt, selm strafts n af da linggn Seitn, und wan da mitteri Bluatstroupfn owifollt, selm trifftn s Schlagl ban Herzn und da Mensch is hin.«

Also war es eines Tages nachdem das »Magengromeln« und das »saure Geblüt« schlimme Ausdehnung gewonnen hatten und nur mehr ein einziger guter Tropfen im Hirne hing, daß der Stausel unter dem »Knochenschimpel« plötzlich zusammenbrach und zu gleicher [69] Zeit, wahrscheinlich durch die Erschütterung, der Blutstropfen herabfiel. Und gerade zur selben Stunde trat ich, der Schafhirte, in die Holzknechthütte des Heschelwaldes.

»Peda!« röchelte der Sterbende und hob ein wenig seine Hände mit den ausgespreiteten Fingern, »mit mir is s vabei. Mih hot s Schlagel trouffn, s Herzschlagel hot mih trouffn. – Bist mar ollaweil liab gwen, Peda, sullst ah an Ondenkn va mir hobn, lous zua. In mein Gwondtrühel findst a blows Schachterl, däs ghört dein, schütts nit aus. Frouschaugn. Jh hons amol von an oltn Zigeuner kriagg für a Trum Speck und a Pfeifn Tabak. Er hot de Frouschaugn nit brauchn kina, weil er ka Suntakind is gwen; ih hons ah nit brauchn kina, weil ih ah koans bin. Du bist a Suntakind, du konnst as brauchn. Ollamol, wans Manscha vul is (bei Vollmond), nimst a Frouschäugl ein und konnst da dabei wos wünschn.«

Soweit sprach er, da war wieder der Herzkrampf da, der sogar durch das »Schlagel« nicht umzubringen gewesen. Ich nahm die blaue Schachtel aus der Gewandtruhe, wünschte ihm »baldige Gesundheit«, obzwar er schon so viel als tot war, und ging meinen Schafen nach.

Kurze Zeit darauf bin ich in eine andere Gegend verschlagen worden. Die geerbten Froschaugen waren erbsengroße, grünlich-graue Kügelchen. So oft Vollmond war, schloß ich mich in meine Kammer und bei verriegelter Tür und bei vernageltem Fenster und Kopf zerrieb ich mit einem Stein und großer Feierlichkeit ein Froschauge, nahm das Pulver auf die Zunge, und während ich mir einen Wunsch dachte, war es verschluckt. Die Wünsche gingen fast allemal in Erfüllung, nur manchmal etwas ungeschickt. So zum Beispiel wünschte ich mir gleich [70] beim ersten Vollmond eine Tabakspfeife und richtig, schon am nächsten Tag, als mir die Schafe auf das Kornfeld gekommen waren, schmiß mir der Großknecht aus Zorn die seine an den Kopf. Der Wunsch nach einem »lieben Dirndel« wurde vom Vollmonde so verstanden, daß ich ein junges Schwesterlein bekam, das sechste Geschwister, welches mir die Milch wegtrank, die ich sonst des Morgens von der Mutter erhalten hatte. Am redlichsten erfüll ward der Wunsch nach einem Schnurrbart, nur daß der zehn Jahre nachher kam. Im ganzen beklagte ich mich über die schlechten Froschaugen und meinte, sie würden eben schon zu alt und abgestanden sein, um noch zu wirken. Eines Besseren belehrte mich jedoch der Meßnerhansel, der erinnerte daran, daß solche Froschaugen nur bei einem Sonntagskinde angriffen, ich aber als eins von einem (wahrscheinlich blauen) Montag im Kirchenbuch stünde. Schlau wie ein Advokat fragte mich der siebenspannige Schuster (so geheißen, weil er sieben Gesellen hatte), wie der Wortlaut gewesen sei, mit welchem der selige Kristenstausel mir die Froschaugen vermacht habe. »Ja,« meinte ich, »er hat halt gesagt, daß ich sie am Vollmond einnehmen soll und mir dabei was wünschen könnte.« Da hielt der Siebenspannige mir einen alten zerrissenen Stiefel hin und sprach: »In der Thomasnacht um zwölfe schrei in diesen Stiefel hinein: sali en dami! Dann stecke ihn rasch an den linken Fuß, und dabei kannst du dir auch was wünschen. Wohlgemerkt, wünschen kannst du dir, was du willst – ob's in Erfüllung gehen wird, weiß ich nit. Der Stausel wird's auch nit gewußt haben. – Sali en dami! Jetzt war ich um ein ganzes Streichholzköpfchen klüger.

[71] Dann waren die vielen Jahre vergangen und nun kam das Weitere. Als Student durchwanderte ich wieder einmal jene Gegend. Da wurde ich eines Tages vom Gewitter überrascht. In einer schief in den Grund gesunkenen Waldhütte nahm ich Zuflucht. An der Tür stand ein braunes knochiges Weib, das hatte Haare auf den Gesichtswarzen und auf den Zähnen und rief, als sie mich sah, mit einem kurzen Gekreisch ihre Brut herbei. Diese kam aus den dunkeln Tiefen des Nestes hervor und bestand aus drei jungen, stattlichen Dirnen, die mich anglotzten. Mit zottigen Mähnen (eine hatte aber das Haar kurzgeschnitten) kamen sie auf breiten Pfoten langsam herangestapft. Sie hatten alle Männerjacken an und eine nebelte aus der Tabakspfeife. In wehrhafter Stellung standen sie mit ihren plumpen Gliedern da, während ich unter Sturm und Regen mit der Alten verhandelte, ob man eintreten dürfe. Endlich standen die Dirnen ein wenig beiseite, so daß ich mich an ihren strammgestemmten Ellbogen vorüber knapp in die Hütte zwängen konnte. Da drin war's schier finster und dumpfig. Es roch nach modrigem Holz, altem Leder und feuchtem Gewand. Als die Augen sich ein wenig zurechtfanden, sah ich im Winkel des Kachelofens einen großen Mann sitzen. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen aufs Knie und tat nicht viel desgleichen. Auf dem Kopfe hatte er eine schwarze Zipfelmütze tief über die Ohren herabgezogen, ein schwarzer Bartwisch stand ihm unter der Nase hervor. So oft es blitzte oder donnerte, zuckte er zusammen und dabei zog er die Zipfelmütze immer noch krampfhafter über Ohren und Augen herab. Ich fragte das Weib, ob er ihr Mann [72] sei; sie hatte darauf gar keine Antwort, sondern rief auf ihn hin: »Olta Norr, Stausel, 's tuat jo nix, 's is schon übri hintern Berg und wird wieda liachta.«

Nun erkannte ich einen alten Bekannten, den Kristenstausel, der vor so vielen Jahren an Knochenschimpel, Herzschlagel und noch an mehreren andern Krankheiten gestorben war. Daß er jetzt noch lebte, war lediglich dem Umstand zu verdanken, daß damals die reißenden Krankheiten sich gegenseitig selber auffraßen und den Kranken glücklicherweise verschonten. Das erzählte er mir bald, denn mir wurden sofort miteinander gesprächig. Auch erinnerte er sich noch des einstigen Schafhirten, von dem er gehört, daß er seitdem ein Graf geworden sei, was ihn gar nicht Wunder genommen, weil selbiger ja die Froschaugen gehabt hätte. – Als es dazumal mit dem Sterben nichts gewesen war, hatte er's mit jener Geißhirtin versucht und es mit vieler Übung richtig so weit gebracht, das Stücklein vom »Hirsch übern Boch« in einem Atem hersagen zu können. Darauf nahm sie ihn und erzeugte mit ihm etliche Hünenkinder, von welchen sich sogar die Dirnen derartig entwickelten, daß von den Leuten ihre Dirnenhaftigkeit angezweifelt wurde. Burschen, welche Versuche machten, darüber ins klare zu kommen, wurden durchgeprügelt und hinausgeschmissen.

Mit dem Stausel stand's doch immer noch armselig. Zur Zeit war er lahm, gichtbrüchig und hatte nebst Schwindsucht, Milzbrand, Wassersucht und andern schrecklichen Krankheiten den Zapfelfall, den Hirnschwund und den Leberkrebs. Seit etlichen Tagen war er heiser. »Jo,« hauchte er, »'s Zapfel is mar ohigfolln. Die Kuhlerliesel kunts wieder auffaziachn, is oba hiaz z'Fischboch entn.«

[73] Hat nämlich, um dir, lieber Leser, seine weiteren Ausführungen zu verdeutlichen, jeder Mensch in der Kehle ein Fleischzäpfchen; wenn du in den Spiegel schaust, kannst es sogar an dir selber sehen. Nun, dieses Zäpfchen fällt dem Menschen manchmal hinab in den Magen und dann ist er heiser und kann kein lautes Wort sprechen. Oben mitten auf dem Scheitel hat der Mensch ein bestimmtes Haar, und wenn man daran zieht, so kann man wie durch eine Schnur das hinabgefallene Zäpfchen wieder herausziehen in die Kehle. Aber die wenigsten finden unter den tausend Haaren das rechte auf dem Scheitel, diese Geschicklichkeit muß angeboren sein. Die Köhlerliesel kann es, aber solches Weibsbild war jetzt in Fischbach drüben und so mußte der arme Stausel sein Zapfel im Magen liegen lassen, bis sie zurückkehrt. Ja, wenn er sich nach Fischbach hinübertragen lassen könnte! Gehen kann er nicht einen einzigen Schritt, vor lauter Knochenschimpel.

Viel schlimmer war der Hirnschwund. »Mitn Hirn is 's a sou,« unterrichtete mich der Stausel, »wan da Mensch olt wird, aftn geht eahms Hoar aus. Wan eahm 's Hoar ausgeht, aftn schlogg d' Sunhitz durchn Koupf und aftn hebb' 's Hirn on zan zagehn (zum schmelzen) wiar a Speck oder a Buda zageht ba da Hitz. Und mei Hirn zageht mar ah, destwegn bin ih imeramol souviel damasch und wirfli (schwindelig), daß ih go nit dastehn mog. Bis 's leßt Batzl Hirn zagongen is, sogg die Kuhlerliesel, aftn wirds gor mitn Menschn. Derawegn, mei Koppn, mei Koppn!« – Also hatte seine Kappe dreifachen Zweck, die Augen vor dem Blitz, die Ohren vor dem Knall und das Hirn vor dem Sonnenstrahl zu bewahren.

Die weitaus schlimmste und schrecklichste Krankheit [74] des Stausel jedoch war der Leberkrebs. Mit bewundernswerter Gelassenheit erzählte er mir, daß er schon über dreißig Jahre lang an diesem Übel leide. Bei einem unvorsichtigen Wassertrunk hatte er wahrscheinlich ein junges, ganz kleines Krebslein mitverschluckt. Das fiel ihm erst auf, als er immer Magenzwicken hatte, natürlich, als das Tier im Magen größer ward, hub es an, seine Scheren zu gebrauchen. Der Bruggenthomerl war schon lange tot, so ging der Stausel zum Kofelschneider nach Stanz, der aber verstand es nicht. Der Kofelschneider gab eine Medizin, die das Vieh abwärts treiben sollte, ohne zu bedenken, daß ein Krebs nicht vorwärts, sondern rückwärts geht. Und so war er richtig statt in den Bauch hinab in die Leber heraufgestiegen. »Hät d' Medrizin,« sagte der Stausel ganz richtig, »h er aufgloadt, gstott hino, so war 's longschinkad Mistviach zrugg owi und untasih aus. Hiazt hot sa sih in da Leba festgsetzt, und do zwickts und grobbs und beißts und frißts und ka Mensch bringgs mehr außa. Und däs is a sou: Bis da Krebs d' Leber aufgfressn hot, is 's gor mit an Menschn.«

Während der alte Stausel mir sein ungeheueres Elend also vorstellte, hub seine Heiserkeit wesentlich an zu schwinden, als ob das »Zapfel« gar nicht warten wollte auf die Köhlerliesel, sondern ganz aus eigener Kraft sachte heraufstiege an seinen angestammten Platz. Das Gewitter hatte sich auch verzogen, und so konnte der Stausel guten Muts fortfahren, mir von den unzähligen merkwürdigen Krankheiten zu berichten, die in seinem Körper seit länger als fünfzig Jahren daran arbeiteten, ihn umzubringen. Er wurde dabei völlig munter und [75] stopfte sich langsam eine Pfeife an. Während er mit verzerrtem Gesichte den Rauch mühsam aus dem Rohre sog und ausspuckte, jammerte er seinem Weibe vor, daß es ach! wohl schon ganz mit ihm zu Ende sei, weil ihm der Tabak so gar nicht mehr schmecke. Sie brachte ihm zu Trost einen großen Topf mit Kaffee. Die Hünenbrut des alten Stausel ernährte ihn reichlich im Walde, versorgte ihn mit allem andern, damit er sich ganz seinen merkwürdigen Krankheiten widmen konnte. Während der Stausel den Kaffee mit einem großen Holzlöffel bedachtsam ausschaufelte, schwieg er und gab sich mit Feierlichkeit dem Genusse hin. Als die braune Suppe alle war, wischte der Alte den Löffel mit der Zunge ab, steckte ihn an ein Seitenhenkelchen seiner Lederhose, wo er vorher gesteckt hatte, und begann wieder, sein Elend zu betrachten. Alle andern Krankheiten zusammen, meinte er, fürchte er noch immer nicht so sehr, als die eine, das »Pfnausen«. Was das wäre? fragte ich; da legte er die Spitzen zweier Finger an seine Stirn, schloß die Augen, tat den Mund auf und nieste. »Helf uns Goud!« rief das Weib. »Orma Stausl, muaßt scha wieda sou viel pfnausn!« – »Däs is die ollagfahrlicherst Kronkhat!« seufzte der Stausel, »ba koaner ondern Kronkhat wird da Mensch so viel Helf uns Goud sogn wia ban Pfnausn. Däs bringg mih um, werds as scha sechn, meini Leut, 's Pfuausn bringg mih um.« Als er merkte, daß ich ungläubig war, fuhr er fort: »Däs is holt a sou: an iada Mensch muaß pfnausn. Koana pfnaust öfter, as wos er Hoor am Leib hot. Hot da Mensch sar ouft pfnaust, nochha tuat er in letztn Pfnauser und pfnaust sei Seel aus, und aftn is 's gor.«

[76] Um die Zeit, da ich so ganz zufällig in die Behausung des todkranken Stausel geraten war, zählte der Mann fünfundachtzig Jahre. Und siehe, dieser Mensch, der schon vor einem halben Jahrhundert von sich und andern aufgegeben war, ist nun wenige Wochen nach meiner Begegnung – geheilt worden.

Das ging so zu. Der Stausel hatte einen alten Kugelstutzen, eine sichere Hand und ein scharfes Auge. Aug' und Hand, meinte er oft, sei an ihm noch das beste, alles andere wäre dem Juden zu schlecht. Da mußten seine Töchter den lahmen Mann manchmal, wenn der grausam strenge Jäger Martin weit weg war, hinaustragen in den Wald, wo er hernach zwischen Jung) wachs kauerte und auf das Reh oder den Hirschen wartete. Und an diesem Tage nun kam anstatt des Hirschen der Jäger Martin, und als er den Wildschützen sah, riß er sein Gewehr von der Schulter, um ihn anzuschießen. Heisa, wie jetzt der Stausel aufsprang und durch das Dickicht lief, hinab gegen die Hütte! Als seine Leute ihn so über die Maßen flink dahereilen sahen, meinten sie heilig nichts anderes, als der Stausel habe den Tod in die Hütte gehen sehen und spute sich nun, ihn nicht zu versäumen.

Allerdings fiel er, hier unter sicherer Hut, sofort wieder in sein schweres Siechtum, aber ich dächte doch, man sollte dort, wo das Wunder geschah, eine Votivsäule errichten und darauf schreiben: »Hier ist ein lahmer Mann gehend worden, heiliger Jäger Martin, dir sei Lob' und Ehr'!«

Der lustige Andredl
[77] Der lustige Andredl.

Da war in einer sternenhellen Sommernacht Leichwache beim Altenbacher in der Kohleben. Nicht wie sonst waren wir diesmal zusammengekommen, daß wir rings um die Bahre des Toten einen fröhlichen Kranz von Schabernack ausführten, zu seinen Ehren allerhand Kurzweil trieben, gleichsam, als ob wir unser Leid um ihn gewaltsam betäuben müßten, obschon zumeist gar keines vorhanden war. Denn was sollte es für uns junge Bursche denn ein Leid sein, wenn irgendwo ein alter Mann oder ein sieches Weib gestorben war und der Tote nun in seinem sanften Frieden dalag auf der langen Bank? Erst wenn wir die Trauer der Angehörigen sahen, die auch wieder nicht in Weinen und Klagen laut ward, sondern in einer stummen, schwermütigen Ergebung, trauerten wir in der gleichen Art redlich mit. Sonst bedeutete, wie gesagt, das endliche Absterben eines alten Menschen für uns eher ein Freudenfest, bei dem wir die Totengebräuche ganz munter mitmachten und Essen und Trinken uns gut schmecken ließen.

Diesmal war das nicht so. über dem Altenbacherhof lag eine dumpfe Schwermut; der Wehruf wegen eines so schrecklichen Sterbens war vergellt. Eltern und Geschwister standen, saßen wortlos, tränenlos herum, und es war kaum zu merken, ob sie das leise mitklagende Trostwortsprechen der Nachbarn hörten oder nicht. – [78] Zwei Tage und zwei Nächte lang hatte das Mädchen ununterbrochen geschrien, man hatte die entsetzlichen Schmerzrufe bis zu den Nachbarhäusern hin gehört, und die Leute konnten keine Stunde schlafen und keinen Bissen essen, wegen des herzzerreißenden Schreiens der armen, neunzehnjährigen Marianna.

Nun war sie still geworden. Still, wie nichts stiller sein kann auf der weiten Welt, lag sie da, die vor wenigen Stunden noch mit heller Stimme um Rettung gerufen hatte in der ohnmächtigen Erdenwelt. Alles war versucht worden, jeder und jede hatte einen Rat gewußt und jeder Rat war ausgeführt worden. Nichts und nichts. Das Schreien war in Stöhnen, das Stöhnen in Röcheln übergegangen. Dann waren noch Atemzüge gewesen, so langsam, so sanft und so leicht, als versinke sie in einen süßen Schlaf, und dann der heilige Frieden, der nimmer aufhört.

Der nimmer aufhört?

Wir saßen in der großen Stube an zwei Tischen, beteten laut oder plauderten leise, und einer wie der andere schaute manchmal auf die Wandbank hin, wo die weiße Kammertuchleinwand, an der noch die ungefügen steifen Falten waren, einen länglichen schmalen Körper zudeckte. Woran sie hatte sterben müssen, wir wußten es alle miteinander nicht. Ein ungeheurer Schmerz in den Eingeweiden war gekommen, der hatte eine solche Glut entfacht in den Gliedern, daß ihre Hand den fast brannte, der sie angriff. Und aus dieser Hitze drang ein eiskalter Schweiß – es war nicht zu verstehen. Es gab damals in der Gegend keinen Arzt, wir wußten nichts, als daß sie jetzt tot war, und das brauchte kein Totenbeschauer [79] erst zu bestätigen. Manchmal ging eine Jugendgesponsin hin und hub sachte die Leinwand vom Gesicht, daß man sie anschauen konnte. – »So schön! So friedsam! Als ob sie tät' schlafen!« Ein anderes Wort hörte man kaum lispeln an ihrer Bahre und mir – der ich ebenfalls einmal hingelugt hatte – schien die schlummernde Marianna stillvergnügt zu sein; keine Spur vom Leide, fast kam es mir vor, als lächle sie heimlich in sich hinein darüber, daß sie allem Schmerz und Elend ein Schnippchen geschlagen hatte und gestorben war. Lebte sie heute noch, sie wäre ein betagtes, abgerackertes Weib mit vielen Runzeln auswendig und noch mehr Sorgen inwendig, und zu guter Letzt als Ziel und Lohn für alle Bravheit und Mühsal doch noch das leidige Sterben. Das hast du besser gemacht, Marianna, dachte ich ihr zu, wie sie so schön und weiß dalag. Nicht das letztemal, daß ich mich in einen Toten verliebte, aus reinem Beifall darüber, daß er gestorben war. Alsogleich wäre ich bereit gewesen, eine Lustbarkeit anzuheben bei jenem Leichwachen, wenn mir jemand geholfen hätte. Aber in aller Ohren schrillte noch das gräßliche Schreien, und die Leute waren schweigsam und betrübt.

Um Mitternacht wurde die Marianna in die Truhe gelegt. Dabei haben sie manchen Schürzenzipf zernagt und manche rote Lippe, um das in tiefer Brust gewaltig tobende Schluchzen zu verbeißen, denn das laute Weinen ist nicht der Brauch in jener Gegend, die Sterbesitten sind ein Gottesdienst, und dabei weint man nicht. Der Schmerz ist nicht geringer als anderswo, wenn ein trauter, geliebter Mensch in den Sarg gelegt wird, aber er vergeht in stiller Ehrfurcht vor der Majestät dessen, der den [80] Tod sendet mit dem Auftrage, das irdische Leid zu enden und das ewige Leben zu beginnen.

Und in jener Nacht das erstemal ist mir die Ahnung ausgegangen: Der Tod wird ein Aberglaube sein und die Wahrheit ist: Ewiges unzerstörbares Leben. Nicht bloß im Sinne der heiligen Offenbarung, wohl auch im Sinne der Natur, die wir mit unserem leiblichen Auge sehen Denn unter uns Leichwächtern befand sich auch ein alter Mann, der in jener Nacht eine merkwürdige Geschichte erzählt hat, derenwillen es eigentlich geschieht, daß dieses Kapitel aufgeschrieben wird.

Der alte Mann – ich sehe ihn heute noch – hatte ein fast kahles Haupt, aber sein langer Bart war noch schwarz. Sein Lebtag hatte er sich im Walde als Hirte oder Holzarbeiter aufgehalten, daher war seine Rede zwar ungeschlacht, aber bedachtsam, und wer alt wird, der weiß schließlich auch als Waldmensch etwas von der Welt. Der Jasel hatte den Franzosenrummel mitgemacht und sein eigentliches Kriegserlebnis, das er unzähligemal erzählte, war, daß die Franzosen ihm ein paar nagelneue, rotjuchtene Stiefel gestohlen hatten. Deshalb, so meinte er, hätten sie nachher auch zur Strafe das schreckbare Unglück in Rußland und bei Leipzig gehabt. Bei diesem Leichwachen aber fiel dem Alten auch noch eine andere Erinnerung aus jener Zeit ein, und als sie den starren schmalen Körper der Marianna in die Truhe legten, pfauchte er mehrmals mit der Nase, ersuchte den beisitzenden Webermeister um eine Prise Schnupftabak, und sagte, mit dieser Truhe würde es sich wohl doch nicht auch am Ende so wunderlich zutragen, als mit jener des alten Bauers Andreas Windlechner auf der grünen Au.

[81] Freilich haben sie ihn gefragt, wie es sich denn zu) getragen mit der Truhe des Windlechners, und darauf hat er angefangen, das folgende zu erzählen.

Seit dem großen Juchezer, den der Gott Vater gemacht hat bei der Erschaffung der Welt, wie er sieht, daß die zwei jungen Leut' zusammenpassen, hat's keinen so lustigen Menschen mehr gegeben, als den Windlechner. Der lustige Andredl hat er geheißen. Der ist mit Siebzig noch so jung gewesen, wie unsereiner mit Vierundzwanzig, und mit Fünfundsiebzig hat er bei des Jodlhans' Hochzeit dem Bräutigam die Braut entführt und sich mit ihr so weit in die Bergschlucht versteckt, daß sie selbige den ganzen Nachmittag nit mehr gefunden haben. Überall, wo es frisch hergegangen, ist der alte Andredl dabei gewesen, bei jedem Ball, bei jeder Hochzeit, bei jeder Hausnudel (häusliches Festmahl, zu welchem die Nachbarn eingeladen werden), und geredet hat er schier gar nichts, alleweil nur gejuchzet und gesungen. Stimm ^ hat er gehabt so hell wie ein junges Dirndel, hat auch alle Vögel können nachmachen und gleich hat die Katz' ihre Ohren gespitzt, wenn in der Stube auf einmal ein Zeiserl, oder ein Meiserl oder ein Dröscherl anhebt zu wispeln. Auch die bösen alten Weiber hat er nachmachen können, aber hat's nit gern getan, hat gesagt, sie täten ihm zu viel kratzen in der Gurgel. Ich glaub's. Mit dem Gewand hat er sich getragen, der Andredl, wie ein junger Bursch, noch mit seinen achtzig Jahren. Kirschrotes Leibel und himmelblaues Halstüchel und auf dem grünen Hut die Hahnenfeder und ein frisches Blumensträußel. Auch im Knopfloch ein Nagerl und auf dem Stecken eins. Das haben ihm die Weibsbilder verehrt; [82] wo ein anderer, oft ganz junger sauberer Bursch, von ihnen nichts hat bekommen, den alten Andredl haben sie über und über besteckt, daß er ausgeschaut hat wie ein großer Nagerlstock (Nelkenstock).

Aber halt zithernschlagen hat er können und maultrommeln und schwegelpfeifen und allerhand so Musik, und die längste Weil hat er können auf dem Kopf stehen, im Mund die Mundharmonika, in den Händen die Tschinellen und mit den Füßen Trommelschlagen bei der großen Bumpern zum Kirchweihtanz. Gott, das ist ein Mensch gewesen, dieser Andredl! Vom achtzigsten Jahre an hat er sein Haus einem Enkelbuben überlassen, selber nichts mehr gearbeitet, hat gesagt, er wollt' doch einmal seine Jugend genießen. Ausg'schaut hat er freilich wie's Leben und seinen schneeweißen Schnurrbart hätt' er – sagt er – vom Rahmschlecken in der Butterkammer. Was der die Weiberleut' g'foppt hat! Aber angesetzt keine, sein Lebtag nit; bei der Falschheit, hat er gesagt, hört die Freud' auf, und wer sich mit seiner Lustigkeit das Leben vertut – hat er gesagt – das ist ein Narr. Ja mein, da gehört eine besondere Gnad' Gottes dazu, daß einer das zuwegbringt, alleweil Freud' und nie keine Buß'! Gescheit sein! hat er gesagt. Himmlischer Vater, gescheit sind andere auch und machen doch die dümmsten Sachen. – Wenn vom Sterben die Red' ist gewesen, hat der Andredl allemal einen Fachler ge macht mit der Hand: »Hört's mir auf! Sterben, das gibt's nit!« Und hat er eins so liegen gesehen, wie dort die Marianna, so hat er einen Juchezer gemacht, daß man oft ordentlich erschrocken ist, und gemeint hat, der Alte wär' nimmer recht beisammen. – Und jetzt –[83] so fuhr der Jasel bei jener Leichwache fort – werde ich auf das kommen, was ich eigentlich erzählen will. – Neunundachtzig Jahr' soll er alt geworden sein, just noch nit gar neunzig, der Andreas Windlechner. Da hat das Brullbergerpaar geheiratet, und der Alte ist richtig wieder bei der Hochzeit gewesen. In der Kirche bei der Trauung ist er ein klein bissel eingenickt, was den Leuten auffällt. Nachher beim Tanz ist er um so frischer gewesen und hat mit der Braut und der ersten Kränzeljungfrau zu gleicher Zeit einen Steirischen getanzt, an der rechten Hand eine, und die andere an der linken, und derweil er sich langsam dreht wie der Gründel in der Mühl, saufen die zwei Weiberleut, daß die roten Kittel fliegen um und um. Auf einmal laßt der Alte ab, steht an dem Türpfosten, greift mit der Hand an den Kopf, sagt noch: »Laßt's euch nit aufhalten, Leut'!« und geht in die Nebenkammer. Wie sie nachgehen, liegt er zwischen den Hochzeitskranzeln und Buschen und ist maustot. – Wohl, wohl, tot ist er gewesen, aber kalt und starr werden hat er uns nit wollen. Drei oder vier Tag' haben wir herumgefrettet und sagt endlich der junge Windlechner: »Werden ihn halt doch müssen eingraben, zum Lebendigwerden tut er nichts mehr desgleichen!« »Ein Mittel müssen wir noch vorher probieren!« sagt der Zwiselschneider und kratzt auf seiner Geige einen Strampfer. Und wie der Alte sich noch alleweil nit rührt, sagt der Schneider: »Aus ist's und gar ist's. Wenn der einmal beim Steirertanz nimmer zuckt, nachher ist er maustot.«

Weil die Franzosen von Leoben her im Anrücken sind, und die Leut' mit ihrem Vieh ins Gebirg hinaufwollen, so haben wir doch trachten müssen, daß wir ihn vorher [84] begraben. Der Möstlmichel hat eine feichtene Truchen gezimmert, hinein mit dem alten Andredl, das Brett drüber zugenagelt und in Gottesnamen fort auf den Friedhof. Ich und der Steinmirtel, wir haben ihn getragen, und wie wir durch den Zerwald hinabkommen ins Tal, hei, da reiten ihrer ein ganzer Teufel Franzosen daher, wir haben just noch Zeit, die Truchen in die Brombeerstauden zu werfen, und flugs ins Dickicht hinauf, daß wir ihnen noch ausgekommen sind, den Rothosen, den verhöllten! – Und das, meine Leut', ist dem lustigen Andredl sein ganzes Begräbnis gewesen. In der Brombeerstauden wird er Jahr und Tag gelegen sein, was weiß ich, es sind unruhige Zeiten gewesen. Uns haben die Lebendigen Sorg' und Kummer genug gemacht, haben nit Zeit gehabt, auch noch an die Toten zu denken. Und erst viel später, wie sie die Franzosen schon zusammendrischakert gehabt haben draußen bei Leipzig, da findet eines Tages der Halter Florl im Brombeergestauder die Truchen. Halb eingefilzt ins Gestauder soll sie gewesen sein, über und über schon voller Moos, und bei den Fugen sind Schwammerln herausgewachsen, Sauerklee, Eriken und so Kräuterwerk. Hat sich aber nit getraut nachzuschauen, der Florl, und nachdem er eine Weil so dagestanden ist vor der Truchen, ist er stad davongegangen, zum Bauernhaus hinauf, und er hätt' eine Totentruchen g'funden in den Brombeeren. Da nachher sind die Leut' gleich schauen gegangen, aber keiner hat die Kurasch' gehabt und hätt' sie ausgemacht, die Truchen. Bin auch dabei gewesen und mir selber sind die kalten Erbsen gelaufen über den Buckel hinab. Endlich hat doch einer angefangen und mit dem Stecken [85] den Deckel ein wenig aufgezwängt. Alle haben sich abgewendet, wie der ausschauen wird da drinnen – ich dank' schön! Auf einmal ist das Brett ledig, Ameisen und Rasseln und anderes Käferwerk wuselt und fliegt heraus, junges Gras und Moos und Halmwerk und ein Vogelnest – ein Amselnest ist in der Truchen. Die hat von unterwärts ein Loch, und Junge sind drinnen, sperren die Schnäbel auf und piepsen, und die Alten schwirren umher und kreischen und greinen, daß wir ihr Haus und Heim hätten erbrochen. Und gäh versuchens auch die Jungen mit ihrem Vogelglück, flattern auf und ins Dickicht hin, daß alles bledert. Und der alte Andredl? Wo ist der? Was glaubt ihr, Leut', wo ist der gewesen? Der ist nit in der Truchen gewesen und nit neben der Truchen, und nit unterhalb, der ist nirgends gewesen. Wir haben weitum gesucht, nit ein Knocherl von ihm, nit ein Fetzerl von seinem Gewand. Wir haben uns jetzt an alles erinnert vom Begräbnistag her, und daß ihn uns die Franzosen abgejagt. Sollten sie ihn mitgenommen haben? Wohl gewiß nit. Eher ist er selber aufgestanden und davongegangen. Nachher haben wir gehorcht, ob wir ihn nit etwa singen oder juchezen hören kunnten irgendwo. Nichts. Die Vögel haben gesungen und der Wind hat gerauscht, und der Hirsch hat geröhrt oben im Wald, aber vom Andredl kein Haarl und kein Windl. Und nichts bis auf den heutigen Tag! – Nun soll mir einer sagen, wie das zugeht? – Wenn er jetzt die Tür aufmacht und steigt herein, ich möcht's frei glauben und heilig kommt's mir immer einmal für, der alte Andreas Windlechner regiert heut' noch herum auf der Welt! –

Solches hatte der Mann aus dem Walde erzählt bei[86] der Leichwach auf jenem Hofe. Es erhob sich sodann ein Mutmaßen vom Scheintodsein, von Leichenraub und dergleichen. Ich hatte für mich eine besondere Meinung, sagte sie aber nicht. Sage sie auch heute noch nicht, in solchen Dingen wird man leicht mißverstanden, und ich will lieber gar nicht verstanden, als mißverstanden werden.

Als der Morgenschein durchs Fenster kam und vor ihm die weiße Truhe errötete wie die Wange einer Jungfrau, da trat jemand hin an diesen Sarg und sagte: »So, meine liebe Marianna, jetzt werden wir halt um ein Häusel weitergehen.« Der Vorbeter tat schon den Mund auf, um die Abschiedsrede zu halten, den stieß ein Nachbar in die Seite: »Mußt nit! Sie sind betrübt genug.« Der Vorbeter jedoch hub an: »O liebeste Jungfrau Marianna! In früher Jugendzier mußt du Urlaub nehmen von Vater und Mutter, von Schwester und Bruder und mußt ins kühle Grab!«

»Halt's zsam und friß dein' Red' selber '« unterbrach ihn der Nachbar barsch, denn die Anverwandten begannen krampfhaft zu schluchzen und wären über die Herzenspeinigung, die ihnen der Vorbeter zugedacht, wohl in ein wildes Weinen ausgebrochen, wenn man nicht rasch den Sarg gehoben und ihn unter einem lauten gemeinsamen Vaterunser zur Tür hinausgetragen hätte. Das surrende Alltagsgebet wird die armen Herzen ein wenig betäubt haben, und wenn an eines derselben etwa gar sachte das heilige Wort geklopft hat: Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden! dann wird wohl alles andere Menschenwort überflüssig gewesen sein.

Wir sind hernach mit der hoch auf einer Bahre schwankenden Truhe im Hohlwege dahingegangen unter [87] Weiden und Birken. Diese Bäume haben ein zartes Gewölbe gebaut über den Totenzug und auf den unzähligen, leise im Morgenwind zitternden Herzlein der Blätter haben die Tropfen des Taues gefunkelt in allen feurigen Sonnenfarben. Und wie die Finken, die Amseln, die Lerchen so hell singen und jubilieren, daß sie schier das Gebet der Menge überklingen, da stupft jemand den alten Holzer Jasel in die Seite und raunt ihm ins Ohr: »Hörst du ihn? Hörst du ihn denn nicht? Das ist ja der lustige Andredl!«

Die Winternacht auf dem Stuhleck
[88] Die Winternacht auf dem Stuhleck.

Unsere Alpenhöhen werden nachgerade gemein. Sie halten sich nicht rein genug. Man sucht da oben die Erhabenheit und findet die Lächerlichkeit. Bäuerliche Kellner im Stadtfrack und Städter im Bauernrock; städtisch kokette Senninnen und ländlich ungezogene Stadtherren – allerlei Ungereimtheiten, Niedertracht, die zur Höhe steigt, Naturfreude, die sich erniedrigt. Die Natur hat ihr Recht und die Kultur hat ihr Recht, aber wo sich Ländlichkeit und Stadttum in wilder Ehe zusammentun, gibts Gemeinheit.

Nun werde ich etwas aus der Zeit sagen, da wenigstens die Winter noch groß gewesen sind auf den Bergen. Einmal habe ich dort oben den Göttern ins Angesicht geschaut, doch nicht aus Vorwitz. Ich suchte in den Wildnissen des Eises und des Gesteines ein in Verlust geratenes Kind. – Damals, als ich den Christmonat bei einem Freunde in Spital am Semmering zubrachte. Die kurzen Tage verlebten wir auf dem Schlitten und glitten durch das Alpental oder fuhren zum Semmeringsattel hinan, um ins schöne Österreicherland und in die Flächen Ungarns hinauszuschauen, oder wir frönten dem lustigen Eisschießen. Die langen Abende verbrachten wir in der Stube bei heiteren Gesprächen, Spielen, guten Zigarren und freundlichen Frauen. Derlei Dinge machen die langen[89] Abende sehr kurz und es war oft schon gegen Mitternacht, als ich in meine Schlafkammer ging. In dieser Kammer wurde ich einmal zur Nacht plötzlich aus dem Schlafe geschreckt. Draußen auf dem Wege, der am Hause vorbeiging, war Lärm, ein lautes Durcheinanderreden von männlichen Stimmen und Fackelschein drang durch das Fenster und zitterte in schiefen Tafeln auf der Zimmerdecke dahin. Als der Auftritt vorbei war, rief ich in die untere Stube hinab, wo mein Freund und Gastherr schlief: was es draußen gegeben habe?

»Ja,« gab der unten mir zur Antwort, »einen Schulknaben suchen sie. Der ist gestern nach der Schule in Verlust geraten, sechs Jahre alt, wird sich verirrt haben. Soll gegen den Kaltenbach und Stuhleck hingegangen und seitdem nicht mehr gesehen worden sein.«

»Dummer Junge,« brummte ich und kroch wieder unter die Decken. Mir ward darunter aber nicht mehr behaglich und nach einer Weile rief ich wieder in die untere Stube hinab: »Schläfst du schon?«

»Nein,« sagte mein Freund.

»Du,« rief ich, »drin im Kaltenbach stehen ja ein paar Häuser.«

»Ja, die stehen.«

»Der Knabe wird doch so vernünftig gewesen sein und in einem derselben zugesprochen haben.«

»Das glaube ich auch,« lautete die Antwort, dann waren wir wieder still.

Doch mit dem Schlaf war's vorbei. Ein verirrter Knabe und eine Winternacht, und eine trostlose Mutter und etliche Menschen, die mit Fackeln in den Weiten umhersteigen und rufen – vergebens rufen, das sind [90] Gedanken, die am Bette rütteln, an der Decke zerren, im Kopfe wühlen und sich ins Herz bohren.

Ich sprang aus dem Bette und rief in die untere Stube hinab: »Ich will suchen helfen, gehst du mit mir?«

Keine Antwort.

»Wach' auf!« schrie ich. In der unteren Stube blieb es still, mein Freund war schon fort.

Rasch zog ich mich an, faßte meinen Bergstock und ging davon.

Es war etwa zwei Uhr, die Nacht war finster und das Prickeln auf meinen Wangen und an meinen Händen sagte mir, daß es schneie. Aus der Schlucht, der Kaltenbach genannt, gewahrte ich ein paarmal das Schimmern der Fackeln. Dem eilte ich nach und erreichte einen Mann, der eine Laterne trug und Decken bei sich hatte, im Falle der Kleine halberfroren aufgefunden werden sollte.

»Wem gehört denn das Kind?«

»Wenn es hin ist, so tu' ich mir was an,« sagte der Laternträger.

»Also gehört es Euch?«

»Nein!« rief er, »aber meine Dummheit ist schuld.« Und etwas später erzählte er: »Ich bin beim Rochusberger der Knecht. Der Knabe ist das Kind von unserer Magd Christiana, die es im vorigen Herbst aus Rettenegg mit herübergebracht hat. Sind gebürtige Retteneggerleut'. 's ist aus der Weis', wie dieser Bub an seiner Mutter hängt, freilich sonst hat er niemand auf der Welt und im Haus wird er auch nur so herumgeschuntmelt; am allerbesten aufgehoben ist so ein Wesen gerad' zu sagen in der Schul'.«

»Das ist richtig.«

[91] »Wie er von der Schul' heimkommt, ist seine erste Frag' allemal: Wo ist meine Mutter? So auch gestern nachmittags; ich bin vor der Stalltür just im Streuhacken, kommt er dahergetrippelt: Wo ist meine Mutter? So ein dalkert Fragen da! Wo wird sie denn sein! sage ich ärgerlich, denn ich habe just meinen Zahnwehtag. Ins Rettenegg ist sie hinübergegangen, kommt nimmermehr zurück. – Er schaut mich an, steht ein Randel (ein Weilchen) da und schaut umher – und ist nachher weg. Steht darauf nicht lang an, schaut seine Mutter, die Christiana, bei der Stalltür heraus: Ob das Franzerl nicht wäre dagewest? Ja, sage ich, wird ins Haus gegangen sein. Wie wir aber später zu der Jausenmilch ins Haus gehen, ist kein Franzerl da. Sein neues Lodenjöppel ist auch weg. Der Christiana schmeckt die Milch nicht, sie schaut zu allen Fenstern hinaus. Ich gehe um den Hof herum und schrei nach dem Knaben; da sagt mir eine Nachbarin, sie hätte das Franzerl vor zwei Stunden gegen den Kaltenbach hineingehen sehen. Jetzt ist die höchste Zeit, daß ich's sag', denke ich, wenn er etwan meinen Spaß für Ernst gehalten hat. Unser Bauer schickt gleich ein paar Knechte aus, aber der Christiana haben wir noch nichts merken lassen und hat es geheißen, der Junge ist bei anderen Knaben unten auf dem Eisschützenplatz. Im Finstern kommen die Knechte zurück: sie hätten im Kaltenbach seine Spur verloren und wüßten nicht, was anfangen. Jetzt ist schon die Christiana da – ganz ruhig und kernfest, hätt's meiner Tag nicht vermeint, daß dieses Weibmensch so sein könnt' – und sagt, sie verlange, daß alle Männer vom Spitalerdorf ausgehen, den Knaben zu suchen, und sie [92] geht voraus in den Kaltenbach. Da ist's schon lang finstre Nacht. – Der himmlische Vater geb's, daß wir ihn beim Leben finden!«

So hat's der Knecht des Rochusberger erzählt, und wir gingen weiter und weiter. Im Geleise des Schlittweges, auf welchem schon eine Schichte neuen Schnees lag, sahen wir beim Schein der Laterne die Fußspuren derer, die uns vorangegangen waren. Auf freien Blößen, wo in den vorhergegangenen Sonnentagen der Schnee festgebeizt worden war, trug uns seine Decke auch neben dem Wege, wozu ich bemerkte, das sei gut, weil wir nach Belieben herumsteigen könnten, und wozu mein Begleiter sagte,. das sei nicht gut, weil der Knabe vielleicht nicht auf dem Wege geblieben sei, sondern über den tragenden Schnee hin abgelenkt haben könne, so daß wir jetzt gar keine Mutmaßung hätten, wohin er gegangen ist.

»Weiß der Franzel den Weg nach Rettenegg?«

»Den kann er wissen, weil er im Spätherbst mit seiner Mutter auf demselben herübergekommen ist.«

»So wird es sein, daß er nach diesem Wege fortgegangen ist.«

»Jesus und Maria!« rief der Knecht, »dieser Weg geht ja über das Gebirge. Das wäre gar keine Möglichkeit jetzt in diesem Schnee!«

Ich kannte das Gebirge wohl, es war das hohe Stuhleck mit seinen steinigen Kuppen und stundenweit hingestreckten Almen. Im Sommer ist auf diesen Höhen viel Leben; Halter und Senninnen, Jäger und Touristen; für letztere ist nahe an der Spitze des Stuhleck ein Schutzhaus erbaut worden; aber die Bauernburschen, die eifersüchtig auf ihre Almerinnen sind, haben den [93] Städtern das Bergnest wieder zerstört. Auch die Jäger sind keine Freunde der Touristen, weil die das Wild verscheuchen; der Bauer wieder fürchtet, daß die müßigen Alpengeher in seinen Schwaighütten allzuviel unbezahlte Milch und Butter verzehren – und so ist ihnen das Touristenhaus gut weg. Das ändert aber nichts an der Luft, die zur Sommerszeit auf den Höhen herrscht. Selbst dem Wanderer, der auf dem fünf Stunden langen Weg zwischen Spital und Rettenegg geht – und mag's ihm noch so kümmerlich zumute sein-ihm wird leicht, wenn er auf der Höhe ist und hinschaut über die von Gesang und Rinderglocken umklungenen Almen, über die fernen Felsen, wenn er niederblickt auf die weiten, von glitzernden Wassern durchzogenen Täler, wo die Menschenwohnungen sind, die so viel Kümmernis bergen, und die von Höhen aus gesehen so friedlich daliegen. –

Solche Erinnerungen zogen durch meine Seele zur Stunde, da wir nächtig dahinschritten. Der Kaltenbach graben ist lang; das Wasser, welches vom Gebirge niederkommt und in den sommerlichen Tagen so betäubend hinbraust, war streckenweise verhüllt unter Schnee und Eis. Die Stege, die darüber hinführten, waren schlüpferig, so daß es keiner der Suchenden unterließ, unterhalb derselben mit seinem Lichte in den Bach zu leuchten. Wir trafen mit mehreren Männern zusammen, keiner hatte vom Knaben eine Spur entdeckt.

In einer der letzten Hütten des Kaltenbachs – wir weckten die Leute – wußte uns ein Weib zu erzählen, daß es Tags zuvor, gerade schon ums Dämmern, an der Rabenwiese, die sich vom Tale gegen das Stuhleck hinaufzieht, und über welche der Steig nach Rettenegg führt – [94] daß es auf dieser Rabenwiese ein schwarzes Pünktlein gesehen hätte, welches sich ein wenig nach aufwärts bewegte. Das Weib habe noch ein Randel hingesehen und sich gedacht, was das denn sein könne? für einen Menschen wäre es zu klein und für einen Raben zu groß. Es wäre dann finster geworden und sie hätte nicht meiter mehr dran gedacht.

»Das ist der kleine Franzel gewesen!« sagten nun die Leute. Wir mußten auf den Berg. In meinem Leben sind mir auf einer Alpenpartie die Füße nicht so leicht gewesen, als diesmal. Die Wege waren verschneit, aber der Schnee war hart und trug uns. An den Hängen liefen wir Gefahr, abzurutschen, wir mußten unsere Stiefelabsätze mit Gewalt in den gefrorenen Schnee stoßen.

»Hier kann der Knabe ja nicht hinausgekommen sein,« meinte ich.

»Zur Tageszeit und früh abends ist der Schnee nicht so hart,« belehrte mein Begleiter, »da klebt die Sohle daran und man kommt vorwärts.«

So gingen wir weiter und kamen rascher vorwärts, als wir gedacht hatten. Die Steine und das Gestocke waren verlegt, die Schluchten von Schnee überbrückt. Ost standen wir still und riefen den Namen des Knaben. Auch an gegenüberstehenden Bergen riefen Leute nach dem Vermißten – aber es war keine Antwort und keine Spur.

Als wir bis zu den Spitaler-Almhütten emporgekommen waren, wurde der Nebel, der uns eingehüllt, grau, so daß wir die Laterne auslöschen konnten. Die kleinen Hütten lagen öde da, halb vergraben im Schnee, und wie [95] wir durch die Fensterlücken bemerken konnten, lag auf dem Tische, auf dem Herde der Schnee und ein paar Töpfe auf dem Schrank hatte der Frost gesprengt.

Wir eilten weiter. Der Schnee wurde lockerer, aber stellenweise auch seichter und unsere gefrornen Stiefel klangen, so oft sie an einen Stein schlugen. Als der Nebel licht geworden war, standen wir an der Ruine des zerstörten Alpenhauses. Alles tot und starr. Ein scharfer Wind peitschte durch den Nebel und jagte Schneeflocken hin und her, und im Aufwirbeln des Gewölkes war es, als sollte zur Morgenstunde eine neue Nacht anbrechen.

– Ins Tal kommt jetzt vielleicht ein Sonnenstrahl, aber auf den Höhen bauen sich die Festen des Schnees, um die Felsriffe branden die Winde, und wenn in den Wolken schon keine Flocke mehr ledig ist, so fahren die Winde in die lockeren Massen, und wirbeln sie auf hoch über die Wände, daß sie diesen Schnee noch einmal und immer wieder als Flockenstaub niederschleudern können. Doch auch der Nebel waltet seines Amtes, er sammelt die Feuchtigkeit in allen Tälern, Schluchten und wo er sie findet, und braut und preßt und münzt daraus die wunderbaren Gebilde der Flocken und weht sie hin, emsig und nimmermüde, auf die einsamen Höhen. Die Tiere, die laufenden wie die fliegenden, haben sich geflüchtet niederwärts gegen schützende Wälder, die Nähe des feindlichen Menschen ist ihnen lieber, als das öde Schneeland, wo alles verdeckt und vertilgt ist. Wo der Wind den Boden kahl gelegt, da hat der Frost die schwarze Erde versteinert und es scheint, als ob Keim und Lebenskraft für alle Zeit vernichtet sein sollte. Eine urgewaltige Herrschaft ist auf hohen Bergen, gegen welche keine Menschenmacht [96] siegen kann, eine Gewalt, die ewig mit der Sonne kämpft, im Frühjahre unterliegt, im Spätherbste wieder siegt und dann ihr Leben aufschlägt dort oben. Mit dem Maßstabe der Jahrhunderte und nach den Botschaften der Geschlechter ist es zu messen, wie das Reich des Eises immer weiter vordringt und niederfließt gegen die Wohnsitze der Menschen. Es wird der große tote Winter kommen; das Schneegestöber wird in dem Maße aufhören, als die Niederungen erstarren; die Menschen werden dem Äquator zugedrängt, und im hohen Afrika, dort, wo heute die Sonnenglut jedes Hälmchen der Sandwüste verbrennt, wird der letzte Mensch von – Eisbären getötet werden.

Solch unbeschränkter Herrschaft trachtet der Winter zu, und die Alpen sind es, die er sich für unsere Jahrtausende zum Kampfplatze erkoren hat, und unsere langen Dezembernächte sind es, in denen da oben bei den Bergkuppen, Felshörnern und Gletschern eine M acht waltet, von der die Bewohner des Tales oder der Ebenen draußen keine Ahnung haben. Das Meer gehorcht den Stürmen des Ozeans, es ist ein Sichergeben des fügsamen Elementes; aber die Steinriesen der Berge trotzen dem Sturme, ragen, von feindlicher Gewalt umbraust, in finsterer Starrnis da, und die unbändigen Kräfte der Luft, die den Ozean vor sich hertreiben, zerschellen an den Felsen der Berge. Dieses ewige Gebrochenwerden und doch in ewiger Gewalt fortrasende Element der Winterstürme ist das Große, Erschütternde und Erhebende fürs menschliche Gemüt.

Den Felsriesen wird erst der Frühling gefährlich, and die Sonne, die das in den Klüften ruhende Eis[97] schmilzt und eine von Jahr zu Jahr wiederkehrende Sprengarbeit verrichtet, wird solchergestalt als Zerstörerin der Schutzwälle eine Verbündete ihres eigenen Feindes, des Winters.

Freilich gibt es auch im Dezember und Januar Tage, da die Niederungen in Dämmerung und Nebelfroste schauern, während die Höhen, welche wie Inseln aus dem Nebel ragen, sich des blauen Firmamentes und seines Sonnensternes freuen. Für Bergwanderer wären solche Tage noch gefährlicher, als jene des Frostes und der Stürme, weil unter den Füßen der Boden bricht. Mancher schon ist, verschlagen vom Sturm, verirrt im Nebel, in den Abgrund gestürzt; aber häufiger gehen Menschen zugrunde, weil der sie bisher getragene Schnee unter ihren Füßen allmählich anfängt einzubrechen; sie arbeiten sich noch eine Weile weiter, mühen sich ab, die Kräfte schwin) den, sie haben das Bedürfnis nach einer kurzen Rast, der weiche Schnee wird dem hinsinkenden Körper zum bequemen Ruhekissen, sie schlafen ein, da kommt der Frost – und sie werden nicht mehr wach.

Wo unentbehrliche Pfade über das Gebirge ziehen, da hat man als Markzeichen hohe Stangen gepflanzt, die dem Wanderer die Richtung des Pfades andeuten sollen. Aber es gibt Stellen, wo man die längsten Stangen nicht sieht, weil sie aus dem Schnee nicht hervorragen. Man kann sich die Unmassen des Schnees denken, wenn in mancher Mulde noch im Juli und August so große Schneefelder liegen, daß Alpenunkundige Gletscher aus ihnen machen können. –

Der Pfad, welcher von Spital nach Rettenegg führte, war nicht mit Stangen bezeichnet, weil derselbe zur [98] rauhen Jahreszeit überhaupt nicht begangen wurde. Es vergingen die Wintermonate, ohne daß auch nur ein Mensch auf diese Höhen kam. – Mein Begleiter und ich standen nun allein mitten in dem Schneegestöber, welches uns in Dunkelheit und seine Flocken einhüllte und ganz so tat, als sollten wir in kürzester Zeit begraben sein unter dem Schnee, so wie das Zirmgesträuche begraben war, ohne daß auch nur ein Zweiglein an die Oberfläche ragte. Keiner der Suchenden war uns bis zum hohen Stuhleck hinan gefolgt und mein Begleiter sagte jetzt, es sei ganz unmöglich, daß der Knabe hierher gekommen wäre. Er habe, wenn er schon nach Rettenegg gehen wollte, sicher eine ganz andere Richtung eingeschlagen, denn so viel er – der Knecht des Rochusberger – sich erinnere, sei an jenem Herbsttage die Christiana mit dem Knaben spät in der Nacht von Rettenegg nach Spital gekommen; wenn sie auch noch bei Sonnenschein aufs Stuhleck gekommen wären, so hätten sie doch den Weg abwärts und durch den Kaltenbachgraben im Finstern machen müssen.

»So ist der Weg dem Knaben vollständig fremd,« meinte ich.

»Das wird sein,« sagte der Knecht.

Mit Mühe fanden wir in dem von Minute zu Minute wilder werdenden Gestöber den Rückweg, mit Mühe und Gefahr erreichten wir den Kaltenbach. Der flaumige Schnee ging uns stellenweise bis an die Hüften, es war schon Mittag, als wir erschöpft in Spital anlangten. Wir hatten gehofft, daß der Knabe mittlerweile aufgefunden worden sein würde. Aber die Leute waren unverrichteter Dinge zurückgekommen und einige [99] derselben waren, nachdem sie sich ein wenig gestärkt hatten, wieder davongegangen, um den Vermißten zu suchen.

Die Christiana hatte sich bereits auf den weiten Umweg über das Mürztal und den Alpsteig gemacht, um Rettenegg zu erreichen und dort nach einem – wie die Leute sagten – Unmöglichen zu fragen, ob ihr Kind nicht angekommen wäre? Und auf diesem Wege, mitten in den Wäldern des Alpsteigs, ist ihr der Bote aus Rettenegg begegnet. Der wollte nach Spital zum Rochusberger und berichten, daß in der vorigen Nacht der sechsjährige Knabe der Magd Christiana mitten in Schnee und Wind mutterseelenallein in Rettenegg angekommen sei. Er hätte an der Tür des Ziehhofers geklopft, wo die Christiana vorigjahrs im Dienste gewesen, er hätte nach seiner Mutter gefragt und dann sei er, bevor die Leute des Ziehhofers noch ein Wort von ihm herausbringen konnten, umgesunken und eingeschlafen. Morgens, als der Bote fortging, habe der Knabe in dem ihm bereiteten Bette noch geschlafen.

Hierauf ging der Bote nach Spital, zu sagen, daß sie nicht mehr länger suchen sollten; die Christiana eilte nach Rettenegg, wo sie spät abends ankam. Der Knabe schlief noch immer, aber sein Atem ging ruhig und seine Wangen waren leicht gerötet. Jetzt erst sing die Magd an zu weinen, und weinte so heftig und heiß, daß die Leute an sie herantraten und zu beruhigen suchten, aus Besorgnis, sie würde vor Aufregung erkranken. In der Angst, im bittersten Herzweh war sie still gewesen, schien gefaßt und ergeben, jetzt im unermeßbaren Glücke ob des wiedergefundenen Kindes brachen die Gewalten durch.

[100] Am drittnächsten Tage kamen Mutter und Kind über den Alpsteig und Mürzzuschlag wohlbehalten in Spital an. Der Knecht des Rochusberger soll vor der Christiana niedergekniet sein und ihr seinen ganzen Jahr) lohn angeboten haben für die Angst, die er ihr durch seine »Unsinnigkeit« gemacht. Sie sagte: das wäre mit Gut und Geld nicht zu zahlen, aber sie habe ihr Kind wieder, und so sei alles vergessen.

Wir alle gingen, den Knaben anzusehen – es war ein sehr schöner, aufgeweckter Junge. Als wir ihn fragten, wie er denn nach Rettenegg hinübergekommen sei, antwortete er, er sei hinübergegangen.

»Auf welchem Wege?«

»über den hohen Berg, wo mich die Mutter einmal herübergeführt hat.«

»Kind! Und hast du den Steig gefunden? Bist du denn nicht über die Felsen gestürzt?«

»Ich habe nichts gesehen, es ist finster gewesen.«

»Und bist du denn nicht erfroren?« rief der Rochusberger.

»Ich bin schnell gegangen.«

»Und hast uns nicht schreien gehört?«

»Es ist der Wind gewesen.«

Weiter wußte er nichts anzugeben.

Wie es dem Sonnenberger beim Freien erging
[101] Wie es dem Sonnenberger beim Freien erging.

Beim Großbauern vom Sonnenberge hatten wir oft gearbeitet, es war eine unserer besten Steren. Die junge Hausfrau Katharina hat uns wohl versorgt. Auch später als Student bin ich oft am Tische der Sonnenbergerin gesessen. Ich wußte damals noch nicht, durch welch eine merkwürdige Geschichte diese Bäuerin in den großen Hof gekommen war. Heute weiß ich's und heute will ich's zu Ehren dieser rechtschaffenen Leute erzählen, genau wie's geschehen.

Der Bauer vom Sonnenberg ging eines Tages mit seinem Sohne Jochtl aus, um zu freien. Das waren auch zwei, die sich diesen sauren Weg hätten ersparen können. Der Gang zur Braut ist sonst kein saurer Weg, besonders wenn wir ein so wohlhabender und angesehener Mann sind, als der Bauer vom Sonnenberg. Es liegen ihrer fünfzig oder sechzig Höfe in der Landa, deren Töchter den jungen Jochtl vom Sonnenberg in ihr Abendgebet einschließen; Töchter, die Gott in ihrer aufgeblühten Schönheit feil hält schon manches Jahr; Töchter, die bereits angekündet worden und demnächst im Kalender der Heiratsmäßigen erscheinen werden. Und der Weg zu jeder wäre für den jungen Jochtl mit Rosen bestreut und der Alte vom Sonnenberg hätte es nicht nötig, unterwegs eine wohl gesetzte, ehrerbietige Anrede [102] zusammenzustellen. Er könnte, den Daumen im Gurt, mit Selbstbewußtsein ins Haus treten und – je herrischer, je besser – die Begehrenswerte für seinen Sohn verlangen. Er läßt's ja doch auch sonst so gern spüren, daß er der Fürnehmste ist in der Landa, der Größte und der Einflußreichste. Sie nennen ihn ben Gott Vater – zuerst war's aus Spaß, nach und nach sind sie das Wort gewohnt worden – und er läßt sich's gefallen. Ist er ja doch allmächtig, so gut das vom Sonnenberge aus gehen mag, ist heute gütig, herablassend, heiter, morgen streng, zornig, grollend und donnernd – just wie es ihm gefällt. Der Gott Vater vom Sonnenberg ist überhaupt gewöhnt, nur das zu tun, was er tun will. Und heute?

Heute geht er einen harten Weg, geht mit seinem Sohn auf die Freit, über den Berg, der die Landa abschließt, ins Gröntal und dem Eisenschlößl zu.

Denn so sind die Leute, die Reichen wollen noch reicher, die Angesehenen noch angesehener sein – es ist ein Unfrieden da, eine Begier, ein Fluch, deß auch dort kein Glück sei, wo es sein könnte. So bildete sich der Bauer vom Sonnenberg ein, daß, wenn er schon einmal Bauer vom Sonnenberg ist, er ebensogut auch Hammerherr im Gröntale sein könne. Der alte Hammerherr im Eisenschlößl war gestorben, hatte zwei große Hammerwerke, eine Anzahl von Huben, Wäldern und Almen hinterlassen und als Erben drei hübsche halberwachsene Töchter.

War das nicht gerade wie ein Fingerzeig vom Himmel, daß der Alte vom Sonnenberg für seinen Sohn Jocht' um die Älteste im Eisenschlößl werben sollte?[103] Danach waren sie jetzt auf dem Wege. Der Alte ging voraus, der Junge hinterdrein. Letzterer trug etwas in der Hand, über das ein rotes Sacktuch gedeckt war. Er trug es mit Ängstlichkeit und großer Sorgfalt, als wär' es etwas sehr Heikles.

Die beiden Wanderer schritten nicht gerade rasch voran und sie waren etwas kleinlaut. Einmal blieb der Alte stehen, blickte seinen Sohn von oben bis unten an und sagte:

»Ist ja gar nicht wahr, daß du um einen Kopf kürzer wärest als andere Bursche; ich weiß nicht, was die Leute für Augen haben, du bist ein gut und stark gewachsener junger Mann und ich habe richtig keine Angst, daß wir Schaub führen 1 gehen könnten.«

»Ich hab' auch keine Angst,« antwortete der Jochtl und stellte sich ein wenig auf die Zehen. Auf seine weite Brust, auf seine breiten Achseln, auf seinen festen Nacken konnte er nur stolz sein und den Ledergurt trug er seit einigen Monden im letzten Loche gehakt. Ging das mit dem leiblichen Gedeihen so fort, so mußte er schon in nächster Zeit diesen feingearbeiteten Gurt mit der kunstvollen Silberschnalle, ein altes Familienstück, als zu eng geworden ablegen. Diese Notwendigkeit war bisher noch an keinen derer vom Sonnenberg herangetreten, es waren lauter schlanke, baumstarke Männer, wie der Alte heute noch bezeugt, und allemal die Schönste war es in der Landa, die von den Sonnenbergern heimgeführt worden.

[104] Fein aufgestellt war er heute, der Jochtl, sein kurzes Jöppel und seine Bocklederhose rochen noch ganz nach den Schneidern, und auf dem Haupte der Filzhut mit den bunten Quasten und der festen Krempe, die stellten den kleinen, dicken Kerl her, daß es eine Freude war. Der Jochtl war in seinem achtundzwanzigsten Jahre und recht vollbäckig und nicht kaltblütig, ein wenig schlau und ein bißchen hartköpfig dabei. Er hatte noch nicht viel nach Weibsleuten ausgelugt und der Alte fürchtete fast, er könne das »Schnalzerl« verpassen und es ohne Ehefrau versuchen, alt zu werden. Das durfte nicht sein. Daher riet ihm der Alte eine aus dem Eisenschlößl an, und dem Jochtl war's recht.

Als sie nun dem Schlößl in die Nähe kamen, setzten sie sich auf den Rasen; »daß wir nicht gar über und über verhitzt und verschwitzt vortreten,« meinte der Alte.

»Daß du dich hübsch manierlich stellst,« fuhr er fort, »und dein Nasenschnuppern stehen laßt. Späterhin kannst wieder schnuppern wie der Will', wenn du die verfluchte Angewohnheit schon einmal nicht lassen magst. Nur heut' nimm dich zusamm'. Schön den Hut abnehmen und daß du mir nicht vergißt, wenn wir vortreten: Der alten Hammerfrau küssest die Hand! So Frauenweiber halten was drauf und wird dein Schaden nicht sein. Reden werde schon ich. Bin ich fertig und haben wir die Antwort – und ich verhoff's eine erfreuliche Antwort – nachher trittst du vor und bringst schicksamerweise deine Sach' an. Was du zu reden hast, das kann ich dir jetzt nicht sagen, muß dir das recht Wort selber einfallen; auch so zu der Braut. Nur zu viel nicht reden. Wird vielleicht ein Eichtl flennen, die Junge; [105] mach' dir nichts draus, ist so der Brauch, legst ihr nur so ein wenig die Hand auf die Achsel. – Was Bursch?! – Ich glaub' gar! – Das wär' doch eine rechte Schand für so einen Jungen dahier! Geh'!« Der Jochtl preßte sein Gesicht in den Ellbogen hinein. Nach langem Zärteln und Fragen brachte es der Alte heraus, was dem Jungen fehlte.

»Schamen tu' ich mich,« schluchzte der Jochtl.

»Geh', Närrisch! Schamen wird sich schon das Mädel. Gescheiter um einen fingerlang zu keck, als zu lahmlackig – allemal gescheiter. Du bist ein Sonnenberger, darfst dich schon was getrauen. So, jetzt gehen wir's in Gottesnamen an.«

Als sie ins Eisenschlößl traten, fragten sie zuerst in der Küche nach der Herrschaft. Ein schlankes, blondhaariges Küchenmädchen wies ihnen bescheiden Treppe und Tür. Der Jochtl fragte sie, wie sie heiße, und wollte ihr einen Silberzwanziger in die Hand drücken. Sie antwortete: »Heißen tue ich Katharina und für das bedanke ich mich.« Wies das Geldstück ab und eilte flink davon. Der Jochtl schaute ihr nach.

Die Frauen im Eisenschlößl waren gerade versammelt in der großen Stube bei der Arbeit: Nähen, Stopfen, Sticken, Glätten und was so Verrichtungen sind, womit die einen den Mann erhalten, die anderen erwerben wollen.

Wie sie es im Eisenschlößchen sonst hielten, das weiß man nicht, aber heute waren sie emsig, alle Fünfe, die Großmutter, die Mutter, die drei Töchter bei häuslicher Arbeit, als hätten sie ahnen können, daß ein Freier kommt.

[106] Nun klopfte es an die Tür und wie? Der Alte vom Sonnenberg verstand es nicht allein, mit entschiedenem Herrscherdrucke die Klinke zu fassen, er wußte anzuklopfen – weich, höflich, daß es eine Art hatte.

So sagte denn die Hammerfrau, nachdem sie einen prüfenden Blick auf die arbeitende Gruppe geworfen hatte – ebenso höflich ihr »Herein!«

Als die Türe langsam ausging, flüsterte hinter dem Rücken der Mutter die Älteste den beiden Schwestern zu: »Der Gott Vater vom Sonnenberg!«

»Und der Gott Sohn!« hierauf die zweite, da kicherten sie.

Der Alte trat einige Schritte vor und sagte den feinsten der Bauerngrüße, die ihm einfielen. Die Frau dankte mit freundlicher Miene. Hierauf stand der vom Sonnenberg ein paar Augenblicke da, ohne recht zu wissen, wie er anfangen sollte. Der Jochtl hielt sich ganz nahe hinter ihm und duckte sich, was dem Kleinen hinter dem Großen nicht schwer wurde.

Der Alte tat einen Blick auf die Mädchen, einen gutmütigen Blick, an dem aber die Absicht, überflüssige Zeugenschaft hinwegzuschieben, nicht zu verkennen war. Die Frau verkannte diese Absicht auch nicht, doch gab sie keinen Wink und die Gruppe saß, wie sie saß.

»Ehrenwerte Frau Hammermeisterin,« hub der vom Sonnenberg mit etwas befangener Stimme an. »Wir sind die Besitzer vom Sonnenberg und täten bitten auf ein Wörtel.«

»Ja,« sagte sie, »was verschafft mir so werte Gäste?«

»Wie sich's bisweilen halt schickt,« antwortete der Alte, »mein Sohn, der Jochtl da, mein Einziger –,« [107] er wendete sich, um den Burschen vorzustellen, dieser jedoch barg sich immer noch hinter dem Rücken und der nun von seiner roten Hülle befreite Blumenstrauß zitterte ihm in der Hand – »der hat,« fuhr der Alte fort, »schon alleweil wollen hergehen – in dieses hochwerte Haus, aber das erstemal muß ich ihm den Weg in Ehren wohl zeigen. Er hat sonst auch Manieren für eine aus dem Schloß. Will er sich halt, wie ihn Gott erschaffen hat, entschließen, in den heiligen Ehestand zu treten und hat wohl sein Auge auf die Allerfürtrefflichste geworfen, die weit und breit im Sonnenschein gewachsen ist. Und so ist jetzt unser heiliges Fürnehmen, daß wir in Ernsten und Ehren um die Jungfrau anhalten, sintemalen schon Gott dem Adam im Paradiese –«

»Ich kenne den schönen Spruch,« unterbrach ihn die Hammerfrau, indem sie sich in ihrer ganzen Breite aufrichtete und so die hinter ihr flüsternden und kichernden Töchter deckte. »Ich kenne den Spruch, lieber Sonnenberger, und es freut uns recht, daß Ihr uns die Ehre wollt erweisen. Es mag jede froh sein, die einmal auf dem Sonnenberg sitzen kann und einen so braven Mann bekommt; könnte auch meinen Töchtern nichts Besseres wünschen, als eine so gute und sichere Hut, möchten sie den Pflichten und Obliegenheiten einer Großbauersfrau nur auch gewachsen sein.«

Der Alte vom Sonnenberg machte eine sehr höfliche Bewegung mit der Hand: keine Frage, sie wären ihnen schon gewachsen; der Jochtl erhob seinen Blumenstrauß.

»Jedoch,« fuhr die Hammerfrau fort, »ist es wohl einzusehen, daß in einem Hause wie das unsere am Wasser [108] bei den Schmieden und Hammerwerken die Mädeln nicht recht für eine Bauernwirtschaft abgerichtet werden. Fürs eine haben sie zu wenig, fürs andere haben sie zu viel, wie es halt schon geht. Man läßt ihnen allerlei lernen und angewohnen, und bis sie erwachsen sind, sieht man, die Wesen taugen nur noch für die Stadt. Darum bedanken wir uns noch einmal für die Gunst und Ehr' und wünschen von Herzen, daß der Herr Sohn eine Ehefrau findet, die an Stammen und Erziehung rechtschaffen für ihn taugt.«

Dem Alten vom Sonnenberg geschah in diesem Augenblicke übel, er hatte seine Gestalt, die bisher gebückt wie ein Fragezeichen vor der Hammerfrau gestanden war, ausgerichtet zu einem starren Ausrufungsstrich. Er wußte nicht, wie er sich sofort für die Schmach rächen sollte, die in dieser Stunde seinem Sonnenberg widerfahren war. Da trat neben ihm der Jochtl vor und sagte ehrerbietigen Tones: »Die Frau wird uns nicht recht verstanden haben. Sie hat was von ihren Töchtern gesagt – das werden vielleicht die drei munteren Kinder dort sein. Ach na, das wäre nichts für den Sonnenberger, der hat jezeit her die Tüchtigste und Sittsamste genommen, und will ich's auch nicht anders machen. Nach viel Fürnehmheit und Reichtum braucht der Sonnenberger nicht zu fragen, er muß eine haben, die für Haus und Küche taugt, und so halte ich in Ernsten und Ehren an um das brave Dienstdirndl, um die Katharina.«

Der Alte, dem bereits der Schweiß von der Stirn geronnen war, nickte lebhaft beistimmend mit dem Haupte. Er hatte jetzt keinen anderen Gedanken, als abstatten, die Schmach zurückgeben! Das Kichern hinter [109] der Frau Hammermeisterin war nun völlig verstummt. Die Frau Hammermeisterin selbst war etwas gedämpft, aber stets freundlich entgegnete sie, bei so wichtigen Sachen solle man wohl immer ganz deutlich reden. Sie frage nur, ob man mit dem Küchenmädchen schon im reinen sei? In diesem Falle habe ja sie nichts dreinzureden: die Katharina sei armer Leute Kind, gegenwärtig hier nur im Dienst, und ihrer Ausführung wegen sei keine Klage. Sie, die Hammermeisterin, sei der guten Haut zu ihrem Glücke nicht im Wege.

Der Alte hatte anfangs gemeint, diese Katharina wäre von dem Burschen nur so eine Finte gewesen, um sich aus der Schmiere zu ziehen. Des wurde er bald eines anderen überzeugt. Da der Jochtl schon einmal auf Weibersuche aus war, so wollte er mit leerer Hand nicht heimwärts; sein Auge war einmal dafür offen, die Katharina hatte ihm auf den ersten Blick gefallen, und als er sie nachher näher besah, gefiel sie ihm noch besser, kurzum, sein Werben hielt er aufrecht, und die Katharina ist eine der prächtigsten Bäuerinnen in der Landa geworden.

Fußnoten

1 »Schaub führen« heißt in der Bauernschaft ein mißlungenes Werben, was andere Leute »einen Korb bekommen« nennen.

Wie der Oheim den Hammerherrn betrogen hat
[110] Wie der Oheim den Hammerherrn betrogen hat.

Die Sünden des Oheims soll nun der Neffe beichten? Als ob der nicht selber die Menge zu beichten hätte, wovon eine schwerer wiegt als von des Oheims drei. Wenn man bei dem Mann, den ich meine, von Sünden sprechen kann, so konnten es nur solche sein, die zu großer Nachgiebigkeit und Gemütlichkeit entsprangen.

Eine Sünde aber hatte er doch, die so recht gemein in den Staub schlug, obschon diese Sünde und ihr Verlauf mir den Mann noch rührender gemacht hat. In späteren Jahren, als mein Oheim alt und arm einmal unter einer Lärche saß und ich, der Student auf Ferien, neben ihm, sagte er plötzlich und eigentlich ganz unvermittelt: »Ja, Peter, so geht's auf der Welt. Mir hat's die Red' verschlagen. Vor Zeiten habe ich gerne Leute belehrt, daß sie brav und gewissenhaft sein sollten. Davon bin ich abgekommen. Wer selber was auf dem Buckel hat, der soll nit so laut predigen.«

»Ich denk', Oheim, Ihr werdet nicht gar viel auf dem Buckel haben.«

»Meinst? Weiß nit. Viel oder wenig, ist alles eins, 's tut halt drucken. – Kannst mir sagen, Peter, ob der Hammerherr noch lebt, der dazumal im Mürztal den Sensenhammer gehabt hat und dem ich vor soviel Jahren die Kohlen hab' verkauft?«

[111] »Der Zoilinger? Oh, der lebt freilich noch, der ist jetzt in Graz. Ich komm' immer einmal mit ihm zusammen.«

»Du kommst mit ihm zusammen? Und ist er gut mit dir? Hat er nie was gesagt? Nit? Na ja, er kann's halt nit wissen. Denk' dir, dem Herrn bin ich alleweil noch was schuldig. Er wird's nit wissen, aber ich weiß es. Wär' mir halt recht, wenn ich könnt' auf gleich kommen. Ist hart sterben mit so was. Bin nit losgesprochen davon. Gutmachen soll ich's, sagt mein Beichtvater...«

Dann hat mir der Oheim die Geschichte erzählt. Wenn ich sie wiedererzählen soll, so bedarf's vorerst einer Einleitung.

Wie alle Bauern in den Waldbergen hatte einst mein Oheim Holzkohlen zu verkaufen, die er aus den alten Fichtenstämmen zu brennen verstand und die er selber ins Mürztal führte zum Eisenhammer. Im Winter, wenn der Schlitten ging, füllte er die große Kohlenkrippe mit den bläulich schimmernden knisternden Kohlen, spannte zwei Ochsen vor und brachte jeden zweiten Tag eine Fuhre ins Tal. Die Maßeinheit für diese Kohlen war ein »Faßl«. Ein solches Faßl wurde mit fünfzig Kreuzern bezahlt, die Rait (Abrechnung) war stets zu Ende des Monats. Ich war einmal beim Oheim im Dienste gestanden. Unsere Kohlenkrippe, eine der mittleren, faßte ungefähr zehn Faßl. Wenn wir mit dieser ächzenden Krippe auf den Kohlenplatz des Sensenhammers einfuhren, um dort die Krippe umzustürzen und also unsere Kohlen in den gemeinsamen Barren zu werfen, stand schon allemal ein rotbärtiger Mann da, der den Kragen seines Schafpelzes stets so hoch um seinen Kopf zog, daß nur die kleinen [112] gestrengen Augen dazwischen hervorglühten. Dieser Mann war der »Frachter«, der Kohlenmesser. Er hatte die Aufgabe, mit ein paar Handlangern den Inhalt der Kohlenkrippen zu messen, wenn die Bauern damit herangefahren kamen. Die Kohlen wurden mit einem Korb umgeschüttet, der gerade ein Faßl maß. Diese Messungen wurden nicht bei jeder Fuhre und nicht jedesmal unternommen, sondern nur in willkürlichen, für den Kohlenbauer unvorhergesehenen Zeiträumen, und wurde dann der Gehalt einer Krippe im allgemeinen nach diesem Maße bestimmt. Unsere Krippe trug beim ersten Messen elf Faßl, beim zweiten Messen etwa nach vierzehn Tagen wieder genau elf Faßl. Und als der Frachter einen Monat später das drittemal maß, waren es wieder rund elf Faßl, so daß er sagte: »Ich sehe es schon, bei dem ist's in Ordnung.« Dann schrieb er es ein für allemal auf und ohne daß weiter gemessen wurde, erhielt der Oheim jede Krippe zu elf Faßln ausbezahlt.

Von diesen Dingen nun sprach der Oheim, als er Jahre später neben meiner unter der Lärche saß.

»Wir Bauern haben recht geschimpft, daß er so oft frachten tät,« fuhr er fort zu sagen, »und hat doch alleweil noch zu selten gefrachtet. Hat immer einmal einer das Volle nit gehabt in der Krippen, hat's einzurichten gewußt, daß inwendig was hohl gewesen ist und auswendig so schön vollgegupft; hat sich zwölf Faßl zahlen lassen, derweil er nit viel mehr als zehn dahergebracht hat. Beim Umstürzen merkt man's nit, deswegen sag' ich, daß zu selten gefrachtet worden ist. Meine Nachbarn haben's jahrelang getrieben, wunderselten, daß einer aufgekommen ist. Und wie also meine Krippen dreimal [113] nacheinander gefrachtet worden ist und allemal das volle Maß hat gehabt, ja noch um etliche Kohlenbrocken drüber, da hat mein Nachbar, der Klempelsepp gesagt: du hast es jetzt leicht, Waldwastl, du kannst auf lange Weil laden wie du willst, deine Krippen laßt er gewiß in Ruh'. – Nit so, sag' ich, meine Krippen ist auf elf Faßl gemessen, so will ich auch allemal elf Faßl bringen. – Weil du nit gescheit bist, sagt der Klempelsepp. Ich wollt' einem Herrn was schenken! Die werden mit unseren Kohlen eh reich genug, derweil wir uns das ganze Jahr schinden und rackern müssen, den Wald schlagen, den Meiler machen, die Kohlen herführen den weiten Weg, weißt denn nit, wie hart das ist? Und wird unterwegs viel zusammengebeutelt, man mag noch so gut aufladen. Wenn's recht herginge, müßt oben beim Meiler gefrachtet werden und nit erst da beim Eisenhammer, wo alles festgeraidelt ist, wie ein Mehlsack. Da kommen wir freilich zu kurz. Da muß man sich selber zu helfen wissen. – Auf diese Red' sag' ich noch einmal: Ich will meine elf Faßl bringen. – Ja, und aufladen tust zwölf, sagte er. Da denk' ich nach: Es ist wohl wahr, aufladen muß unsereiner zwölf, wenn beim Eisenhammer ihrer elf herauskommen sollen. Was kann der Bauer dafür, daß die Kohlen sich unterwegs so zusammenraideln! Wenn der Frachter sagt, elf mißt die Krippen, so braucht man auch nit mehr aufzuladen. Ist eigentlich ganz klar. Man soll sich nicht selber feind sein. – Gesagt hab' ich nichts, aber bei der nächsten Fuhr hab' ich halt richtig weniger aufgeladen. Und ist mir nachher beim Eisenhammer wohl völlig der Schiech angegangen (die Furcht gekommen). Ist der Krippengupf eingesattelt gewesen, [114] wie eine zuschanden gerittene Schindmähre. Aber der Frachter hat nix gesagt. Wenn's einmal geht, wird's zweimal auch gehen, hab' ich mir gedacht und hab' das nächste Mal wieder schlecht geladen. Wenn ich's ein paar Wochen lang so mach', hab' ich gedacht, schlag' ich mir eine ganze Krippen voll Kohlen heraus, macht sechs Gulden. Ist auch was. – Ja, mein Bübel, so redet sich der Mensch selber in den Teufel hinein. – Gott Lob und Dank, daß mein Schutzengel gescheiter ist gewesen als ich.«

Da mein Oheim nach diesen Worten schwieg, ich aber doch wissen wollte, wie die Geschichte sich verlaufen hatte, so war meine Frage, wieso denn der Schutzengel gescheiter gewesen sei?

»Sechs- oder siebenmal mag ich's so getrieben haben,« redet der Oheim weiter. »Da ist eines Tages – just vor Ostern, in der Antliswochen – der Lauwind gekommen. Da ist uns Kohlenbauern mit unseren Krippen schon unterwegs der Schiech angegangen. Wenn der warme Wind geht, da ist unser Kohlenfrachter nie gut aufgelegt, da hat er nit ausgeschlafen, hat Kopfweh, ist grantig. Wenn er an einem solchen Tag frachtet, da geht's nit gut aus. Da zieht er einen gleich fürs halbe Jahr nieder. Es ist unser eine ganze Reihe von Kohlenfuhren, ich bin mit meiner Krippen der letzte, ganz hinten. Eh' wir zum Eisenhammer kommen, halten die vorderen an, lockern die Kohlen auf und stecken Stauden durch, oder so was, daß es hohl wird und die Krippen ihren Gupf kriegen. Der Klempelsepp hat über die Radachsen schon daheim Heubündel gesteckt, daß es nit so raideln hat können, und ist seine Krippen passabel gupfig gewesen. In[115] Gottes Nam'! sagen wir und fahren in den Eisenhammer. Dort auf dem Kohlenplatz steht schon der Frachter. Just lustig schaut er nit aus. Seinen Pelz hat er weg, aber um den Kopf ein rotes Tuch gewunden, wie der Türk' beim Tabakkramer. Aufhalten! schreit er der ersten Fuhr zu, heut' wird gefrachtet! – N an, gute Nacht! zischeln die Bauern einander zu und ich sag' zu mir selber: Jetzt hast es! – Der Sepp geht höflich zum Frachter: Frachten, schon recht das, Herr Zindler, sind alle Tag' bereit dazu. Aber gerad' jetzt vor Ostern ist's zuwider. Wir sollen am Nachmittag daheim sein zum Holzführen für die Osterfeuer und haben frei nit Zeit. Ein paar Stündl macht's doch gleich Aufenthalt, das Frachten. Wenn wir bitten dürften, nach Ostern, ist uns nachher die ersten Täg recht. – Nix da! schreit der Beamte, heut' wird gefrachtet! und winkt gleich den Kohlenstürzern, daß sie mit ihren Körben kommen.«

»Und wie ist's ausgegangen?« habe ich nachher den Oheim gefragt.

»Kind, wie wird's ausgegangen sein! Die erste Krippen hat um ein halbes Faßl zu wenig gehabt, die zweite hat knapp ihr Maß gebracht, die dritte hat um mehr als ein Faßl zu wenig gehabt, die vierte, das war dem Klempelsepp seine, hat um zwei Faßl zu wenig gehabt, die fünfte ist gerecht gewesen. Und nachher endlich muß meine Krippen voran. Ich wisch' mir geschwind mit dem Ärmling den Schweiß vom Gesicht; wenn er sieht, daß ich schwitz', so wird sein Verdacht gleich noch größer. Die Stürzer fangen schon an aus meiner Krippen Kohlen in ihre Körbe zu werfen, da sagt der Frachter: »Na, das ist ja der Waldwastl. Der hat immer die vorgeschriebene [116] Maßerei, der ist gerecht, dem vertrau' ich. Laßt es gut sein. – Und ist die Krippen für elf Faßl gut geblieben. – Was ich mich dazumal hab' geschämt vor mir selber, Peter, das kann ich dir nit sagen. Hat eine so gute Meinung von mir und bin verludert wie die andern. – Was ich nachher hab' getan, das wirst dir denken können. Gerecht hab' ich aufgeladen von dem Tag an, wieder gerecht wie voreh und das Falschsein soll der Teuxel holen.«

»Nun also!« rief ich fröhlich aus.

»Wieso nun also? Die sechs oder sieben falschen Faßl hab' ich ja doch auf dem Buckel. Es geht sich hart damit in alten Tagen. – Bekannt bist, sagst, mit dem Hammerherrn?«

»Ich sehe ihn im Bierhaus.« Denn dazumal bin ich ins Bierhaus gegangen.

»Das ist mir rechtschaffen lieb.« Er rückte ein wenig näher an mich und flüsterte vertrauensvoll: »Ich hab' etwas Erspartes, Peter. Fünfzehn Silbergulden werden es wohl sein, oder gar noch um ein paar mehr. Mitnehmen kann der Mensch eh nix. Auf vier Gulden mag man's schon rechnen, daß ich den Hammerherrn beschummelt hab'. Sei so gut und tu dem Herrn das Geld einhändigen, wenn du ihn wieder einmal siehst. Brauchst just nit zu sagen von wem, sag' nur, er könnt's mit gutem Gewissen annehmen, es tät' sein gehören. Rechtschaffen froh werd' ich sein, wenn die zuwidere Sach' aus ist. Der Teuxel noch einmal! Wie leicht der Mensch doch ein Spitzbub werden kann auf der Welt!«

So sein Bekenntnis. Und als ich hernach wieder in die Stadt gegangen, hat er mir das Geld, wohl sein in ein weißes Linnen gebunden, mitgegeben. Es dauerte[117] aber so lange, bis ich dem Rechten begegnete, daß die Sache ganz verknüllt wurde in meinem Sack. Endlich sah ich den weißbärtigen Herrn Zollinger im Stadtpark. Er hatte seinen Sensenhammer längst verkauft und lebte als Rentier. Ich erzählte ihm die Geschichte und übergab ihm die vier Gulden.

Laut und fröhlich hat er ausgelacht, der Hammerherr. »Was man doch alles erlebt, wenn man alt wird. Ich sag' Ihnen nur das, wenn mir meine schlauen Kohlenbauern alles Geld täten bringen, um das sie mich übervorteilt zu haben glauben, das wäre ein gutes Geschäft. Oh, wie müssen die armen Teufel uns für dumm halten! Nein, wer es mit Holz-, Kohlen- und Viehbauern zu tun hat, der muß früh aufgestanden sein. Wenn wir auf Treu und Glauben die Kohlenkrippe zu zehn Faßl schätzten, haben wir recht gut gewußt, daß man uns drin nicht mehr als höchstens achteinhalb bringt. Das ist schon vorwegs abgerechnet worden. Nun, der Mann hat mich ein wenig betrügen wollen und ich nehme den Willen fürs Werk. Unrecht muß getilgt werden. Ich nehme die vier Gulden an, lege noch sechs dazu und bitte Sie, die zehn Gulden dem Waldwastl zu übermitteln. Ich laß ihm sagen, wenn er etwa irgendwo einen guten armen Mann weiß, dem soll er das Geld in meinem Namen schenken.«

Dieser Bescheid des Hammerherrn hat mich nicht wenig erbaut. Aha! mußte ich denken: Schon vorwegs abgerechnet? Dann war die Sache ja nicht so, als hätte der Waldwastl ein paar Wochen lang den Hammerherrn übervorteilt, sondern vielmehr so, daß er sich ein paar Wochen lang nicht übervorteilen ließ. – Schief gedacht, mein Guter. Der Wille war schlecht und das war die [118] Sünde. Man könnte die Sache schärfer spitzen und sagen: Wer dem Nächsten sogar einen Vorteil zuwendet in der Absicht, ihn zu betrügen, der begeht wirklich einen Betrug. Ja, ja, moralische Wildlinge eines braven Volkes. Fehlt zwar manchmal nicht an spitzbübischer Absicht, aber an Talent dazu. Ihre Natur leidet es einfach nicht, schlecht zu sein.

Derselben Ansicht war ja auch mein Oheim, als ich ihm das Geld übergab. Aber unbändig freute es ihn, daß der Hammerherr so freundlich vergeben hatte. Nur fühlte er sich jetzt mit einer neuen Sorge beladen. – Einen armen Mann! Woher nimmt er jetzt einen armen Mann, um ihm das Geld zu geben? Alle Bewohner des Waldlandes dachte er ab, kümmerlich erging es jedem, aber arm war keiner. Ein alter Wurzner fiel ihm endlich ein, dem der Förster mit dem Gewehrkolben einst ein Bein abgeschlagen, weil er ihn beim Pechen ertappt hatte. Der hinkte seither zu den Bauernhäusern umher, um die tägliche Suppe und das Roggenbrot dazu zusammenzubetteln. Er nahm auch Kreuzer, von reichen Bauern sogar Groschen an. Aber als der alte Waldwastl ihm nun die zehn Gulden gab, ließ er sie lange auf der flachen Hand liegen, schaute sie verdächtig an und murmelte: »Das soll mir gehören? Ja, für was denn? Arm bin ich ja nit, nur daß ich immer einmal ein wenig betteln tu'. Nau, wenn's mir schon vermeint ist vom guten Herrn, so kauf' ich mir halt ein Haus dafür und sag' fleißig: Vergelt's Gott!«

Wo Barthel den Most holt
[119] Wo Barthel den Most holt.

Daheim bei meinem Vater ging's eigentlich immer hoch her, denn wir wohnten auf einem viertausend Fuß hohen Berg – und den Witz hat der Knecht Barthel aufgebracht. Wenn aber ein fruchtbares Jahr mit gutem Kornbau, glücklicher Viehzucht oder einem erklecklichen Holzgeschäft gewesen war, so legten wir uns nach dem lastvollen Sommer einen ganz besonders fröhlichen Winter bei. Die einen taten tagsüber Korn dreschen, die anderen Vieh füttern, die Weibsleute Flachs und Ränke spinnen, und am Abend kamen wir zusammen in die Stube um den warmen Ofen und den großen Tisch und taten plaudern, singen, Geschichten erzählen, Most trinken und bisweilen auch ein wenig scherzen miteinand.

Unter Most, den wir tranken, ist gegorener Wein zu verstehen, der aber nicht aus den Fichten- und Lärchenzapfen gepreßt wurde, die auf unseren Bäumen hingen, sondern aus den köstlichen Borsdorfer, Weizer und Pöllauer Äpfeln, die draußen im weiten Lande wuchsen. Die Wirte drüben im Kirchdorf verkauften ihre Getränke nicht allein in Gläsern und Krügen, sondern auch in Fässern. Schickte dann in manchem Jahr mein Vater so etliche Tage vor Weihnachten den Knecht mit einem Paar Ochsen [120] und Schlitten aus, um Most zu kaufen. An solchen Tagen waren wir Kinder arg aufgeregt: »Heut' kommt der Most! Heut' kommt der Most!« Jedes richtete sich ein Geschirrlein her, um – wenn das Glück im Fasse heimkam – alsbald etwelches ins Glas, ins Töpfchen, ins Schüsselchen heraussprudeln zu lassen und zu verkosten. In meinem Leben werde ich nichts Schöneres mehr sehen, als jenes grünglasierte Trinkkrügel war, das ich unter die Pipe halten durfte; klare Tröpflein schwitzte es, und der eiskalte Most prickelte so unvergleichlich in die Nase, wie gar nichts sonst so sein prickelt auf dieser Welt.

Es war bisweilen gewesen, daß die Geister gestockt hatten des Abends in der Stube. Der Jungknecht wollte nicht Zither spielen, es sei eine Saite gesprungen. Der Altknecht wollte nicht Geschichten erzählen, er sei schläfrig; der Weidknecht Barthel gab keine Rätselfragen zum Besten; er sagte, er müsse Hosen flicken, und dabei fiele einem nichts Rechtes ein. Die Stallmagd wollte nicht singen, sie war brummig, und wenn ihr einer was Liebes ins Ohr »drischeln« wollte, so gab sie ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, der wolter spitzig war. Wenn aber an solch langen Winterabenden in der Stube der Mostkrug kreiste, da ward es ehestens anders. Der Jungknecht griff in sein Saitenspiel; der Altknecht stopfte sein Rauchzeug und hub eine Mär an; der Barthel fragte, wo der Adam den ersten Löffel genommen, und die Stallmagd ließ das »schöne Schweizermadel, ihre Haar' sein voller Dradel« aus der Kehle wirbeln. Weil ich in solch ergiebigen Stunden nicht wußte, wohin mein Ohr zu wenden, so hub auch ich hell an zu jauchzen und zu jodeln. – All das zusammen waren eigentlich nicht wir, es war der Most, und [121] man möchte es nicht glauben, wie schön so ein frischer Trunk Zither spielen und singen kann.

War es denn auch einmal vor Weihnachten, daß mein Vater zum Weidknecht Barthel sagte: »Bua Barthel, spann' die zwei salben Ochsen an den Schlitten und fahr' um Most. Zum Kirchenwirt fahrst. Da hast sieben Gulden auf einen Halben (halben Startin): was über bleibt, gehört dein. Aber daß er verjesen (ausgegoren) ist! Und bring' ihn gut heim.«

Der Knecht spannt ein, tut Ketten und Stricke auf den Schlitten, daß er das Faß tapfer festbinden kann, setzt sich darauf und sagt: »Vorwärts in Gottesnam', daß nix bricht und fallt nix z'samm!« Und fährt munter davon.

Wie er mit seinem Fuhrwerk hinter den Schachen kommt, wo die zwei Wege sich teilen – der eine geht über die Höhe hinaus ins Kirchdorf, der andere führt steil in das Engtal hinab zum Grabenwirt – da sagt der Barthel zu den Ochsen: »Was werden wir da gar zum Kirchenwirt hinaustrotteln, Most hat auch der Grabenwirt, und einen viel besseren.« Wirst die Sperrkette unter die Schlittenkufe und rutscht in das Tal hinab. Beim Grabenwirt fährt er in den Hof, spannt aus, tut die Ochsen in den Stall und geht in die Stube.

»Was schaffst, Barthel?« fragt die Kellnerin, die junge Ziehtochter des kinderlosen Grabenwirtes.

»Most,« sagt der Knecht.

»Eine Halbe?«

»Mehr!«

»Hast denn du heut' einen so großen Durst?« sagt die Kellnerin und stellt ihm eine Maß hin.

[122] »Finerl,« sagt der Barthel – da hat er sie schon bei der Hand erwischt – »eine Maß ist viel zu wenig. Du kannst dir gar nicht denken, wieviel ich heute haben will...«

Jetzt treffen sich ihre Blicke, und nun weiß man schon, was es geschlagen hat. Übel ist sie nicht, die Finerl, wem ihr weizenstrohgelbes Haar und ihre Sommersprossen gefallen, die auch im Winter dableiben, weil es im Herzlein der lustigen Kellnerin immer Sommer ist. Daß ich alles sage: Wenige Wochen vor diesem Tage schien es, als wollte bei der Finerl plötzlich Winter kommen. Ein Zahn war ihr ausgefallen über Nacht; darüber grämte sie sich schier zu Tod', und die Gäste verwunderten sich baß, warum die sonst so schäkerlustige Kellnerin kein Wort mehr sprach. Aber sie getraute sich den Mund nicht mehr zu öffnen, obwohl man die Lücke gar nicht gesehen hätte. Da kam der Barthel vom Berg herab, der machte sie lachen, und als sie selbander den ausgefallenen Zahn bedauerten, fanden sie gleichzeitig, daß wieder frisch einer nachwuchs.

Heute ist der junge Sprößling schon so weit, daß die Finerl nach Herzenslust lachen darf, und das tut sie denn auch, und der Barthel hilft ihr. Ein gelachtes Duett ist noch weit schöner als ein gesungenes.

Am Ofentisch sitzt aber einer, dem dieses Duett gar nicht gefällt. Der Fuhrknecht Zengg ist es, eine aufgedunsene Rothaut in blauer Bluse, säuft wie ein Faß und ist verliebt wie ein Kaninchen. Er trägt Silbergeld bei sich, eine schwere silberne Uhrkette und hat den Aberglauben, daß alle Dirndeln in ihn verliebt sein müßten. Etliche tun auch so und hören seine versilberten Liebesschwüre nicht ungern. Sein stärkstes Verlangen aber geht [123] nach Sommersprößlein und Weizenstroh; und jetzt macht sich dort der verdammte Bauernlümmel an dieses Gewächs.

»Eine Halbe Guldenwein!« knurrt der Fuhrknecht Zengg und stößt sein Glas auf den Tisch. Er ist keiner, der Apfelmost trinkt, er mag nur Guldenwein!

»Katherl!« ruft die Kellnerin in die Küche hinaus, »sei so gut, bring' dem Zengg eine Halbe Guldenwein!«

Kommt der alte keifende Hausdrache, die Schwester der Grabenwirtin, und bringt das Verlangte. Und die Finerl hockt beim »Bauernlümmel« wie angenagelt.

Endlich tritt der Wirt in die Stube, da wird das Mostgeschäft abgetan.

»Sechseinhalb Gulden, weil du's bist,« sagt der Grabenwirt, »aber das Faß kommt zurück.«

»Es gilt.«

»Alsdann laß ich auspacken. Trink', was du magst, es geht ein.

Jetzt kommt auch zum Barthel Guldenwein, die Finerl bringt ihn; auch Kletzenbrot zum Dazubeißen, oder eine Zigarre, was er halt lieber hat, sagt sie und setzt sich wieder an seine Seite. – Gott, wie schön ist die Welt!

Nach einer Weile fällt dem Barthel ein, er müsse nachsehen gehen, was die Ochsen machen im Stall. Sie sollen Heu kriegen, und er könne seinen Wein auch draußen austrinken, er sei nicht dafür: Alles auf einmal in die Gurgel. Er wolle länger was haben.

Geht also hinaus, und die Finerl trägt ihm den Wein nach.

Denkt sich der Fuhrknecht Zengg: Schau, schau, die sind gescheit! – Er sieht durch das Fenster Schneeschaufler, [124] die den Schnee aus dem Weg in den Bach werfen – da trägt ihn das Wasser davon.

Weil es in der Wirtsstube jetzt öde geworden ist, so steht auch der Zengg auf und geht hinaus. Er schlenkert über den Hof, hört das Wiehern der eingestellten Rösser, hört das Rieseln des Baches, hört das Grunzen der Schweinchen aus dem Pfränger. An der Wand hängt ein Pferdegeschirr mit Riemzeug; davor steht er still und schaut es an. Dann schlüsselt er weiter. Auf dem Schlitten ruht das große Mostfaß; er steht davor still und betrachtet, wie es mit Stricken kreuz und quer festgebunden ist. – Immer gefessel ist so ein Trunk, nur wenn er in die Leute kommt, wird er ungebunden. – Der Zengg denkt aber an etwas anderes. Jetzt lugt er einmal in die Runde; 's ist niemand in der Nähe. Der Holzstoß verdeckt den Blick vom Hause her. Der Fuhrknecht zieht ein funkelndes Messerlein aus der Tasche. »Barthel,« murmelt er für sich, »heut' geht's dir allzugut, möcht' mich wundern, wenn du ohne Malheur heimkämst mit deinem Most! Möcht' mich arg wundern!« Und schnitzt so ein wenig an den Stricken herum.

Dann schleift er langsam seitab.

Nicht lange hernach wird im Stall irgendwo gesagt: »Sapperment, jetzt ist's Zeit, daß ich einspann'!«

Bald ist's auch geschehen.

»Ja, behüt' Gott, Barthel, komm' glücklich heim!« ruft die Finerl.

»Und das Faß kommt zurück,« schreit der Wirt dem Schlittwerk nach.

Der Barthel geht voran und führt die Ochsen an den Hörnern. Er ist heute ein glückseliger Mensch. Daß der [125] Weg stark bergan steigt, macht nichts, ziehen müssen doch die Ochsen. Wenn er Kalendermacher wäre, der heutige Tag müßte rot werden. Und daheim wird's auch wieder hoch hergehen, wenn er mit dem Most kommt. Daß die Finerl lieb ist, das hat er wohl gewußt, aber daß sie so lieb, so lieb sein kunnt, das hätte er sich nimmer gedacht. Verflucht stark bergan geht's; wenn der gute Schlittweg nicht wär', möchte so ein Paar Ochsen diesen wanstigen Mostplutzer nicht vom Fleck kriegen. Daß sich die Weibsleute schämen, ist ganz natürlich. Aber der Kirchenwirt hat keinen solchen Most. Wer sich die anheiraten kunnt, das wär' doch ein Gusto! Wenn er schmeckt daheim, nachher sag' ich's, wo ich ihn geholt hab'. Zu der geh' ich öfter, das weiß ich. Hi, Falber! Ja, das glaub' ich, daß wir schwitzen. Wenn man's bedenkt, wieviel Räusch' wir da hinaufschleppen. Ich hab' heut' wohl auch ein bissel einen gehabt. Mein Lebtag hätt' ich's nicht geglaubt, daß der Mensch so keck werden kunnt. Sie hat mich aber auch ordentlich Red' anlassen. Jetzt noch ein Ruckerl, hup, wir werden bald oben sein! Anheiraten, das wär' schon ein Gusto! – – So hätten sich die lieblichen Gedanken des Barthel noch weiter geflochten, da sieht er, wie hinten am Faß plötzlich ein Strick losschlägt; ein zweiter beginnt sich mit Hast auseinander zu ringeln. Jesses, die Mostbutten rutscht! kann der Barthel noch denken und will zurückspringen und festhalten, da gleitet das Faß über den Schlitten hinab und schlägt über. Einen Augenblick ist's, als wolle es liegen bleiben im Schnee, noch träge wälzt es sich um, da besinnt es sich, unten sei es ihm lieber wie oben, und beginnt über das Schneefeld hinab seinen Lauf. Sachte, aber schwer, zuerst schiebt es sich über, munterer [126] wird's; tanzend wird's, hüpfend wird's, große Gruben schlägt's in den Schnee und springt doch wieder heraus, immer kecker und wilder saust es drein, daß der Schneestaub stöbert nach allen Seiten, und wie es zum hohen Rain kommt, unter welchem sich das Grabenwirtshaus duckt, fliegt das alte, dicke Faß hoch in die Lüfte und in einem weiten Bogen der Tiefe zu...

Starr wie ein Schneemann hatte der Barthel dem fliehenden Faß nachgeschaut. Als es seinen Augen nun entschwunden war, tat er einen lauten Pfiff und sagte feierlich: »Jetzt ist der Most hin.« Die Ochsen merkten ihren Vorteil und wollten mit dem federleichten Schlitten bergan. »Das glaub' ich!« rief der Knecht und hieb ihnen den Peitschenstecken auf die Stirne.

Erst nach einigem Nachdenken war er so weit, als es die Ochsen ohne Nachdenken gewesen. »Was nützt's,« sagte er, »wenn wir da stehenbleiben, daß Faß kugelt nicht mehr herauf, und von meinem Jahrlohn ist ein Trumm hin. Das beste, keck heimfahren und die Wahrheit sagen.«

Mein Vater war kein schlimmer Mann. Als er hörte, was geschehen war, sagte er die Worte, die den Sprüchen der Weisheit einverleibt zu werden verdienen: »Macht nichts. Haben wir keinen Most, so trinken wir Wasser.«

»Ich weiß nicht, was das ist,« beteuerte an demselben Abende eine Magd unten beim Grabenwirt. »Heut' sind die Schweine toll!«

Und als der Wirt mit der Laterne ging, um nachzusehen, und die Tiere vor seinen Augen grunzend tanzten, sich munter auf der Streu wälzten, eines auf das andere sprang, mit verglasten Äuglein dann schelmisch dreinlugten, [127] ihre Rüssel gen Himmel reckten und mit schiefgehaltenem Kopf lauerten, um hernach wieder toll dreinzufahren, und als der Wirt in der Luft hin und her roch und Mostgeruch witterte, rief er aus: »Der Teufel hol' mich, die Säue sind besoffen!«

Zu einer ähnlichen Erkenntnis kam an demselben Abende auch ein anderer. Der Fuhrknecht Zengg, als er gemerkt hatte, beim Grabenwirt setze es heute keine Unterhaltlichkeit, nicht einmal ein Kartenspiel mit dem Wirt, noch weniger ein Fingerhäkeln mit Burschen und Dirnen (er war ein leidenschaftlicher Fingerhäkler), führte er seine Pferde aus dem Stall zum Brunnen, und als sie nach ihrer Haferjause tüchtig gesoffen hatten, spannte er sie an seinen Roheisenwagen. Als sein Fuhrwerk auf dem ruhigen Geleise der Talstraße war, legte er sich der Länge nach auf die Roheisenstücke des Wagens, den Mantel darüber, den Hut aufs Gesicht gestülpt – so! zwar ein hartes Bett, aber ein andermal ist's wieder besser. – »Hia, Schimmel!«

Der Schimmel und der Fuchs ließen sich's aber heute nicht zweimal sagen, sie trabten flink, wieherten und warfen ihre Köpfe hin und her in der Absicht, einander zu beißen.

»Was haben sie denn heut', die Vieher!« schreit der Zengg und pfeift ihnen mit der Peitsche ein paar Merks über die Rücken. Schwups, richtet sich der Schimmel empor, stangengerade wie ein Korporal und steht trappelnd auf seinen Hinterfüßen, der Kamerad macht's nach – ein Peitschenhieb – die Pferde rasen davon. Kaum vermag der Zengg noch abzuspringen, und wie er später draußen auf dem Wiesenplan sein Fuhrwerk wiedersieht, ist der [128] Wagen zertrümmert, und die Pferde stehen losgerissen am Bach, heben ihre Köpfe hoch und wiehern.

Darum, mein lieber Leser, schneide nie aus Bosheit die Stricke entzwei, mit welchen ein Mostfaß an den Schlitten gebunden ist, das Faß könnte den Berg hinabrollen, in der Wasserrinne zerplatzen und am Troge nicht allein deine sonst wohlgesitteten Schweine, sondern auch deine Pferde betrunken machen und so das Verderben deines Hauses werden.

Nun weiß ich wohl, du fragst nicht nach der Moral, sondern nach dem Verlauf des trauten Verhältnisses zwischen dem Barthel und der Finerl. Der Verlauf war gar kein übler. Als es in der Gegend des davongelaufenen Fasses und der davongelaufenen Rösser wegen laut geworden war, wo der Barthel den Most holt, brauchten die beiden auch weiter kein Geheimnis draus zu machen. Ein Jahr später übergab der Grabenwirt seiner Ziehtochter das Geschäft. Hüpfte der Barthel nicht viel anders wie früher das Faß den Berg herab und wurde Grabenwirt. Schier sein erstes war, daß er meinem Vater als Ersatz ein großes Faß Apfelmost auf den Berg schickte, aber mit Fleiß festgebunden im Wagen. Mein Vater ließ ihm sagen: »Junger Grabenwirt, das hätte ich nicht verlangt. Du wirst deinen Most schon selber brauchen.« – »Most genug, Nachbar!« ließ der Barthel zurücksagen. »Trinkt ihn auf unsere Gesundheit. Weil ich schon so tief herabgekommen bin, so laßt mich wenigstens einmal hoch leben!«

Hoch und lang! Wir haben es wacker getan. Ich habe zwar beim Anstoßen mein Tonhäferl in Scherben geschlagen, daß der ganze Most dem kleinen Halterdirndel [129] über das Haupt geflossen ist. Das hat weiter nichts gemacht, als den Witz von der Kindstaufe, und der Barthel lebt heute noch. – Wenn du einmal des Weges kommst, so rate ich dir, beim Grabenwirt einzukehren. Bei der Wirtin ist immer noch Sommer, und der Barthel soll dir selber erzählen – er kann's besser als ich –, wo er den Most geholt hat.

Der Student als Amorl
[130] Der Student als Amorl.

»Wenn der Mensch,« sagte der Hubelbauer, »die ganze Woche im Heu arbeitet, mäht, schöbert und einstadelt, so braucht er am Sonntag geistige Erholung.« Und ging also am Sonntag nachmittags allemal auf den Stadel und legte sich ins Heu und schlief.

So machen es auch andere, und es war eine Zeit, da ich selbst mir diese »geistige Erholung« gönnen konnte. Wenn der Student in den Ferien dem Bauern beim Heumachen hilft, so hat er nachher das Recht, auf dem Heu auch zu liegen. Das taugt am besten, wenn man es selber gemäht hat.

Das knistert so sein, und jeder Halm legt und schlichtet sich, wie es die Glieder haben wollen, und da ist's so kühl lustig und durch die Dachbrettspalten blitzt dort und da der Strahl des Sommerhimmels durch. Muntere Heupferdchen hüpfen dir über die Knie und meinen: Wenn der Mann so häufig auf dem Pferde sitzt, warum soll nicht auch einmal das Pferd auf dem Manne sitzen!

Aber einmal ist mir solche Rast auf dem Heu unterbrochen worden. Ich liege im Heu und denke: Jetzt schlafst, dabei gib acht, daß du am Abend rechtzeitig aufwachst zum Schlafengehen. Da höre ich die Leiter knacksen und aus dem Loch, das von der Futterkammer heraufgähnt, ragte zur Hälfte ein Kerl hervor, wendete mehrmals [131] den bärtigen Kopf hin und her und schnarrte endlich:

»Ist Ermunter?«

»Was will Er denn?« fuhr ich auf. Er stieg vollends auf den Heuboden, kroch an mich heran, und als sich sein Auge an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah er mich liegen und ließ sich schwerfällig neben mir nieder, gleichzeitig richtete ich mich auf, denn es war kein Mensch vom Hause.

»Mensch Gottes, dich habe ich lange gesucht!« sagte er und setzte leise bei: »Du mußt mir was schreiben!«

Ein Holzarbeiter aus dem Massenwalde war's, der da neben mir kauerte; ich hatte ihn öfters an Sonntagen gesehen, da er in der Kathreiner Kirche an einem Seitenaltare stand, sich mit den Ellbogen auf das steinerne Taufbecken stützte und den Hut vor sein Gesicht hielt, als betete er sein Anliegen in denselben hinein. Zwar konnte man sich nicht denken, was so ein kerngesunder Holzknecht viel Anliegen haben mochte, an den Werktagen seine Schmalznocken, seinen Tabak, an Feiertagen sein Wirtshaus, kein Weib, kein Kind, kein Häusel, das niederbrennen, kein Rind, das über die Wand stürzen kann. Es müßte ihm denn um den Himmel sein, auf welche Meinung er etwa dem lieben Gott sein Gebet hutvollweise darbrachte.

»Kennen wirst mich eh,« sagte er nun, »ich bin der Krasel und die Sachen habe ich alle bei mir.«

Er begann auszukramen: einen zusammengerollten, stark verknitterten Papierbogen, ein Glasfläschchen mit Tinte, eine Gansfeder. »Den Tisch,« meinte er, »richte ich dir da auf dem Heu her.«

»Auf dem Heu ist kein Schreiben,« war mein Einwand; »da gehen wir lieber in die Stuben hinein.«

»Das nit, Peter, das nit. In der Stuben sind Leut'.

[132] Lieber auf der Ochsenkrippen, die da unten in der Futterkammer steht; ich lege dir ein Brett drüber und der prächtigste Tisch ist fertig. Ich bitt' dich schön, Bürschel, mach' mir keine Umständ', die Leut' brauchen nichts zu wissen.«

Gut, dachte ich mir, ein ordentlicher Schreiber muß es auch auf einer Ochsenkrippe können. Die nötigen Vorrichtungen waren bald getroffen. Ich saß auf der Krippenleiter, steckte die Füße auf den Trog und über den Randleisten das Brett mit dem Schreibzeug, so wartete ich nun darauf, was der Krasel schreiben lassen würde.

Dieser schob sich sachte an mich heran und sagte: »Es wird schier ein Liebesbrief werden. Aber nicht für mich, mußt wissen, für einen anderen.«

»Laß das nur sein, Krasel,« sagte ich, »es muß ja der Name darunter, da hilft keine Ausflucht.«

»Du bist aber schon gar ein scharfes Bürschel!« sagte hierauf der Holzknecht und kräuselte mit dem Finger seinen Backenbart. »Also mich selber, meinst, ginge es an?«

»So was besorgt jeder für sich selber.«

»Magst recht haben. Schlecht genug, daß die Mannerleut' so sind, daß sie Weibsbilder brauchen! Hätt' ich das als kleiner Bub wissen können, ich wollt' dem alten Fischbacher Lehrer – dem dicken Zikal, wenn du ihn noch gekannt hast – nicht aus der Schul' gelaufen sein. Du glaubst es gar nicht, was so eine Liebschaft für Umstände macht! Und sie ist nicht einmal groß. – Jetzt mach', mach', Bub, daß du zum Zeug kommst.«

»Ich bin schon lange bereit. Ruck' nur endlich einmal heraus, Krasel, was soll ich ihr denn schreiben, der Liebsten?«

»O, Narr!« rief er, »das mußt du selber wissen.«

[133] Deß war ich sehr überrascht, aber im Grund hatte er recht. Es kennt's einer wie der andere, es ist ein Liebesbrief wie der andere. Ich fragte ganz geschäftsmäßig: »Willst ihr zu wissen tun, daß du gesund bist? Willst ihr die Lieb' aussagen, oder willst ihr ins Gewissen reden, daß sie dir treu bleiben soll? Oder hat's was anders?«

»Gott Lob und Dank, nein,« antwortete der Krasel, »haben tut's nichts; will ihr nur wissen lassen, daß ich's wissen möcht', ob sie's weiß, daß ich sie alleweil noch gern hab'.«

Das war nun etwas verzwickt, man legt sich derlei mit Mühe zurecht, im Grunde aber ist's ganz einfach: Er hat sie gern und möchte wissen, ob auch sie ihn noch gern hat.

»Mirzel heißt sie und sein tut sie in der Breitenau drüben,« gab er an, »und möcht' wieder einmal mit ihr zusammenkommen.«

Das war's.

Wenn man die frischgeschnittene fettige Gansfeder das erstemal etwas zu tief in die Tinte taucht, so gibt's fast jedesmal auf dem Papier ein Malheur. Wer mit dem Fließpapier, welches jeder Mensch im Munde hat, das Ungeheuer rasch aufleckt, der tut das beste, mas er tun kann. Ich begann hernach – während der Krasel daneben auf einem Strohschaub saß – meinen Liebesbrief:

»Innigst geliepte, bis in den Dot geliepte Maria!

Weill Wir jetz so Weit auseinander sein, schicke Ich Dir im Prieff so fieltausend grüsse, als Stern seind Am Himel, als sandkorn am Meer, als Bludstropfen [134] sein in Allen meinen adern. Alle Blümelein, die blihen in der Breitenau grüßen Dich son mir; alle Vögelein, die durch die Liste flügen, sohlen es Dir Sagen, wie ich in Lieb und Dreie Dein gedenke, Tag und nacht und zu jeder stund, und ich beim Arbeiden denge: Das due ich für sie, und beim Essen: Wer sie bei Mir; und Beim beten: Himlischer Vader, beschitz mein Dirndel, jag Alle Deifel von ihr das sie Mir drei bleib – denn so fiel gern habe Ich das Trutscherl, das ih ir das Hertz möcht mitten auseinand Küssen.«

So ging es fort; es schreibt sich wolter warm in der Ochsenkrippe. Und man sieht, ich machte nicht die Studenten-, sondern die Holzknechtschreibfehler, der Echtheit wegen. Als ich ihm hernach das Schriftstück vorgelesen hatte, schaute er mich eine Weile starr an und sagte: »Du bist schon ein vertrackter Knauß! Hast denn selber schon eine, daß dir das alles so einfallt?«

Selber habe ich zur Zeit keine gehabt, und als ich später eine gehabt, fiel mir solches nie ein.

»Wenn du jetzt noch aufschreibst,« sprach der Krasel, »daß ich am Kirchweihsonntag in die Breitenau komme und hinter der Erhardikapellen auf sie warten werde – wirst es schon setzen, daß es sauber steht – und noch ein brennendes Herz dazumalst, nachher kannst wieder aufs Heu gehen.«

Ich vollzog den Auftrag nach bestem Können. Dann schlug ich den Brief so zusammen, daß er sein eigener Umschlag wurde, klebte ihn mit etwas Harz zu, das in etlichen Tropfen von der Lärchenholzwand hervorgeschwitzt war, versah ihn mit der Aufschrift: »An die ehrsame [135] Jungfrau Maria Fellnerin, Dünstmagd beim Bruckenhofer in der Pfarre Breitenau. Durch Güde,« und empfahl somit das Schreiben in den Schutz Gottes.

Der Krasel griff in seinen Beutel, steckte mir rasch was in mein Rocksäcklein. »Das gehört dein,« sagte er, »hast dir's heilig verdient! Das Schreibzeug laß ich auch da, kannst es besser brauchen wie ich!« Und eilte mit dem Briefe davon.

Ich schaute nach, was ich mir heilig verdient hatte, und erschrak. Zwei Silbergröschlein! Zwei! – So heiß war noch keine Liebschaft gewesen. Ähnliche Liebesbriefe, selbst wenn ich durch's brennende Herz noch einen Pfeil gezeichnet hatte – mehr als einen Kupfergroschen trug keiner, und sperrte ich mich stets eine Weile, bis ich den einen annahm, weil ich es für Christenpflicht hielt, den Leuten in ihrer Not beizustehen. Seitdem aber der alte Bachbeigel, der auch noch was Liebes haben wollte, den Groschen, den ich bescheiden zurückschob, wieder in seine Tasche getan hatte, schob ich keinen mehr zurück, sondern sagte nur, es wäre zuviel – gab aber nichts heraus.

Früher, wenn der Vater ein Schaf oder ein Kalb verkauft hatte, fiel allemal auch für mich, den Halter, was ab – aber mehr als ein Kupfergroschen niemals. Einmal hatte ein Fremder bei uns zugesprochen und mich als Führer auf den Teufelsstein mitgenommen, der gab mir dafür einen Silbergroschen und das Ver sprechen auf die ewige Seligkeit, was ich besonders schätzte. Aber so sehr aus Rand und Band hatte mich nichts gebracht, als diese Belohnung vom Holzknecht Krasel.

Weil das Schreibzeug noch da war, so setzte ich mich ein zweitesmal dazu und schrieb einen Brief an den [136] Krasel im Massenwald, in welchem ich ihn meinen Gönner und Wohltäter nannte und allen Segen des Himmels auf ihn herabbeschwor. – Man sieht, an Studentenstolz hatte ich zur Zeit noch nicht viel mit heimgebracht.

In der darauffolgenden Woche machten wir auf der Niederwiese neues Heu, aber am nächsten Sonntage war es nicht so gut darauf liegen, als am vorhergegangenen, beschriebenen.

Ich war in der Kirche gewesen. Am Vormittag hatte mir auf dem Kirchweg der Holzer Begg zugeflüstert, ich solle mich vor dem Krasel aus dem Massenwald in acht nehmen, der sei schrecklich gegen mich aufgebracht. Er habe gesagt, sobald er mich irgendwo treffe, wolle er mir die Haare mit seinen fünf Fingern scheren.

Ich fragte um des lieben Himmels willen, warum?

Das würde ich schon selber am besten wissen, meinte der Begg.

»Wie ein neugebornes Kind, so wenig weiß ich!«

»Geh', geh', Student, du bist ein Feiner!«

»Nicht die Haar' allein, den ganzen Kopf soll er mir wegreißen, wenn ich ihm wissentlich was Übels getan hab'!«

»Wär' schad' um deinen Kopf, der so schön Leut' hänseln kann.«

»Leut' hänseln? Wie meinst das?«

»Der Krasel ist ein armer Holzknecht, mußt wissen,« sagte der Begg, »von dem hättest mit zwei Silbergroschen schon gerade fürlieb nehmen können, gleichwohl du viel höllisches Feuer in den Brief geschrieben hast.«

»Und hab' ich nicht fürlieb genommen? Habe ich mich nicht höflich bedankt extra in einem Brief?«

»Ich möchte mich auch bedanken für ein solches Bedanken!« [137] sagte der Begg. »Wenn er dir zwei Dukaten schenkt, meinetwegen, daß du einen solchen Brief schreibst; für zwei Groschen ein Wohltäter, das sieht ein Blinder, daß es gefrotzelt ist!«

Ter Begg ging davon und ließ mich bei meiner Qual. Ich lag nachmittags im Heu und sann nach über das Welträtsel, wieso mein Dankschreiben als Spott und Hohn aufgefaßt werden konnte!

Aber ich konnte nichts tun. Und der Krasel tat auch nichts.

Ein Jahr später war's, daß eines Sonntags die Leute beim Hausteinerwirt Dichtungen von mir, Räubergeschichten, Narrenpredigten, allerlei Schwänke, mit Bildern geziert, beguckten und belachten. Der Holzknecht Krasel war auch dabei. Auf den trat ich zu und sagte: »Holzknecht Krasel, wir zwei haben noch eine Abrechnung miteinander.«

»Ja, wahrlich!« knurrte er und stand von der Bank auf.

»Aber zuerst laß mich reden,« sprach ich rechtschaffen fest. »Du hast das Geschrift dort angeschaut und mitgelacht. Ist recht, freut mich. Du meinst etwan, daß man so was anschaut und darüber lacht, das sei alles und desweg' sei's gemacht. Denkst das, so irrst dich. Ich had's gemacht, weil's mich gefreut hat; hab' ein ganzes Jahr meine Lust gehabt mit diesen Sachen und ein Glück, vielleicht ein größeres, als du mit deiner Maria. Ich bin ein Bettelstudent und die Lust und Freud' hätt' ich nicht haben können, wenn du mir dazumal nicht das Geld gegeben, daß ich damit das viele Papier und alles Dazugehörige hab' kaufen können. Ich bedank' mich nimmer [138] dafür, ich hab's schon getan, ich sage das nur, daß du's glauben sollst, es wäre mir dazumal mit meinem Brief wenigstens so ernst gewesen, wie dir mit dem deinen. – Und jetzt, hast was abzurechnen mit mir, so sag's.«

Da sagte er: »Du bist halt ein anderer Leut', wie andere Leut'. Wenn du wieder einmal zwei Groschen brauchst, daß du dir ein gutes Jahr antun kannst, so denk' dran, daß ein Gott lebt und ein Holzknecht Krasel. Aber Liebesbrief – das weiß ich – Liebesbrief laß ich von dir keinen mehr schreiben!«

»Sollt' er nicht gewirkt haben, derselbe?«

Der Krasel zog mich in einen Winkel und flüsterte: »Nur viel zu stark hat er gewirkt, mein Mensch!« –

Das wollte ich erzählen. Aber nicht etwa, als möchte ich mein Liebesbriefschreiben anpreisen – das ist gut vorbei! – sondern um ein Beispiel zu sagen, wie arg die beste Meinung eines einfältigen Menschen mißdeutet werden kann. Leute, die es – wie der Holzhauer Krasel – nicht gewohnt sind, von anderen Herzlichkeiten zu erfahren, kann man mit kindlicher Gutmütigkeit manchmal bitter verletzen – sie glauben, es gibt auf der Welt nur Grobheit und Spott.

Das ist nun abgetan. Damals machte mir nur noch die angedeutete Wirkung des Liebesbriefes einige Sorge. Habe aber nichts Näheres darüber erfahren. Der Brief ist mir nach Jahren ganz zufällig wieder in die Hand gekommen – gar zerknittert, als hätte ihn einmal jemand in die zornige Faust gepreßt, und Wassertropfen müssen hingeronnen sein über die Zeilen.

Vom Hauswächter Waldl
[139] Vom Hauswächter Waldl.

Die Menschheit ist entzückt über die Treue des Hundes. Sie stellt diese Treue sich selbst zum Vorbilde hin und bestraft sie am Hunde mit lebenslänglichen Ketten.

Diese Grabrede wird, wenn sie hinter dem Schachen Kettenhunde verscharren, nicht gehalten. Schade drum. Sonst täte die Hausmutter zwei Tränen der Rührung vergießen, ehe sie sich nach einem neuen Kettenhund umsieht.

Vielleicht müßte ich für manchen Leser weit ausholen, wenn er verstehen soll, was das ist – ein Kettenhund. Denn ich weiß nicht, wie weit über die Alpen hinaus sich die Sitte erstreckt, den Hund, der Hüter des Hauses sein soll, an die Kette zu legen. Ließe man ihn frei um den Hof laufen, so risse er dem nahenden Fremden die Kleider oder gar die Haut vom Leibe, oder er spränge ihn schmeichelnd an, beleckte ihn wie einen willkommenen Freund, gleichwohl er leicht ein Feind des Hauses sein könnte. Je nach dem Charakter des Tieres. Da macht man's denn gerne so, daß in die Nähe des Haustores ein Kobel gestellt wird, und daneben der Hund. Am ledernen Halsband hängt eine Kette, deren anderes Ende in einer [140] Eisenklammer an der Wand befestigt ist. Die Kette ist so lang, daß das Tier einen Spielraum von etwa zwanzig Geviertklaftern hat und beinahe das Haustor erreichen kann. Ganz darf es an den Eintretenden nicht herankommen können, dagegen ist eine Verordnung. Der Hund hat auch nicht die Aufgabe, Fremden den Eintritt zu verwehren, vielmehr durch das Anschlagen (Bellen) die Hausbewohner auf den nahenden Ankömmling aufmerksam zu machen, was besonders zur Abend- und Nachtzeit wichtig ist. Ich weiß zwar nicht, weshalb Haushunde bellen, wenn Fremde kommen; aus Feindseligkeit geschieht's nicht immer. Ich sah Hunde, die bei Herantreten oder Vorübergehen von Fremden sich so wütend und rasend benahmen, daß ihnen beim Zerren und Reißen an der Kette der Atem verschnürt wurde, daß sie gar nicht mehr bellen, nur noch röcheln konnten. »Wehe, wenn sie losgelassen!« fiel einem da ein. Aber wenn dann bei so einem rasenden Tier die Kette einmal entzweireißt, springt es dem Fremden vielleicht an die Brust und beleckt ihn. Weshalb einmal ein nachdenkliches Kreuzköpfel die Weisheit aussprach: Das Anschlagen des Kettenhundes ist nur eine Klage über seine Gefangenschaft. Bei den Hausbewohnern nützt es nichts, das weiß er, da ist er still. Bei jedem vorübergehenden Fremden aber versucht er, durch lautes Klagen ein fühlend Herz zu erweichen, um von der Kette befreit zu werden. Das ist sehr rührend gedacht, nur schade, daß gerade diesem Kreuzköpfel nachher einmal ein losgekommener Kettenhund ein Stück Fleisch aus der Wade gerissen hat.

Jedenfalls erfüllt der Kettenhund seine Pflicht als Haushüter, wenn er beim Nahen fremder Leute tüchtig [141] lautet; er bekommt dann auch dreimal täglich von der Hausmutter seinen Trank in den Trog, zusammengeschüttete Überreste, manchmal sogar ein Stück verdorbenes Fleisch, jedenfalls oft ein paar Knochen. Die Buben schäkern mit ihm, wobei er gar lustig schnappen kann, aber so, daß es nicht wehtut. Er kann das recht gut. Die Dirndln lassen freilich ihr gewohntes Kreischen los, wenn der Vierfüßer flink an ihren Busen springt und mit der warmen weichen Zunge ihren roten Mund beleckt. Wenn sie bei ähnlichen Erlebnissen allemal kreischten, dann wäre der Kettenhund in der Nacht bisweilen überflüssig. – Ich will nichts gesagt haben. Ich will nur die Geschichte erzählen von einem schlimmen Kettenhund, von einem braven Dirndl, von einem unternehmenden Liebhaber und von einem blitzdummen Jungen.

Daheim im Waldbauernhause hatten wir einen Kettenhund, ein großes schönes Tier. Seine fuchsbraune glatte Haut glänzte wie Seide, seinen Kopf mit den guten treuen Schwarzaugen und den breiten Ohrlappen trug er hoch und wohlgemut, ebenso auch den kühn geschwungenen Schweif, den er nur einzog, wenn ihn heimlicher Groll beschlich. Die Kette machte ihm nicht viel. Sie war ziemlich lang, so daß er einerseits fast bis zur Haustür, andererseits bis zum Brunnentrog gelangen konnte, und auch auf die Wandbank hüpfen, und wieder herab, wenn er Bewegung machen wollte. Kam jemand Ungewohnter, so lautete er zwar, regte sich aber weiter nicht auf. Er riß nicht an der Kette, dafür tat ihm seine Gurgel leid. Hingegen aber, wenn er losgelassen wurde, dann schoß er wie eine Bestie auf fremde Leute los, so daß mein Vater einmal einem klaghaften Nachbar ein Stückchen [142] Hinterteilhaut mit fünf Gulden zu vergüten hatte. Das war der »Waldl«. Er war so gefürchtet von der Umgebung, daß manche Kirchengeher nicht den kürzeren Weg durch unseren Hof nahmen, sondern hinter dem Krautgartenzaun vorbeihuschten. Wir waren ordentlich stolz auf den wachsamen und strengen Hund, das einzige Wesen, was uns gefürchtet machte. Obschon nun zwar der Waldbauer lieber geliebt als gefürchtet war, tat so ein wenig Mußrespekt dem Vorteil des Hofes keinen Eintrag. Im Gegenteil, die Bettler wurden von dem aller Vagabundiererei abgeneigten Waldl derart verscheucht, daß es der Hausmutter bedenklich schien und sie manchem Armen das Almosen in ihre Hütten zutrug.

In jenen Jahren war es, daß bisweilen ein Fremdling in unser Haus kam, der allmählich kein Fremdling mehr war, weil er uns traut wurde. Eine schlanke Gestalt in grauem, langem Mantel, mit brauner Pelzmütze, mit schwarzem Bart und rotem Gesicht. Sein Auge hielt er immer weit offen; war es dunkel oder hell, er schaute gerade vor sich hin, den Kopf ein wenig nach rückwärts gelegt. Er schaute mit offenem Auge in die Sonne hinein, er blinzelte kaum. Mit den schmalen Händen machte er gerne vor sich in der Luft Bewegungen und Gesten, langsam, fast feierlich, wie ein Priester, wenn er das Volk segnet. Am Rücken trug er ein viereckiges Holzkästlein, dessen Anblick mancher tanzlustigen Magd in die Nerven fuhr. Aber es war kein Musikkasten, es war ein Werkzeugtrühlein, in welchem der Mann Hämmerchen, Zänglein, Feilen, kleine Stech- und Stemmeisen und andere Messerchen hatte. Dieser Mensch führte immer ein Mädchen mit sich, das er stets an der Hand hielt. Als ich es [143] das erstemal sah, war es ein kümmerlich kleberes Geschöpflein gewesen, mager und blaß und mit seinen schreckigen Rehaugen unstet dreinschauend. Aber von Jahr zu Jahr wurde sie größer, schöner und freundlicher. Ihr Gewändlein war schütter und gar verwaschen, aber stets reinlich gehalten. Einmal, als diese beiden langsam über die Weide gingen, ich war auf Ferien zu Hause, und als das Mädchen ernsthaft, fast traurig auf mich herschaute, war mir zumute, als müßte ich ihm was schenken. Einige Schlüsselblumen pflückte ich ab und legte sie in ihre Hand. Sie nahm das Sträußchen an, nickte ein wenig mit dem Kopf, aber wie mir schien, nicht auf und ab, sondern hin und her. Dann ging sie mit ihrem Vater fürbaß und später fand ich das Schlüsselblumensträußlein auf der Weide liegen. Man sah nie, daß sie mit dem Schmucke der Armen, mit einer Blume geziert war. Das Veilchen schmückt sich ja auch nicht, weil es selber eine Blume ist.

Diese beiden Menschen waren der »Häfenbinder Faltl« und sein mutterloses Töchterlein. Betteln taten sie nicht. Er verstand es, in den Häusern, wo sie zusprachen, über Tontöpfe und Krüge ein eisernes Drahtnetz zu flechten, damit solches Geschirr dauerhafter sei. Dafür gab man ihnen zu essen und manchmal ein paar Kreuzer Lohn. Auch Wanduhren, die schadhaft geworden, nahm der Faltl in Arbeit, wobei ihm das Mädchen Handlangerdienste leistete. Solche Arbeiten schienen ihm so geläufig, daß er gar nicht darauf hinzuschauen brauchte, sondern sein Antlitz immer geradeaus, wenn nicht gar ein wenig himmelwärts hielt.

Wenn diese zwei Leutchen gegangen kamen, schlug unser Kettenhund zwei- oder dreimal an, dann reixelte er [144] ein wenig mit der Kette und schaute treuherzig auf sie hin, wie sie ins Haus gingen. Wo die Leute wohnten, oder ob sie überhaupt irgendwo wohnten, daran dachte ich nicht. Mir wurde die Sache erst bedenklich, als eines Tages der Ortsrichter an unser Haus herankam und das Mädchen des »Häfenbinders« mit sich führte. Und eine schreckliche Mähr erzählte. Der blinde Faltl habe mit seiner Tochter auf einem Heustadl übernachtet. Da sei in der nachbarlichen Köhlerei ein Brand ausgebrochen, er eilte, um löschen zu helfen, kam dem Feuer zu nahe, erhielt schwere Brandwunden, an denen er nach einigen Stunden starb. – Der »blinde Faltl!« Ja, war der Mann denn blind gewesen? – Der Ortsrichter fragte bei meinen Eltern an, ob sie nicht das verwaiste Dirndl ins Haus nehmen wollten? Sie sei fleißig, anschicksam zur Arbeit und könne wohl in Haus und Stall Dienst leisten. Mein Vater hatte immer zu wenig Dienstboten für die große Wirtschaft und seit meinem Abgange sprach er oft davon, wie hart er darauf warte, bis die anderen Kinder zur Arbeit herangewachsen sein würden. Mein Vater nahm die Faltldirn auf. Sie war schon erwachsen und hatte einen schlanken weißen Hals, den selten jemand zu sehen bekam, weil er immer bis dicht unters Kinn mit einem braunen Tuche bedeckt war. In ihrem Aug' lag eine stille Nacht. Ich hatte mich einst in den Nächten gefürchtet, und wenn ich nun manchmal verstohlen dieses große Nachtauge betrachtete, da fürchtete ich mich auch. Und doch schaute sie mich immer friedsam an, friedsam und freundlich, wie ihr Benehmen war gegen alle. Lachen tat sie selten, höchstens lächeln, wenn sie scherzenden Lämmern zuschaute. Selbst wenn sie von der Hausmutter [145] ihrer Emsigkeit wegen gelobt wurde, sah sie ernsthaft drein. Aber nicht traurig, es war eine frohe, fast behagliche Ernsthaftigkeit. Von ihrem Vater sprach sie nie ein Wort. Heiter wurde die Traude nur bei der Arbeit im Stall oder auf der Wiese beim Grasrechen. Da hörte man sie sogar singen, da warf sie ihr Wollentuch fort, so daß über ihrer Brust nichts war, als das Hemde. Keine von den anderen Mägden hatte so seine, so blühendweiße Hemden und da geschah es einmal, daß der schalkhafte Jungknecht beim Heuen, als er ganz in die Nähe des Dirndels zu stehen kam, wissen wollte, wie lind sich denn wohl ihre Leinwand anfühle. Sie wendete sich rasch und unwillig ab und war den ganzen Tag in sich gekehrt. Zu jener Stunde nahm ich mir vor, darauf zu achten, daß die Traude nicht ungebührlich behandelt werde. Mir waren sie zuwider geworden, diese Zweideutigkeiten und Anspielungen, in denen sich unsere Knechte und die Nachbarsbuben gefielen, sowohl wenn sie unter sich waren, als auch, wenn sie ledigen Weibsb0ldern in die Nähe kamen. Die älteren Mägde taten kecklich mit in schnippischer, scheinbar abweisender Art, die eher ermutigte als verneinte. Jüngere Mägde wurden bei derlei Reden rot, horchten wohl doch so ein wenig hin und stellten sich harmlos. Aber die schlanke Traude wurde noch nicht einmal rot, sie wich den dreisten Mannsleuten nur aus, wie einer lästigen Sache und kehrte sich weiter nicht drum. Der Vater hielt strenge Zucht; doch wenn er nicht zugegen war, manchmal bei Tische, da huben die Knechte gerne an, ganz gelassen und unbefangen in einer Bildersprache zu reden, die mit Ausnahme der einen alle verstanden und viele bekicherten. Aus Angst um die Traude, die still [146] und bescheiden dasaß, habe ich in solchen Augenblicken mehrmals ein lautes, ganz unsinniges Gespräch angestiftet, um die verfängliche Unterhaltung abzulenken. Einmal, als im Walde junges Dickicht zu säubern war, ordnete der Großknecht an, daß ihrer drei Knechte hinausgehen sollten und auch die Traude mitnehmen, damit ihnen jemand das dürre Reisig wegräume. Da stellte ich mich hin: »Reisig wegräumen will ich.«

»Du hast heut' in der Mühl' zu tun, es muß der Haber fertig gemahlen werden,« entschied der Großknecht, dem ich in Arbeitsangelegenheiten auch als Studiosus untergeordnet war. Gut, ich habe in der Mühle zu tun. Also zu meinem Vater. Da ich bei ihm die Knechte nicht geradezu verdächtigen wollte, so bat ich ihn, daß er die Traude mit mir gehen lasse; wir wollten zwei Bündel machen, denn allein vermöge ich den Haber nicht zu tragen. Mit den Knechten in den Wald ging der alte Einleger Michel, mit mir in die Mühle ging das stille, schlanke Dirndel. Ich dachte, nun würden wir einmal mitsammen plaudern können. Ich wollte sie ausfragen nach ihrer Kindheit, nach ihrer Mutter, nach ihrem blinden Vater, der Häfen mit Draht gebunden und Wanduhren hergerichtet hatte. Aber wir hatten bald ausgeplaudert. Sie gab zwar freundliche, doch so kurz gefaßte Antworten, daß mir keine rechte Frage mehr einfiel und wir mit unseren Bündeln auf schmalem Steige schweigend hintereinander hergingen. Als wir aber zur Grabelhütte kamen, wo vor der Tür in der Sonne die junge Grablerin ihr Kind säugte, wurde die Traude auf einmal lebendig. Sie plauderte heiter mit dem Weibe, schäkerte mit dem Kleinen und schaute zu, wie es an der weißen Mutterbrust mit der [147] Lebhaftigkeit eines jungen Kälbchens saugte. Als wir dann hinab in die Mühle kamen, als ich mit dem Holzhaken das Türschloß aufsperrte und wir in den dunkeln Raum traten, als ich die Fensterläden ausmachte, dann aus meinem und ihrem Bündel den Hafer in den Trichter schüttete und als ich endlich mit dem Niederdrücken eines Hebels das Mühlwerk in Gang brachte, war die Traude stets neben meiner, um zuzugreifen, wo es zu tun gab. Wir sprachen das bei der Arbeit Notwendige, nicht mehr und nicht weniger. Als ich dann neben dem Mühlsteinmartel auf meiner Bank saß, um nun bis zum Abend das Mahlen zu überwachen, sagte sie ruhig: »Brauchst mich noch?«

»Nein, Traude, ich brauch' dich nicht mehr. Du kannst heimgehen.«

Aber als sie fort war und ich allein bei dem klappernden Räderwerk, da hatte ich Bange. Ich glaube, nach dem Mädchen, und von jetzt an vermeinte ich sie so gern zu haben wie meine Schwester. Und da nahm ich mir heilig vor, zu achten und zu wachen, daß diesem Dirndel nichts geschehe.

Da war es noch an demselben Abend spät. Ich ging von der Mühle heim, durch den Wald hinaus. Es war ganz dunkel. Vor mir auf dem glatten Waldsteig gingen zwei Nachbarsbuben; der Ernest und der Jonsel, die meine guten Kameraden waren. Wir hatten miteinander manche Possenreißerei angestellt, und derlei schließt freundschaftlicher aneinander als etwa gemeinsam ausgeübte Tugenden. Besonders war ich Jonsels Geheimschreiber. Der Jonsel war etwas säbelbeinig und hatte beständig entzündete Augen, was zwar bei Hühneraugen schmerzhafter, aber [148] bei Gesichtsaugen unschöner ist. Er war bestrebt, den Weibsleuten gegenüber seine körperlichen Mängel mit Poesie auszugleichen. Ich war der Verfasser gereimter Liebesbriefe, die an eine Schöne in Fischbach gingen. Darauf hatte sie ihm denn schreiben lassen, er möchte einmal kommen. Eine halbe Nacht lang waren sie spazieren gegangen im Baumgarten, aber als es tagte und sie einmal recht sein »Ausgeschau« sah, soll sie schnell davongelaufen sein. Der Jonsel ließ aber nicht nach, sie von seiner Schönheit zu überzeugen. In den nächsten Liebesbrief mußte ich sein Porträt zeichnen, und zwar mit einem schwarzen, aufgewirbelten Schnurrbart, während das Original nur ein strohbraunes Fetzchen hatte, das noch dazu an der linken Oberlippe kümmerlicher war, als an der rechten. »Wenn's Haus einmal brennt,« sagte er, »sind alle Wasser gut.« – Was geschah? Am darauffolgenden Sonntag sah man seine Schöne mit einem Schustergesellen gehen, der just einen solchen aufgewirbelten Schnurrbart trug. So hat mein künstlerisches Bemühen eher geschadet als genützt, weil die Wirklichkeit nicht dem Ideal entsprach. Der Jonsel hatte dann – wie er erzählte – die falsche Katz' abgedankt und wollte es nun mit der »Häfenbinderischen« probieren.

Sagte nun sein Bruder, der Ernest: »Mein Lieber, die Häfenbinderische laß nur mit Fried. Die geht dich nix an. Aber wenn du mir bei der die Leiter halten willst, so helf' ich nachher für dich eine suchen.«

»Wegen meiner,« gab der Jonsel bei, »mir ist sie eh ein bissel zu jung. Allemal fahrt man besser mit dem Rössel, wenn es schon abgerichtet ist.«

Derlei bekam ich zu hören auf dem glatten Waldsteig, [149] als ich in der Dunkelheit geräuschlos und knapp hinter den beiden Burschen einherschritt. Dann verabredeten sie für die nächste Samstagnacht ein erstes Fensterln bei der Traude.

Sie hatte in der rückwärtigen Bodenkammer ihr Bett. Da wollte nun der Ernest eine Leiter anlehnen bis zu ihrem Fenster hinauf, um – weil es kein Gitter hatte – bequem Kopf und Achseln hineinzustecken und um ihr Herzlein zu werben. Der Jonsel sollte ihm derweil unten die Leiter halten. Dieser fragte nun den Unternehmer, ob er auch genügend mit Gassel- oder Fensterlsprücheln versehen sei, um sie anmutig aufzuwecken, über sein Vorhaben aufzuklären und sie dafür zu erwärmen. Dann wurden Übungen in Fensterlsprüchen gehalten. Das geschah halblaut, in gemurmeltem Gebettone. – Na, gute Nacht, wenn das die Traude alles zu hören bekommen soll?! – Mir wurde heiß bis in die Finger- und Zehenspitzen. – Mit allen Vieren hätte ich sie rücklings überfallen und ermorden mögen. Aber was wirst du machen, wenn du ein kleberer Junge bist und ihrer sind zwei baumstarke Lümmel! Das Fensterln bei der Traude muß auf andere Weise verhindert werden.

Es kam der Samstag. Zum Vater wollte ich nicht gehen. Verschergen soll ein Kamerad den andern nicht, er muß sich selber zu helfen wissen. Fürs erste versteckte ich die Leiter, die gewöhnlich an der Hauswand wagerecht hing und fünfzehn Sprosseln hatte. Hernach am Abend, als das Nachtmahl vorüber war und die Leute ihre Betten aufsuchten, ging ich hinaus zum Waldl, streichelte ihn, ließ mir von ihm Hand und Gesicht belecken und hakte am Halsband die Kette aus. Dann ging [150] ich aber noch nicht schlafen, sondern setzte mich in den Strohschoppen, von wo aus man recht bequem auf das Fenster sehen konnte, hinter dem die Traude schlief. Es war halber Mond, das Fenster stand wie eine schwarze Tafel in der Wand, die Traude pflegte die Flügel offen zu lassen.

Wie mir einmal fast vor ihrem Auge gegraut hatte, so graute mir jetzt vor diesem Fenster. Denn es kam mir ein wilder Gedanke. Es zog mich hin. Die versteckte Leiter mußte ich selber nehmen. Als ob in meinem Innern ein schwingender Haspel das Blut peitschte, so sprang es heiß durch alle Adern, so wirbelte es durch alle Glieder. Ähnlich hatte ich's noch nie gehabt. Wo ist die Leiter?

Sie war schon da. Zwei Gestalten hatten sich hinter dem Hofe, wo es der Kettenhund nicht bemerken konnte, herangeschlichen, richtig aus dem Reisighaufen die Leiter hervorgeholt und sie leise aber hastig an die Wand gelehnt. Ganz deutlich sah ich, daß es der Ernest war, der jetzt flink die Sprosseln hinanstieg. – Wo ist denn der Hund, daß man ihn nicht hört? Bist du nicht gelöst? Ich rüttelte an einem lockeren Schoppenbrett, da nahm er's wahr, schlug an, kam um die Ecke und schoß lechzend auf den Mann los, der die Leiter festhielt; dieser floh, sich kaum vor dem Hunde erwehrend. Und als ich nach dem andern ausschaute, der schon hoch an der Leiter gestanden war – sah ich nichts. Er war verschwunden. Zu Boden gesprungen war er nicht, der rasende Hund hatte ihn verscheucht – zum Fenster hinein.

O Unglücksmensch, was hast du jetzt angestellt? schrie es in mir zum Wahnsinnigwerden. Durch den losgelassenen [151] Hund hast du ihn hineingejagt. Und er hat nur fensterln wollen. Ein Nachtgrüßen, wie es der Brauch ist! Und du hast ihn über sie gehetzt! – Ich lief ums Haus herum und schlug Lärm, so viel, als von der Lunge ging: »In der Hinterkammer ist ein Dieb!«

»Den werden wir gleich haben!« sagte der Großknecht und war auch schon bei der Leiter, die er wegzog. In den nächsten Augenblicken ist die Hinterkammer voller Leute gewesen, die meisten in mangelhaftem Nachtgewand. Inmitten stand mein Vater, hoch gehoben wie ein flammendes Schwert das Talglicht. Am Fenster stand trotzig Ernest, der Nachbarssohn, die Hände in den Taschen. Das Bett war leer, die rote Decke lag über dem Fußboden hin – die Traude war nicht da. In der Vorkammer, wo wir Flachs, Garn und Schafwolle aufzubewahren pflegten, hockte sie in einer großen Holzkiste auf schwarzer Wolle. Im weißen Hemde, die Ellbogen an die Brust, die flachen Hände ins Gesicht gedrückt, so hockte sie da und zitterte wie ein junges Vögelchen, das man in der hohlen Hand hält.

Mein Vater erhob seinen Unmut gegen den Ernest: »Ist euch die auch schon im Weg? Soll man denn gar schon die Kinderstuben vergittern lassen vor den Wildlingen?«

»Na geh', Bauer;« antwortete der Ernest in gemütlichem Ton, »die ist schon zeitig.«

»Mir scheint, dir gibt dein Vater nicht genug Arbeit, weil du bei der Nacht nicht rasten kannst!«

»Derspar' dir's, Bauer, derspar' dir's!« sagte der Ernest dreist wie ein Sieger, da er doch ein Gefangener[152] war. »Bauer, du wirst es auch nit viel anders gemacht haben, wie du dir die Deinige hast ausgesucht.«

»Wenn'o dir ernst wär', das wär' eine Red'!«

Trat der Bursche einen Schritt hervor gegen die Traude und sagte ernsthaft: »Weil ich schon so weit bin, jetzt red' ich. Aufs Jahr übergibt mir mein Vater den Hof. Da ist's zum Heiraten. Traude, wenn du mich magst, so sind wir handelseins.« Er hielt ihr die Hand hin, sie duckte sich nieder und vergrub sich immer mehr in die Wolle. Und sie tat erbärmlich weinen. So schluchzt und wimmert ein Kind, das sich in fremdem Land ausgesetzt und die Rede der Wilden zu hören glaubt. Da wies mein Vater die Leute zur Tür hinaus und befahl dem Mädchen, ins Bett zu gehen.

Ich pfiff dem Waldl, streichelte ihn und hing ihn wieder an die Kette.

Zwei Jahre später ist Hochzeit gewesen. Die Traude war eine andere geworden. Sie war entwickelt zur rundlichen Knospe, die über Nacht ausbricht. Sie hatte noch ihre stille Heiterkeit, aber wenn sie vor dem Ernest stand, wenn diese zwei schönen Menschen sich gegenüberstanden und sie ihn anschaute, da war in ihrem Auge freilich noch jene Nacht – aber es flimmerten Sterne, es strichen Meteore, es zuckten Blitze in dieser Nacht. Es war ihr ein heißes Licht ausgegangen, daß er der Mann und sie das Weib ist. Der Ernest versicherte seine Freunde, bisher persönlich zu dieser Erkenntnis nicht viel beigetragen zu haben und pries sich als einen der wenigen in der Gegend, die mit stolzer Glückseligkeit auf den grünen Kranz ihrer Braut blicken dürfen.

An jenem Morgen, als er seine Braut in unserem[153] Hof abholte und meine Mutter den versammelten Hochzeitsgästen ein Frühmahl vorsetzte, wollte ich dem Bräutigam spaßeshalber etwas sagen. »Viele Gäste, die dazugehören, hast du heute geladen. Aber einen hast du doch vergessen, der auch dazugehört und dem du mehr verdankst, als was du ihm wirst abstatten können.«

»Geh', du, schreck' mich nit, daß ich wen Wichtigen hätt' vergessen! Wer soll's denn lauter sein?«

»Der Waldl...«

Wie wir Fasching und Fasten haben gehalten
[154] Wie wir Fasching und Fasten haben gehalten.

Den 7. Februar 1866 Faschingsonntag. Auf der Freimusik beim Jager am Alpsteig. Ein Gschnaidel gegessen, einen Wein getrunken, eine Zigarre geraucht, beim Kartenspiel (Mauscheln) was verloren. Zusammen macht 21 Kreuzer.« – Das der Tagebuchbericht von einem Fasching in der Waldheimat. Das hieß »aufgehaut«! Tänzel ist keins verbucht. Ich habe mein Lebtag nicht einen Schritt getanzt, die nicht ernsthaften Versuche ausgenommen, wobei ich allemal schwindelig wurde und in den Winkel taumelte. Mit einem Dirndl kann man das doch nicht riskieren. Der Kamperl-Nick war außer mir der einzige Bursch, der nicht tanzte. Denn er sprach: »Das Weibsbild ist mir beim Tanzen zu viel und zu wenig.« Zu viel, das verstand ich schon, weil man umfallen auch allein kann. Aber wie einem das Weibsbild beim Tanzen zu wenig sein kann, das verstand ich nicht. Der Herr Pfarrer scheint auch das kapiert zu haben, denn er gab dem Nick vor allen Leuten einen Verweis: »Solche Reden führt man nicht, Nikolaus! Wenn dir die Weibsbilder ohnehin nicht anstehen, wie sie umstehen auf dem Tanzboden, so setze dich zu uns an den Tisch!« Darob erschrak der Nick; der Pfarrertisch am Faschingtag war ihm noch zuwiderer als die Dirndln auf dem Tanzboden, maßen man bei ihm keinen Augenblick sicher ist, daß man [155] nicht aus dem Katechismus ausgefragt wird. Aber diesmal geschah ihm nichts.

Des Pfarrers Vorfahrer, der alte Herr Plesch, war ein abgeschworener Feind des Tanzvergnügens gewesen. Es war ihm gut zuzuhören, wie er auf der Kanzel gegen diesen »Fallstrick des Teufels« predigte. Ich verstand darunter eben meinen Schwindel, der mich so leicht niederbrachte. Andere scheinen aber anders verstanden zu haben und drängten sich zu den »Fallstricken«. Der Pfarrer Plesch schloß sich während einer Wirtshausfreimusik in sein Zimmer ein und betete für die Seelen in der Gefahr. Nicht immer mit Erfolg! – Der neue Herr war anders. Auch er predigte am Vormittag, daß, wer die Gefahr liebe, leicht darin zugrunde gehe – am Abend aber war er selber beim Ball. Und je unangenehmer dem jungen Volke seine Anwesenheit, um so notwendiger war sie. Da trugen sich weniger Unglimpflichkeiten zu; dafür sagten nachher die Leute: 's war ein bissel langweilig. Aber nicht allemal. Beim Liedersingen tat der Pfarrer manchmal selbst lustig mit, da kam kein »Schweinschmalz« dazu.

So ungern der Kamperl-Nick sich zum Pfarrertisch setzte, so gern tat ich's. In meinen ersten Lehrjahren war das ausgeschlossen gewesen. Aber dann als Studentl, da winkten sie mich zum Nobeltisch. Anfangs begriff ich die Ehre nicht und meinte, der Pfarrer würde eben auch bei mir Verdacht schöpfen von wegen zu viel oder zu wenig bei den Weibsbildern. Aber schließlich hockte ich ganz bescheidentlich an der Ecke der Tafel, wo der Herr Pfarrer saß mit der gefleckten Schildkrötendose und der Fürstand mit der versilberten Tabakspfeife und der Schulmeister mit der Zigarre und den funkelnden Augengläsern, die manchmal [156] fast lieber quer durch die Tür auf den Tanzboden hinauslugten, als auf die großen Schaumaugen seines Bierglases. Daneben der weißköpfige Kaufmann und der wuchtige Schmied und die zarte und zierliche Figur meines früheren Lehrmeisters. In der Nähe solcher Persönlichkeiten durfte ich mein Gschnaidel essen und schließlich zum Austunken der Schüssel eine Semmel dazu. Beim großen Tisch in der Vorstube hörte ich meine Kameraden schreien und singen und – tuscheln. Das letztere war peinlich, denn ich fühlte allzu deutlich, es galt mir. Sie machten sich lustig über das Studentel am Pfarrertische – bei der »Freimusik«.

Zum Glücke, denn mich ödete schon stark, begann endlich das Raufen. Die Gäste einer Freimusik haben keinen Eintritt zu zahlen, auch im allgemeinen kein Spielleutgeld, und können nach Belieben tanzen, solange es dem Tanzanfriemer recht ist. Wer einen besonderen Tanz aufgespielt haben will, der geht an den Spielleuttisch und wirst einen Gulden hin. Dann nimmt ein solcher »Tanzanfriemer« seine Schöne her und tanzt, und alle Mittanzenden sind jetzt gleichsam seine Gäste. Natürlich tanzt auch der Nebenbuhler mit oder sonst einer, der mit jenem auf Kriegsfuß steht, tut sich mit Lärmen und Strampfen hervor, herausfordernd, bis der Tanzanfriemer plötzlich seinen Reigen abbricht. Mit ausgestreckten Hemdärmeln tritt er hin zum Eindringling und fragt ganz sänftiglich: »Wer hat denn dir's derlaubt, da mitzutanzen?« Das ist der Kriegsfall. Denn der andere wirst sich in die Brust: »Ist's dir eppa nit recht?! Geh' nur her, wenn d' dich traust!« Eine Minute später krachen schon die Stuhlfüße und über die weißen Ärmlinge rinnt rotes Blut.

[157] Als es an jenem Abend so weit war, stob natürlich auch der Herrentisch auseinander. Auf dem Tanzboden wirbelte ein Knäuel von Menschen hin und her und der Wirt schrie mit seinem weinerlichen Stimmlein: »Nur nit stechen, meine Herren, nur nit stechen!« Da hatte er auch schon eine auf der linken Wange, daß der Schädel klang. Das war ja nicht gestochen. Der unter den Knien des Siegers auf dem Boden lag, rief aus: »Meinetwegen, dem Herrn Pfarrer zulieb' geb' ich nach. Lump elendiger, ich verzeih' dir: schau, daß d' weiter kommst!« Aber seine Tracht hatte er schon ausgemessen, und wer schaute, daß er weiter kam, das war er selber.

Früher einmal bei einer Freimusik im Tatzhofe zu Ratten, war mir etwas zugedacht. Ich hatte mich zwar anständig verhalten und sann nichts Schlimmes, war aber der einzige Eindringling aus Alpel. So beschlossen die Rattner Burschen, mich zu prügeln. Sie begannen zu stänkern und meckerten wie eine Ziege. Das ging den Schneider an. Sie sangen Schnaderhüpfeln auf den »Dichterixel Dichteraxel, hot koan Hintern und koa Haxel.« Aber ich wurde nicht zornig. Das reizte sie erst. Eine Stunde lang heizten sie mir ein, da hub's in mir zu brodeln und zu kochen, bis ich endlich platzte. Mit einer Wut, deren Frische mir heute, in ferner Erinnerung, noch wohl behagt, lief ich, eine Waffe suchend, ins Vorhaus, in die Küche, erfaßte dort den Aschentopf und schleuderte ihn in die nahende Gruppe meiner Gegner. – Ach, hätte ich den schönen Zorn meiner Jugend noch! Er kam selten, aber dann war er auch da. Der heutige Ärger kommt viel häufiger, entwickelt sich aber höchstens bis zum knurrenden Unmut. Der schöne, brave Zorn kommt[158] im Jahr kaum einmal – und dann hübsch zu unrechter Zeit.

Aber der Leser will wissen, wie mir der Aschentopf bekommen hat. »Du Schneiderseel'!« hatte einer geschrien. »Aschermittwoch ist heut' noch nit! Heut' ist blauer Montag!« Drei Wochen ist auf meinem Oberarm hinten noch allerhand blaues Fleckwerk zu sehen gewesen. Bin dann lange Zeit nicht mehr nach Ratten gegangen. Hingegen haben wir Alplerburschen im nächsten Fasching beim Jager am Alpsteig einen »Ball« gegeben. Ein Ball ist keine Freimusik, der Ball wird von einer bestimmten Körperschaft gegeben, die dazu ihre besonderen Gäste ladet. Da ist der Holzknechtball, der Schmiedball, der Fuhrleutball usw. Nun, wir gaben einen »Alplerball«. Eingeladen waren alle Burschen von St. Kathrein und Ratten, die »noch a Schneid haben«, wie wir sagen ließen. Von den Kathreiner Burschen kamen die meisten, von den Rattnern – gar keiner. Und gerade auf die hatten wir gerechnet. In der Bauernschaft, sollt ihr wissen, werden bei solchen Gelegenheiten die Gäste nicht geladen, um sie zu bewirten, sondern um sie zu prügeln. Bewirten kann sich jeder selber – das andere aber tut selten einer. Also, die Rattner Burschen kamen nicht und mein blauer – Montag blieb ungerächt.

Nun muß ich doch endlich wieder zu meiner Freimusik zurück, bei der der Schwächere dem Pfarrer zulieb' nachgegeben hatte. Das Gewitter war nun vorüber und jetzt wurde es erst heiter. Die Spielleute wirbelten mit Klarinette, Flügelhorn, Geige und Baßgeige die Luft auf bis in die hintersten Spinnwehenwinkel. Die Kerzenlichter, so an den Wänden herumstanden, flackerten arg [159] und hatten einen Heiligenschein. Der Staub schwebte wie ein zarter Schleier über den Paaren, die in bloßen Hemdärmeln oder Miedern durch die Stube flogen. Rotes Blut blühte auf allen Wangen. Der Dunst roch nach Unschlitt, Wein, Braten und Schweiß. In der Küche draußen hatte neuerdings ein heftiges Kochen begonnen, und was nicht tanzte, das aß und trank. Ich hatte das, was der Geldbeutel vermochte, schon hinter der Binde, durfte aber auf weiteres hoffen. Das wußte ich wohl, zu Hause hatte es an demselben Abend reichlich Fleischkrapfen, Branntweinnudeln und Schweinsbraten mit Saft und Rohnen (roten Rüben) gegeben und die Mutter hob mir meine Portionen auf. So konnte ich sorglos den Freuden obliegen, die für Auge, Ohr und Nase im Wirtshaus geboten wurden. Und hell mittun, als nach dem Abgange des Herrn Pfarrers die Faschingshymne angestimmt wurde:


»In Alpel da ist's lustig,

In Alpel, da ist's lustig,

In Alpel, da ist alles frei,

Da gibt's ka Polizei.

Sonntags singen, saufen,

Tanzen, spielen, raufen,

Montags da wird blau gemacht

Bis auf die spate Nacht.«


Der Schulmeister hob sein Glas und trank mir zu. Der Kamperl-Nick schimpfte, daß ich das Lied »gfalschelt« hätte. Ich hatte es aber nur umgearbeitet, weil der Urtext für weibliche Ohren nicht zu brauchen gewesen. Übrigens begannen auch heute manche Jungfrauenohren bereits schreckig zu werden. Es wurde alleweil schöner, denn es wurde alleweil wilder. Jählings fiel es mir [160] ein: Bist ja einer vom Nobeltisch! Nimmst deinen Hut und gehst!

Vor mir war einer gegangen über das Feld hin, der hatte den schmalen Schneepfad nicht treffen können. Auch fiel er so oft hin, bis er liegen blieb. Ich eilte an ihm vorbei und war nun im stillen Walde. Es war eine himmeltrübe Mondnacht. Es war ein friedsames Wandern über den weißen Boden unter schwarzen Bäumen, nach dem wüsten Wirtshaustrubel ein seliges Zusichselbstkommen. Der Weg war eine Stunde lang bis zum Vaterhaus. Dort standen die kleinen Fenster noch im roten Schein, die Leute waren alle noch wach. Die Mutter barg die reichen Reste des Faschingsmahles im Kasten. Zu mir aber sagte sie: »O, Kind, daß du so spat kommst! Jetzt darfst nix mehr essen!« Denn es war Mitternacht vorüber, es war nicht mehr Faschingtag, es war – Aschermittwoch.

Ich hatte Hunger nach den im Kasten geborgenen Krapfen und Braten und es war Aschermittwoch. In der Küche stand die alte Magd Regerl über dem Wassertrog und scheuerte mit dem Schürzenzipf ihren Mund aus. Kein Fäserchen Fleisch und kein Bläschen Schweinsfett durfte vom Faschingtag her im Munde bleiben-Aschermittwoch gehört zu den drei heiligsten Fasttagen des Jahres. Einmal soll zwar ein Kirchenlehrer gesagt haben, Fleisch, das an den Zähnen hängen geblieben, könne man auch am Fasttage essen. Sich strenge nach der Lehre haltend, hing ein Bauer sein geschlachtetes Schwein an die Eisenzähne der Egge und verzehrte es dann in der Fastenzeit. In Nachbarsgegenden hatte schon damals die sinnreiche Neuerung eingerissen, daß die Reste des Faschingmahles [161] am nächsten Donnerstag oder Sonntag aufgegessen werden durften; der Kettenhund Waldl war meiner Mutter sehr dankbar, daß sie an dem strengenalten Brauche festhielt. Ich aber mußte auf den nächsten Bissen Fleisch sieben Wochen lang warten, weil wegen der ausgelassenen Freimusik die letzte Stunde versäumt worden. Zu jener Zeit ist in Alpel nicht bloß die vierzigtägige Fasten strenge gehalten, sondern sind dem lieben Herrgott die sechs Sonntage noch freiwillig gänzlich fleischlos draufgegeben worden. Fastenspeisen gab's zeitweilig erklecklich viel, aber in der »Arbeßwoche« kam schon die Erbsensuppe in den Vordergrund; in der »Schwarzwoche« wurde den Mehlnocken nur noch Kraut beigegeben und in der »Antliswoche« hatte die Wassersuppe nicht mehr Augen als ein Mensch, und selbst diese schienen zu weinen. Wie die Eßzeit abnahm, so nahm die Gebetzeit zu. Alle Abende auf den Knien ein Rosenkranz; und mancher heimliche Vorwitz, der bei solchem Gebet unter jungen Leuten sonst vorkam, in der Fastenzeit erhob er sein Fratzenhäuptlein nie, da lagen die Seelen mit Andacht vor dem Kreuze.

Fastenzeit! Ihr könnt sie in der Kirche sehen. Alle Fahnen sind fort mit Ausnahme der schwarzen, weißverbrämten Totenfahne. Die bunten Florbänder und Papierblumen sind weg und schon vom ersten Tage der Fastenzeit an ist das Bildnis über dem Hochaltar verhüllt mit einem blauen Tuch. Allmählich werden es auch die Nebenaltäre und in den drei letzten Fastenwochen ist jede Statue, jeder Fahnenstern, jedes Kruzifix der Kirche mit blauem Tuche verhüllt. Dasselbe blaue Tuch liegt gleichsam auch über der Kirchenmusik. Pfeifen und Geigen, die tollen Liebespaaren zum Tanze aufgespielt hatten, pflegen sonst auch in lustiger [162] Frömmigkeit auf dem Dorfkirchenchore mitzutun; jetzt zur Fastenzeit haben sie dort keine Stimme. Nur die Orgel tönt umflort und auch sie wird von Woche zu Woche gedämpfter, bis sie in der »Antliswoche« ganz verstummt. Verstummt mitsamt den Glocken am Altar und auf dem Turme. Auch die Lichter an den Altären scheinen verlöschen zu wollen; nur das »ewige Licht« in der roten Ampel glimmt stille fort wie ein letzter Funke der Hoffnung, daß es sich noch einmal wende. Also ist wie ein blaues Bußtuch die schwere Trauer niedergesunken über alles. Die Beter haben kein buntes Fetzelein am Leib; in mattfarbigen Gewändern knien sie in ihren Stühlen, mit vorgeneigtem Haupte. Darunter auch die Dirndeln, die vor wenigen Wochen noch voll warmblütigen Lebens gewesen, und darunter die Burschen, die an den Faschingtagen so trotzig die Nebenbuhler niedergeschlagen und so herlebig nach den Früchten des Paradieses gegriffen haben. Seht ihr, auf scharfer Kante des Kniebrettes kniet der Kamperl-Nick und in der dunkeln Reihe der Gestalten, die sich dort vor dem Beichtstuhle anstellen, steht mancher Unhold, der jetzt aus allen Muskeln und Adern seines derben Körpers die Sünden zusammensucht und sich allen Ernstes vornimmt, ein frommer Mensch zu werden. Seit manchem Jahre nimmt er sich das vor bei jeder Osterbeichte und von Jahr zu Jahr merkt er ein immer tieferes Sinken in das Luderleben. Mit solcher Selbstunzufriedenheit des Beichtkindes ist der Beichtvater nicht übel zufrieden. Er weiß es, sobald der Mensch sich selber sagt: Du fällst ja immer noch tiefer! hebt er schon an, aufwärts zu steigen. Gebt nur acht, es ändert sich! – Die Zeit heilt nicht bloß alle Wunden, sie heilt auch alle Sünden. Beginnt bei [163] so einem Adam einmal der Magen empfindlich und eigensinnig zu werden, dann wird die schöne Tugend der Mäßigkeit hervorgesucht. Fühlt er einmal in den Gliedern das Zwicken und Reißen der Gicht, dann gibt er das wütende Dreinfahren und Zuschlagen auf und wird ein ganz verträglicher Mensch. Und läuft das rote Blut einmal langsamer und kühl durch seine Adern, dann findet er, diese Geschichten mit den Weibsbildern wären einfach dumm. Da mag Ostern kommen und Frühlingszeit soviel der will, da mögen in wie außer der Kirche alle Rosen leuchten, alle Fahnen wehen, alle Pfeifen klingen – über dem alten Adam bleibt das blaue Tuch gesenkt. Es hebt sich nimmer.

Der »Dichterixel-Dichteraxel« wundert sich baß, daß er aus jenen blauen Zeiten sein bißchen rotes Blut bis auf heute herübergerettet hat. Fast alle anderen von damals haben ihren Aschermittwoch angetreten – für immer.

Er hat ein schön's Röckerl an und ein schön's Knöpferl dran
[164] Er hat ein schön's Röckerl an und ein schön's Knöpferl dran.

Den Waldbauernbuben allsamt gewidmet vom Studentl.


O du schöner, stolzer Bauernknecht! Was bildest du dir ein auf deinen neuen Lodenrock, in dem du am Allerheiligentage das erstemal zur Kirche stapfest! Ein seiner, dunkelgrauer Lodenrock mit grünausgebrämten Schößeln und Ärmlingen; grünes Tuch am Kragen, hinter dem das weißgewaschene Hemd – sag', wer wäscht dir denn jetzt so schön? – gar neckisch hervorlugt; ferner mit den Hirschhornknöpfen, daß man glauben möchte, du sei'st ein Jäger – bist auch einer! – ferner mit grünem Tuch an dem Taschendachel, hinter welchem du ein rosenrotes Sacktuch hast – von wem denn? – und ein Stückchen Bartwichswachs – seit wann denn? – und ein beinernes Zündholzbüchsel – wozu denn? – und einen zierlichen Meerschaumspitz – wieso denn? Wir rauchen ja sonst Pfeifen. Sonst freilich, aber am Allerheiligentag nicht; wenn wir den neuen Rock tragen – da gibt's Zigarren.

Rechtschaffen viel hältst du von deinem Lodenrocke, und ich will dir sagen, es ist doch nur ein Ableger. Ich kenne einen, der hat ihn im vorigen Jahr getragen Feiertags und Werktags, hat in Staub und Schlamm, manchmal vielleicht in noch Ärgerem damit herumgeriffelt. Als ihm der Rock endlich zu struppig und lumpig geworden, [165] hat er ihn abgelegt, und nun trägt ihn ein anderer am Allerheiligentag. O du schöner, stolzer Bauernknecht!

Der schwarze Widder ist sonst nicht sehr zutunlich, er weiß stramm Ordnung zu halten unter seinen Frauen und ist nichts weniger als Weiberknecht. Doch von der Magd Kathel ließ er sich fangen – verstehst du das? Sie nahm ihn kräftiglich an ihre Knie und sprach: »Also Widdl, jetzt probieren wir's miteinand. Du mußt mir deinen Pelz geben.« Und sing mit der vorhin tückisch versteckten Schere auch schon an zu nagen in seiner üppigen Wolle. Der Widdl wußte, es ist der kalte Winter vor der Türe, er hätte sich wehren können mit seinen Hörnern, glücklich jeder, der Hörner hat – ich meine nicht solche, von denen deine Hirschhornknöpfe stammen. Allein die Kathl hatte ihn ganz in ihrer Gewalt – ist das nicht unbegreiflich? Ja, ja, die Weiber haben schon manchem den letzten Rock ausgezogen! Sie warf ihn zu Boden, er wehrte sich nicht, sie legte ihn auf den Rücken, es war ihm auch recht, und nach einer halben Stunde stand der Schelm da, kümmerlich und kahl, und man konnte seine Rippen zählen und, er war das Gespötte seiner Weiber, bis es auch diesen erging wie ihm.

Am Abend sitzt die Kathl in der Wolle. Mitten in Haufen von Wolle. Muß das nicht hübsch gewesen sein, du mein schöner Bauernknecht?

Am nächsten Tage wird der abgezogene Pelz gewaschen, aber nicht wie gewöhnlich, sondern auch naß gemacht. In einem großen Holzbottich haben schon zur Morgenfrühe die Steine gedonnert und getost. Die Steine waren im brennenden Ofen erhitzt, dann mit der Ofengabel rotglühend in das kalte Wasser des Bottichs geworfen [166] worden. Also wird dort, wo man keine Kessel hat, das Wasser kochend gemacht. Gelt? Hernach die Wolle hinein, tüchtig umgerührt, bis sich aller Schmutz, alles Fett und sonstige Sündhaftigkeit herausgesotten hat. Dann gelockert, in der Sonne getrocknet und nun ist nichts Widerliches und nichts Widderliches mehr in der Wolle. Ebensowenig, als heute, am Allerheiligentag, nicht wahr, du schöner Bauernknecht?

Wir bleiben einstweilen aber noch beim vorigen Jahre. Es kommt der Winter. Sie Schafe stehen im dunkeln Stalle und stellen – wenn sie nicht zu große Schafe sind – Betrachtungen an über die schlechte Einrichtung auf dieser Welt. Im Sommer Pelz schleppen und im Winter nackt sein. Aus Kummer darüber beginnen dem Kappen-du weißt ja, was das ist, ein Kapp! – graue Haare zu wachsen, und auch den anderen, falls sie nicht weiß oder schwarz sind; ein frohmütiges Mutterschaf erkennt an dem Gedeihen solchen jungen Pelzwerkes die waltende Fürsehung.

In der warmgeheizten Stube sitzen alte Weiber und auch junge – du wirst sie leicht unterscheiden – tun plaudern und tratschen und Wolle zupfen. Denn jedes Knäulchen muß gelockert, jedes Strähnchen auseinandergelöst werden, das geht heiklich zu – die Wolle gehört ja für den Rock eines schönen Bauernburschen!

Jetzt kommt der alte bucklige Ähndel. Er ist schon über achtzig, will aber auch noch etwas bedeuten auf der Welt. Seine Beine sind lahm, seine Hände sind tadernd, seine Ohren sind schwach, seine Augen sind blöde, seine Zähne – die paar letzten – sind locker und stumpf – er ist, wie er selber sagt, halt schon aufgebraucht.

[167] Heute bringt der Alte aber doch etwas mit sich, das mehr und schärfere Zähne hat als alle anderen in der Stube zusammen. Das sind – du weißt es ja – zwei auf Holztafeln gespannte Lederplatten, voll scharfer Eisendrahthäkchen, alle nach einer Richtung gebogen, so daß sie anzusehen sind, als hätten sie hübschgekämmtes eisernes Haar. Das sind die »Wollkrampeln«. Auf eine dieser Platten, die vorher auf der Bank befestigt, wird Wolle ge legt, mit der anderen Platte, welche eine Handhabe hat, wird hierauf so lange über die Wolle gefahren, bis diese unter dem zweifachen Zahnwerke geschlacht gekraut ist, so daß sie in dünnen flaumigen Tafeln herabgenommen und aufgehoben werden kann. Dieses »Wollkrampeln« besorgt der alte Ähndel, und er trampelt Tag für Tag, bis endlich der ganze Wollenvorrat in schönen flockigen Tafeln geschichtet ist. Auf den Krampler kommt es auch an, mein seiner Bauernbursche, ob dein Rock schwarz sein soll, oder braun, oder grau, oder gar weiß – die Farbe der Unschuld, was meinst du dazu? An grüne Aufschläge denkst du, und zu grün, der steirischen Farbe stünde – sagst du – das Grau am besten. Das freut mich am allermeisten von dir, daß du auf das Steirische soviel Geschätz legst! Gut, so wird der Ähndl weiße und schwarze Wolle derweise auf der Krampel durcheinander mischen, daß es Grau gibt. Gefärbte Wolle haben wir nicht und wollen wir nicht in unserem Gewand, gelt? Die Natur macht's, wir mischen es bloß, wie es uns recht ist – und punktum.

Nun sind wir mit der Wolle so weit, daß das Spinnrad herbei muß. Draußen weht ein schneidiger Wind, von den Bäumen und Dächern fliegt wirbelnd der Schneestaub [168] hin und deckt immer wieder die Pfade zu, die ihr auf eueren Gang in das Holz mühsam ausgetreten habt. In der Stube schnurren die Räder. Hinter jedem Rocken sitzt ein Weibsbild und wenn es Abend wird und ihr Burschen ins Haus kommt, hebt der Tag erst recht an. Nur die letzte Woche vor Weihnachten darf des Abends nicht gesponnen werden, weil an diesen Abenden die Mutter Gottes früh zu Bette geht und Ruhe haben will. Auch nach den Weihnachten wird an den Donnerstagabenden nicht gesponnen; warum, das wisset ihr selber nicht recht, es ist halt so ein alter Brauch. Der alte Brauch rührt von unseren Voreltern her, den alten Deutschen, Gott habe sie selig! und es handelt sich der Berchta wegen.

Du natürlich kümmerst dich weniger um die Berchta, als um die Kathl. Die hat am Rockenstab ein Kacherl hängen – du erinnerst dich – mit Wasser gefüllt, da taucht sie ihre Fingerspitzen ein, damit diese befeuchtet um so besser den Faden können drehen. Mit dem Füßlein – Strohpatschen hat sie an! – tritt sie wacker den Trittling und spinnt und spinnt. Willst du dir nicht einmal so ein Spinnrad genau ansehen, du stolzer Bauernknecht? Den Trittling und den Hebel und das Treibrad und die Laufschnur und den Abachschragen und die Spindel und die Spule und das Abachel mit dem Fadenöhr und dem Steckhäklein – kannst du so was auch machen, stolzer Bauernknecht? – Schau, jetzt fällt es dir dein Lebtag das erstemal ein: das Spinnradel ist merkwürdig. Es müssen schon recht gescheite Leute auf der Welt gewesen sein, bevor wir gekommen sind, wir, die Allergescheitesten! Wir halten das alles für selbstverständlich, was schon da ist, und schauen es nicht weiter an und denken nicht nach darüber, [169] wieviel dazu gehört hat; bis so etwas hat ausgedacht und gemacht werden können. Ja, das Spinnradel ist merkwürdig; aber die Kathl noch merkwürdiger. – Meinst du? – Zu so einem Spinnradel muß halt ein Spinnradelmacher sein, meinst du; aber eine Kathl zu erschaffen, da gehört der Gottvater dazu. – Richtig! O du gescheiter Bauernknecht!

Am Gertrudistag, gelt, ich weiß noch alles – muß das Spinnen zu Ende sein, »denn an diesem Tage beißt die Maus den Faden ab.« – Wenn du bedenkst, daß den ganzen Winter über die Kathl für dich gearbeitet hat, und daß in deinem neuen Rocke nicht ein Faden ist, den ihre Fingerlein nicht haben gedreht, so kannst du kaum dankbar genug sein. Wie wäre es denn auch möglich, daß ein Lodenrock so warm macht, wenn ihn nicht die Kathl hätte gesponnen!

Denn der Weber, welcher jetzt kommt, der brächte es nicht zustande mit seinem ungefügen Webstuhl, welcher die halbe Stube ausfüllt, und mit seiner zuwideren Bärbeißigkeit, welche die Hausmutter nachgerade zur Verzweiflung bringt. Der Ofen ist ihm nicht geheizt genug, die Wolle ist ihm nicht glatt genug gesponnen, die Kost ist ihm nicht fett genug; und ist sie fett, so kann er sie nicht »verkochen«. Scheint die Sonne zum Fenster herein, so muß die Hausmutter ein Tuch darüber hängen, und hängt das Tuch über dem Fenster, so ist es dem Weber zu finster. Wer aber den Weber deswegen der Bösartigkeit beschuldigt, der tut groß Unrecht. Jeder ordentliche Bauernweber hat ein gelbgrünes Gesicht. Seine sitzende vorgebeugte Haltung, der natürliche Ärger, den ihm das kropfiggesponnene Garn oder die fludriggedrehte Wolle, oder das [170] versprengte Schiffchen verursacht, jagt ihm eben die Galle in sein armes Blut. Nach wochenlangem Brummen und Knüpfen und Webern – man hört das Getöse in die Nachbarschaft – ist das Lodengewebe endlich fertig, eine große Rolle, zwanzig Ellen oder mehr, und der Weber macht das erstemal ein lächelndes Gesicht, es ist fast rosig angehaucht, als ob jeglicher Tropfchen Galle eilends zurückgelaufen wäre, wohin er gehört. Der Weber bekommt seinen Weberlohn und darum die Genesung.

Ich habe oben gesagt, das »Lodengewebe«, nicht der Loden. Um Loden zu werden, weißt, die Tuchglättung, dazu muß das Weberzeug nun erst in die Walche. Da wird es in großen Trögen gekocht und eingemacht mit mancherlei Zutat, die ich selber nicht weiß, weil einem die Gewerbsleute nicht alles sagen wollen, aus Furcht, die Dichter könnten eine Lodenwalcherei eröffnen und ihnen das Geschäft verderben. Das Zeug kommt hernach in eine Walze, in eine Filze, in eine Spanne – eine wahre Folterkammer für den armen Weberstoff. Wie aber geht er daraus hervor! Als vollendetes, glattes, gefilztes Tuch, in welchem man keinen Faden und kein Geflechte mehr sieht. Ist der Walcher ein besonders geschickter Mann, so kraut er den Loden an einer Seite noch leicht auf, gibt ihm einen »Strich«, einen Glanz, und jetzt – wo ist der Schneider?

Der Schneider kommt auf die Wochen! Merk' dir's, kluger Bauernknecht, der Schneider kommt allemal »auf die Wochen«. Es sei denn, daß du dich recht tapfer vor ihn hinstellst und sagst: »Meister, wenn du auf morgen nicht zu haben bist, so nehm' ich einen anderen Schneider!« In diesem Falle kommt er nicht auf die nächst Wochen, [171] sondern »morgen«. Dieses »Morgen« steht aber im Schneiderkalender erst in drei oder vier Tagen, es gehört zu den »beweglichen Festen«.

Der Schneider sagt in seiner großsprecherischen Art: »Ich mache dir den Rock!« Das ist unrichtig. Wir haben gesehen, wie viele Schaffende beigetragen, um dir den Rock zu machen; am meisten leistete dazu der Widder, der die Wolle gab. Der Schneider tut das wenigste, er schneidet auseinander und näht zusammen. Schnitte er ihn nicht auseinander, so könntest du den Loden als ein Tuch um deinen Leib hängen, wie die Apostel, in malerische Falten geworfen, und du hättest einen Rock und einen viel schöneren, als ein Schneider je zusammengeschneidert. Wenn der Widder, um sein Erstlingsrecht an dem Rocke des schönen Bauernknechtes zu wahren, mit seinem Widderhorn den Schneider ins Bockshorn jagt, so ist ihm das nicht einmal so arg zu verdenken.

Froh bist du aber doch, wenn endlich das »Schneidermorgen« gekommen ist und der Geometer mit dem Faden deinen Adam ausmißt nach allen Richtungen hin. Zuerst mit dem Faden um den Brustkorb – ein stattlicher Korb, allen Respekt! – und ein Knoten gemacht. Dann den Faden um Hals und Kröpflein – ein stattliches Kröpflein! – und ein Knoten. Hernach den Faden vom Nacken über den Rücken – ein stattlicher Rücken! – bis hinab über die prächtig gewölbte Rundung – allen Respekt! – und ein Knoten. O du schöner, stolzer Bauernknecht!

Jetzt kommst du mit dem grünen Tuch und mit den Hirschhornenen. Den Lodenrock gibt dir kraft alten Brauches der Hausvater, das seine Zugehör aber, wenn du eines haben willst, mußt du dir selber kaufen. Auswendig [172] an der linken Brustseite willit du eine Zigarrentasche haben – ei sapperment! »Und inwendig einen Brustsack für die Brieftasche?« fragt der Schneider.

»Brauch' ich nicht,« sagst du. – O verdammt!

Endlich sind wir's. Knapp vor dem Allerheiligentage sind wir's geworden. Der Schneider – solche Leute sind immer artig – hat noch gesagt: »So, fertig ist er. Nu schau halt, Michel, daß du ihn gesund zerreißest!«

Und jetzt in die Kirche. Wo die meisten Leute gehen, denselben Weg schlagen wir ein. Aber die Leute sind so sonderbar, vom Wetter sprechen sie, und ob sie noch anhalten wird, die schöne Zeit! Vom Viehhandel, vom Kornbau und welcher Wirt jetzt den trinkbarsten Wein habe. Nicht dem besten, bloß dem trinkbarsten fragen sie nach, zu so großer Bescheidenheit hat sie der Dorfwirt erzogen. Und was es Neues gebe? – Ja, aber der Michel! Der schöne, stolze Bauernknecht! seht ihr ihn nicht? Im neuen Rock! Soll denn just ein neuer Rock nichts Neues sein? – Unmutig hiegen wir seitab einen Fußsteig durch Birkenbestand. Dort geht die Kathl mit dem krausen Haar und milden, runden, frischen Wangelein und mit dem knospenden Rotgöscherl. Sie hat just kein neues Gewand an, und doch zieht sie den Michel sachte an sich – die Kathl ist nämlich ganz merkwürdig.

»Tu bist aber frei nit zum derwischen, Kathl!« redet er sie an, als er sie eingeholt hat. »Bleib' doch ein bissel stehen, die Kirchen lauft uns nit davon. Kathl, schau mich einmal an!«

»Tu bist mir gar nix seltsam, ich seh' dich eh alle Tag,« antwortet das Dirndl-oh diese Bauernmädeln![173] Wie sie das Abtrumpfen gut verstehen, eine wie die andere. Ich weiß es.

Der Michel dreht sich vor ihren Augen ein paarmal um sich: »Wie steht er mir, der neue Rock?«

»Hau!« lacht sie. »Jetzt weiß der nit einmal, wie ihm der Rock paßt!«

»Wie er mir paßt, weiß ich gleichwohl, das g'spürt man; aber wie er steht; weiß ich nicht, weil man sich von auswendig her nit anschauen kann.«

»Mußt dir halt wen aufnehmen und verzahlen, der dich anschaut. Wieviel gibst denn für die Stund'?«

»Schau doch ich dich auch gern umsonst an,« sagt er und murrt über die Weibsleute, die gar nichts mehr umsonst tun wollen.

»Also angeschaut willst sein,« sagt das Dirndl, »na so will ich dich einmal anschauen.« Stellt sich schnurstracks vor ihn hin, glotzt seine Gestalt an und singt: »Er hat ein schön's Röckerl an – und ein schön's Knöpferl dran!« und macht ein dummes Gesicht. Wenn aber die Kathl recht dumm dreinschauen will, da schaut sie am allerpfiffigsten, und du mein stolzer Bauernknecht, merkest etwas spät, daß du heute wieder einmal der Gefoppte bist. – Hörst, Michel, wie du ein Bursche bist, das kannst du dir nicht gefallen lassen von der Kathl! Von der Kathl gerade am allerwenigsten. An dieser Person mußt du dich rächen.

Aber wie?

Komm' her, Michel, ich will dir etwas ins Ohr sagen. – Die Kathl mußt du heiraten! – Hast du gehört?

Ganz rot wird er im Gesichte, der Schelm. Und diese [174] Verwirrung! Habe ich vielleicht deine Gedanken erraten?

– »'s ist wahr,« flüstert er mir endlich zurück, »wenn wir uns heiraten täten, nachher kunnten wir uns foppen wie wir wollten.«

Oho! Dieser Meinung bin ich nicht. Überleg' dir's erst noch, Michel. Schlaf' einmal drüber! Ich möchte keine Schuld haben. So etwas muß man nach allen Seiten überlegen. Nun, du wirst es ja sehen. Beschlaf's halt einmal.

Er beschläft es, und zwar im Kirchenstuhl während des Hochamtes.

Auf dem Heimwege frisch ausgeschlafen läuft er voraus, und im Waldschachen, wo vor etlichen Jahren der alte Bachsimmerl einen toten Krainer gefunden hat, paßt er ihr auf wie ein Straßenräuber. Der arme Krainer damals blieb tot, und zwar so lange, bis sein mordskanonen Fetzen, den er vom Wirte mitgebracht, verdampft war. Dann ging er mit dem redlichen Finder. Und hier ist es, wo der Michel auf sie wartet. Allerhand Leute gehen vorüber, junge und alte, arme und reiche, er tut keinem was. Aber als nun die arme Kathl ganz allein dahertrabt, ahnungslos und munter, da – im finsteren Walde – steht er plötzlich vor ihr.

»Was willst denn?« fragt sie, ohne viel zu erschrecken.

»Dein Leben!« antwortet er.

»Mein Leben willst du haben?« fragt sie keck, »wenn du's brauchen kannst, warum denn nicht!«

Gesteh's nur zu, Michel, genau so ist's gewesen. Und du warst selber ganz erschrocken darüber, daß das Ding so leicht gegangen.

[175] Meinst du am Ende, des neuen Lodenrockes mit den Hirschhornknöpfen wegen?

S du schöner, gescheiter Bauernknecht!

Viele, viele Jahre später gucke ich in eine Dachkammer des Armenhauses. Eine halb verfallene Bauernhütte, sonst zu nichts mehr nutz als zur Wohltätigkeitsanstalt christlicher Liebe. Die christliche Liebe, welche unter diesem vermodernden Strohdache wohnt, wollen wir nicht näher untersuchen. Hingegen betrachten wir den kahlköpfigen Greis, welcher in der halbdunkeln frostigen Kammer am Fensterchen sitzt und an einer alten Jacke herumtut. Vor lauter unterschiedlichen Flicken ist dieses Gewandstück schon bauschig und wulstig geworden, daß es sowohl als Leibjoppe, denn auch als Bettdecke gar nicht übel warm hält. An den zerfransten Säumen und am Kragen sind noch spärliche Spuren eines grünen Tuches, welches freilich längst schon gelb und faserig geworden. Knopf ist keiner mehr vorhanden, ein paar zausige Bändlein müssen die Stelle vertreten. An den Ärmlingen der Joppe sind stellenweise dunkelglänzende Flächen, wie von einer Harzmasse. Einen besseren Handspiegel hat er nicht, der höckerige Alte, welcher nun seit längerer Zeit schon angelegentlich beschäftigt ist, die Nadel einzufädeln. Es wäre ja weiter keine Kunst, aber das Loch ist nicht zu treffen. Seine Arbeit geht heute überhaupt nicht am besten vonstatten. Anfangs hat er damit auf seinem Strohsack hocken bleiben wollen, bei der Ampel, da kam das Eheweib, um »aufzuräumen«. Hernach hatte er sich zum Ofen gesetzt, der war zwar nicht geheizt, aber ein Ofen war es doch immerhin. Das Eheweib kam mit dem [176] Besen, um auszukehren. Hierauf setzte er sich an die wurmstichige Gewandtruhe, das war der Tisch, um hier seiner Jacke gütlich zu tun. Das Eheweib kam mit einem alten Fetzen, um abzustauben. So setzt er sich endlich aus Fensterlein, wo man freilich nichts sieht, weil es papierene Glasscheiben hat. – Wie das Eheweib ausschaut, soll ich sagen? Ich bitte euch, es ist zu dunkel, man sieht nichts Rechtes. Man hört nur das Kauschen, wie von einem zahnlosen Munde, und man hört das Siffeln und Poltern eines mit Besen und Fetzen wüst umherfahrenden Wesens.

Endlich ist es geglückt, der Faden ist im Ohr. Während die Alte in seiner Nähe umhergeistert und Miene macht, ihn auch an diesem Platze zu bedrohen, hebt er mit seinen dürren Händen die Joppe empor, um zu untersuchen, an welcher Stelle sie noch am allerhilfebedürftigsten sei. Als er so ratlos und blöde auf sie hinstarrt und mit dem Kopfe wackelt, und endlich gegen das Eheweib hinschaut, murmelt er mit einem unterdrückten Seufzer: »Die ist auch einmal schön gewesen!«

»Was sagst?« sticht das Eheweib mit scharfer, spitzer Stimme her.

»He, he, mit meiner Jacken da hab' ich geredet,« antwortet er kichernd: »Die ist auch einmal schön gewesen.«

O du guter, armer, alter Bauernknecht!

Jugendnebel
[177] Jugendnebel.

Bei uns daheim war vieles anders eingerichtet, als es sonst Weltbrauch ist. Zu unserer Absonderlichkeit gehörte auch, daß wir im Winter hoch auf dem Berge und zur Sommerszeit tief im Tale zu leben pflegten. Unser altständisches Wohnhaus mit seinen zahlreichen Nebengebäuden ragte im dünnen, frischen und reinen Luftkreise der Alpen. Auf unseren Matten stehend blickten wir über Wiesenpläne und Waldrücken hinaus nach den fernen Hochalpenzügen des Wechsel, des Stuhleck, der Rax, der Veitsch, des Schwaben. Keiner dieser kühnen Berge schien sein Haupt höher zu erheben als das Hochland war, auf dem unser behäbiger Hof lag. Das war freilich nur scheinbar so; später, als ich auf dem Wechsel, auf dem Hochschwab stand, sah ich wohl, wie tief die heimatliche Flur niedergesunken war ins dämmernde Waldland. Aber dieses Waldland barg noch größere Tiefen, Engtäler, Gräben und Schluchten, in welchen die kalten Bäche rauschten und in welchen die schattigen Wiesen lagen. Da unten war Sand und Moor und beständiger Tau, aber auch das Gras wuchs üppig auf Schlammgrund und vermoderten Baumstämmen. Wie oben an sonnigen Hängen die Felder leuchteten zur Reifezeit gleich Goldplatten, also war hier unten der Boden manchmal geschmückt mit dem Silberhauche des Reifes und mit den [178] immer wieder sich bildenden Diamanten des Taues. In der Höhe Kornbau, in der Tiefe Viehzucht.

In einem solchen Engtale auf bewaldetem Hügel, etwas erhöht über den Wiesen, die längs des Baches sich hinzogen, hatten wir ein kleines Haus mit Stall und Scheune. Das war eine Almwirtschaft, die im Winter leer und verlassen stand. Wenn aber der Sommer kam, da man anderswo die Herden aufwärts führt in die Hochmatten zwischen und über den Felsen, zogen wir zu unserer Alm niederwärts ins schattenblauende Engtal. Wir zogen alle herab: die Kühe, die Kälber, die Mägde, die Schweine, die Knechte, die Schafe, ich, meine Geschwister, die Mutter, der Vater und der Waldl. Die Zugochsen waren nach vollbrachter Anbauzeit in ferne Halden getrieben worden. Also ward der Hof auf der Höhe abgeschlossen, jedes Tor versperrt, nur die Hauskatze blieb oben als Hüterin und ward in ihrer Einsiedelei fetter als sonst das Jahr über, weil niemand sie hinderte an ihren Mäusejagden.

Ich weiß kein lustigeres Siedeln, als dieses war, wenn wir die Truhen und Betten und Milchkübeln und Pfannen und Töpfe und anderen Hausrat teils auf Karren, teils auf menschliche Rücken luden und zu Tale brachten. Vor uns, die also Beladenen, trotteten die Herden einher, die grunzenden Schweine, die blökenden Schafe und der vor Fröhlichkeit im Zickzack umlaufende bellende Waldl. So wie ich als Knabe diese Siedelung oft mitgemacht hatte, so auch als Student. Als ewiger Student, der ich heute noch bin, wenn ich die Waldheimatleute studiere, die so einfältig und so unerschöpflich sind. Jetzt gedenke ich der Jugendzeit. Ich half der Mutter siedeln von Berg zu Tal.

[179] Sie gab mir einen Melkzuber zu tragen. Diesen stülpte ich über das Haupt und darunter sang ich Vierzeilige, was einen dumpfklingenden Ton gab.

Rief mir einmal ein alter Knecht zu: »Bua! Wann du soviel von der Mirzel in den Sechter (Zuber) singst, so wird nachher die Milch sauer!« Da schwieg ich sein, wußte recht wohl, wie das gemeint war. Zwischen der Mirzel und mir war ein säuerliches Verhältnis gewesen, am Sonntage zuvor, und das hatte der alte Kracher richtig bemerkt.

Genug an dem, wir wanderten also, ein bunter, schreiender, lachender, klappender, schrillender Zug abwärts über die in Millionen weißer Schlüsselblumen und gelber Löwenzähne prangenden Matten und durch den dunkeln Wald, in welchem an jedem Stamm ein Eichhörnchen, unter jeder Baumwurzel ein Wiesel und auf jedem Wipfel zwitschernde Vogelgesellschaften ihr Wesen trieben.

Das Almhaus, welches unten im Tale stand, war so klein, daß es den anrückenden Troß einfach nicht zu fassen vermochte. Zur Not, daß das Vieh nächtlicherweile unter Dach gebracht werden konnte, die Leute mußten sich behelfen, wie sich's gab. Vater, Mutter, meine jüngeren Geschwister und ein weißes Kaninchen schliefen im Stübel. Die Hausmagd und das Abwaschdirndl schliefen auf dem Herde, darüber auf der Brennholzasen hockten die Hühner. Im Dachboden auf einem Bretterschragen lagen unser Knecht Markus und ich, uns zu Füßen ein schwarzes Ziegenböcklein, das mir tagsüber gerne nachlief, des Abends mir nach die Stiege hinauftrappelte und in schlaflosen Stunden der Nacht manchmal eins meckerte oder an meiner großen Zehe schnupperte. Im Stalle und in der [180] Heuscheune auf Barren, Schrägen, Schauben und Futterhaufen lag das übrige Gesindel umher. Am besten hatte es sich der alte Einleger Eusebel eingerichtet. Ein paar hundert Schritte vom Hause weg mitten im Walde stand ein alter Ahornbaum. In die dichten Armverzweigungen dieses Baumes hatte der Eusebel aus dem Gezweige ein Nest geflochten, hatte einen Strohschaub darüber gelegt, hatte etwaige Löcher noch mit Moos vermauert, und da kroch er nun an jedem Abende hinauf und heimte sich ein im Neste unter der Laubkrone. Ich selbst lag einmal drinnen, und zwar während eines Wettersturmes. Das rauschte und toste um mich her in dem Laube, aber kein Tropfen Wasser kam zu mir herein.

Der Eusebel war ein wenig kränklich und da riet ihm ein junger Doktor, der wegen einer Totenbeschau in die Gegend gekommen war, er solle hübsch bei offenem Fenster schlafen, worauf der Eusebel antwortete, das könne er wohl nicht, weil er in seinem Schlafgemach gar kein Fenster habe. Als hernach der Doktor vernahm, welcher Natur das Schlafgemach war, weissagte er, der Eusebel würde hundert Jahre alt werden.

Tagsüber brachten auch wir anderen im Freien die Zeit zu. Bei den Mahlzeiten setzten wir uns unter einen Kirschbaum, der auf der Wiese stand. Der Vater saß in der Witte, sein Schoß war der Tisch, auf welchem die sehr große Schüssel stand, nach deren Inhalt jedes von uns bescheidentlich und kühnlich zugleich den Beinlöffel ausschickte. Waren die Kirschen reif, so stieg ich nach der Mahlzeit auf den Baum und warf die roten Träublein herab in die Schüssel zum Nachtisch. Manchmal blieb eines an der Nase des Jungknechtes hängen, [181] manchmal fiel eines der Abwaschdirn in den geräumigen Mund, und manchmal aß ich oben die Kirschen selber und warf ihnen nur die Kerne herab.

Lieber als alles miteinander auf unserer Alm im Engtale war mir das Wasser. Das Wasser, welches in kleineren Bächen aus den Nebengräben hervorrieselte oder von steilen Hängen niederhüpfte, das Wasser, welches aus buschumwucherten Quellen sprudelte oder in tiefen Tümpeln stand. Am Tage sah man sein Glitzern, sein Quirlen, sein Wallen, seine Spiele all', bei der Nacht hörte man sein Rauschen immerwährend und immerwährend. Heute wohnen keine Menschen mehr in jenem Dale, aber das Rauschen ist heute wie einst in meiner Jugendzeit. Keinen Augenblick unterbrochen, außer es hat das Wintereis die Bäche eingewölbt; unaufhörlich, unerschöpflich geben die Berge ihren Quell, selbst in Zeiten der Dürre, wo in anderen Tälern die Brunnen versiegen, die Bäche austrocknen bis in ihr fahles Gestein, rinnen und rinnen dort im schattenkühlen Engtale die klaren, kalten Bäche.

In jenen meinen Jahren aber war ich mit dem Sehen und Hören allein nicht so zufrieden, wie ich es heute bin. Ich will nicht gerade sagen, daß ich alles Wasser unseres Tales gleich hätte austrinken mögen, aber daß mein Sinn nach Haben und Genüssen stand, das leugne ich nicht. Meine jüngeren Geschwister bauten aus Wasser kleine Mühlen, Hämmer- und allerlei Räderwerk; ich half ihnen manchmal dabei in Rat und Anschick, für mich selbst aber war ich über diesen Spaß hinaus. Ich ging ins Wasser auf Jagd. Forellen, Krebse, Frösche in großer Menge. Ich durfte nur einiger maßen vorsichtig mit den Händen unter einen Bachstein fahren, so hatte ich auch schon solch [182] ein Tierchen zwischen den Fingern. Die Krebse zwickten zwar in der Eile ein weniges an der Haut, es half ihnen aber nichts; die Frösche dehnten und breiteten ihre Schenkel so unschicksam, glotzten mit ihren Augen so häßlich, grinsten mit ihrem gottlos breiten Maul so verabscheuungswert als möglich, es half ihnen nichts, sie waren gefangen, wurden getötet und verzehrt. Am ehesten überwand mich noch die schöne harmlose Forelle, wenn sie in meiner Hand vor Atemnot und Todesangst mit dem Haupte zuckte und den Schweif ringelte. Da sagte ich wohl zu mancher: »Du liebes, herziges Tier mit deiner rotbesternten Haut, mit deinem weißen Bauch, mit deinen zarten Flossen, die wie Flüglein sind! Feiner Wasservogel du, der, soviel ich eben sehe, auch Eier legt, wie die Schwalbe und wie die Amsel...« Auf meine Lobpreisung gab der Fisch aber nicht viel, er wollte nichts, als um Gottes willen nur wieder im Wasser sein, und so habe ich ihn manchmal denn um Gottes willen wieder hineingeworfen, das heißt, wenn er nicht zu groß war. Ich hatte Forellen aus dem Bache gezogen, die so lang waren, wie meine Hand bis zum Ellbogen herein, und auch hübsch breitlich, schillernd im schönsten Silber, das mit Rubinen besetzt ist – so etwas warf ich dann nicht mehr ins Wasser, vielmehr ins Feuer, nachdem das Tier kunstgerecht geschlachtet, ausgeweidet und zubereitet worden war. Am Waldrande hatte ich aus dürrem Geäste das Feuer angemacht; in die richtige Glut legte ich dann die Forelle, die auf derselben sich nochmals zu ringeln begann, als ob sie wieder lebendig würde. Und war also der Leckerbissen auf das beste geraten, so hieß es nun jemanden aufzutreiben, der ihn verzehrte. Denn ich selbst war kein großer[183] Freund von Fischen, meine Lust war das Fangen, und verzehren tat ich sie nur, wenn sonst niemand dazu da war.

Die Herde, die ich zu weiden hatte, hielt sich an das fette Gras der Wiese; mein Ziegenböcklein schnupperte zwar zum Braten, der auf einem Germenblatte lag, aber weiter kümmerte es sich auch nicht um den bereiteten Imbiß. Jenseits des Baches auf der Wiese des Nachbars war wohl jemand, von dem ich ahnte, daß er so etwas möchte. Heidenbauers Hirtendirndl, die Mirzel war's, das vertrackte Dirndl, welches ich haßte. Dieses unheimliche Wesen, kaum um etliche Jahre jünger als ich, braunhaarig, schwarzäugig, rotwangig, hatte mir nur Böses getan, lauter Böses. Grüßte ich sie, so sah sie es nicht, sprach ich sie an, so legte sie einen Spott darauf, ging ich ernsthaft drein, so lachte sie mich aus, nannte ich sie das liebe Dirndl, so hieß sie mich den dummen Buben, sang ich ihr ein gesalzenes Vierzeiliges, so sang sie mir ein noch gepfefferteres zurück. Und bei der Nacht, wo man doch glauben müßte, daß sie sehr weit von mir gewesen wäre, neckte sie mich im Traum, stellte sich so unermeßlich schön und holdselig und war am Ende nicht da – so daß ich manchmal in Verzweiflung fiel.

Einmal war ein stiller, Langeweile spinnender Herbsttag. Nur das Wasser rauschte und rauschte. Im Engtale lag Nebel, daß man von den Bäumen am Waldrande nur die unteren Teile sah, ihre Wipfel verschwammen in der grauen Unendlichkeit. Von meiner Herde sah ich bloß die vordersten Tiere, die wie dunkle Flecken im Nebel standen oder langsam hin und her glitten. Nur mein schwarzes Ziegenböcklein war klar und deutlich da, weil es ganz nahe an meinen Füßen umherschallte. Ich [184] hatte wieder ein Feuer gemacht, das Ziegenböcklein mußte im Nebel die aufsteigende Flamme für eine Feuerlilie gehalten haben, die man essen kann, wenn man Ziegenböcklein ist. Aber diese Feuerlilie verstand unrecht und wollte das Böcklein essen; am Barte arg versengt, zuckte und sprang es zurück und blickte mich mit vorwurfsvollen Augen: was ich denn da für ein Ungetüm hege? Ob ich denn nicht einen Prügel nehmen und das Ding mit den roten Zungen totschlagen wolle?

»O Ziegenkind, Ziegenkind!« rief ich. »Dieses Ungeheuer ist mit Prügeln nicht umzubringen. Je mehr Prügeln man drauf wirst, je stärker wird es. Hingegen hat es uns wieder ein gutes Fischlein gebraten. Willst ein Schweifel davon?«

»Vergelt's Gott!« antwortete das Ziegenböcklein, denn wenn der Nebel sehr dicht ist, sprechen in jenem Engtale auch die Böcke. »Suche dir wen anderen zu diesem Braten, ich eß den Salat.« Und schnappte einige Wildlattichblätter auf. Dann meckerte es und sprach: »Schau einmal über den Bach hinüber. Just hat sich der Nebel ein wenig gehoben, er wird bald wieder sinken, schau geschwind! Dort steht eine. Au, jetzt lauft sie schon wieder. Jetzt duckt sie sich hinter den Weidenbusch. Jetzt lugt sie herüber. Du, dieselbige möcht' gewiß Fische haben. Kurasch, Bua, und hol'. sie dir!«

Einer so lebhaften Aufmunterung war natürlich nicht zu widerstehen. Ich legte die wohlgebratene Forelle auf ein großes Germenblatt, das wie ein zierlicher Teller gehöhlt war, tat diesen Teller auf einen Stein und ging an den Bach. Ich kam bis zu dem schmalen Stege, der durch ein einziges langes Brett über ein paar aus dem [185] Wasser ragende Steinblöcke gelegt war. Man mußte vom Ufer aus einen guten Sprung tun, bis auf das Brett, und den tat ich auch. Mit wenigen Schritten war ich drüben und mein Böcklein hinter mir her. Jetzt war ich auf der Heidenbauernwiese, aber ich sah das Dirndl nicht. Es waren die Weiden da, hinter denen sie früher versteckt gewesen, es waren die zwei braunen Kühe da, die sie zu weiden hatte, aber sie war verschwunden wie ein Ding, das gar keinen Leib hat. Sie tut wahrlich, die Mirzel, als hätte sie keinen. Wenn sie aber einen hat, dann – so mein racheschnaubender Gedanke – dann soll sie sich den heutigen Tag merken! Ich will ihr zeigen, ob man einen braven Burschen spotten darf, oder übersehen, oder auslachen, oder gar necken im Traum! Das Ziegenböcklein war wesentlich klüger als ich, es meinte, wenn sie hier am Bachesrand nicht sei, so werde sie eben anderswo sein. Es hüpfte munter umher, und auf einmal meckerte es mitten im Nebel drin. Ich ging hin und da war ein Erlenbusch, und aus dem Erlenbusch zwischen Blattwerk guckte ein rötlicher Fuß hervor und fünf Zehen dran, an welchen das Zicklein schnupperte, als wären es die meinen. Als ich diesen armen, von allem entblößten Fuß sah, verging mir der Haß. Ganz gründlich verging er mir. Sie hub an zu kichern.

»Willst du jetzt da drinnen bleiben, kleiner Molch?« fragte ich.

Da kroch sie flink hervor, riß vom Erlenstrauch ein Zweiglein ab, versetzte mir damit eins auf die Schulter und lief davon.

Nun gibt es aber Leute auf der Welt, die längere Beine haben, als ein barfüßiges Hirtenmädel. Das[186] Ziegenböcklein hatte seine helle Freude an unserem Wettlauf und tat munter mit und meckerte lustig, als ich sie am Rockkragen erhaschte und ausrief: »Mirzel, jetzt hat er eine!«

»Und hat auch eine!« rief sie lachend, da fühlte ich eine auf der Wange. Sie tat aber nicht weh, sie war nur so ein würziges Tätschchen gewesen. Ich tat nichts dergleichen, packte sie am Arm; und wir schritten nun Arm in Arm, wie ein Stadtherrnpaar, am Bachesrand entlang. Sie sprach vom Nebel, ich sprach vom Regen. Sie redete von ihren Kühen, ich redete von meinen Ochsen. Dann sagte sie, ich hätte einen sehr dummen Ziegenbock, der springe ja, als ob er närrisch ware.

»Er springt halt vor Freude,« antwortete ich. »Weil wir die Mirzel haben.«

»Was habt ihr denn auch an der Mirzel?« fragte sie schelmich.

»Wir haben an der Mirzel eine, die uns Fische essen hilft,« war meine Antwort. »Komm' nur gleich mit. Er ist schon fertig.«

Ein bißchen sträubte sie sich, aber nicht arg. Das Wasser wallte und rauschte; ich führte sie über den Steg hinüber auf meine Wiese. Und das Böcklein hinter uns her.

Sie schwieg, wußte wahrscheinlich nicht recht, was jetzt werden sollte. Das glosende Feuer am Waldrande warf im abendlich dunkelnden Nebel schon eine Art Heiligenschein um sich. Natürlich; seht kam ja der Fasttag – wir gingen Fisch essen. Der lag noch ruhig auf dem steinernen Tische in seinem grünen Teller. Ein wenig geringelt war er, als wollte er sich in seinen eigenen Schweif beißen.

[187] »Du wirst den Kopf haben wollen?« fragte ich das Dirndl nicht ohne Bosheit.

»Nein,« antwortete sie. »Da mach' ich's schon lieber dem Fische nach.« Sie wußte wohl, daß bei diesem Tiere der hintere Teil dem Kopfende vorzuziehen ist. Ich begann mit meinem Taschenfeitel sorgfältig die stahlgraue, teilweise angekrustete Haut abzuschälen, bis das milchweiße Fleisch bloßlag. Es löste sich leicht und glatt von dem Grätengerippe und das Dirndl ließ sich's schmecken. Ich erzählte ihr während des Schmauses, wie man Fische fängt, verschwieg aber, wie man Dirndln fängt, weil ich befürchtete, sie möchte davonlaufen.

Noch knusperte sie an einer Flosse, als sie sich selbst halblaut die Frage vorlegte: »Wie werd' ich jetzt übers Wasser kommen?«

»Heute kannst du nicht mehr hinüber,« antwortete ich. »Das Brett hat's vertragen.«

»Was wird mein Bauer sagen, wenn die Kühe allein kommen und ich nicht!«

»Das kann dir ganz gleichgültig sein, du hörst es ja nicht. Und morgen, wenn du heimkommst, wirst die Wahrheit erzählen, daß es den Steg vertragen hat, und daß du bei uns hast müssen über Nacht bleiben.«

Es war schon recht dunkel geworden, das Feuer vergloste am Waldrand. Ich trieb meine Herde heimwärts und das Dirndl folgte mir nachdenklich, ein wenig traumhaft. –

Als wir mit unserem Herdetrieb durch den Wald kamen und in die Nähe des großen Ahornbaumes, fiel es mir plötzlich ein.

»Du,« sagte ich etwas ungleich zu meiner ganz stumm [188] gewordenen Begleiterin, »wenn du schon dableiben willst, so weiß ich dir eine fürnehme Schlafstatt. Du wirst es schon immer einmal gehört haben, daß der alte Einleger Eusebel da oben im Ahornbaum sein Bett hat. Recht ein gutes Nestel, bin selber schon einmal drinnen gewesen. Gestern ist der Eusebel hinausgegangen zum Bader, weil er krank ist. Da wäre sein Bett jetzt frei, wenn du dich willst ausschlafen.«

»Mein Gott!« ächzte sie. »So mitten im Wald. Kein Aug' kunnt ich zumachen vor lauter Fürchten.«

»Wenn's nicht anders ist,« beriet ich hierauf, »so müßt' halt ich – ein bissel Wacht stehen beim Baum, bis die Geisterstund' vorüber wär'.«

»Das wird dir halt auch sauer werden.«

»Ich tu's gern.«

Hierauf kletterte ich die Holzsprosseln hinan, die der alte Eusebel in den Stamm geschlagen hatte, um mich zu überzeugen, ob das Lager auch in Ordnung wäre. In der länglichen Höhlung war aus Stroh ein Bett gemacht, darüber eine alte Pferdedecke, und unter dieser Decke lag der alte Eusebel. Das war mir nun ein bißchen unangenehm. Zuerst hörte ich seinen schweren Atemzug, dann fühlte ich seine kalte Hand. Er tastete nach mir, umklammerte krampfig mein Handgelenk und hauchte: »Franzl! Verführen! Verführen mußt du sie nicht!«

Ich war sehr erschrocken, und nach einem Weilchen fragte ich, wie es ihm gehe, was er mache?

»Ein bissel sterben,« antwortete er.

»Eusebel, ich werde Leut' holen.«

»Hilft nichts. Müssen selber sterben. Wird bald vorbei sein. Draußen – bei der Pfarrkirchen hab' ich[189] alles fertig. Ich weiß es wohl, du hast sie mitgebracht. – Willst ein Elend anheben. Mußt nit. Tät' nachher nimmer aufhören. – Ach! – Weh' tut's! – Weh' tut'h!:'

Ich wollte um Hilfe eilen. Er hielt mich aber fest am Arm: »Bleib' ein bissel da. Ein Vaterunser kannst mir vorbeten.«

Ich suchte hinabzugucken auf meine Genossin, aber es war schon zu finster, um zu sehen, ob sie noch am Baum stehe.

Dann war es still.

Als ich es wahrgenommen hatte, kletterte ich den Baum herab. Das Zicklein war da, sonst niemand.

Als am nächsten Tage mein Vater hinausging ins Kirchdorf, um beim Pfarrer anzuzeigen, daß der alte Einleger Eusebel gestorben sei, war der Pfarrer verwundert und sagte: »Das weiß ich ja schon. Gestern war ein Bote da, der hat's gesagt.«

Da stellte es sich heraus, daß der alte kranke Einleger, der sein Ende gefühlt haben mußte, auf einem Kohlenführerwagen selber gekommen war, um Läuten, Seelenmesse und Grab zu bestellen. –

Wenige Tage nach diesem kleinen Ereignisse sind wir wieder auf den Berg gezogen in unseren Hof. Ähnlich wie wir herabgesiedelt; so siedelten wir hinaus. Etwa auf der halben Höhe deo Berges kamen wir aus dem Nebel hinaus und in den Sonnenschein hinein. Es war, als ob wir aus einem weißen See aufgetaucht wären; hoch über uns tiefblauer Himmel, aber auf den Matten keine Blume, auf den Bäumen kein Vogel mehr. Die Blätter der Eschen und Birken lagen gelb und wie gekocht auf dem Rasen, [190] und wo die Schatten der Bäume waren, lag weißer Reis. Als wir an den Hof kamen, der mit seinen verschlossenen Türen und Toren behäbig dalag, des Winters gewärtig, hörten wir drinnen ein klägliches Wimmern und Schreien. Wir stellten unser lautes Wesen ein, denn wir erschraken alle miteinander. Der Mutigste von uns war der Jungknecht, der schloß mit dem hölzernen Schlüssel die Haustür auf und drang voraus. In den unteren Gelassen war nichts, aber der Oberboden war voll von jungen Katzen. Die lebensfrohe Hauskatze, die wir im Frühsommer auf dem Hofe zurückgelassen, hatte ihre Schuldigkeit doppelt getan. Sie hatte die Räume von Ratten und Mäusen gesäubert und sie hatte dieselben mit jungen Katzen bevölkert. Wir konnten nur der braven Hauskatze unsere Achtung zollen und ihre Jungen im Grabentümpel ersäufen.

Die Diebsschuhe
[191] Die Diebsschuhe.

Das war an einem Sommernachmittag. In unserem Waldbauernhause sprach ein fremder verdächtiger Mensch zu. Er war erklecklich zerlumpt und sah aus wie ein Landstreicher. Einen knorpeligen Stock und ein kleines Handbündel hatte er bei sich, und am Arme hängend ein fast neues Paar Mannsschuhe. Er berichtete mit fast weinerlicher Stimme, daß er schon seit drei Tagen nichts Warmes in den Leib bekommen habe und bat um einen Löffel Suppe. Meine Mutter wärmte ihm Reste vom Mittagsmahle auf, und während er in der Küche auf dem Kopfe des Waschtroges saß und gierig Knödel und Kraut verschlang, machte sich die Mutter im Vorhause zu tun und redete laut mit der Kellertür. Sie fürchtete sich nämlich vor dem Gesellen und wollte ihm glauben machen, daß im Keller unten Leute wären. Sie war aber mutterseelenallein zu Hause. Das Stroh sei im Keller zu lassen, damit im Winter die Rüben und Erdäpfel zugedeckt werden könnten, sie wüßten ja ohnehin, wie es allemal in den Keller hineinfriere! So sprach sie scharf befehlend mit denen, die nicht da waren. Der Fremde war fertig, sagte schönen Dank, rülpste und ging schleichend davon. Rasch verriegelte die Mutter hinter ihm das Haustor und hielt Umschau, ob nichts fehlte. Nun war es aber erstaunlich, [192] anstatt etwas mitzunehmen, hatte der Mensch etwas da gelassen. Das fast neue Paar großer Mannsschuhe, welches er über dem Arm hängen gehabt, hatte er vergessen, es stand auf der Bank im Winkel, nahe dort wo er gesessen.

Am Abende kamen die Leute vom Felde heim. Die Knechte, einer um den anderen, nahmen das lederne Paar in die Hand, drehten es eine Weile so herum und beguckten es von allen Seiten. Dabei sprachen sie ihre Mutmaßungen aus, wieso und warum. Da rief die Mutter vom Herde her: »Daß mir keiner die Schuhe anlegt! – Ja, ja, ihr Tröpfe, ihr vorwitzigen! Wisset ihr's denn nicht! Habt ihr nie was gehört davon, daß einer, der Diebesschuhe an den Füßen hat, selber muß stehlen gehen?!« Als die Knechte darob lachten, fuhr sie fort: »Und daß die Schuhe gestohlen sind, drauf kunnt ich gleich meine Hand braten. Vergessen! Das kann sein und kann nicht sein; ich glaub's aber nicht. Wären die Schuhe sein eigen, so hätte er's schon der Mühe wert gehalten, drum zurückzukommen. Den Standarn fürchtet er, und deswegen hat er sie dagelassen, und nicht anders ist's, und ihr lasset mir die Schuhe stehen!«

Jetzt war aber unter den Knechten ein besonders vorwitziger – der Nantel. Der hatte graues Haar und sogar ein Glatze bekommen, ohne sein Lebtag irgendwo auch nur einen Fingernagel gestohlen zu haben, und der meinte, man sollt's doch darauf ankommen lassen, zu beweisen, daß der Bäuerin Wort ein rechter Aberglaube wäre. – Unsereiner stehlen gehen! Das wäre so was!

»Ich rate dir's nicht, Nantel!« sagte die Mutter noch, aber der Knecht hatte seine alten mausfarbigen Tramper schon von den Füßen und steckte diese mit Behagen in [193] das Diebspaar. Fest und sorgfältig riemte er sie zu, dann reckte er sich aufrecht und strampfte in den Boden.

»Willst sie dir behalten, so bist schon einer!« lachte ihm der Baldhauser, der Knecht vom Ochsenstall, zu.

»Geh', Narr,« antwortete der Nantel, »ich kann mir meine Schuh' gottlob noch selber kaufen, daß ich keine zu stehlen brauch', aber der Bäuerin wegen, just der Bäuerin wegen. Weil sie meint, ich wollt' gleich jetzt von der Stell' weg zum Nachbar Thommel gehen und ihm ein Schaf aus dem Stall stibitzen. Bis zum Schlafengehen behalt' ich sie an, zu Fleiß. Tut's nur den Galgen herrichten, Leut'!«

»Du, Nantel, versündige dich nicht!« mahnte die Mutter, während sie in das Herdfeuer blies, um die Abendsuppe fertig zu kochen. »Wenn du nur Holz zutragst! bauen wird den Galgen der Teuxel schon selber.«

Als wir uns zum Nachtmahl setzten, hatte der Nantel immer noch nichts gestohlen. Deshalb hub er an groß zu tun und sagte: »Ja, Lappen! wenn jeder gleich stehlen gehen müßt, der gestohlenes Leder an hat, wie wäre es da denjenigen ergangen, die beim heiligen Crispinus haben arbeiten lassen!«

»Man weiß es auch nicht, wie es ihnen ergangen ist,« meinte der vom Ochsenstall.

»Und umgekehrt, wenn keiner stiehlt, der ehrliche Stiefel an den Füßen hat,« fuhr der Nantel fort, seine Gedanken auszukramen, »so hätt' der klein' Micherl nicht Korn gestohlen beim Hofbauern auf der Tenn'; der Micherl hat ja die geschenkten Schuh' vom Dorfrichter angehabt. Oder nicht? Man kann's zwar nicht missen. Nichts kann [194] man wissen. Muß wohl seinen Grund haben, der Richter, daß er sogar Stiefel herschenkt.«

»Ei, was du sagst, Nantel!« sprach der Baldhauser.

»Ich will nichts gesagt haben,« fuhr der andere fort, »so ein hohes Tier wird gleich unangenehm.« Denn der Richter hatte unsern Knecht einmal auf eine Woche in die Keichen stecken lassen, weil der Nantel jemanden »was geheißen« haben soll.

»Man kunnt,« redete er jetzt weiter, »vielleicht den da unten, den mit dem großen Kopfe, noch viel was anderes heißen, als... na, ich will nichts gesagt haben. Umsonst tut er nicht so bigotterisch, umsonst nicht. Armenvater kunnten wir nicht bald einen besseren kriegen als den. Der sperrt die Armengelder so fest ein, daß schon gewiß kein anderer Dieb dazu kann...«

Jetzt war aber die Mutter da. »Du alter Nantel!« sagte sie. »Schau dich jetzt einmal an. Schau dich nur an und hör' dir zu. Fällt dir nichts auf? Du stiehlst ja schon! Ob du den Leuten Schafe stiehlst oder ihren ehrlichen Namen – gestohlen ist gestohlen. Was meinst denn, Nantel, willst die Schuhe nicht bald ausziehen?«

»... Uh Teuxel!« knurrte der Knecht in seinen grauen Bart. »Wie aber so eine Bäuerin alles ausdeuten kann! Auf die Art schaut's schier so aus, als ob ich einer wär'! Du verschwameltes Zeug, du!«

Da trat zur Tür der Zimmermann Josel herein mit einem großen Stecken. Ob kein Landstreicher da gewesen wäre? Ihm habe so ein Galgenstrick ein neues Paar Schuh' gestohlen. Das brachte der Zimmermann vor und wir deuteten alle miteinander schreiend und lachend auf den Nantel. Dieser riß gleich an der Tischecke die Schuhe [195] von den Füßen und schleuderte sie über den Fußboden hin, daß sie dem Eigentümer nur gerade munter entgegenhüpften.

Ob der Landstreicher erwischt worden ist, das weiß man nicht. Weil ich es aber als moralischer Erzähler nicht gestatten kann, daß der Missetäter straflos ausgeht und am Ende auch dem geehrten Leser ein Paar Stiefel stiehlt, so kann ich noch heute in einem Gehölze bei Kapfenberg den Platz zeigen, wo der Galgen gestanden ist, an welchen alle Diebe der Gegend gehangen worden sind. – Nicht ohne Beklommenheit erkundigt ihr euch nach dem Befinden des alten Knechtes Nantel. Dank der Nachfrage, für Entwendung des ehrlichen Namens hat's zum Glück nie Galgen gegeben. Es muß das viele Holz nicht aufzutreiben gewesen sein.

Was der Jäger Kickel für einen unrechten Schuß getan hat
[196] Was der Jäger Kickel für einen unrechten Schuß getan hat.

Das Herumzigeunern wär' halt deine Sach', gelt, Peterl? Daheim, alleweil daheim ist's nicht lustig. Alleweil aus dem grünglasierten Töpfl Milch trinken und alleweil von der Mutter mit einem nassen Lappen über das Gesicht gewaschen werden und alleweil im weißen Schubbett neben dem Ofen schlafen ist nicht lustig. Man will doch einmal auch sein Mittagsmahl vom Heidelbeerkraut pflücken und aus dem Bache trinken; man will sich doch auch einmal auf dem Erdboden wälzen und im Schlamme umherpatschen; man will doch auch einmal in einer alten Heuhütte schlafen, während draußen in der fremden Schlucht ein fremdes Wasser rauscht und des Morgens, wenn man aufwacht, ganz fremde Bäume in der roten Sonne stehen und fremde Leute auf der Wiese das nasse Gras mähen.

Und ob man das will! Und ob's der Vater verbietet! – »Die Kinder gehören heim! Und nach der Schule wirst du den geraden Weg heimwärts wohl finden!« – Den geraden Weg! Einen solchen gibt's gar nicht im Gebirge – besonders wenn der Zutrum Simmerl in der Schule ist, und wenn der Zutrum Simmerl sagt: Peterl, geh' mit mir, bei mir daheim im Zutrumhaus gibt's allerhand Kurzweil: Einen weißgefleckten[197] Kettenhund, der Junge hat, Kirschbäume, die alle rot und schwarz sind, hinter dem Haus eine Köhlerhütte mit Stroh, auf der man liegen kann, und in der Schlucht der Trabach, aus dem man die Forellen und die Krebse mit der Hand fängt, damit sie nachher die Mutter braten und kochen kann.

Die Zutrumleute waren weitläufige Vettern und Muhmen von uns gewesen, und wenn der junge Vetter Simmerl sagt: Geh' mit! – na, da geht man freilich mit. Es war eine ganze Stunde weit von meinem Elternhause bis dahin, und wenn die Schule, wo wir zusammenkamen aus Alpel und aus dem Trabachgraben, auch in der Mitte lag, so wurde mir auf dem Wege zum Zutrum doch die Welt von Schritt zu Schritt fremder. Und als die Sonne niedersank über den schwarzen Sattel des bewaldeten Gölk und die Ahorne sehr lange Schatten warfen über die frischgemähte Matte hin, da ward mir unheimlich. Das Heu duftete, die Grillen zirpten, die Frösche quakten wie daheim, sonst alles anders, die Berge steiler, der Graben tiefer. Enge ward es mir. Endlich sahen wir hinab auf die grauen Schindeldächer des Gehöftes, aus dessen weißgetünchtem Schornsteine leichter Rauch aufstieg. Und es war schon die Abenddämmerung und zwischen Fichten her kam der mir so wohlbekannte heimliche Geruch eines Kohlenmeilers. Unterwegs hatten wir bei Ameishaufen, Fuchslöchern, Zaunstiegeln, Brünnlein und Tümpeln mancherlei Aufenthalt genommen, aber jetzt beschleunigte sich der Simmerl. Ich aber wollte nicht mit, wollte umkehren. Das erstemal in meinem Leben sollte ich in ein fremdes Haus einkehren – mir gebrach der Mut. Aber der Simmerl packte mich frisch am Arme, [198] und hinab mit mir in den Hof und hinein bei der großen schönen Tür in das Haus. Im Vorhause ein kühler, obstelnder Duft; die Küche gemauert, mit fast weißen Wänden wie im Wirtshaus. Am offenen Herdfeuer wirtschafteten bei Kesseln und Töpfen Weibsleute herum, und zu einer derselben, die ein blasses, gütiges Gesicht hatte, trat der Simmerl hin, gab ihr die Hand und sagte: »Grüß Euch Gott, Mutter!« Das erstemal war's in diesem Hause, daß ich hörte, wie Kinder beim Fortgehen und Ankommen ehrerbietig grüßen, als gingen sie in ein fernes Land oder kehrten von einem solchen zurück. In unserer Gegend daheim liefen wir davon, wie das Kalb vom Stalle, höchstens daß ich des Morgens beim Schulgehen sagte: »Jetzt geh' ich«, und die Mutter antwortete: »Ja, so geh' nur in Gottesnam!« Es war auch etwas, allein so herzlich und feierlich war's doch nicht, wie wenn die Zutrumkinder »Grüß Euch Gott« oder »Behüt Euch Gott!« sagten und den Eltern die Hand gaben. Kurz, mir kam dieser Eintritt in das Zutrumhaus geradezu erhaben vor.

»Und das ist mein Schulkamerad, der Waldbauern-Peterl!« Also stellte mich der Simmerl seiner Mutter vor.

»Schau, das ist brav!« sagte sie, wischte an ihrer blauen Schürze die rechte Hand ab und reichte sie mir. Ich war nicht ganz sicher, ob auch mein Patschel hingehalten werden sollte, zögerte, tat es aber endlich.

»Mutter!« rief der Simmerl, »wir laufen zum Bach hinab.«

»Nicht zu weit, es wird bald zum Nachtmahl sein.

Da waren wir wieder im Freien, und das war ja ganz glatt abgegangen. Zum Bache kamen wir an demselben [199] Abende nicht mehr, denn es war der weißfleckige Kettenhund mit den Jungen! Die letzteren waren in einem bunten Häuflein zusammen, in dem es sich ununterbrochen regte und kreisete, bis sich manchmal ein Tierlein, kaum größer wie eine Ratte, loslöste, und täppisch hinkugelte. An diesen Dingern war schier alles Kopf, und am Kopfe wieder schier alles Schnauze und die Schnauze wuzelte sich den Zitzen zu, welche die alte Weißgefleckte zur Verfügung stellte. Das alles, und dann das besorgliche Knurren der Alten und das ängstliche Winseln der Jungen und der mürfelnde Geruch, welcher aus dem Hundelager herkam, betäubte mich beinahe vor lauter Wonne.

»Beißt sie?« fragte ich den Simmerl, indem ich die Hündin streicheln wollte.

»Jetzt nicht, darum haben wir ihr auch die Kette abgenommen. Mein Vater sagt: Jetzt hat sie keinen Feind, jetzt ist sie ganz Mutter. Aber wie er ein Junges hat aufheben wollen, hat sie ihn doch in die Finger geschnappt.«

»Habt ihr eine Kirche?« fragte ich, denn es läutete ein Glöcklein.

Da lachte der Simmerl, denn es war die Hausglocke und sie rief zum Nachtmahl.

In der Stube, welche schon sehr dämmerig war, standen zwei große viereckige Tische. Als das Tischgebet gemeinsam und laut gebetet war und die sehr großen Suppenschüsseln ihre warmen duftigen Wolken aufsteigen ließen, setzten sich an den einen Tisch etwa zwölf Leute: Burschen, Männer, junge Dirnen und betagte Weibsbilder. Am anderen Tische, schier in der Ecke, nahm der Hausvater [200] Platz, ein behäbiger Mann mit glattrasiertem Gesichte und einem Doppelkinn; dann kamen seine Kinder, von der erwachsenen fröhlichen Lennerl bis herab zum Simmerl und noch tiefer herab zu zwei schier ganz kleinen Kindlein, die von der Magd mit einem Löffel Milchsuppe in den Mund gegossen bekamen. Neben dem Simmerl durfte ich sitzen, und weil der Weg in die gemeinsame Schüssel etwas weit war, so hatten wir zwei zusammen eine Extraschüssel bekommen, aus welcher wir die Brocken löffelten. Es war Weißbrot, wie es bei mir daheim nicht immer angetroffen werden konnte. Die Hausmutter ging zu und ab, um die Tische zu versehen, und immer auf kurze Zeit setzte sie sich zu uns, um etliche Bissen, gleichsam im Vorübergehen, zu erhaschen. Ja ja, das ging meiner Mutter daheim auch so. Wer kocht, der braucht nichts zu essen, sagen aberwitzige Leute.

Immer wieder mußte ich an Daheim denken, wo sie ja jetzt auf mich warten werden mit dem Abendessen und mutmaßen, warum er denn nicht heimkommt, der Bub, und wo er denn sein mag, der Bub? Bis es vielleicht einem oder dem anderen einfällt: Der ist heilig mit seinem Schulkameraden zum Zutrum gegangen.

Nach der Milchsuppe kam eine Schüssel voll Salat in Essig. Das war mir schon wieder einmal was Neues; bei mir daheim gab's nur Salat in Buttermilch, welche ja auch naß und säuerlich ist, folglich den kostspieligen Essig ganz leicht ersetzen kann. Wir daheim aßen das Grünzeug mit dem Löffel, hier tat man's mit der Gabel. Ich stach mich mit solchem Werkzeuge ein paarmal in den Mund, wollte aber nicht mucksen, während daheim bei derlei Ereignis ein Zetergeschrei gemacht worden wäre.

[201] Nach dem Salate kam erst die allergrößte Schüssel; diese enthielt gekochte Kirschen in der eigenen Suppe. Da durfte ich wohl wieder den Löffel nehmen, wäre er nur recht groß gewesen! Denn diese schwarze Kirschensuppe war sehr köstlich! Aber Umstände machten die Leute. Die Kerne quetschten sie im Munde heraus und gaben sie wieder zurück auf einen Teller oder in die hohle Faust. Wir daheim aßen die Kerne mitsamt den Kirschen.

Was bei Tische etwa gesprochen worden, das weiß ich nicht, ist mir gewiß auch ganz gleichgültig gewesen, weil das Gespräch nichts zu essen ist. Daß sie beim »Leutetisch« drüben lauter und fröhlicher waren, als wir herüben beim Hausvatertisch, kam davon, weil unter ihnen ein alter Mensch war, der in ernsthaftester Weise die wunderlichsten Reden tat, worüber die anderen lachten, bis aber eine Magd sagte:

»Na, den Kickel sollt man nicht so auslachen. Das ist nicht recht, den Kickel so auslachen!«

»Wer lacht ihn denn aus?« lachte ein Knecht, »wir lachen halt, weil's uns gefallt.«

Das muß ich doch herübergehört haben, denn sonst könnte ich's nicht wissen. Nun weiß ich aber auch, daß der alte Kickel plötzlich von seinem Sitze emporschnellte und mit weitschwingendem Arme, an welchem das Hemd flatterte, an die gegenüberstehende Stubentür einen Kirschkern warf, der dann wieder mitten in die Stube zurücksprang. Dabei sagte er »Puff!« und lachte kreischend auf. Und das tat er mehrmals, wozu die anderen sagten: Es sei schon recht, er solle in die Tür nur ein Loch werfen, damit man in die Küche hinausgucken könne, [202] ob am Herde heute auch noch Sterz gekocht werde. Jetzt hob der Kickel seinen anderen Arm und »Puff« schleuderte er die handvoll Kerne auf einmal an die Tür, daß es knatterte wie bei einem Hagelwetter. Dabei verzerrte der Alte sein Gesicht und stieß einen Fluch aus. Nun stand an unserem Tische der Hausvater auf, ging zum tobenden Alten und sagte begütigend: »Na, na, Kickel, nur nicht so arg. In der Stube so viele Kirschbäume säen! Es wachst ja doch keiner. Sei gescheit, Kickel!«

Bei mir daheim würde der Vater anders geredet haben, wenn so ein Übermut die Stube mit Kirschkernen vollgeworfen hätte.

Nun stellte sich der alte Knecht vor den Hausvater, faltete die Hände und rief mit einer vor Angst stöhnenden Stimme: »Zutrum, Zutrum! Ich weiß mir nicht zu helfen. Er meldet sich halt schon wieder!«

»Michel! Natzel!« sagte der Hausvater zu zwei anderen Knechten, »bringt den Kickel in sein Bett. Es ist für ihn Zeit zum Schlafengehen.«

Dann haben sie den Kickel hinausgeführt.

Jetzt, was soll das bedeuten?

»Und es ist auch für die Kinder Zeit zum Schlafengehen,« setzte der Hausvater bei. »Der Waldbauernbub soll im Oberstübel schlafen.«

Die Enttäuschung war arg. Da hatte ich gedacht, der Simmerl und ich würden nebeneinander auf einem Stadt im Heu liegen dürfen, eigentlich der Hauptgrund, weshalb ich mitgegangen war in dieses fremde Haus. Nach dem Maße des Schmerzes darüber, daß es mit [203] dem Heu nichts war, und daß ich ganz allein sollte schlafen müssen in einer finsteren Kammer, werden mir wohl die Tränen in die Augen getreten sein. Bemerkt muß die Hausmutter so etwas haben, weil sie sagte: »Er kann ja auch im Stübel beim Simmerl schlafen, ein Bett steht leer.«

»Auch recht. Aber nicht zu lang schwatzen, Buben!« Also der Hausvater. Darauf ging der Simmerl zu seinen Eltern, küßte ihnen die Hand und sagte: »Gute Nacht!« – Diese Art gefiel mir über die Maßen, und ich beschloß sie auch bei mir daheim einzuführen. Dazu gekommen bin ich zwar nicht; ich hatte mich bei meinen Eltern stets geschämt, ganz schlimm zu sein, aber ich hatte mich immer auch geschämt, ganz brav zu sein; besonders gewisse Förmlichkeiten, so gut sie mir auch gefielen, widerstrebten mir, wenn ich sie selbst ausführen sollte.

Aus dem Befehle, »nicht zu lange zu schwatzen«, schloß ich, daß wir überhaupt schwatzen durften, und als wir jeder in seinem Bettchen lagen, das Licht ausgelöscht hatten, so daß nichts mehr zu sehen war, als die zwei blassen viereckigen Fenster, fragte ich den Simmerl: »Ja, was hat er denn gehabt, dieser Mensch, der Kickel?«

»Kirschkern,« antwortete der Junge.

»Warum er so wild worden ist?«

»Ja, der Kickel!« sagte mein Kamerad. »Weißt du's nicht, daß er zehn Jahre eingesperrt ist gewesen? Im vorigen Jahr haben sie ihn ausgelassen.«

»Warum?«

»Weil der Kaiser geheiratet hat.«

»Deswegen haben sie ihn eingesperrt?«

»Nein, deswegen haben sie ihn ausgelassen.«

[204] »Aber Jesses, warum sie ihn eingesperrt haben, möchte ich wissen!« Also mein Schrei.

»Wenn du so schreist, wird der Vater kommen mit dem Karabatschel. – Seinen Buben hat er umgebracht.«

Jetzt wußte ich nicht, hatte der Kickel seinen Buben umgebracht, oder der Zutrum. Wagte aber nicht mehr zu fragen, und wie ich später doch noch einmal versuchte, gab der Simmerl keine Antwort mehr, er war eingeschlafen.

Am nächsten Morgen waren wir durch eine helle Stimme: »Schulbuben! Es ist Zeit!« geweckt worden. Vor dem herzförmigen Fenstergitter fächelte ein Zweig des Holunderstrauches, dazwischen schien hell und grell die Sonne herein auf unsere weißen Betten, und draußen plätscherte der Hausbrunnen. Ich hätte mich mit dem Simmerl gleichzeitig anziehen sollen, schämte mich aber, meine Beine aus der Decke hervorzuziehen. Mit einem langen Arm zog ich von der Bank die Hofe ins Bett und streifte sie mit anerkennenswerter Geschicklichkeit unter der Decke an die Glieder. Dann hinaus zum Brunnen.

Nach dem Waschen das Morgengebet. Der Simmerl wollte in Rücksicht auf seinen Gast darüber hinweggehen, indem er vorgab, mich noch schnell in den Stall zum Schimmel führen zu müssen, allein seine Mutter sagte: »Schimmel wird er sein Lebtag noch genug sehen. Den heiligen Geist braucht ihr in der Schule. Das Morgengebet beten! Kniet nur gleich nieder allzwei!« Vor dem Tische knieten wir uns auf die Bank, beteten jeder für sich ein paar Vaterunser, wobei mir einfiel: Bei uns daheim ist's nicht so streng. – Nun sollte ich auch sehen, was das Beten ausmacht. Kaum hatten [205] wir unsere Ellbogen von der Tischplatte gehoben, ward diese mit einem weißen Tuche gedeckt, mit weißen Schalen bestellt, mit Weißbrot belegt und in die Schalen ward aus dem Rohr einer glänzenden Zinnkanne eine braune Suppe gegossen. Bei uns daheim war das just umgekehrt, alles andere braun, die Suppe aber weiß. Hier gab's zum Frühstück keine Milchsuppe, sondern Kaffee. Ich hatte schon von ihm gehört; die herrischen Leute essen Kaffee, aber ein alter Kohlenbrenner hatte gesagt: »Meine lieben Leut', ich bin sicherlich schwarz! Schaut mich an, ob ich schwarz bin! Aber so schwarz und so schlecht bin ich nicht, wie die schwarze Suppe aus dem Mohrenland. Die hat der Teufel aufgebracht, und der Bauers) mensch wird hin, wenn er Kaffee ißt!« – Ich weiß nicht, ob der Kohlenbrenner es wußte, wie weise er gesprochen hatte; ich weiß auch nicht, ob man ihm geglaubt hat; ich weiß nur, daß alles leckerig war nach Kaffee und daß ich es nun schon nicht erwarten konnte, mit dem Löffel in die schwarze Suppe zu fahren. – Uuh! – das ist nicht gut, das ist gallbitter! Den hat freilich der Teuxel aufgebracht!

»Du hast ja keinen Zucker hineingetan!« lachte der Simmerl und warf mir aus einer Tasse etliche Brocken in meine Schale. – Nun war's ein bißchen anders. Der Simmerl sah mich an und schmunzelte.

Nach dem Frühstück den Zutrumleuten »Behüt Gott« sagen und fort in die Schule. Ich war ganz mutig geworden und hielt zu Dank und Abschied meine rechte Hand hin wie ein erwachsener ordentlicher Mensch, und da fiel es mir ein: Wie leicht doch das Bravsein geht, wenn man nicht daheim ist! [206] Als wir die Bergwiese hinangingen, war dort der alte Kickel zu sehen, der mit einer Holzgabel Heuhaufen auseinander streute, damit es in der neuen Sonne noch besser trocknen konnte. Heute sah ich erst, daß er sehr kümmerlich war. Mitten am Leibe abgebogen, fast geknickt, mit jedem Schritte hinkend, schwankend. Die Kniehose war gewiß auch einmal von Leder gewesen, jetzt hatte sie gar viele Flicken aus anderem Stoff, mit groben, unhilflichen Nähten angeheftet. Die Füße und die sehr braunen und hageren Unterschenkel waren nackt. Brust und Arme wurden von einem braunen Rupfenhemde bedeckt. der alte Filzhut saß wie ein umgestülpter löcheriger Kessel auf dem kleinen grauen Kopfe, doch war er mit einer hoch in die Luft stehenden Geierfeder geschmückt. Die Knie, die Ellbogen, die Finger – das war alles so schiefeckig, daß man glaubte, sein Lebtag bringe der Alte nichts mehr ins Gerade, und er war wie ein verknorpelter Zirinstrauch auf der hohen Alm, wo der Sturmwind alles verkrüppelt. Als er uns gesehen hatte, rückte er manierlich den Hut, dann arbeitete er weiter.

»Du,« fragte ich nun meinen Schulkameraden. »Was ist's denn mit dem Kickel?«

»Wenn wir weiter oben sind, erzähl' ich dir's,« antwortete der Simmerl.

Und als wir in den Wald hineinkamen, wo der Boden flacher ward, legte er seinen Arm in den meinen und sagte:

»Er hat einen Sohn gehabt, und den hat er tot) geschossen.«

»Zufleiß?« fragte ich sehr erschrocken.

»Zufleiß, ganz zufleiß!«

[207] »Was hat er denn aber angestellt, der Sohn?«

»Gar nichts. Ganz ein braver Mensch ist er gewesen, sagt mein Vater.«

»Gott ja! Und hat er ihn denn so schreckbar gehaßt, den Sohn?«

»So viel lieb soll er ihn gehabt haben, viel zu viel lieb.«

»Und deswegen niedergeschossen?«

»Ja, das weiß ich selber nicht, wie es gewesen ist,« gab der Simmel zu.

»So ist der Kickel halt wahnsinnig,« hierauf ich.

»Wahnsinnig nicht. Aber ein bissel verrückt wohl, ein bissel verrückt sein Lebtag und die Leute sagen, man kann sich's nicht denken, weil er sonst so gescheit ist gewesen und ein tüchtiger Jäger im Kaiserlichen drüben, und auch gut gelehrt. Aber die vielen Bücher, die er gelesen hat, sollen ihn zum Narren gemacht haben, sagen die Leute.« – »Was laufst denn so, Peter?«

»Wenn er uns nachkommt!«

»O, der Kickel tut uns nichts. Die Leute sagen, er hätte auch seinen Sohn nicht umgebracht, wenn er ihn nicht so gern gehabt hätt'.«

»Du, Simmerl, wenn er uns auch gern hat!«

»So viel nicht, wie seinen Sohn.«

»Du, Simmerl, das verstehe ich nicht.«

»Ich will den Vater einmal fragen, wie es lauter gewesen ist«.

Und nichts weiter. Am selbigen Tage war ich in der Schule nicht viel nutze. Wenn das so ist! Mein Vater soll mich ja auch gern haben. Er selber hat mir's [208] zwar nie gesagt, aber die Mutter hat mir's gesagt. Wenn es so ist, da getraut man sich gar nicht mehr zu Leuten, die einen gerne haben. »Und was hat denn der Peterl,« fragte der Schulmeister, »daß er heute so zerstreut ist?«

Am Nachmittage war ich endlich wieder bei meinem Elternhause. Hinter den Fichten stand ich eine Weile fest in den Sandboden gebohrt – und was wird jetzt werden? – M ein Vater kam mit einem klappernden Schubkarren heran.

»Geh' hinein essen,« rief er mir zu, »nachher komm hinaus in den Wald, wir müssen Brennholz klauben.«

»Hast in der vorigen Nacht beim Zutrum geschlafen?« fragte meine Mutter, als sie mir das für mich aufbewahrte Mittagsbrot vorsetzte.

»Mutter, der Simmerl hat mich nicht auslassen wollen, bis ich mit ihm gegangen bin.«

»Ist ja recht, Kind. Die Zutrumbäuerin hat sich letzlich schon bei deinem Vater beklagt, daß du dich denn gar nicht anmelden wolltest bei deinen Vettern und Muhmen. Meine Mutter und der Zutrumbäuerin ihre Mutter sind Schwestern gewesen.«

Die Gefahr war gänzlich vorüber. Draußen im Walde fragte ich meinen Vater, ob er des Zutrum alten Knecht Kickel kenne, und was es denn sei mit ihm?

»Jetzt ist keine Zeit zum Schwatzen, jetzt heißt's Holzklauben,« das war seine Antwort.

Etliche Wochen später war ich mit meinem Vater auf der Ochsenhalde. Es war schon Feierabend, die Ochsen, welche tagsüber an den Pflug gespannt gewesen, bohrten noch ihre Schnauzen in das Futter und grasten emsig. Wir standen daneben und warteten, bis sie satt [209] waren. – Jetzt wäre doch eine Zeit zum Schwatzen, fiel es mir ein, und ich fragte wieder nach dem Kickel.

»Kind, laß den Kickel gehen,« entgegnete mein Vater, »dir tut er nichts und uns behüt unser Herrgott vor aller Verirrung. – Siehst du, die Schmelchen (Rispengras) wollen sie nicht fressen, der Hunger wird nicht mehr gar groß sein.«

Bald darauf führten wir die Ochsen in den Hof. Jetzt war nichts weiter, und es vergingen viele Jahre. Wenn ich in dieser Zeit gestorben wär', so hättet ihr vom Kickel kaum je etwas erfahren.

Einmal zur Sommerzeit, da ich als Student das weltferne Alpel wieder besuchen wollte, holte ich im Walde einen Bauernburschen ein. Ein junger, hübscher, aber ernsthafter Mensch im Sonntagsgewand, obschon Werktag war. Das fiel mir auf. Er hatte eine stramme Haltung, setzte beim Gehen die Beine leicht und gleichmäßig aus, so daß ich dachte: Der ist Soldat gewesen oder noch einer. Auch seine rötlichblonden Haare waren derart kurz geschnitten und hinten rasiert, so daß der runde frischgefärbte Nacken ein paar Zoll glatt war bis zum Hemdkragen hin ab. Das längliche Gesicht mit der etwas dünn geratenen Nase, dem salben ganz leichten Schnurrbart und den klugen Augen ließen vermuten, daß es nicht einer der tölpelhaften und einfältigen war. Damals hatte ich auf solchen Straßen noch ebenso gern Weggenossen, als ich heute allein gehe. Also versuchte ich es mit ihm. Meine Frage, wohin er gehe? Er gehe heim auf seinen Holzschlag im Fischbacherwald. Wo er gewesen? In Krieglach, auf dem Friedhof. Was so ein lebfrischer Bursche auf dem Friedhof mache? [210] »Nu, wie's halt schon manchmal ist,« antwortete er. »Dem alten Kickel hat's gegolten.«

Dem alten Kickel! Den Namen hatte ich schon nennen gehört. Ja so, das war doch der alte Knecht beim Zutrum gewesen, welcher –

»Wir wollen miteinander gehen, daß es kurzweiliger ist. Ich bin der Waldbauern Peter.« Das mar meine Einleitung.

»Kenn Sie eh,« war seine Antwort. »Hab' Sie auch in Graz oft begegnet, wie ich bei den Soldaten war, Sie haben mich aber nicht erkannt.«

»Und warum hast du dich nicht zu erkennen gegeben, wenn du einer von daheim bist?«

»Ich habe Sie wohl einmal wollen anreden, aber dann gedacht, ein gemeiner Soldat, wer weiß, ob's ihm recht wäre.«

»Natürlich! Du ein gemeiner Soldat, ich gar nichts.«

»Ah, das nicht,« meinte er, »Sie sind schon wer. Ich weiß es wohl.«

»Also den Kickel habt ihr heute begraben. Und wo sind denn die anderen.«

»Die paar Leute sind schon voraus. Ihrer viele sind nicht mitgegangen. Er war ein armer Einleger.«

»Da bist gewiß ein Träger gewesen?«

»Nein,« sagte er, »ich bin nur so hinten nachgelaufen. Nicht einmal gebetet ist worden, weil sie gesagt haben, er wär eh' ein Heide gewesen. Ich habe mir gedacht, schlechter wie die meisten Leute war er auch nicht. Daß er halt Unglück hat gehabt. Es wird ihm wohl so aufgesetzt gewesen sein. In Gottesnamen, jetzt hat er Ruh.«

[211] »Was für ein Unglück soll er denn gehabt haben?« war meine Frage; endlich glaubte ich nahe daran zu sein, die alte, nun wieder erwachte Neugierde zu befriedigen.

»Sie werden eh' gehört haben von der Geschicht,« sagte der Weggenosse.

»Ja, läuten gehört, aber nie gewußt von woher, weißt du was Genaues?«

»Wissen tu' ich's schon,« meinte er.

Also hatte ich ihn so weit gebracht, daß er anfing, mir alles zu erzählen. Es sind seither wieder viele Jahre her, allein solche Sachen vergißt man nicht, und ich will die Geschichte vom Kickel jetzt aussagen.

Der Isidor Kickel war der einzige Sohn eines Gutsverwalters auf dem Fürst Schwarzenbergischen Schlosse zu Murau gewesen. Er sollte studieren, wollte auch, sprang aber aus im siebenten Jahre, als er den Jahrgang hätte wiederholen sollen. Hernach versuchte er es mit einer Landwirtschaftsschule, lernte Waldkultur und wollte Förster werden. Brachte es aber nur bis zu einem Forstgehilfen oder Jäger, als welcher er angestellt wurde in den kaiserlichen Waldungen bei Neuberg. Er hätte vielleicht doch Gelehrter werden sollen, denn es war so etwas Grüblerisches in ihm, und er las viel in Büchern zu seiner freien Zeit. Viel zu viel in Büchern. Auch führte er manchmal solche Reden und hielt sich von der Kirche fern, daß die Leute sagten, der Jägerkickel wäre vom Glauben abgefallen. Heute geschieht das oft, setzte mein Wegkamerad bei. Dazumal ist es was Neues gewesen. Man weiß das nicht, wie er's inwendig mit sich gehalten [212] hat; ganz in Ordnung, sagen die Leute, wird's wohl nicht gewesen sein. Aber sonst kein schlechter Mensch. Einmal, wie er doch bei einem Feste in der Kirche ist, nimmt er Geld aus dem Sack und will's dem Klingelbeutelmann geben, aber der geht an ihm vorbei, gleichsam: Du Unchrist, dein Geld ist mir zu schlecht. Darauf hat der Kickel die Münze einem armen alten Weibel geschenkt, dem war sie nicht zu schlecht, und die Leute haben brav gelacht. Einmal hat sich in die Kirche hinein eine Schwalbe verflogen und nicht mehr herausgefunden, weil die Fenster ein Drahtgitter haben und die Tür ganz hinten ist. Und abfangen hat man sie auch nicht können. Da geht der Kickel jeden Tag in die Kirche, und der Meßner hat gemeint, er bekehrt sich. Der Kickel hat aber nur Vogelfutter hineingetragen, daß die Schwalbe nicht verhungert ist. Und mit der Bekehrung war's halt wieder nichts. Die Leute haben ihn trotzdem gern gehabt und kein Mensch hat ihm was Schlechtes können nachsagen. – Dann hat er eine Lehrertochter aus der Veitsch geheiratet, sieben Kinder bekommen, wovon er in früher Zeit sechs durch den Tod verlor, drei auf einmal und sein Weib dazu bei einer Seuche. Nur ein einziges Kind war ihm geblieben, ein Knabe, Oswald geheißen. Man kann oft erfahren, daß Leute, die an ein jenseitiges Leben nicht glauben können, in diesem um so lebensdurstiger und liebesfreudiger sind. Beim Kickel war es fast auch so. Seine Liebe zum einzigen Kinde ward zur schweren Leidenschaft, und alles, alles, was in seiner Macht stand, bot er auf, um dem jungen Oswald ein gutes Leben zu bauen. Er ließ ihn unterrichten, er wollte ihn, als der Junge zwölf Jahre alt geworden war, [213] nach Wien schicken in eine Schule, aber Oswald blieb lieber daheim, und der Jäger brachte es nicht übers Herz, den Knaben fortzuzwingen. Wenige Jahre später trieb er für ihn eine Schreiberstelle im kaiserlichen Forstamte zu Neuberg auf, und noch ein paar Jahre später gab es Hochzeit. Ein Bürgerskind aus Mürzzuschlag war Oswalds Erwählte. Oswald wurde Holzmeister in den Hochschlägen hinter Mürzsteg und bewohnte mit seinem Weib ein Berghaus an der Hohen Veitsch. Nach kaum einem Jahre war natürlich der »kleine Bub« da, und jetzt konnte Oswald zu seinem Vater sagen: »Ich kann mir's nicht besser wünschen, meine Sorge ist, daß es nicht schlechter wird!«

Von ihm hat's kein Mensch gehört, wie er's mit der Religion gehalten. Sein Weib hat mir – fügte mein Bursche bei – später oft erzählt, wie er sie um den Hals genommen hätte und gesagt: Gott sei Lob und Dank, daß ich dich hab'! So muß er doch was geglaubt haben. Und sein Vater, der Kickel, ist halt im Glück geschwommen darüber, daß es seinem Oswald so gut geht.

Der Kickeljäger hat in einem alten abgestifteten Bauernhause gewohnt, in der einzigen Stube, die noch bewohnbar war, und er hat zur selben Zeit an einer Fußwunde gelitten, die er sich durch einen Sprung vom Felsen zugezogen, und hat monatelang nicht ins Revier gehen können. Wenn Oswald an den Sonntagen vom Tale nach seinem Berghause hinaufstieg, führte der Weg ihn da vorbei, und er sprach bei seinem Vater zu, um ihn zu fragen, wie es mit dem kranken Bein gehe und um ihm eines und das andere zu bringen und mit ihm von seinem Weibe und von seinem lieben Knaben zu [214] plaudern. Auch diesen Knaben brachte er manchmal mit, und da machte der Kickeljäger seine Kasten und Laden auf und lud Sohn und Enkel ein, alles was ihnen gefiele, mit sich zu nehmen. »Nehmt nur, nehmt,« soll er stets gesagt haben. »Es ist ja eh' nichts. Das bissel Freud auf der Welt, ich hab' sie genossen, sonst ist ja eh nichts.«

Dann ist jener Sonntag gekommen. Im August war's, am Morgen schon so heiß, daß der junge Holzmeister Oswald auf dem Weg in die Kirche bei seinem Vater zusprach um einen Trunk Wasser. »Wenn ich nachmittags zurückkomme,« soll er zum Vater gesagt haben, »zahl' ich dir den Brunnen mit Johannessegen ab.« Damit hatte er gemeint, er wolle Wein mitbringen. Den solle er nur dem Weibel und dem Bübel hinaustragen, hatte der Alte geantwortet. Aber denen fehle ohnehin nichts; das Weibel singe schon seit aller Morgenfrüh wie eine Lerche, und der kleine Anderl habe mitten im Schlaf ausgelacht, als er ihm beim Fortgehen den Kuß gegeben.

»Schwerenöter, du!« hatte der Kickeljäger noch gesagt und seinem Sohn auf die Achsel geklopft – und dann »Auf Wiedersehen am Nachmittag!«

Um die Mitternachtszeit stieg über dem Hochschwabgebirge ein Gewitter auf; es regnete nicht viel, aber ein paarmal tüchtig gekracht soll's haben. Eine Stunde später kam vom Berge herab ein Holzknecht, der rief zum offenen Fenster herein: »Kickeljäger, wenn du den Rauch sehen willst, so schau hinauf!«

»Was hast denn? Was schreist denn so?« fragte der Kickel, der ganz allein zu Hause gewesen ist.

[215] »Das Berghaus brennt. Der Blitz hat eingeschlagen.«

»Was sagst, Holzknecht?«

»Der Holzmeister, wenn er heimkommt, findet nichts mehr. 's ist alles dahin.«

»Das Weib? Das Kind?«

»'s ist alles dahin. Wenn euer Sohn heimgeht, so bereitet ihn vor. Ich muß ins Niederalpel.« Das hat der Holzknecht gesagt – und davon ist er.

Ich kann es nicht wiedergeben, wie mein Weggenosse es erzählt hat, gerade wie ein Messer ins Herz ist es mir gegangen. Der Bursche erzählte weiter.

Was der Kickeljäger sich jetzt auf diese Botschaft gedacht hat, das weiß man nicht. Zuerst hat er hinauswollen gegen die Höhe, wo der schwarze Rauch das ganze Firmament finster macht. Hat aber nicht weiter können, des kranken Fußes wegen. »Sein Weib und sein Kind! – Sein Weib und sein Kind! – Sein Weib und sein Kind!« Allerweil nur das. »Abwinken!« Der Kickel ist in die Stube hinein und hat zum Fenster herausgelauert: Jetzt kommt er und jetzt kommt er! Und hat das Schußgewehr von der Wand genommen und ist mitten in der Stube gestanden und schaut durchs Fenster hin auf den Weg hinaus. Endlich ist er dahergegangen, der Oswald, aus dem grünen Wald hervor und hat nicht aufgeschaut und weiß noch von nichts, und ist so frisch und munter dahergegangen und dem Haus zu, wo der Vater wohnt. Und da hat der Kickeljäger durchs Fenster hinausgezielt und hat ihn niedergeschossen.

»Wahnsinnig ist er geworden!«

»Man kann das auch nicht sagen,« entgegnete der Bursche. »Wie seine alte Wirtschafterin heimkommt, hat [216] er sie gleich um einen Wagen geschickt, ist zum Gericht gefahren, und beim Verhör hat er ausgesagt: Er hätt's nicht übers Herz bringen mögen, daß sein Oswald das Unglück erfährt und erlebt und er hätte sich gedacht: Weißt von nichts, brauchst von nichts zu wissen. Das dumme Nachleiden viele Jahr und Tag ist nicht vonnöten. Ein jäher Tod, und du bist ihnen nach, und du bist von allem ledig, und ich, dein Vater, kann dir nichts mehr Gutes tun als das. – Getroffen, sagte er, habe ich nicht schlecht, und jetzt, meine lieben Herren, macht, daß auch ich fertig werde. – Ich glaube fünfzehn Jahre haben sie ihm gegeben, aber wie im Jahre vierundfünfzig die Kaiserhochzeit war, haben sie ihm den Rest nachgesehen.«

Nachdenklich ging ich den Waldweg entlang und sagte: »Es ist fast nicht zu glauben.«

»Das beste war nur,« fuhr mein Begleiter fort, »daß sie ihn zur Stunde abgeholt und nach Loeben geführt haben. Das Allerschrecklichste hätte er sonst noch an diesem Tage erlebt.«

»Jener Holzknecht, was er gesagt – am Ende war's gar nicht wahr?« mit stockendem Atem fragte ich es.

»Ins Berghaus hat freilich der Blitz eingeschlagen, ist auch niedergebrannt, aber der Familie des Oswald ist nichts geschehen.«

Wir sind eine Weile nebeneinander hingegangen, keiner hat ein Wort gesagt.

Endlich blieb ich stehen und fragte: »Wann hat er's erfahren?«

»Als er nach neuneinhalb Jahren wieder frei geworden ist und heimkommt und alleweil so in die Luft hinauslacht, da habe ich ihm's selber gesagt.«

[217] »Wie hast du ihm's gesagt?«

»Kickel Vater, euere Schwiegertochter und euer Enkel, der Anderl, sie leben noch, und es geht ihnen gut.«

»Und was hat er darauf gesagt?«

»So? hat er gesagt, die leben noch? Und mir hat immer geträumt, sie wären alle tot! – Gott, was die jungen Leute für Geschichten machen! Und er hat wieder gelacht.«

»Also irre!«

»Es wird so gewesen sein,« sagte mein Bursche. »Er hat dann noch eine Weile als Bauernknecht sein Brot gesucht, später, wie er's schon nimmer dermachen hat können, ist er in die Einlege gekommen. Die meiste Zeit hat man ihm nichts angemerkt, aber manchmal doch, manchmal doch!«

»Du hast ihn wohl näher gekannt,« fragte ich den Burschen.

»Na freilich,« war seine Antwort, »er ist ja mein Großvater gewesen.«

Der Studentenhansel
[218] Der Studentenhansel.

Jene Menschenpfade, die von Wildnissen und Einöden den Städten und der Gesellschaft zuführen, sind ziemlich belebt. Der Hirte, der Waldmensch, der Feldarbeiter, der Bergknappe und andere Leute im rauhen Arbeiterkittel, alle erblicken dort das Paradies, wo dieser Arbeiterkittel aufhört und der seine Tuchrock anhebt. Sie ahnen es nicht, daß im seinen Tuchrocke Übel stecken können, die dreimal qualvoller sind, als all das Weh ihres stumpfen, ungepflegten Herzens zusammen. Und trotzdem ist es ein Glück und eine Erhöhung für einen, der aus Wildnissen in den Bereich der Kultur tritt.

Umgekehrt aber bedeutet es fast immer eine Schuld oder ein zerrissenes Leben und Unterliegen und Verzweifeln, wenn einer aus der Welt in die Wildnis geht. Es geschieht, daß der Weltsatte in der Abgeschiedenheit der Wälder Muße und Beschaulichkeit sucht und am Busen der Ursprünglichkeit den Glauben wieder einsaugen will, den ihm das entartete Weltleben vernichtet hat, aber es geschieht selten. Kaum einem gelingt es, den Netzen, welche die Spinnen Genuß und Gewohnheit ihm gewoben, sich zu entreißen. Sie grämen sich, verbittern und verzehren sich am Welthaß oder an der Versumpftheit, sie gehen unter, ohne am Urquell der Kraft und Lebensliebe zu trinken. – Es geschieht vielleicht [219] einmal, daß ein Mensch einen so gottbegnadeten Sinn hat, daß er auf die Pracht der Paläste keinen Wert legt, daß er in der Armut und Einfachheit der Hütten keine Entbehrung und keine Erniedrigung sieht, daß er überall die gleiche Größe und Heiligkeit dessen findet, was er als unvergängliches Anbild in seinem Herzen trägt, und daß er nicht aus Haß gegen die Welt, sondern aus Liebe zu verlassenen Menschen von höherer Stellung zu ihnen in die Wälder und Öden herabsteigt. Sein Niedersteigen wird ihm und anderen zur Erhöhung.

So war's bei jenem Manne wohl nicht gemeint, der in der Hauptstadt von einem Wege, der ihn emporführen sollte zur Erkenntnis und zu Ehren, plötzlich links abbog und in die Wälder des hintersten Gebirges ging, um dort mit der Holzaxt und dunkeln Gaukeleien ein armselig Brot zu erwerben.

Der Mann ist durch meine Jugend gegangen, wie ein unheimlicher Schatten. Zu sehen war er nicht, denn er kam aus seinen Wäldern nicht heraus. Das Dorf und die Kirche hatte er leicht meiden, denn in seinem Walde, wo eine Schar von Holzschlägern lebte – es war der Filnbaumwald am Teufelsstein, der zur selben Zeit geschlagen wurde – stand ein Wirtshaus und in demselben hatte er seinen Unterstand. Es verging aber keine Woche, daß wir nicht vom »Studentenhansel« hörten. Er hatte geistlich werden wollen, war aber nach der »achten Schul« ausgesprungen. Die achte, das ist nämlich die schwarze Schule, in welcher die Theologen mit dem Teufel Bekanntschaft machen. Und da wäre er – der Studentenhansel – so erzählte er gern, zur Überzeugung gelangt, daß sich's auf der Welt mit dem Teufel weiter springt, als mit[220] dem lieben Herrgott, und er habe also mit dem Schwarzen Bruderschaft gemacht.

»Geld kunnt er von ihm haben, so viel er wollt',« erzählten die Leute, »aber er verschmäht's, er braucht den Hörndelbuben lieber zu was anderm. Drum nur dem Studentenhansel nichts in den Weg legen!«

Sie hatten eine heilige Furcht vor ihm und am meisten graute ihnen vor dem »Kopfwegzaubern«, weil jeder vom Aberglauben befangen war, daß er einen hätte. Der Hansel trieb's in seinem Waldwirtshause nämlich nicht selten, daß die Leute, die am Tische saßen, gegenseitig plötzlich keinen Kopf auf dem Rumpfe sahen. Dann wieder war es, daß in der Stube über dem großen Kachelofen Nebel aufstieg; daß es in diesem Nebel zu blitzen und donnern begann und die Hagelkörner hin über die Zechtische prasselten. Daß sich der Hansel auch »verblenden«, d.h. unsichtbar machen konnte, wurde von vielen behauptet, aber von keinem bestritten. An Geld litt der Hansel niemals Mangel, er soll die feinsten Bocklederhosen und kostbaren Gamsbart getragen haben. Seine Liebste sah an den Sonntagen vornehmer aus, als die reichste Bäuerin im Gau und sie soll mit einen ganzen Kopf größer gewesen sein, als der Hansel und sie allein soll vermocht haben, seine Zaubereien aufzulösen.

»Wenn sie früher stirbt als er, kann's ihm schlecht gehen«, sagte man.

»Weswegen?« fragte man.

»Wenn sie zu seiner Sterbstund' an seiner Seiten ist, kann's noch gut enden.«

»Wieso?«

[221] »Kommt der Teufel um seine Seel', sie rauft mit ihm, er laßt ihr sie.«

»Das glaube ich,« sagten andere, »sie geht nochüber den Teufel!«!

So wurde gesprochen und ich dummer Junge war der, den all das am wenigsten anging und der sich davor am nachhaltigsten fürchtete.

Die Zeit verschob sich und als ich eines Tages fortging, um ein Student zu werden, da schüttelten die Leute sehr bedenklich ihre Häupter und einer unserer Nachbarn sagte, es wäre nicht schlecht, wenn ich meine junge Seele in ein weißes Leintuch wickeln und ihm aufzubewahren geben wolle.

»Narr!« rief ein anderer, »da tut er doch viel gescheiter, er verschreibt sie einem, der ihm der Rede wert was dafür gibt. Er wird das rechte Türl schon treffen.«

Als ich dann über eine Weile nach Hause kam, hatten sich auch manche Leute verschoben. Sie grüßten mich in einer Art von Ehrfurcht, dann gingen sie mir aus dem Wege und betrachteten mich nur aus der Ferne. Dort und da, wo es Gelegenheit gab, machte sich irgendein verwilderter Waldmensch an mich, der sonst das Dorf mied. Man merkte, er wollte von mir was, aber er wußte seine Sache nicht vorzubringen, lobte nur mein Wachstum und wie es schön sei, wenn der Mensch was aus sich zu machen verstünde und bog wieder seitab.

Einmal beim Hausteinerwirt war es aber doch, daß ein alter Holzbrenner ganz nahe zu meinem Sitz heranrückte, mir seine knorpelige Hand auf die Achsel schlug [222] und ausrief: »Na, junger Herr, wie steht's mit dem Wettermachen? – nichts gelernt?«

Ich war mir, wie ein Wicht. Es war in unserem Institute Ähnliches wohl vorgekommen. Der Professor machte allemal ein »Wetter«, so oft einer seine Hausaufgabe nicht im gewünschten Stand hatte. Einige der Kollegen konnten sich auch »verblenden«, und zwar auf ganze Tage lang, da sie häufig im Lehrsaale nicht zu sehen waren. Und wieder von anderen, die gekommen waren, behauptete der Professor, sie wären ohne Kopf gekommen. In einer solchen Anstalt, aber höherer Klasse, mußte wohl der Studentenhansel studiert haben, dessen Fertigkeiten nun auch von mir verlangt wurden. Ich konnte jedoch gar nichts dergleichen und blöde, wie ich unter fremden Leuten von jeher war, schlich ich jetzt kleinlaut aus der Wirtsstube.

Es wollte sich aber doch was zutragen.

Eines Abends – ich hatte eben nach Vollendung einer Arbeit mich auf die Bank gestreckt, eine Zigarre meines Gastvaters Lorenz Haas angebrannt und bei mir gedacht: jetzt bin ich ein gemachter Herr. Meine Reichtümer sind so unermeßlich groß, daß ich sie gar nicht zählen mag, so kümmere ich mich um nichts und will einmal in meiner ganzen Länge auf der Bank liegen – eines solchen Abends polterte ein Kerlchen zur Tür herein; der Lärm, den er machte, war viel größer, als er selber. Dabei tat er wieder so schleichend und geheimnisvoll und flüsterte mir die Frage zu, ob ich allein sei.

Das wäre ich gewesen, sagte ich, jetzt aber sei eben [223] einer zur Tür hereingetreten, von dem ich nicht wisse, was er wolle.

Das reime sich gut, meinte er, denn er sei eben gekommen, mir das zu sagen. Kennen würde ich ihn doch? Er sei ja der Ameisrodel.

»Das ist bewiesen,« sagte ich, denn mein Stübchen war bereits voll von jenem stechenden Geruche, wie er aus den Ameishaufen aufsteigt, wenn man in ihnen wühlt. Der Ameisrodel war einer jener Waldschmarotzer, vor welchem kein Harzkorn am Baum, kein Würzlein im Grund und kein Tierchen im Baue sicher geht. Er faßte den ganzen Ameishaufen mit allem, was drin lebte und webte, in einen Sack, trug ihn davon, stäubte und siebte ihn dann, so daß er zu den Ameiseiern kam, die er gut zu verwerten wußte. Die zahllosen, ihrer bluteigenen Sach' beraubten Ameisen, soweit sie bei der Prozedur nicht zugrunde gegangen waren, konnten dann allemal wieder davonlaufen und trachten, daß der Rodel im nächsten Jahre wieder zu seiner Ernte käme. Ost ähnelt das Angesicht eines Menschen irgendeiner Tierlarve, ohne daß man sagen könnte, worin diese Ähnlichkeit eigentlich bestehe, von welchem Zuge sie bedingt werde. Mein Rodel sah wie ein Ameismarder aus. Er hatte sehr kleine Augen und eine kleine, aber scharf hervorspringende Nase, während Stirne und Kinnbacken höchst bescheiden in den Hintergrund traten. Der Bart war nur durch wenige Härchen vertreten, weil, wie er selbst sagte, die Ameisensäure dieses Gewächs schon im Keime zerstöre. Auch seine Glatze schrieb er diesen Einflüssen zu. Von einem betagten Alter konnte noch keine Rede sein, was sich alsbald erweisen wird.

[224] »Ich treib' nicht lang' um,« sagte nun der Rodel, »der Herr Student wird mich gleich verstehen, was ich will. Ich hab' halt eine Liebste, die mich nicht mag.«

Da habe ich ihn sprachlos angestarrt.

»Sie beißt nicht an, und da möchte ich so ein Sympathiemittel haben. Wenn mir der Herr Student was wollt' raten, daß ich sie herumkrieg', zu sparsam tät' ich ihm nicht sein.«

»Wenn sie dich nicht mag, was gibt's denn da zu raten!« lachte ich auf. »Stehen lassen. Eine suchen, die dich mag.«

»Aber mir stünd' sie an. Und hab' gemeint, weil der Studentenhansel auch allerlei Mittel weiß, daß einem das Dirndel nachlauft wie ein Pummerl –«

»Geh' zum Studentenhansel.«

»Was glaubst denn – der liegt ja auf dem Tod!« sagte der Rodel. »Hast nichts gehört, daß einer kommen ist und ihm die Knochen zerschlagen hat, daß – will er sich rühren – alles in ihm klappert, wie ein Sack voll Scherben!«

»Und wer hat ihn so geschlagen?«

»Wer? Wenn du's nicht weißt – mich darfst nicht fragen. Ein fremder, baumstarker Gesell' ist's gewesen. Kein Mensch hat ihn früher gesehen und seither auch nicht. Der Studentenhansel liegt in der Filnbaum-Köhlerhütten; man geht nicht gern zu ihm, weil man wohl weiß, heut' oder morgen wird er kommen, der andere – derselbe – der Schwarze, und da steht man nicht gern daneben, er kunnt sich vergreifen. Bin desweg lieber zu dir gangen, du bist schon so gut und weist mir was, daß mir die Stasel nicht ausmag. Was sagst denn dazu, [225] wenn ich ihr drei Haar von mir eingeben tät', so unter Brot oder Sterz, oder was sie halt am liebsten ißt?«

Nochmals riet ich ihm, eine andere zu suchen, da schrie er drein: »Mir steht keine andere an! Die Stasel will ich haben. So gibt's keine mehr. 's Dirndl ist klein, die Nachfrag' ist groß, aber mit heißem Wasser jagt der verflixte Satan, der liebe, die Mannerleut' aus der Hütten. Und nachher, wenn sie lacht, will jeder wieder hinein. Studentenherr, wenn die lacht! Alle zwölf Apostel kunnt sie vom Himmel auf die Erden herablachen, wenn die lacht!«

Und hierauf gab der Rodel eine Beschreibung von der Stasel, bis mählich mein Studentenblut aufgemischt war und ich bemerkte, daß ich in dieser Sache weder was tun noch was raten könne, so lange ich sie nicht selbst gesehen.

»Das hab' ich mir wohl gedacht,« sagte er, »auch der Studentenhansel hat die Dirndln allemal selber sehen müssen, daß seine Sympathiemittel nachher angegriffen haben. Die Stasel ist jetzt in der Heschelalmstuben oben. Gehst mir hinauf?«

»Ich geh' hinaus.«

»Ich zahl' dich gut, Student, wenn du mir was zuweg' bringst. Du wirst dein Lebtag noch viel Geld verdienen, aber ich steh' dir gut dafür, du wirst oft sagen: besser ist mir nichts gelohnt worden, als wie dieselbigen zwei Stunden hinauf zur Heschelalmstuben.«

»Ich verhoff's, Rodel. Wann meinst denn, daß es sein soll?«

»Besser heut' als morgen. Brauchst was von mir?«

»Nur drei Ziffern will ich wissen.«

[226] »Drei Ziffern brauchst?«

»Drei Ziffern: ihr Alter, dein Alter – und die dritte weiß ich.«

»Sie? Sie wird einundzwanzig haben – nicht mehr.«

»Das ist günstig. Und du?«

»Ich? – Ich zähl' elf dazu.«

»Wäre zweiunddreißig. Rodel, du bist älter! Zu meiner Kinderzeit hast du schon so ausgeschaut, wie jetzt.«

»So werde ich auch in dem Alter verblieben sein.«

»Ernsterweis', Ameisenmarder, wie alt?«

»Tu' halt noch acht dazu.«

»Vierzig? – No del, wenn die Ziffer auch nur um eins gefälscht ist, so mißlingt das ganze Spiel!«

»Meinst? Gar so genau müßt's sein?«

»Ganz genau.«

»Aber gelt, ihr sagst es nicht? So mach' in Gottesnamen noch die letzten fünfe drauf. Aber jetzt sind wir oben, ganz oben!«

»Also fünfundvierzig.«

»Gerade in den besten Jahren.«

Soweit die Auseinandersetzungen. – Und die dritte Ziffer?

Als ich durch den jungen Kirwald gegen den Filnbaumschlag und gegen die Heschelalmstuben hinging, bedachte ich meine vierundzwanzig Jahre. Vierundzwanzig und einundzwanzig gibt auch fünfundvierzig – da brauchen wir den Rodel nicht dabei. – Daraus erwäge, lieber Leser, wie schlecht der Mensch wirklich sein kann, wenn er teufeln will.

Als ich durch den unteren Filnbaumwald ging, stieß [227] ich auf etliche Männer, die im Heidekraut kauerten und einem Gewimmer zuhörten, das aus der nahen Köhlerhütte heraufdrang.

»Pst!« zischte mir einer zu, »da drinnen verreckt was!«

Und ein anderer: »Wenn's der Herr Student sehen will, wie den andern Herrn Studenten der Teufel holt, so braucht er nur ein klein Eichtl dahier zu warten.«

»Leistet dem Hansel jemand Beistand?« fragte ich.

»Braucht keinen. Sein Beistand wird bald da sein,« spottete einer.

»Ich will euch was sagen, Leute, ihr seid elendlich schlecht.«

»So? Sonst nichts?«

»Wollt ihr noch was, so sage ich euch, daß ihr auch erdärmlich dumm sein müßt, wenn ihr nicht merkt, wie ihr selber vom Teufel besessen seid.«

Da stand der Stämmigste unter ihnen langsam auf und murmelte: »Den Studenten da will ich mir jetzt aber doch einmal vergunnen.«

»Geh' nur her!« sagte ich und schlug mit dem linken Daumen ein zackiges »Trudenkreuz« über meine Brust, »rühr' mich nur an!«

»Rühr' ihn nicht an!« warnten ihn die anderen.

Und er rührte mich nichtan. Lange blieb ich aber bei dieser Gruppe nicht stehen, ich stieg zur Hütte hin ab und in derselben fand ich eines der jammervollsten Wesen, die mir je vor Augen gekommen sind. Auf dem Erdboden, der nur spärlich mit Stroh bedeckt war, lag der Studentenhansel. Wie er aussah – ich will es nicht beschreiben. Eins war in mir, das wollte mich von ihm [228] fortdrängen, ein anderes war in mir, das zog mich zu ihm nieder, daß ich mit meinem Tuche sein Haupt trocknete und sagte: »Du armer Mensch, wie kann ich dich laben?«

Als er mich so sah und das hörte, sing er so entsetzlich zu gröhlen an, wie ich seither keinen Schmerz mehr schreien gehört habe. Es war aber nicht der Schmerz allein, der solchergestalt losbrach, denn als er endlich wieder ruhiger geworden war, sagte er die Worte: »Mensch, du gehst ja bald wieder fort; aber du bist bei mir gewesen und ich habe vor meinem Ende noch einmal einen Menschen gesehen, wie schon lange nicht – wie schon lange nicht.«

»Vielleicht hättest du es anders haben können,« sagte ich, »es ist kein Vorwurf jetzt, aber was man von dir gehört, du hast die Leute, die um dich gewesen, entmenscht.«

»Ich habe sie entmenscht,« wiederholte er, »so ist es, ich habe sie entmenscht. – Und jetzt will ich dir was sagen. Dein Gesicht kannst ja wegwenden, nur dein Ohr leihe mir. Du bist, glaube ich, der Waldbauernbub, der jetzt studiert.«

»Jawohl.«

»Willst auch von mir was studieren?«

»Wärest du gesund, ich wollte dich fragen, warum du deinen schlechten Ruf ausgesprengt hast, daß sie dich für einen Zauberer halten.«

»Wäre ich gesund, mein lieber Waldbauernbub, so wollte ich dir das kaum sagen. Aber weil ich sterb', so höre mich an.«

Er überwand seine Qualen und begann zu erzählen:

»Geistlich habe ich werden wollen. Nach der achten [229] Schule in den Vakanzen habe ich was angestellt. Ist ein Mädchen gewesen, die Braut von einem Bergknappen. Sie hat mir gefallen, und wenn sie schon einen Mann will – ich bin auch einer. Sagt sie: sie will nur ihren Bräutigam, der in der Erden sein Brot gräbt. Da sage ich im Übermut – denke aber nichts dabei – schönes Kind, sage ich, du weißt, ich habe die schwarze Schule studiert und wenn ich will, so kommt dein Bräutigam nimmer aus der Erde. Drei Worte spreche ich, und die schlagenden Wetter haben ihn umgebracht. – Ein Zauberer! sagt sie. – Ja, sage ich, und just zu trotz, weil du mich jetzt nicht willst, sollst du den andern auch nicht haben. – Ich sehe es heute noch, wie sie blaß geworden ist. Närrchen, sage ich, du kannst es ja leicht abwenden. Wirst doch deinen Bräutigam retten, wenn du kannst! – Ich sage dir sonst nichts, Waldbauernbub', als: sie hat ihn gerettet. – Sie ist aber nicht bloß dumm, sie ist auch ehrlich gewesen und hat es ihm erzählt. Der Bergknappe geht in meine Anstalt und verklagt mich. Ich werde ausgestoßen. Armer Leute Kind, alle Wege verschlossen – bis auf den in die Wildnis. Und jetzt kommt's mir zu Sinn: Brauche deine schwarze Schule; die hat dir einmal gedient, sie wird dir öfter dienen. So bin ich in die Gaukeleien gekommen; was willst denn? Wenn die ausgelernten Priester vom Glauben leben, so mögen die abgefallenen Priester vom Aberglauben leben. Aber wie plötzlich der Bergknappe da ist, der mich jahrelang gesucht haben soll, und mir meinen Leib zerbricht, denke ich: die Schuld ist bezahlt. – Nur eines wollte ich noch den Leuten sagen, wie sie betrogen worden sind.«

[230] »Das kannst,« entgegnete ich, »da hinter der Hütte sind Holzleute.«

»Was treiben sie denn?«

»Sie warten auf etwas,« sagte ich, »sie wollen sehen, wie der Studentenhansel in die Hölle fährt.«

»Daß sie auch mitfahren!« knirschte der Kranke, »solchen Ungeheuern gebe ich keine Genugtuung.«

»Einer ist aber dabei, der Weihwasser und Amulette bei sich hat, um dich dem Teufel abzujagen.«

»So gehe hinaus,« rief er laut, »und sage ihnen: ich kann nichts über sie und sie können nichts über mich. Sie sollen meiner vergessen. Es ist der große Gott im Himmel, und dem befehle ich meine Seele.«

Da er drängte, so ging ich hinaus, die Männer zu suchen, die waren aber fortgegangen. Als ich wieder in die Hütte zurückkehrte, hatte der letzte Krampf begonnen.

Ich bin an jenem Tage wohl nicht mehr zur Heschelalmstube hinaufgestiegen.

Auf meinem Rückwege begegnete mir der Ameisrodel. »Na,« flüsterte er, »wie steht's? Kann ich schon kommen?«

»Ja, gehe mit mir, Rodel, wir haben was zu begraben. Vielleicht kommen dir dabei andere Gedanken.«

Der Arsenikesser
[231] Der Arsenikesser.

Auf einer meiner Studentenfahrten war es, daß ich bei einem Bauer in Gradenbach einkehrte. Bei jenem Bauer diente ein alter Bekannter von mir, ein junger Knecht, mit dem ich in die Schule gegangen war.

Er war in diesem Hause Pferdeknecht und lud mich ein, die Nacht über in seinem Stalle zu schlafen. Ich hatte noch selten so muntere und wohlgepflegte Pferde gesehen, als meine Schlafgenossen hier waren, und ich teilte das dem Knecht Urban mit, als wir nebeneinander im Stalle saßen und Tabak rauchten.

»Meine Rößln meinst?« entgegnete er darauf, »und was glaubst, daß ich tue, daß die Rößl so flink und sauber werden! Ich will dir's sagen: Hüttenrauch füttere ich ihnen.«

»Arsenik!« versetzte ich, »bist du auch so einer?«

»Das will ich meinen! Und es ist mir lieb, daß wir davon zu Red' kommen, du tust studieren und verstehst was.«

»Bei den Pferden verstehe ich gar nichts.«

»Bei den Pferden, das glaub' ich schon, daß du nichts verstehst,« sagte er nicht ohne Selbstgefälligkeit, »da muß einer von Kleinheit auf dabei sein; das ist nicht so, wie [232] etwan bei den Ochsen oder Schafen! Ein Roßknecht muß seinen Kopf haben, ja, das glaub' ich! Sollst nur einmal ins Bibergestüt hineinschauen, da möchtest dich verwundern. So ein Polakerhengst, wie sie dort stehen, dagegen ist dir unsereiner gerade ein dummes Vieh. – Was meinst,« fuhr der junge Knecht fort, »was ist mein Fuchs dort für eine Rasse?«

»Der hat Hitze! Kann spanisches Vollblut sein,« antwortete ich.

»Ein gemeiner Ennstaler ist's,« belehrte er, »und wie alt wirst du ihn schätzen?«

»Mag ein Zehnjähriger sein.«

»Der Fuchs dort?«

»Der Fuchs dort.«

»Mein Lieber!« sagte der Pferdeknecht, »der Fuchs dort ist seit einundzwanzig Jahren ein Roß. – Das kommt davon, weil er Hüttenrauch kriegt.«

Ich gab es schweigend zu, denn ich wußte, daß man in manchen Gegenden Pferden, die recht glatt und feurig werden sollen, pulverisierten Arsenik ins Futter mischt. Mein Bursche aber blies seine Pfeifenglut an, daß ich sein frisches Gesicht rosenrot beleuchtet sah, dann fuhr er lauernd fort: »Für die Leut', heißt es, wäre der Hüttenrauch auch gesund.«

»Das ist gewiß! Einer, der Arsenik ißt, braucht weiter keine Medizin mehr.«

»Nicht so,« entgegnete der Knecht, »so meine ich's nicht. Wer ein haselnußgroßes Stück frißt, na, bei dem glaub' ich's wohl, daß ihm kein Zahn mehr weh tut. Herentgegen, ein stecknadelkopfgroßes Körndl, sagt man, [233] soll nicht schlecht tun, soll flink und munter machen, auch die Leut', und daß man sein wird und lang' jung bleibt. – Was sagst denn du dazu, Student?«

»Fein willst werden, Urban?« fragte ich, »bist ja sein.«

»Stark möchte ich werden,« sagte er, »für's Bergsteigen soll der Hüttenrauch so viel gut sein.«

»Was hast denn bei deinem Fuhrwerk auf ebener Straße so viel bergzusteigen?«

»Eine gute Kraft hat einer alleweil zu brauchen,« war seine Entgegnung.

»Das wohl, eine gute Kraft, das wohl.«

»Und Kurasch'.«

»Auch Kurasch' zum Raufen im Wirtshaus.«

»Und Jungheit, viel Jungheit,« sagte der Urban.

»Ist's leicht der Weiberleut' wegen?« fragte ich.

»Laugn's nit!« versetzte er und blies seine Glut an.

»Und willst dich auch auf spanisches Vollblut hinausspielen?«

»Das nicht,« sagte er, »mein Schatz ist eine Italienerin. Und möchte ich gerade wissen, ob man's probieren dürft' mit dem Hüttenrauch?«

Ich riet ihm nicht dazu. Aber er zählte mir Beispiele auf von Bauernknechten und Bergmannsleuten und Schmieden, die schon seit Jahren Arsenik äßen und sich dabei gar wohl befänden. Dann zündete er die Stalllaterne an und suchte eine Papierdüte hervor, in welcher weiße Stückchen enthalten waren.

»Das ist der Zucker,« sagte er.

»Ja, das ist genug, daß du damit alle Gradenbachleute ins Himmelreich schicken kannst.«

[234] »So gut möchte ich es ihnen doch nicht meinen,« sagte der Urban, »aber ich probier's. Probieren tu' ich's. Bin ich hin, so grabt's mich ein.«

Er nahm ein Körnlein zwischen die Finger und führte es in den Mund und zerbiß es und verschluckte es und schnalzte mit der Zunge.

»Wie schmeckt's?« war meine Frage.

»Nicht übel. Wie eine alte Schafkäsrinde.«

»Vielleicht ist's eine!« bemerkte ich.

»Ist nur um's Kosten,« sagte er und hielt mir die Düte hin. Auf das ließ ich mich nicht ein; ich merkte es an ein paar Eigenschaften, daß es Arsenik war.

»Gar nicht einmal übel wird mir,« sagte der Urban, sich stemmig vor mir aufrichtend, seine Beine ausspreizend, seine sehnigen Arme – er war in Hemdärmeln – in die Seiten stemmend, »eher ist's, als wenn ich eine Maß Wein getrunken hätte. Morgen nehm' ich wieder ein Körndl; ich freue mich schon drauf. – Mußt es aber nicht weiter sagen, alter Kamerad, sonst gibt mir der Jägerthomas keinen Zucker mehr. Und ich bin der Angesetzte.«

»Von einem Jäger hast ihn? Und wozu braucht ihn denn der?«

»Zum Schrotgießen, sagt er, damit die Kugeln rund werden. Aber jetzt wett' ich was drauf, daß auch der Thomas nascht.«

Seit diesem Gespräche bin ich ein gesetzter Mann geworden; er ist Pferdemeister in Prötz und ein junger Bursche geblieben, sieht aus wie das Leben. Wir sprachen wieder von der Sache.

[235] Ob er noch Zucker nasche?

»Naschen? das nicht,« antwortete er, »aber Erbsen essen.«

Ißt dieser Mensch täglich ein erbsengroßes Stück Arsenik.

»Jedem,« sagte er, »jedem möchte ich's nicht raten! Meine Kellnerin ist draufgangen. Weil die Weibsleut' halt früher alt werden, als die Männer, mußt wissen, so hat sie gemeint, sie nehm' um das mehr Hüttenrauch. Ist zu viel angekommen. Mir tut's alleweil noch leid um sie.« -

Ich habe Arsenikesser gefunden in der Gegend mit Eisenerz, in Judenburg und bei Köflach und Voitschberg. Im Sulmtale soll dieses Gewürz besonders im Schwunge sein und die Leute schwören darauf, daß es stark und munter mache, das jugendliche Aussehen und den Glanz des Auges erhalte.

Der Bräutigam fragt die Verlobte, ob sie Hüttenrauch esse; sie verneint es stets, weil sie wohl weiß, daß ein solch künstliches Auffrischen ihrer Reize ihren wirklichen Wert nicht steigern würde.

So wird der Genuß des »Hüttenrauches« stets geheimgehalten und man erklärt denselben wohl als Laster. Daher genießt einer, an dem man dieses Laster vermutet, auf dem Dorfe keine große Ehre.

Manches Bauernmädchen versucht das Gift auch, um damit eine Sünde zu töten, bevor sie laut und lebendig wird; ein Beginnen, das nur allzu wirksam ist und oft schon das Leben der Esserin selbst rasch und mit heißen Peinen abgeschnitten hat.

[236] Im Pölßgraben hatte es vor Jahren ein Hammerschmied versucht, Arsenik in Pfeifen wie Tabak zu rauchen. Er wurde wahnsinnig und ist bald darauf gestorben. Häufig mischt man das Gift unter Wein oder Bier, doch stets nur ein winziges Körnlein. Wem nun aber der Genuß des Arsenik nicht gefährlich wird, dem kann der Abbruch desselben tödlich werden. Wer einmal begonnen hat, Arsenik zu essen, der darf – heißt es – nicht mehr aufhören, denn sobald die einmal daran gewöhnte Natur das Mittel entbehren muß, hebt sie an zu welken, zu sinken und es ist keine Rettung.

So soll es vorkommen, daß eifersüchtige Dirnen ihrem Liebsten täglich Arsenik beizubringen wissen. Manche ist der Tat fähig, ohne daß der Geliebte es merkt. Bleibt der Bursche bei ihr, so kommt das Gift zu statten; verläßt er sie aber und hält es mit einer andern, dann entbehrt er eben das Elixier, welkt hin und stirbt. So geht der Glaube.

Eine ähnliche Geschichte wird im Paltentale erzählt. Dort soll vor Jahren ein häßlich gestalteter Holzschläger ein junges Mädchen in der Weise an sich gekettet haben, daß er ihr so was, wie Arsenik beibrachte, und sie dann mit der Einstellung der Giftration bedrohte. Sie wußte Arsenik nicht zu bekommen und weil sie im Wahne war, bei der plötzlichen Entziehung und Entbehrung sterben zu müssen, fiel sie dem Wichte anheim.

Später, als er ihrer satt war, gestand er, daß es nicht Arsenik gewesen sei, was er ihr als solchen gegeben, sondern – Schwefel.

Bei der Naturforscherversammlung in Graz im Jahre [237] 1875 ist die Sache vom Arsenikessen in Steiermark zur Sprache gekommen. Man ließ ein paar berüchtigte Arsenikesser aus der Gegend von Stainz und Liegist holen, verhörte und untersuchte sie und gab zu Papier, daß sie durch den Genuß des Giftes einen Schaden an ihrer Gesundheit nicht genommen hätten. Im Gegenteile, sie sahen recht aufgeweckt aus. Als Grund des Arsenikgenusses gaben sie an, daß sie demselben gegen Ansteckungsgefahr und Verdauungsbeschwerden frönten. Der andere Grund, durch Arsenikessen im Liebesleben stark zu werden oder stark zu bleiben, wird in der Regel verschwiegen.

Jedenfalls gehört eine sehr kräftige Natur dazu, dieses Mittel zu vertragen und gewiß ist, daß die Herren Naturforscher etwas stark in Erstaunen gesetzt wurden, als die beiden Landleute vor ihren Augen das scharfe Gift mit Behagen verzehrten.

Gekauft wird von Bauersleuten der Arsenik unter dem Vorwande, denselben zur Vertilgung von Ratten zu benötigen. Trotzdem ist es nicht leicht, das Gift zu bekommen; häufig wird es durch Hausierer vermittelt. Die meisten Giftmorde auf dem Lande werden mit Arsenik verübt.

Den Arsenikesser soll man an dem scharfen und bisweilen glasartigen Glanze der Augen erkennen. Er soll ferner durch eine nervöse Aufgewecktheit und sinnliche Reizbarkeit ausfallen. Selbst in seinen älteren Tagen will man an dem Arsenikesser eine gewisse Jugendlichkeit bemerken, die jedoch fast plötzlich aufhört und in rasche Hinfälligkeit übergeht.

Medizinen sollen bei einem Giftesser gar nicht angreifen, [238] und so hat mancher sich dadurch geholfen, daß er zuletzt absichtlich so viel seines Gewürzes zu sich nahm, daß es mit einem Male aus wurde.

Schließlich ist die Sache mit dem Arsenikessen doch nichts anderes, als ein Überrest vom mittelalterlichen Gesundheitselixier des Teufels. »Man trank es, wurde jung und nach einiger Zeit vom Teufel geholt.«

Nacht
[239] Nacht.

Wenn ich fragen wollte, welche Jahreszeit euch die liebste ist, die mit den längsten Tagen oder die mit den längsten Nächten? so würdet ihr als vernünftige Leute antworten: Keine von beiden; wir lieben stets den goldenen Mittelweg, also jene Jahreszeit, in welcher der Tag zur Nacht in gutem Gleichgewichte steht – den Frühling und den Herbst. Und insofern ich auch ein wenig vernünftig bin, würde ich ganz dasselbe antworten. Insofern ich aber unvernünftig bin, ein Poet oder so etwas, dürfte ich mich für das Außerordentliche entscheiden und sagen: Ich liebe die kürzeste Nacht, weil sie den längsten Tag hat, und ich liebe den kürzesten Tag, weil er die längste Nacht bringt.

Es ist ja recht anständig, wenn man wie im Frühjahre und im Herbste mit Sonnenaufgang zur Arbeit geht und mit Sonnenuntergang Feierabend macht. Aber herrlich ist die Zeit, in der die Sonne nicht auslischt. Karl der Große glaubte ein Reich zu beherrschen, in welchem die Sonne nicht untergeht. Ich kenne im Lande einen hohen Berg, der zur Hochsommerszeit fast dasselbe von sich sagen könnte. In der Stunde vor Mitternacht hat der westliche Eishang seiner Spitze Phosphorglanz. Er haucht noch Lichtäther des vergangenen Tages aus. Und bald nach Mitternacht hebt der östliche Firn an, [240] sich zu lichten. Nach ein Uhr kommt ein Rosenhauch über ihn, nach zwei Uhr gleicht er dem feurigen Eisen, das der Schmied aus der Esse hebt, nach drei Uhr, da die umliegenden Berge schon in milchigem Lichte stehen und die Täler in blauem Schatten sich zeigen oder die weißen Seen ihrer Nebelschichten enthüllt haben, leuchtet die Bergspitze schon wie Metall, aus dem man Sonnen schmiedet – plötzlich lodert sie in blendendem Feuer und Licht, Licht flutet nieder von allen Hängen. Im Osten steht sie, die uns alles Gesicht spendet und nimmt. Nichts ist natürlicher, als der Sonnenkultus gewisser Völker, und nichts ist unnatürlicher, als daß dieser Sonnenkultus nicht bei allen Völkern der Erde zu allen Zeiten geherrscht.

Die Menschen ruhen zu dieser Stunde noch in ihren Wohnungen. Der eine oder der andere schlägt vielleicht einmal seine Augen auf. Taghell ist es in der Stube, aber er kehrt sich auf die andere Seite. 's ist lichte Nacht und noch nicht Aufstehenszeit! Endlich ist auch das Nachschläfchen vorüber, die Sonne ist zum Fenster hereingestiegen, kitzelt ihn in den Lidern, wie Samenkörner keimen die Augensterne auf, der Mund tut noch faul und gähnt, hei! da scheint ihm die Sonne bis in den Hals hinab. Im Winter prangt die Sonne um Mittag kaum höher am Himmel, als sie jetzt steht, da das Menschenkind sachte aus seinem Neste kraucht und seinen Morgen anhebt. Die Schatten der Bäume sind kurz geworden, doch funkelt in ihnen noch Tau. Die älteren Blumen falten ihre Blätter fast schamlos auseinander, aber auch die jüngeren lockern ihre Knospen und tun dürstend ihr Inneres auf – sie können ja nicht anders, der Sonnenstern küßt sie mit heißer Gier. Und [241] tragisch ist das Geschick der Liebe! Bald senken sich welk die bunten Häupter, die Blätter sinken lautlos zur Erde, der Sonnenstern aber steht im Zenith und besorgt mit erbarmungsloser Glut das Reisen der Wiesen. Den Vögeln ist das Singen vergangen, es sind Stunden der Ruhe, unerquicklich, unwirtlich wie Wüstenschauer, es ist eine glühende Nacht mitten am Tage. Erst nach vier Uhr, zu jener Zeit, da im Winter die Dämmerung eintritt, hebt eine ersprießlichere Epoche des Tages an, der ja endlos, endlos ist. Denn selbst wenn die Sonne versinkt hinter dem mit zartesten Wölklein verbrämten Gesichtskreise, ist's immer noch hell und wonnig, und dem Menschenkinde werden eher die Augen müde, als des Tages letzte Lichter vergangen sind. Selbst in den Niederungen kann man zu dieser Hochsommerszeit sprechen von einem zwanzigstündigen Lichttage, auf hohem Berge waltet ein vierundzwanzigstündiger, der nur einmal auf ein kurzes Weilchen die Augen schließt. Eintagsfliegen! Wer verachtet sie denn? Sie leben ja eine kleine Ewigkeit, sie erleben mit offenen Sinnen an einem einzigen Sonnentage mehr, als ein mattherziger Mensch in achtzig Jahren. Und wenn am Abende die Fliege altersschwach unter dem Urwaldstämme eines Grashalmes ruht und zurückdenkt an die seligen Zeiten der Jugend, da die Seen der Tautropfen zitterten auf den grünen Auen des Ahornblattes, wird sie vielleicht elegisch und hebt an zu säuseln: »Lang', lang' ist es her!«

Dichter pflegen das menschliche Leben mit einem Tage zu vergleichen. Kindheit – Morgen, Manneszeit – Mittag, Greisenalter – Abend; sie machen also auch den Menschen zu einer Eintagsfliege. Wie kommt es [242] aber, daß im Gehirn einer solchen Eintagsfliege ein Maßstab vorhanden ist, der unendlich größere Zeiten und Räume zu messen vermag, als sie der Mensch braucht? Hier geht die Verwandtschaftdieser Eintagsfliege mit dem Ewigen an; der Mensch weiß, daß die heute mit ihm niedergesunkene Sonne morgen wieder ausgeht; er weiß, daß ein zu Grab gesunkener Leib zu neuem Leben wieder aufersteht...

O, langer Sommertag, dich habe ich lieb! Und wie, wenn jetzt das Bekenntnis käme, daß ich die lange Winternacht noch lieber hätte?

Der nebelige Dezembertag ist wie ein Blinder, dem noch dazu die Augen verbunden sind. Wie kann man daran eine Freude haben? Doch nicht an dem armseligen Taglein freue ich mich, sondern an der gewaltigen Nacht. – Ja, mir gefällt die wochenlange Nacht, »Dezember« genannt, überaus. Sie bringt Frieden und Behaglichkeit, während der wochenlange Tag »Juni« uns einmal hierhin lockt, dorthin hetzt und die Sinne begehrlich macht zum weiten Ausschauen und Ausgreifen. Die Winterszeit schränkt ein, aber vertieft. Und, wie munter sich's sein läßt in der langen Winternacht! – Wenn mein Mittagsmahl, das ich tatsächlich um die Mittagszeit einzunehmen pflege, noch mit einem kleinen Nachtisch gesegnet ist, so wird's gut sein, die Lampe anzuzünden, damit man an der aufgeknackten Nuß auf dem Tische Kern und Schale unterscheiden kann; und dann bleibt die Lampe brennen. Man geht an die zweite Hälfte des Tagwerkes, die Straßenlaterne weist mir den Weg nach Hause; es wird der Kaffee eingenommen, zum Fenster starrt schwärzeste Nacht herein zu einer Stunde, [243] da man im Sommer vor der Hitze sich noch flüchtet in die schattigsten Zimmer. Im Ofen knistert frisch angemachtes Feuer, die Lampe wird erneuert, und das ist jetzt unsere Sonne. Wir ergeben uns – würde es von diesen Stunden in dem Aufsatze einer »höheren« Tochter heißen – der Musik, der Dichtkunst, heiteren Familienspielen oder pflegen ernster Arbeit. – Endlich nach langer Weile kommt das Nachtmahl. Nach demselben auf ein Plauderstündchen mit guten Freunden ins Weinhaus. Aus einem Stündchen werden natürlich zwei; denn auf einem Fuße kann man nicht nach Hause gehen, behauptet der Kumpan. Zwei Füße braucht selbst der Nüchterne dazu, sagt der andere Kumpan, und schlägt noch eine dritte Stunde vor als dritten Fuß. Auf drei Füßen geht nur ein gebissener Pudel! darauf der weitere Kumpan, und sie sitzenvier Stunden lang. Wie es dann mit dem Nachhausegehen aussieht in der finsteren Nacht – so weit ziehe ich den Vergleich nicht. Man hat noch Zeit genug, sich auszuschlafen, Zeit genug, Träume zu haben, die scheinbar ganze Tage lang dauern, und wenn man endlich erwacht, ist es immer noch kohlrabenfinster auf der Welt. Wieder die Lampe, wieder der Ofen. Man kleidet sich an, man frühstückt, man liest die Zeitung, in welcher der Attentatsversuch schon gedruckt steht, der am Abende zuvor lange nach Sonnenuntergang in Petersburg geschehen ist. – Nach all dem und noch anderem wird es im Fensterglase ein wenig blaß, aus der schwarzen Finsternis wird eine graue, voll frostigen Nebels. Neun Uhr vormittag ist es, die Zeit, da im Sommer auf dem Felde die Ochsen ausgespannt werden müssen, weil die Stechfliegen ihr Unwesen treiben in der Tageshitze.

[244] Und diese trostlose Winternacht soll der Mensch liebhaben? Ja. Aber warum verkriechen wir uns vor der Nacht in die Häuser mit ihrer drückenden Luft, an die Lampe mit ihrem engen Gesichtskreis? Ich habe die Winternacht anders kennen gelernt. – Einst in einer Adventnacht fuhr ich auf einem Schlitten von Rettenegg am Wechsel bis Mariazell, um dort dem Leichenbegängnisse eines Freundes beizuwohnen. Es ist eine Wegstrecke, die man zu Fuß in zwei Tagreisen zurückzulegen pflegt. Wir fuhren im Finstern ab, und als wir nach Mariazell kamen, war es noch so dunkel, daß vom Leichenhause der rote Lichterglanz zum Fenster herausschien. Als wir von Rettenegg fortgefahren waren, guckte hinter einer Niederung des Wechsels just ein Sternlein heraus. Dasselbe wurde heller, hob sich immer höher. Als wir im Tale von Neuberg dahinglitten, und bei dem Postwirtshause eine Stunde lang die Pferde rasten ließen, stand es gerade über unserem Haupte, und als wir die Anhöhe hinausfuhren gegen den Markt Mariazell, sank mein Sternlein hinter dem Ötscher hinab. Es hatte also gleich uns eine Reise gemacht vom Wechsel bis zum Ötscher, wenn nicht vielleicht hier der Naturforscher mir andeutet, daß die Reise des Sternleins, falls es nicht etwa ganz stille stand, in jener Nacht eine wesentlich größere gewesen.

Im Morgengrauen betrat ich mit halbsteifen Beinen das Haus zu Mariazell. Die Kerzen, welche das Totenbett umstanden, waren tief herabgebrannt, und das abgeronnene Wachs hing in starren Striemen und Knoten an den Leuchtern. Mein Freund lag schmal und schlank im Sarge. In der ersten Blüte der Jahre, und ein [245] solches Bett! Noch auf der Bahre war er ein hübscher Bursche. Sein nußbraunes Haar war glatt gekämmt um die seine, weiße Stirn, und der Schnurrbart an der vollen Oberlippe zierlich ausgestrichen, als ginge er zu einer Kirchweih. Zwischen den Fingern der übereinander gelegten Hände, wie er sonst gern die Zigarette gehalten, stak jetzt ein kleines, schwarzes Kruzifix. So hatte ich ihn noch gesehen, den guten Jungen, dann nagelten sie den Deckel zu. Als er eine Stunde später in das Grab rollte, war das Sonnenleuchten auf den schneebedeckten Fluren so mächtig, daß mir das Augenlicht verging in der kalten, lodernden Glut.

Eine lange, teils laut lustige, teils still verschwiegene Nacht war's gewesen, die den zweiundzwanzigjährigen Knaben vollendet hatte. Seine bergmännischen Studien hinter sich, war er vor wenigen Wochen auf einige Tage zu seinen Eltern gekommen, Hüttenbeamte zu Gußwerk bei Mariazell. Beim Wirte in der Grünau war Faschingball, dem alle jungen Leute der Gegend zustrebten. Es war schon dunkler Abend, als der Vater zum Sohne sagte: »Ich habe nichts dagegen, August, wenn du auf den Ball gehen willst. Unterhalte dich. Es kommt ohnehin jetzt für dich eine ernste Zeit, des eigenen Broterwerbes. Über morgen wirst du ja abreisen nach deinem neuen Bestimmungsorte, Idria in Krain. Also bringe diese letzte Zeit daheim heiter zu.« Auf dem nächtigen Wege nach Grünau sang und scherzte August mit anderen Burschen. Auf dem schallenden Tanzboden angekommen, versuchte er es mit mehreren Dirndeln; die einen foppten ihn, die anderen foppte er; ein paar Reigen mit jeder, aber Bestand hatte es mit keiner. Er verlegte sich wieder [246] aufs Singen. In bloßen Hemdärmeln, wie es Bauernweif' ist, stellte er sich in eine Gruppe von Jodelnden und tat mit, und trank Wein dabei und rauchte Zigarrer und trocknete sich mit rotem Sacktuche den Schweiß von der Stirn und ging mit Genossen in die frische Luft und sang, was von der Kehle ging. Gegen Mitternacht hielt er sich unter dem Menschengewirre im dämmerigen Vorboden auf und schäkerte mit einem frischen, drallen Mädel. Später saßen die beiden an einem Tische sehr nahe beisammen, aßen Braten und tranken Wein und der Bursche spielte neckend mit ihrer Hand, die auf dem Schoße lag. Das Mädel war von dem Bruder zum Balle geführt worden, aber der Bruder ergötzte sich mit Leuten, welche ihm verwandtschaftlich weniger nahe, in manch anderem aber näher standen als die Schwester. So war diese großenteils auf sich selbst gestellt, und das ist keine Stellung für ein lebenslustiges Dirndel. Sie ließ sich bei August den Wein schmecken, dann nahm sie seine Werbung zu einem Tanze an und bald darauf flog das Paar durch den Saal, wie ein mit Kraft entfesselter Kreisel, und die Geigen siedelten dazu und die Pfeifen jauchzten. Eine Stunde später stand der Bursche mitten im Raum und ballte trotzig die Faust. Das Mädel kauerte in einem Winkel und schluchzte. Der erste Verdruß. Eifersucht. Als sie nachher mit einem anderen Tänzer reigte, nahm auch August eine andere und raste mit auffallender Lustigkeit durch den mit Weindunst erfüllten Saal. Lange schon hatte die Gesellschaft sich zu lichten begonnen und von den noch Anwesenden waren die meisten betrunken oder standen gelangweilt umher. August und das Dirndel, mit dem [247] er in Feindschaft lebte, waren nicht mehr zu sehen. Die Nacht war stille geworden. – Als wieder nach Stunden zu einem Hinterpförtchen des Gebäudes ein junges Menschenpaar hinausschlich und flüchtig sich verabschiedete, klotzten auf dem Wege die schwerfälligen Schritte von Holzbauern dahin, die in den Wald gingen zum Tagwerk, vom Zellerturme herab tönte die Glocke zum Frühgebete, aber Nacht war es immer noch, und immer noch Nacht.

August war in scharfem Morgenfroste müde nach Hause gegangen, um sich auszuschlafen. Aber aus dem Schlafe weckte ihn – zuerst eine Weile sich mit Traumvorstellungen verflechtend – ein stechender Schmerz in der Brust. Er konnte nicht mehr Atem holen. Schüttelfrost riß ihn hin und her, Stirn und Hände waren glühend. Als der Doktor erschienen war und ihn untersucht hatte, sagte er nicht, es werde sich bald wieder geben, er sagte gar nichts und am neunten Tage fertigte er den Totenschein aus. – Zuversicht für die Zukunft, Freude, Gesang, Schäkerei und Scherzen, Bekanntschaft machen, sich nahen und vertrauen, sich umfangen und kosen im Reigen, sich entzweien, sich meiden und suchen, sich wieder finden, versöhnen, müde gehetzt durch Luft und Zorn sich endlich in wild entfachter Glut zu Tode herzen... das alles in einer Nacht! – Also kann der Mensch ein ganzes Leben auskosten, während die Sonne ein einzigesmal abwesend ist und hinzieht über die Häupter der Gegenfüßler.

Liebe hat sich die Nacht erkoren; nicht allein die irdische, sondern auch die himmlische. Zum innigsten, gemütvollsten Feste, das wir feiern, brauchen wir die[248] Sonne nicht, wir begehen es in der Nacht, in der längsten Winternacht.

Nach Monden, wenn Tag und Nacht in gleicher Wage stehen und das Zünglein senkrecht gen Himmel weist, wendet sich Samenkeim und Menschenherz nach auswärts. Ungeheuere Mächte der Natur werden sichtbar in lieblichster Gestalt, und alles, was wir sehen, hören und fühlen, bedeutet Auferstehung, neues Leben.

Und wieder nach wenigen Monden ist der Höhepunkt des Lichtes, der Herrlichkeit erreicht. Der lange Pfingsttag ist über alle Maßen schön, und wenn es auf Erden etwas noch Schöneres gibt, so ist es die Pfingstnacht. Die stille, laue, blütenduft durchhauchte Nacht.

In einer solchen Nacht war es auch gewesen – ein halbes Jahr nach meiner Schlittenfahrt nach Mariazell – daß dort im Tale der Grünau vor einem Bilde ein junges Weib lag und weinte. Sie klagte es der heiligen Jungfrau; drüben auf dem Kirchhofe modert ein junger Mensch und sie ist von dem Geschicke dazu auserkoren worden, diesen Menschen zu erneuern... Er soll wieder auf Erden sein zum Schäkern und Kosen. Und darüber wird so viel Glück und Tugend und Ehre zunichte. – Dort unten im Tale steht ein weißer Punkt, es ist die Mühle. Der junge Müller schläft jetzt, weiß nichts davon, daß morgen früh seine Braut kommen will und ihm gestehen: Mein lieber Anton! Aus unserer Hochzeit kann nichts werden!

Es ist Sonntag. Das junge Weib steht in der Kirche hinter einem Pfeiler. Links ist der Beichtstuhl und rechts am Seitenaltare steht der junge Müller, ihr Bräutigam. Sein Haar legt sich in zwei Büschlein[249] über die Stirn herab, sein Auge ruht im Gebetbuche. Er ist schön und gut und fromm. Im Winter zu Mariä Lichtmeß hat er sich ihr in Ehren vertraut. Damals hatte sie es freilich noch leicht, die Stunde der Nacht zu verschweigen. – So steht sie jetzt zwischen Beichtstuhl und Bräutigam. Gerade vor ihr prangt das Gnadenbild. Dieses fragt sie: Soll ich links hingehen und beichten? – Keine Antwort. Also fragt sie das zweitemal: Soll ich's dem Priester gestehen oder dem Bräutigam? Am Altare beginnen die Lichter zu tanzen. – –

Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie über sich den freien Himmel und ihr Haupt ruht im Schoße des Bräutigams, der ihr mit feuchtem Tuche die Stirne kühlt.

»Was ist denn das mit dir?« so fragt er sie. »Du bist in der Kirche umgefallen wie ein Block.«

»O mein lieber Franz, freilich bin ich gefallen.«

Er läßt sein Auge ruhen auf ihrer Gestalt, aber es ruht nicht, es ist unstet. »Johanna,« sagt er hernach, mit einer Stimme, die wankt und zittert, »Johanna, ich weiß nicht – du kommst mir nicht recht vor...«

»– Wird dich nicht betrügen,« sagt sie, preßt ihr Antlitz krampfig in seinen Oberschenkel und beginnt so heftig zu schluchzen, daß ihr ganzer Leib erbebt.

Der junge Müller sagt nichts mehr. Eine Weile läßt er sie noch kauern an seinen Beinen, endlich schiebt er sie sachte von sich. Sie bleibt liegen auf dem Rasen und es kommt die Nacht.

Die Geschichte von Remi dem Räuber
[250] Die Geschichte von Remi dem Räuber.

Der Geselle Wendelin und ich waren beim Donatbauer zum Mittagsessen eingeladen gewesen, am heiligen Christtag. Was wir dort aßen, davon will ich nicht reden, sondern davon, was wir nicht aßen. Denn das, was wir übrig ließen, packte uns die Donatbäuerin in unsere Taschentücher. Und so verließen wir das Haus – der Wendelin ein Krapfenbündel am Stock hinter der Achsel, ich auch ein Krapfenbündel am Stock hinter der Achsel. Ich hatte an meinem Stocke auch noch ein paar Stiefel hängen, die Werktagsstiefel, die ich in der Woche auf der Ster beim Donatbauer angehabt hatte. So sagte der Wendelin unterwegs noch das drollige Wort: »Du gib acht, daß dir die Krapfen auf dem Buckel deine Stiefel nicht anziehen und davonlaufen!« O dummes, o prophetisches Wort!

Auf der Straße kamen wir zu verschiedenem Volke, Männer, Weiber, Dirndeln, Burschen, die alle in die Kirche gingen zum Nachmittagsgottesdienste. Wir Schneider waren rasch und schlenkerten an den Leuten vorüber. Wir waren auch sehr lustig, pfiffen heitere Krippenlieder, wie sie in der Nacht zuvor auf dem Kirchenchore gesungen und gespielt worden waren, und huben an auf der Straße zu tänzeln nach dem Takte. Der Wendelin hatte damit angefangen, er hatte schlanke, dünne, [251] überaus bewegsame Beine und war so tanzerisch gestimmt, daß er auch zu jedem Kirchenliede wie zu einem Walzer hopste und trippelte. Ich tat ihm's getreulich nach, denn wenn's lustig ist, muß man tanzen, und warum sollte es nicht lustig sein, wenn der Heiland geboren war, der uns eine Reihe von Weihnachtsfeiertagen und Bündeln von Krapfen gebracht hatte! Während des Hopfens auf der Straße klopften die Stiefel mir wiederholt auf den Rücken; anfangs tat ich nichts desgleichen, doch sie ließen nicht ab zu klopfen aus Schulterblatt, bis ich sie plötzlich verstand – meine Krapfen waren weg. Das ganze Bündel Krapfen – es hing nicht mehr an dem Stocke, es war verschwunden. – Krippenlied und Tanz wurden schrill abgebrochen.

Der Wendelin ging seines Weges, ich kehrte um und fragte jeden der Hinteren, ob er mein Bündel nicht hätte? Den alten Männern und Weibern konnte ich ihr bedauerndes »Nein« glauben, den schmucken Dirndeln traute ich schon weniger, maßen sie unter sich kicherten darüber, daß der »hüpfende Schneider« auf der Straße seine Krapfen verloren hatte. Als ich nun aber ganz hinten zu einem geschlossenen Trupp von Burschen kam, die bei meinem Nahen einander stumme Zeichen gaben und verständnisvoll sich anblinzelten, wußte ich auch, wo meine Krapfen waren.

»Kameraden,« so redete ich sie an, denn diese Saitenklänge der Zusammengehörigkeit hielt ich für die besten, »Kameraden, habt ihr kein blaues Bündel gesehen? Ich habe ein blaues Bündel verloren.«

»So,« entgegnete der kleine, dicke Anglermichel ernsthaft, »was ist denn drin gewesen?«

[252] »Ein bissel Eßwerk für die Feiertage.«

»Wer was Verlorenes sucht, der muß sich genauer ausweisen,« sagte der knieweite Kreiderersepp.

»Die Donatbäuerin hat mir ein paar Krapfen geschenkt, und die sind drinnen gewesen,« gab ich an.

»Wieviel etwa mögen ihrer Krapfen drinnen gewesen sein?« verhörte der stangenlange Steinhiesel.

»Na halt etwa fünfzehn oder zwanzig Stuck, oder so was.«

»Und da sagt er: ein paar!« lachte der Michel. »Wir haben nichts gefunden.«

»Macht keine Dummheiten und gebt sie her!«

»Ah geh', was wollte denn so ein Schneiderlein mit so vielen Krapfen anfangen!« rief der höckerige Kerschbaumstoffel und gab mir mein blaues Sacktuch zurück – aber in zusammengeballtem Zustande inhaltslos.

»Dem Herrn Pfarrer will ich sie bringen, die Krapfen.«

»Ha, ha, ha,« lachten sie alle, der eine in Brustton, der andere in Fistelstimme.

»Das heißt,« berichtigte ich mich, »meinem Meister gehören sie, die Krapfen, er wird sie halt vielleicht dem Herrn Pfarrer schenken wollen.«

»Ha, ha, ha,« lachten sie wieder.

»Etliche davon,« fuhr ich fort, »gehörten schon mir auch, von den Krapfen, ja, und wollte sie meiner Mutter geben.«

»Ha, ha, ha,« lachten mehrere, aber nicht alle. Der Kreiderersepp griff in seine inwendige Rocktasche, »der Mutter, das ist was anderes. Da muß ich den meinigen schon zurückgeben.«

[253] Der Schrodelfranz jedoch sprach: »Ah, deiner Mutter kunnten die vielen Krapfen schaden, die ist sie nicht gewohnt.«

Stand ich da und hub an zu schelten: »Ihr Saggra!«

Das half nicht viel, und so hub ich an, ihnen folgende Vorstellung zu machen: »Seid ihr nicht auch froh, wenn ihr der Eurigen manchmal was schenken könnt!«

»Wir haben gar keine Mutter,« riefen ihrer zwei.

»Mutter meine ich jetzt auch keine,« sagte ich.

»Ah so, seinem Mädel will er die Krapfen spendieren!« sagten etliche und gaben mir die zurück, welche sie im Sacke hatten. Alle hatte ich sie aber noch immer nicht, lange nicht alle. So gestand ich denn, daß ich auch selber gerne Krapfen esse.

»Endlich ist er aufrichtig!« rief der Michel, »und weil er aufrichtig ist, der Schneider, und die Krapfen selber essen will, so soll er die meinigen haben.« »Die meinigen,« sagte er, da sie vielmehr die meinigen waren, die er mir jetzt zurückgab. Die übrigen machten ihm's nach und ich hatte fast alle meine Krapfen wieder. Mehrere waren zwar schon angebissen. Ich breitete auf dem schneeigen Wege das blaue Sacktuch aus und band die Krapfen ein.

Alle der Burschen hatten zurückgegeben, nur einer nicht – der Bärennäßler-Remi nicht. Der sagte: »Dümmeres gibt's nichts, als wenn einer die Krapfen weggibt, die er selber essen kann. Der Schneider erlaubt's ja, gelt?« Und er aß den seinigen keck vor meinen Augen auf, hielt mir dann zum Hohne die fettigen Finger vor, die sollt ich »abschlecken«.

Den Wunsch, diesen Menschen einmal nachdrücklich [254] auf die Erde zu legen, hatte ich schon oft gehabt und nicht bloß ich allein. Aber der Remigius Bärennäßler war ein großer grober Lümmel, der sich bei seinen Angreifern gleich aufs Würgen oder Augausschlagen verlegte. Ein paar Mannsleute im Dorfe hatten von dem Remi ihre Denkzettel, und seither band man mit ihm nicht gerne an und er handelte nach freiem Willen. Sein wulstiges Gesicht mit der kleinen Nase und dem breiten Mund grinste, seine graue Wollenhaube im Nacken, so blinzelte er mich mit halb zugemachten Äuglein an, so stand er mit weitausgespreiteten Beinen da, stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte weichmütig: »Nu, Schneider, ist dir was nit recht?« Natürlich, mir war alles recht.

Das war mein einziges Begegnen mit dem Remi gewesen, bis einige Jahre später, als ich auf Ferien in der Gegend war, jenes grause Ereignis geschah in der Mühle zu Rettenegg, das der Student angemerkt hat und nun erzählen will.

Der Remi war im Fischgraben drüben gebürtig, einer armen Häuslerin Sohn, die er bald um ihr Häusel gebracht hatte. Im Wirtshaus und so herum hatte er es vertan. Trotzdem mußte er nun aus unserer Gegend wieder zurück in seinen Fischgraben, weil ihn bei uns niemand in Arbeit behalten wollte. Da hörte man denn bald allerhand Stücklein vom Remi. Die Kirschen vom Baum, manchmal eine Rübe vom Feld genommen, das gilt auf der Bäuerei nicht gleich als Diebstahl. Auch der mit der Hand gefangene Fisch nicht und das aus dem Walde getragene Bündel Gefällholz nicht. Selbst wenn einer dem anderen seine Herzliebste stiehlt oder [255] mit Gewalt wegnimmt, macht ihn das immer noch zu keinem kriminalistischen Diebe oder Räuber, und doch ist die Herzliebste anerkanntermaßen der größte Schatz, den es gibt. So duldsam ist man. Ein heimlich ausgegrabener Erdapfel aber und vom Felde entwendetes Werkzeug, das lischt den ehrlichen Namen schon das erstemal aus.

Beim Bärennäßler-Remi war nicht mehr viel auszulöschen, und doch verwunderten sich die Leute, als sie von seinem ersten Straßenraub hörten. Ein Bauernweib ging vom Markte heim, wo es Leinwand verkauft hatte. Der Remi gesellte sich zu ihr und als der Weg durchs Holz führte, sagte er ganz gelassen zu ihr: »Weibel, jetzt wirst mir halt dein Geld geben müssen.«

»Jeß Mar' und Josef!« hub sie an.

Er fuhr ruhig fort: »Es ist besser, du lärmst nicht. Ich brauch' dich nur anzugreifen, so bist hin!«

Es bedurfte keines Wortes weiter, keines Handgriffes, zitternd wie Birkenlaub, durch das der Sturm haucht, noch bevor er da ist, nestelte das Weib ihr Geld aus den Kleidern und ließ es vor ihm auf den Boden fallen. Er brauchte es nur aufzuheben und mit sich zu nehmen. Er kehrte aber wieder um und sagte zur Beraubten: »Ich muß dich was fragen, Weib. Kennst du mich?«

»Ter Bärennäßler-Bub bist!« rief sie leider gar unbedacht aus, worauf er entgegnete: »Dann werde ich dich doch mit einem Steine totschlagen müssen, denn du verrätst mich.«

Sie legte einen heiligen Eid ab, es nicht zu tun, nur leben lassen möchte er sie! [256] »Wir wollen uns leicht vergleichen, wir machen es so,« sagte der Remi. »Solang du nichts sagst, bist vor mir sicher. Verratest du mich aber, so überlebst du es nicht zwei Tage lang. Glaubst mir's oder nicht, das ist deine Sach'. Bin eh ein guter Mensch, daß ich dich heut heimgehen laß.«

Wie nachher die Leute solches besprachen, waren etliche ganz gerührt über die Großmut des Burschen und man sagte ihm bei solch romantischen Räuberhauptmanns-Manieren eine große Zukunft voraus. Nach dem ersten Arrest zeigte sich der Remi in der Tat schon vervollkommnet. Das war freilich wieder in einer anderen Gegend, wo man ihn nicht kannte, als er eines Tages in einem Pfarrhofe zusprach. Der alte Pfarrer war bekannt als einer, der sich etliches Silbergeld erspart hatte, aber es war so viel altes Weibervolk im Hause, daß sich nichts machen ließ. So bat der Remi den Pfarrer, daß er um Gottes willen schnell mit ihm in die Schrundwaldungen hinauskommen möchte, im Holzschlag sei ein Holzknecht verunglückt, er lebe noch ein bißchen und verlange versehen zu werden. Der alte Herr ging rasch mit ihm. Als der Bursche ihn aber im wilden Wald hatte, wo sie auf einem vom Sturm gestürzten Baum ein wenig rasteten, stellte der Remi das Laternlicht, welches zum Sakrament gehörte, aufs Moos, rückte sich nahe an den Pfarrer und sagte: »Na, was ist's denn mit uns zweien? Haben wir nichts Silberiges mit?« Und begann den Priester auszusuchen. Dieser ließ es ruhig geschehen und bat nur, das Allerheiligste nicht zu entehren. Der Remi war aber mit den paar Scheidemünzen nicht zufrieden. »Zu Hause hat er [257] mehr Geld!« sagte er zum Pfarrer. Da es dieser nicht verneinte, so fuhr er fort: »Wie fangen wir das jetzt an, daß ich sein Geld krieg, und daß er mich nicht einsperren lassen kann?«

Der Pfarrer wußte dafür freilich keinen Rat.

»Vielleicht ginge es so,« schlug der Remi vor, »daß ich den Herrn in die Wolfsschlucht hinabführe und ihn dort an Händen und Füßen binde. Dann soll er mir's sagen, wo er das Geld aufbewahrt hält und wie ich dazukomme. Nachher stopfe ich ihm auch den Mund zu und geh' das Geld holen. Und wenn ich's finde und glücklich damit zurückkomme, dann binde ich den Herrn wieder los und er kann nach Hauf' gehen. Wenn ich aber beim Geldholen Unglück hab', nachher bleibt er Jahr und Tag in der Wolfsschlucht liegen und kein Mensch findet ihn.«

Der Pfarrer antwortete auf das: »Mein Sohn, ehe ich dir zu einem solchen Raub Gelegenheit gebe, oder dich gar dazu verleite, eher lasse ich mich töten.«

»So wollen wir's doch mit der Wolfsschlucht probieren. Nur willig mitgehen, ich rat' ihm gut. Wir können alles ganz ruhig abmachen, in diesem Wald begegnet uns niemand.«

So führte er den Greis mit dem Allerheiligsten in die schauerliche Schlucht hinab, wo zwischen Felsblöcken allerlei hohes Gestrüpp war und wo ein träges, graues Wasserlein rann. Und als er den Pfarrer schon zerren und schleppen mußte, sagte dieser zum Remi: »Wenn du glaubst, daß du hier der Stärkere bist, so irrst du dich. Siehe, ich habe den allmächtigen Gott bei mir!«

Einen scheuen Blick auf die Hostie tat der Bursche, [258] dann ließ er ab und sagte: »Meiner Seel, mich geht der Greuel an. – Wenn er schon so fromm ist, Pfarrer, ginge das nicht, daß ich ihm vorher die Sünd' beichte, daß er mich losspricht von dem, was ich tun will? Er könnte dann meinetwegen ruhig sterben.«

Über eine solche Rede glaubte der Pfarrer schon, er hätte es mit einem Irrsinnigen zu tun: »Freund, wir wollen jetzt nach Hause gehn. Und wenn du mein Geld haben willst, so werde ich es dir lieber freiwillig geben und wir haben weiter keine Unannehmlichkeiten.«

Der Bursche ist darauf eingegangen. Er wanderte mit dem Pfarrer ganz harmlos wieder ins Tal hinaus. Aber als sie gegen Abend aus Dorf kamen und er die Leute sah, blieb er plötzlich stehen, als besinne er sich. »Dumm bin ich heut' gewesen,« murmelte er, stellte die Laterne zu Boden und lief querfeldein.

Sie erwischten ihn doch. Und beim nächstfolgenden Arrest vertraute er seinem Zellengenossen folgende Herzensergießung an: »Sitzen ist mir alles eins, aber gehenkt werden möcht' ich nicht. Nehmen, wo ich was finde; betäubt machen, wer sich wehrt. Aber umbringen nicht.«

Der Genosse meinte, auch das Umbringen wäre im Grunde nicht so gefährlich, nur dürfe man sich nicht erwischen lassen.

»Dafür bin ich mir nicht gescheit genug,« entgegnete der Remi. »Kannst es angehen, wie du willst, sie haben dich doch. Weiß nicht, warum die Leute gar so eine große Freud' haben, einen armen Menschen in den Kotter zu bringen. Wegen so Kleinigkeiten! Ob das bissel Geld, das es gibt, der oder der hat, das wird doch [259] ziemlich einerlei sein, nicht? Predigt dir nicht der Pfarrer für und an, daß irdisch Gut und Geld eine Nichtigkeit ist? Und wenn man ihm was wegnehmen will, läßt er einen einsperren. Heißt es alleweil, die Freiheit wär ein höheres Gut, als das eine Geld. Nun ja, haben sie sich doch anno Achtundvierzig viel kosten lassen, daß sie die Freiheit 'kriegt haben. Und so eine Freiheit stiehlt mir der Standar und sperrt mich ein. Wer ist nachher der größere Dieb, ich, der das bissel Silber haben will oder der Standar, der mir meine Personalfreiheit stiehlt?!«

»Spezi!« antwortete hierauf der andere, »du redest so großartig, als ob du ein Verteidiger wärst. Weißt es denn nicht, daß man nur die kleinen Diebe hängt?«

»Mein Gott, ich möcht' eh ein großer werden. Hab' halt 's Talent nicht dazu; werd' mich mein Lebtag mit dem Kleingewerbe abgeben müssen. Von den einbruchssicheren Kassen hört man jetzt auch. Wieder so eine Erfindung zum Ruine der armen Leute!«

»Ohne Studium geht gar nichts,« sagte der andere. »Ich bin Schlosser geworden.«

»Möcht' ich doch wissen, ob du dein Geschäft verstehst,« sagte der Remi, »Schlosser, sei so gut, sperr' mir auf das Türl da hinaus.«

»Gern, Bruderherz, wenn's nur kein Vexierschloß wär'!«

So sollen sie es getrieben haben im Arrest und besonders von der Spintisiererei des Remi haben die Leute viel zu erzählen gewußt. Es war einer der nachdenklichsten Spitzbuben, und in seinen Handlungen immer voller Rücksicht gegen den Mitmenschen. Fast bei jedem [260] Raube zog er sein Opfer freundschaftlich zu Rate, wie er ihm das Geld wegnehmen solle, ohne daß es so besonders weh tue. Dann war er wieder von bescheidener Denkweise, daß er den Angefallenen bat, der Geschichte wegen kein Aufhebens zu machen und ihm keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, ansonsten er freilich ein gutes Mittel anwenden müßte.

Das »gute Mittel« hat er endlich angewendet, kanibalisch und feig zugleich; aber gehenkt ist er doch nicht worden. Es kam jene Schauernacht in der Mühle bei Rettenegg.

Unter dem Geräusche des Wassers hatte der Remi nächtlicherweile Dachbretter ausgehoben, war in den Oberboden gekrochen und von da beim Mondenschein, der durch die Fenster kam, hinabgestiegen in die Stube, wo der Müller schlief. Der hatte etliche Tage vorher einen Wald verkauft. Der Remi mochte ein Weilchen vor dem Schlummernden gestanden sein und überlegt haben, ob er ihn wecken solle, um ihn auf gütlichem Weg zu fragen, nach dem Gelde, oder ob er die Mühe des Suchens selber übernehmen könne. Für alle Fälle hatte er auch ein Beil bei sich im Gurte stecken. Er entschloß sich, den Müller nicht aus der Ruhe zu stören und den Kasten, der neben dem Bette stand, mit einem mitgebrachten Eisenhaken zu öffnen. Dabei erwachte der Müller und sprang auf, auch sein Weib kam aus der Nebenkammer mit Licht herbei.

»Ihr erschreckt einen ja ordentlich!« begehrte der Remi auf und griff rasch nach seinem Beile. »Seid doch gescheit, Müllersleute! Nicht wahr, da im Kasten habt ihr das Geld?«

[261] Einen gellenden Doppelschrei stießen sie aus, als sie den baumstarken, fremden Menschen mit der schrecklichen Waffe vor sich stehen sahen, der Müller warf sich auf ihn, um ihm das Beil zu entreißen, da taumelte er auch schon, von einem Hiebe getroffen, gegen die Wand und brach zusammen. In demselben Augenblicke stürzte der Sohn der Müllersleute herbei, aber schon an der Türschwelle traf auch ihn das Beil. Zwei nachstürmenden Müllersknechten gelang es, den Räuber zu bewältigen, mit seiner eigenen Waffe machten sie ihm den Garaus.

Als die arme Müllersfrau aus ihrer Ohnmacht zu sich kam, sah sie da drei Leichen liegen, den Gatten, den Sohn und den Räuber. Den letzteren schafften die Knechte bald hinaus in den Brennholzschoppen, der nur aus einem Bretterdache bestand, welches teils aus Haus gelehnt, teils mit zwei Balken gestützt war. Dort warfen sie den Toten auf einen Haufen Sägespäne.

Am frühen Morgen kamen von allen Nachbarshäusern Leute herbei, auch ich von meinem Gasthause, um das grausige Ereignis zu schauen und die Müllerin zu beruhigen. Diese war nach dem ersten Schmerzesrasen ganz gelassen geworden und sachte begann sie die Aufbahrung anzuordnen.

»In Gottesnamen,« sagte sie zu einer Nachbarin. »Das hat sich schnell verändert, jetzt! Aber sie haben es überstanden und ich sterbe ihnen bald nach.«

Und als die beiden Männer in der Stube aufgebahrt waren, einer an der rechten Wand und einer an der linken, wo sonst des Müllers Bett gestanden, und mitten der Tisch mit dem Kruzifix und zwei Kerzenlichtern, [262] wußte das Weib immer noch was zu schaffen, um die Bahren zu schmücken. Sie hing ihrem Mann einen Rosenkranz um den Hals, sie belegte seine Brust mit papiernen Heiligenbildchen, sie steckte ein Kreuzlein zwischen seine Finger. Desgleichen auch dem Sohne, dem sie auch noch ein rotes Blumensträußlein an die Brust legte, weil er im Bräutigamsstande gewesen war und am nächstfolgenden Montage ein schönes junges Mädchen hätte heiraten können.

Auch dieses Mädchen, die Klara vom Schramhofe, kam nun herbei, eine schlanke hohe Gestalt, weiß wie Marmor im Gesicht, als sie vor der Tür stand und nicht einzutreten wagte, aus Angst, es möchte das Furchtbare wahr sein, wovon sie gehört hatte. Wir haben sie von der Seite her beobachtet, und das wird wohl nie zu vergessen sein, wie sie nun eintrat, die Toten sah und mitten in der Stube zu einer Bildsäule erstarrte. Wie die Müllerin anfangs tobte und dann einer fast ehernen Ruhe verfiel, so war es bei diesem Mädchen umgekehrt. Als die Starrheit sich löste, ganz allmählich, zuerst im Zittern der Lippen, dann im Auflodern des Auges, dann im Zucken der Glieder, da – ihr Rasen war schauderhaft! Sie stürzte auf die Leiche ihres Bräutigams, rüttelte sie, riß den Oberkörper empor, daß die Heiligenbildchen zu Boden flatterten, aber als sie am Haupte die grause Wunde sah, wich sie zurück. Und weil sie der Liebe nicht genug tun konnte, so wollte sie's dem Hasse. Die Arme mit den krampfiggeballten Fäusten reckte sie nach rückwärts, mit blutlosem Munde zischelte sie: »Wo ist er?«

Man führte die Klara hinaus in den Holzschoppen,[263] wo der Mörder mit verkrümmten Gliedern auf den Sägespänen lag. Daneben auf dem Holzschragen in einem Wasserglase auf schwimmendem Öle glimmte ein Lichtl.

»Ein Totenlicht! Diesem höllischen Biest ein Totenlicht!« kreischte das Mädchen auf.

Die Müllerin antwortete leise: »Christliche Tauf' hat er ja doch gehabt.«

Das Weib, dem er den Gatten, den Sohn erschlagen, hat ihm den Liebesdienst erwiesen. Diese Größe mußte die wütende Braut zu sich gebracht haben. Wortlos wankte sie hinaus.

Ich weiß nichts weiter zu sagen, als daß wir – die es gesehen – immer daran denken werden, wie die Müllerin dem Mörder das christliche Bahrlicht gegeben hat. Alles andere ist vorbei, tot sind alle schon. Nur jenes Bahrlicht leuchtet noch in uns fort, wie ein Stern über dem Gerichte.

Der Traumkünstler
[264] Der Traumkünstler.

Eines Sonntagsnachmittags saß ich im Bauernwirtshause und war arg verdrossen. Der Wein war sauer, die Stube rußig, das Fenster voller Fliegenpunkte, und draußen war trostloser Salzburgerregen. Anstatt auf der so schön ausgedachten Bergpartie die Gipfel im Sonnenglanze zu schauen, sah ich im dämmerigen Zimmer, mir gegenüber, einen brummigen Wirt und hinten auf der Ofenbank einen schläferigen Greis.

Der Wirt war wohl brummig, weil ihm zehn lustig trinkende und kartelnde Bauern lieber gewesen wären wie ein magerer Tourist, der seit zwei Stunden bei einem einzigen Achtel Wein saß und immer zum Fenster hinausguckte, als ob der Regen im Schockengraben weiß Gott was für ein Weltwunder wäre. Grundsätzlich frage ich keinen Alpenwirt bei Regenwetter, ob er nicht glaube, daß es bald schön werden würde. So ein Schlingel zwinkert gegen Himmel, überlegt eine Weile und sagt endlich: »Es kann schön werden, aber es kann auch noch eine Zeit wild bleiben.« Ich hatte also nur einige gleichgültige Worte gesagt, die der Wirt ebenso gleichgültig beantwortet. Meine Zeche hatte ich schon bezahlt, daher begriff ich nicht recht, warum er immer noch bei mir am Tische sitzen blieb. Dabei sah mein Wirt so grämig drein, daß ich die Pflicht fühlte, ihn zu unterhalten.

[265] »Wer ist der Alte dort beim Ofen?« fragte ich.

»Ist der Kohlenrabler.«

»Kohlenrabler, was ist das?«

»Der vom Kohlenschoppen die Kohlen in die Schmiede tragt, unten beim Hammerwerk.«

»Was macht er denn jetzt?« fragte ich weiter, denn der Mann beim Ofen tat an einer schwarzen Wurst herum und rieb an etwas Glänzendem, das daran war.

»Sein Spectivi putzt er,« belehrte der Wirt und setzte, auf einmal ganz überraschend gesprächig bei: »Ja ja, der Augustel ist ein gar großer Herr.«

»Wer? Der Alte dort? Der Kohlenrabler?«

»Der Kohlenrabler. Gehn's nur hin, reden's mit ihm.«

Ich trat zum Ofen hin und der Wirt, als er mich vom Halse hatte, siffelte sachte zur Tür hinaus.

»Na, wie geht's, wie geht's, Alter?« redete ich den Greis an. Dieser rückte seinen stoppelbartigen Kinnbacken zurecht, wetzte mit der Zunge die Lippen, wobei ich nicht einen einzigen Zahn sah, blinzelte mit den kleinen Rundäuglein und sagte fast piepsend: »Ist die Frage dem Auswendigen vermeint oder dem Einwendigen?«

Weil ich auf diese Antwort hin verblüfft war, so rückte der Alte ein wenig weiter in den Winkel hinein, als ob er mir an seiner Seite Platz machen wollte, und fuhr fort: »Das ist halt nit so einfach, mein Mensch. Dem Kohlenrabler ist sie vermeint? Du hör' einmal, der Kohlenrabler ist ein armer Schragen, der geht den ganzen lieben Tag zwischen dem Schoppen und der Schmiede hin und her mit seinem Korb und tragt Kohlen. Kohle schwarze Kohlen. Auf dem sein Gesicht kannst mit dem [266] Finger weiße Stricheln machen, so schwarz ist es. Das ist ein langweiliger Nötler, der Auswendige, den mag ich selber nit und bin allemal froh, wenn ich ihn auf den Abend ins Stroh werfen kann. Nachher wird der andere munter, der Einwendige. Du der!« Bei dem letzten Worte hob er seine Stimme zum Tone höchsten Respektes vor dem »Einwendigen«. Ich saß solchen Reden ganz ratlos da, so lugte er mich schmunzelnd an, hub von der Bank sein Fernrohr auf und sagte: »Was ist das? Das ist ein Spectivi. Schaust jetzt durch, so siehst gar nichts. Alles kohlschwarz. Ziehen wir's halt einmal auseinander.« Er tat's, so daß das Rohr nun zwei Längen gab. »Guckest jetzt durch, siehst auch noch nit viel. Ziehen wir's halt noch einmal auseinander.« Er zog das dritte inwendige Rohr hervor, das Instrument war jetzt so lang, wie eine Elle. Nu guck einmal durch!«

Ich hielt das Rohr gegen das Fenster, lugte hinein, sah aber nichts als eine graue Scheibe mit wogendem Perlmutterschimmer. Das Glas war durchaus schadhaft.

»Siehst du's jetzt?« fragte der Alte.

»Ich sehe nichts.«

»Aber schau!« rief er und nahm mir das Rohr aus der Hand, »man sieht ja eine schöne lichte Weltkugel. Und das: mein Mensch, ist auf ein Gleiches. Der alte Kohlenrabler ist auch so ein Spectivi mit drei Röhren. Wenn ich auf den Abend das Gewand auszieh', da zieh' ich halt das erste Rohr herab. Wenn der arme Menschenleib nachher einschlaft, da ist das zweite Rohr weg, und das dritte Rohr, mein Mensch, das ist nachher der andere, der Einwendige mit der schönen lichten Weltkugel. [267] Das ist der Augustel, der alleweil noch hundsjung ist und kreuzlustig und gar nit ein bissel rußig. Und ein hoher Herr! Ja, da müßt ich wohl aufs Hausdach hinaufsteigen, daß ich's kunnt zeigen, was der für ein hoher Herr ist! Solltest du mit dem Augustel reden wollen, so sag' gutwillig: Euere Majestät!«

– Ganz und gar verrückt, dachte ich, habe aber meine Meinung ein wenig ändern müssen. Denn es kam heraus, daß ich die Ehre hatte, mit einem Philosophen zu sprechen, mit einem Dichter und Künstler, kurz mit einem gottbegnadeten Narren.

»Sein tut's halt so,« sagte der gesprächige Alte. »Auf dem Abend, wenn der Kohlenrabler einschlaft, wacht der Augustel auf. Und stehen sie schon alle um sein seidenes Bett herum, die Hosenanleger und Stiefelanzieher, die Salbenfräulein und Haarkräuslerinnen und die Bartstutzerinnen und Nagelschneiderinnen und die Mantelumhänger. Und nachher bringen mir sieben Diener das Frühstück, auf güldenen Schüsseln Sauerkraut mit Speck, aber es ist jetzt keine Zeit zum Essen. Zwölf Knaben mit silbernen Trompeten geleiten mich in den Thronsaal; setze ich mich auf den güldenen Stuhl, rücke mir die Kronhaube zurecht und hebe an zu regieren. Das ist ganz leicht, mein Mensch, die fürnehmen Leut' laß ich im Winkel und die armen Leut' kriegen Dukaten und Sauerkraut mit Speck. Und wenn sich gar wo ein Kohlenrabler zeigt, so winke ich ihn ganz zu mir heran und zeichne ihn aus. Denn mir selber ist es von einer Zauberin angetan worden, daß ich alle liebe Tage träumen muß, ich wär' ein armer alter Kohlenrabler. Da wartet eins nachher freilich zwicknotig, bis man heimkommt.[268] Alsdann nachher zu Mittag gehe ich zu meiner Familie, eine junge Frau, drei herzliebe Kinder, warten schon auf mich bei der großen Herrschaftstafel. Ich habe einen wahren Heißhunger, aber allemal, wenn ich die Gabel mit Sauerkraut und Speckgrammeln zum Munde will führen, finde ich die Gabel nicht oder muß kleine Kinder auf dem Arm halten, oder es ist die unrechte Schüssel. Und das ist ja mein einziges Elend, daß ich im Königsschloß nit und ewig nit kann dazukommen zum Sauerkraut. Dieweilen wird's kalt, es wird frisches gekocht und wie sieben Köche den Kessel, in dem der Speck noch brodelt, zur Tafel schleppen, ist's aus, ich lieg' auf dem Stroh und bin wieder der Kohlenrabler.«

»Altes Kind Gottes!« rief ich nun aus, »Sauerkraut mit Speck! Dazu muß sich der Mensch ja nicht gleich in ein Königsschloß hineinträumen. Das wird wohl auch für den Kohlenrabler noch zu erlangen sein.«

Blickte mich der Alte schweigend eine Weile an und sagte endlich: »Meinst du?«

»Wenn ich nicht irre, hat es gar in diesem Haus, in dem wir sitzen, Sauerkraut mit Speck gegeben, heut zu Mittag.«

»H at 's auch gegeben!« rief er lebhaft aus, »was hilft mir das! – Wenn ich's nimmer beißen kann. – Und Seine Majestät, der Augustel, kunnt's beißen, der hat noch junge Zähn'. Schau, mein Mensch, und der Augustel kann's nit derwarten und kann's nit derwarten!«

Gar geschmackig wußte er mir noch viele Einzelheiten seines nächtlichen Königtums zu schildern. Eine Nacht wie die andere träumte er davon und beim Einschlafen wußte er es so anzustellen, daß keine andere [269] Traumvorstellung ansetzen konnte, daß sein Königsleben dort einsetzte, wo es des Morgens zuvor unterbrochen worden war. Einmal geschah es, daß er vom Schloßfenster aus hinabstürzte in den Graben. Während des Fallens dachte er sich schnell: Nur jetzt geschwind aufwachen, sonst fallst dich tot und kannst morgen nicht mehr König sein. Ein anderes Mal war ein junger Ritter vorhanden und wollte seine Frau verführen. Wenn die Frau einverstanden ist, dachte er, so kann da einmal ein König auch nichts machen. Das Beste ist, geschwind munter werden und gleich wieder einen Tag Kohlen tragen, kohlschwarze Kohlen, morgen ist der falsche Ritter sicherlich verschwunden und ich habe wieder meine treue Gemahlin. Noch hübscher war's, als er einst einen goldenen Apfel verschluckt hatte, wahrscheinlich den Reichsapfel, daß er infolgedessen ersticken sollte und er sich geschwind in die Zunge biß, um noch rechtzeitig aufzuwachen. – So verstand er es, ein wahrer Traumkünstler, seine Träume zu leiten und zu wenden, daß er König war und blieb; aber so weit, bis zum Sauerkraut mit Speck, so weit brachte er es nicht. Da sieht man, daß der Mensch nicht einmal im Traume alles haben kann, was sein Herz verlangt.

Also hatte der alte Kohlenrabler mir seinen inneren Menschen gezeigt und denselben verglichen mit dem innersten Rohre seines Perspektivs, in welchem die »lichte Weltkugel« war.

Der Regen hatte aufgehört, die Nebel stiegen, die Berggipfel wurden klar, und ich machte mich auf die Wanderschaft. Allerlei Herrliches hatte ich noch gesehen an jenem Abende, und doch tat's mir leid, nicht beim [270] alten Kohlenrabler sitzen geblieben, nicht tiefer in das Königtum seines Augustels gedrungen zu sein. Vielleicht war auch nichts weiter dahinter. Der Alte hatte mich aber darum besonders angemutet, weil ich schon mehrmals auf den Gedanken gekommen bin, ob es nicht am Ende eine Art Traumkunst gibt, die man ausnutzen könnte. So habe ich an mir selbst schon mehrmals die Erfahrung gemacht, daß man einen unangenehmen Traum biegen und wenden kann. Ich habe einen sehr leisen Schlaf, dabei aber lebhafte Träume. Und mitten im Traum habe ich manchmal das Bewußtsein, daß es doch nur ein Traum ist, dem man zur Not entfliehen kann, wenn es zu bunt wird. Schon vor dem Einschlummern kann man durch Gedanken und Vorstellungen einen ge) wissen Traum vorbereiten. Während des Traumes kommt es auch auf die Bereitwilligkeit an, mit welcher man in demselben verharrt. Ich erfreue mich zumeist sehr freundlicher Träume, so daß mir ein plötzliches Erwachen oft leid tut. Dann mache ich Licht, sehe nach der Uhr, mache wieder Nacht, lege mich aufs andere Ohr und versuche, den Traum dort anzuknüpfen, wo er abgerissen worden. Ost gelingt's. Vor kurzem sah ich im Traume aus Dämmerungen tauchend eine Gestalt langsam auf mich zukommen, sie war mit einem weißen Tuche verhüllt und grauenhaft anzusehen. Und da fiel es mir ein: denke nicht, daß es ein böser Geist ist, sonst ist's auf der Stelle einer, denke, daß es dein heiterer Sohn sei, der dich necken will. In demselben Augenblicke warf die Gestalt das Tuch ab und mein Sohn lachte mich an. – Und so, meine ich, liegt es teilweise in unserer Macht, Träume nach Belieben zu gestalten. Unser Wille, [271] wenn es ein starker ist, hat auch noch im Schlaf einige Macht.

Es gibt Traumgruppen. Sowie beim alten Kohlenrabler neben dem Königtum das Sauerkraut mit Speck stand, so gibt es in meinen Träumen selten ein Gewitter, in welchem neben dem Wege nicht ein weißgekleidetes Knäblein steht, das ein schwarzes Priesterbarett auf dem Kopfe trägt. Zu den wenigen meiner beklemmenden Träume zählt jener, in welchem die Scheunen meines Geburtshauses brennen. Die Flammen gebärden sich gerade nicht heftig, greifen aber immer näher heran gegen das Wohnhaus. Und nun kommt mir der wohl aus Erfahrung früherer Träume geschöpfte Gedanke: Wache rasch auf, sonst brennt auch das Wohnhaus nieder! Und ich werde wach. Dann trachte ich wieder einzuschlummern, den Traum weiter zu spinnen und eine ungefährliche Feuersbrunst zu beobachten. Auch existieren in meiner Traumwelt drei rote Katzen, die immer am Brette nagen, auf dem ich stehe. Dieses Nagen tut mir sehr wohl, ich fühle es wie ein Streicheln an meinem Haar. Nun weiß ich aber während dieses Gefühls, daß, wenn das Brett durchgenagt ist, ich in eine unendliche Tiefe stürze. Daher trachte ich beizeiten, sobald die roten Katzen auftauchen, sie mit einem Schrei zu verjagen. Dadurch erwache ich, der Schrei gellt aber noch lange unheimlich in mir nach und ich darf eine Weile nicht einschlummern, sonst sind die Katzen auf der Stelle wieder da.

Es gibt Traumepochen. Ich hatte eine Reihe von Jahren, in denen mir der Traum immer nur meine damals schon lange vergangene Handwerkerzeit vorführte.

[272] Dann kamen Jahre, in welchen ich jede Nacht die verdammte Schulprüfung ablegen sollte, trotzdem ich mir bewußt war, rein gar nichts zu können. Solche Schulprüfungen sind die schlimmsten Feinde des schlafenden Menschen! Heute träume ich häufig, am Vorlesetisch zu sitzen, das Publikum auf mich warten zu sehen und im Buch trotz alles Blättern das richtige Stücklein nicht zu finden. Das ist eine Qual, so sehr ich mir auch sage: Mache dir nichts draus, lasse das Publikum warten und schlafe, denn es ist doch nur ein Traum! – Das Ding ist schwer von der Seele zu schütteln. Es soll mir aber auch noch gelingen, man muß sich nur üben in der Kunst, angenehm zu träumen.

Mein alter Kohlenrabler ist beim Tage Kohlenrabler und bei der Nacht König. Schon seit Jahren, wie er mir vertraut. Er soll sich in sein Königtum so sehr hineingelebt haben, daß er den Kohlenrabler für die Traumgestalt hält. Und recht hat er. Wissen wir anderen es denn besser? Traum dies, Traum das, Traum hier, Traum dort. Glückselig der, welcher entweder so oder so zu seinem Sauerkraut mit Speck kommt.

Die alte Lori
[273] Die alte Lori.

Vom Dorfe gegen das Wasser hin, wo die alten Eschen sind und die Lache liegt-die in nassen Zeiten ein See und in trockenen ein Sumpf ist – dort steht ein Haus, das auf vier großen Spreizen ruht, wie ein Pfahlbau. Das ist aber nicht des Wassers, sondern der Einfachheit wegen; die vier Spreizen – welche nur an einer Seite, an der Berglehne, eine Untermauerung haben – bilden eine Hütte für Schnittholz, als Bretter und Zimmerbäume, und tragen unter dem Dache zwei Kammern. Diese Dachkammern machen das Haus. Die eine dieser Kammern hat ein kleines Fenster gegen das Wasser hin; das ganze Jahr, die Sonne mag hoch stehen oder tief, kommt von ihr kein Strahl hinein. Das weit vorspringende Dach deckt das Fenster schier zu: solches erinnert an den Tackelschuster, der nur ein Auge hat und selbst über das noch sein breites Mützenschild herabzieht, wenn er schmollt. In dieser Kammer wohnt der Eigentümer des Hauses, Pankraz Lagler wohl beschrieben. Die andere der zwei Kammern des vierfüßigen Hauses hat zwei größere Fenster gegen das Dorf hin, die Sonne schaut hinein im Sommer und im Winter und Blumen schauen heraus im Winter und im Sommer. [274] In dieser Kammer wohnt die Mieterin Fräulein Eleonore Maiseau, gemeinhin genannt die alte Lori.

Die zwei Leute wohnen unter einem und demselben Dache – wie lange schon? Kein Mensch rechnet nach; das jüngere Geschlecht sieht den Sumpf und die Eschen und das aufgespreizte Haus, und wenn es überhaupt darüber nachdächte, so würde es meinen, das müsse so sein, das gehöre so zum Dorfe und zur Welt, etwa wie die Straßenmaut und die Regenwürmer. Die zwei Leute wohnen Wand an Wand; nachts, wenn Pankraz Lagler seine Krampfhustenanfälle hat, kann Fräulein Eleonore Maiseau nicht schlafen, und des tags, wenn das Fräulein in der alten Blechpfanne den Kaffee röstet, brenzelt das Ding stark hinüber zum Pankraz. Trotzdem verkehren die beiden das ganze Jahr nicht miteinander, außer wenn sie auf der engen Stiege zusammenkommen, wo sie sich gegenseitig einen »Guten Tag« gönnen, und zu den Quatemberzeiten, wenn das alte Fräulein ihm den Wohnungszins entrichtet. Man sagt, sie sollen einander nicht geneigt sein.

Bei dem Pankraz wäre das kaum zu wundern, der ist niemandem geneigt; er hatte jeden, wie sie da Sonntags auf dem Kirchplatz umherstehen oder unter dem Rasen liegen, schon übervorteilt, und so bildet er sich ein, sie wollten's ihm heimzahlen und traut niemandem. Pankraz ist seines Zeichens Holzhändler, der durch jahrzehntelange Lieferungen von Bau- und Brennholz sich ein Vermögen erworben haben soll. Jetzt ist er schon ein alter Schrumpf, aber er handelt immer noch, denn, sagt er, so viel müsse er sich erwerben, was er braucht. Da er keinerlei Familie hat und für seine Person höchst [275] sparsam lebt, so erspart er sich noch – jetzt in seinen alten Tagen. Bescheiden muß einer sein in den Bedürfnissen, nicht trinken, nicht rauchen, geschweige spielen, nicht dem Schneider wirtschaften helfen und nicht dem Rasierer; die Leute wissen gar nicht, mit wie Wenigem einer leben kann. Brav muß man sein! – Und seine ganze Bravheit besteht im Sparen.

Die Natur hat aber auch an ihm schon zu sparen begonnen, längst schon, er hat keine Zähne mehr, fast keine Haare mehr und die Leute sagen, er würde von Tag zu Tag kleiner. Seine Backen sehen immer aus wie ein Stoppelfeld, auf welchem aber die Schnitter etwas ungleich gearbeitet haben. Seine kleinen Augen sind immer hochrot, und unablässig muß er mit dem Knollen seines blauen Sacktuches sich die Tränen trocknen, so daß man weiß Gott welch rührende Weichherzigkeit in ihm vermuten müßte, wenn es keinen chronischen Augenkatarrh gäbe. Sein Kleid besteht aus braunem Loden, welcher – soweit die Dorfinsassen sich erinnern können – nie neu war und also nie alt werden kann. Etwelche schadhafte Stellen werden wieder heil und die vielen Rippen der Nähte halten das Gewand steif aufrecht, auch wenn der Inhalt immer mehr in sich zusammenschrumpft. Den alten Pankerl heißen sie ihn. Wenn der Pankerl so dahinschleicht durch die Dorfgasse, mit der linken Hand den Stock sachte voransetzt wie einen Fühler, ob der Weg wohl verläßlich ist, so kann beobachtet werden, wie er bisweilen mit der rechten Hand gegen die Brust, gegen das Herz zuckt, als gäbe es ihm dort manchmal einen Stich. Hat er ein gutes Geschäft gemacht – was bei den schlechten Zeiten, welche die[276] Grund- und Waldbesitzer ietzt haben, für einen Holzhändler sehr leicht möglich ist – so belohnt er sich, der alte Pankerl, er geht zum Lindenwirt, setzt sich dort an die Ofenbank, und damit er die Ofenwärme umsonst haben kann, läßt er sich ein Achtel Apfelwein kommen. Der Lindenwirt, der stets und mit Recht bei guter Laune ist, klopft dem Pankerl manchmal auf die Achsel und fragt: »Na, Pankraz, wie geht's, wie steht's?« Er ist um mehr als dreißig Jahre jünger als der Pankraz, aber dieser nennt ihn den Herrn Vater, und wenn's zum Zahlen kommt, so zahlt er stets beim »Herrn Vater«, denn bei der Kellnerin ist neuzeit eine Unsitte eingerissen – das Trinkgeld. Und wieder fährt er mit der Hand gegen das Herz, während das Geldbeutelchen doch tief im Hosensacke hockt, aus dem es hernach langsam und mit vieler Umständlichkeit herausgeholt wird. Weil ihm niemand im ganzen Dorf und Umgebung auf die Achsel klopft als der Lindenwirt, so hat er diesen zu seinem Vertrauten erkoren. Und manchmal huscht der Pankerl dem Wirt nach in die dunkle Kellerstiege, erhascht ihn am Arm und zischelt: »So viel gern was fragen tät' ich, Herr Vater, so viel gern was fragen!«

»Nu, hat der Pankerl schon wieder ein Anliegen?«

»Freilich wohl, freilich. Wegen der Sparkasse halt, wegen der Sparkasse. Ob's halt wohl sicher ist, was man einlegt? Ob's wohl sicher ist?«

»Ei versteht sich. Wenn ich nur recht viel drinnen hätt', mir wäre es sicher genug,« sagt der Wirt.

Das tröstet den Pankerl kräftiglich. Denn er hat Geld in der Sparkasse, obgleich vorsichtshalber nur einen [277] Teil seines Vermögens. Den anderen Teil? – ? Nächst seinem Hause steht eine hohle Esche. In hohlen Eschen haben vorzeiten Gespenster gewohnt. Wenn der Blitz einschlägt!... Der Pankerl zuckt mit der Hand aus Herz.

Das nächste Mal setzt ihm jemand eine Mücke in den Kopf, und diese summt ganz schauderlich da drinnen im dunkeln Raum und läßt dem Alten Tag und Nacht keine Ruhe. Seine Zuflucht ist endlich wieder der Linden wirt. »Herr Vater! Herr Vater! Ein Wörtel. Die Leut' tun so viel reden. So viel reden tun sie. Die Funfzigernoten täten abkommen, die Funfziger. Wenn das wär', müßt' man's hergeben, müßt' man's hergeben.«

»Hast ihrer?« fragt der Wirt.

»Hab' ihrer rund, hab' ihrer rund!« flüstert der Pankerl vertrauensselig, »werden doch um Gottes willen nit hin sein, werden doch nit hin sein! Was meint denn der Herr Vater?«

Der Lindenwirt tröstet ihn und meint, wenn der Pankerl ihm die Fünfziger anvertrauen wollte?

»Ah, das nit, Herr Vater, das nit,« grinst der Alte und trocknet sich die Augen, »aus der Hand geben tu' ich sie nit, hergeben tu' ich sie nit. Auswechseln, wenn sie sollten abkommen, auswechseln. Mein Gott, die Sorgen, die der Mensch alleweil hat, die Sorgen!« Nebst den Tränen trocknet er sich auch den Schweiß von der platten Stirn. –

Das wäre der Pankraz. Nun zu seiner Nachbarin, dem Fräulein Eleonore. Verzeih' mir, du gute Seele,[278] daß ich dich schildern muß, du kannst ja nichts dafür, daß dich Gott so erschaffen hat. Einmal sollst du ja auch jung und schön gewesen sein, sagen die ältesten Leute. – Die Lori war eine schlanke Gestalt, die nach oben sich stark verdünnte, nach unten aber lustig ins Breite ging, weil sie einen Reifrock trug. Seit der französischen Revolution sind alle Moden an ihrem Leibe gehangen, der Reifrock aber hat ihr am besten gefallen und der ist an ihr verblieben. Einmal hat es die Lori einer Freundin vertraut, daß sie eigentlich alle ihre Tage Trauer tragen sollte: in der Tat war aber davon nicht das mindeste zu sehen, sie trug stets ein hellbuntes, flatterndes Gewand, über und über voll Bänder und Spitzen, Knöpfchen und Täschchen. Auf dem dünnen langen Hals, der zwischen den zwei spitzigen Achseln hoch emporstand, saß ein kleiner Kopf und auf demselben – auch im Winter – ein großer Strohhut in Muschelgestalt, mit roten und gelben Maschen und Bändern und grellen Kunstrosen schreckbar prächtig aufgeputzt. Mitten im kleinen gelblichen Runzelgesicht saß eine Adlernase kühnster Gattung, über derselben zwei stechende Augen, deren beide Sterne so entschieden in den Nasenwinkeln steckten, daß nicht von einem »falschen Blick«, sondern nur von einem höchst ehrlichen Schielen die Rede sein konnte. Die Stimme des Fräuleins war so scharf und schneidend, daß sie – Gott laß mir's sagen! – stets an das Krähen eines Hahnes erinnerte. Und wenn irgendwo ein schriller Laut vernommen wurde, so hieß es: »Uh, die Lori, die Lori!« Sie hatte, wenn sie so mit ihrer großen, blumigen Armtasche durch das Dorf ging, einen hopsenden, tänzelnden Schritt, sang auch gern ein Liedel, wozu sie mit den [279] dürren Fingern schnalzte. Sie war voller Schalkheiten und lustiger Sprüchlein, wovon aber die wenigsten verstanden werden konnten. Ihr zahnloser Mund mit der lallenden Zunge sprach ein schwer zermartertes Deutsch mit französischen Ausdrücken und Nasenlauten über Gebühr vermischt. In einer der zahllosen Kleidertaschen hatte sie eine große braune Schnupftabaksdose, die an einem grünen Schnürchen hing, das Schnürchen aber hatte die Lori um den Hals gelegt wie ein Uhrband. Diese Dose zog sie manchmal hervor, um dieselbe, aber ohne daraus zu schnupfen, wieder in die Tiefe gleiten zu lassen. Die alte Lori war eine noch mehr possierliche als häßliche Gestalt, und niemand wollte ihr übel. Gern warteten ihr die Leute gelegentlich mit einem Gläschen Wein auf, das schwang sie und brachte dem Spender ein kräftiges Sprüchlein zur Gesundheit. Wenn man etwas Lustiges und Tolles haben wollte, so rief man die alte Lori, die trällerte, tanzte den Leuten was vor, schwang feuerrote Bänder in großen Reisen durch die Luft, streute Blumen auf die Leute und klatschte dann voll Freude in die Hände. Jetzt war sie schon über achtzig Jahre alt und trieb es immer noch so. Ich habe nicht erfahren können, ob sie ihren heiteren Irrsinn von der Jugend her mitgebracht, oder ob er die Nachblüte eines großen Leides war. Je vertrauter sie ward, je mehr Verworrenheit kam in ihr Wesen. Manchmal schien es, daß vieles an ihr nicht so närrisch sei, wie es sich gab.

Eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt, am Fuße des Berges in einem Wildpark schön gelegen, steht ein stattliches Schloß. Einst zur Franzosenzeit – so wußten die Leute zu sagen – wäre eine fremde Herrschaft in [280] die Gegend gekommen, habe das Schloß gekauft und darin gewohnt. In kurzer Zeit seien diese Menschen aber dahingestorben, nur ein Fräulein sei übriggeblieben, habe auch noch eine Weile im Schlosse gewohnt und geherrscht; dann sei die Behörde gekommen und habe diese Herrin aus dem verschuldeten Gut getrieben. Eleonore de Maiseau, wie sie sich hieß und mit Buchstaben auf alle ihre flitterhaften Sachen zeichnete, war in das Dorf gezogen, wo eine nachbarliche Herrschaft aus Erbarmen für sie den geringen Wohnzins entrichtete, den die Dachkammer im Hause auf den vier Füßen betrug. Um ihren weiteren Unterhalt zu erwerben, verfertigte sie aus Papier Blumen und Kränze für Hochzeiten, Kirchenopfer und Begräbnisse. Auch wußte sie aus alten bunten Lappen, welche sie in den Häusern sich erbat, hübsche Kinderpuppen und komische Popanze zu machen, die sie dann verkaufte. Zur Weihnachtszeit baute sie kleine Krippen, zu Ostern färbte sie Eier und beklebte solche mit Goldschaum, zu Pfingsten machte sie papierne »Tauben«, die den heiligen Geist darstellen sollten, in Wahrheit aber weder einer Taube, noch etwas anderem ähnlich sahen. Derlei brachte sie in die Häuser, um damit Kinder, Weiber und selbst Männer zu beschenken. Natürlich gab man Gegengeschenke, die sie stets mit einem Freudenschrei annahm. So wie die Jahreszeiten, wußte sie sich auch die Ereignisse im menschlichen Leben zunutze zu machen. War eine Taufe, so kam sie herbeigehopst, um das Kind mit einem rauschgoldgeschmückten Amulettlein zu beschenken. Gab es Hochzeit, so versperrte sie dem Zug die Gasse zur Kirche hin, indem sie querwegs ein rotes Band zog und dasselbe hüpfend und jauchzend so [281] lange angezogen hielt, bis man ihr die Maut entrichtete. Nur bei Leichenbestattungen blieb sie abseits, derlei schien ihr zu traurig zu sein.

Und doch wollte die Schwermut manchmal nach ihr Jagd machen, daß sie ihre Beute werde. Wenn sie allein saß, da brütete sie vor sich hin und die hellen Bänder hingen schlaff und traurig an ihr nieder. Da zog sie wohl auch einmal die runde braune Schnupftabaksdose hervor, hielt sie in der zitternden Hand, schnupfte aber nicht, sondern schob sie wieder sachte in das Täschchen. Bei der Arbeit war sie emsig und hatte sich im Papierkleben und Lappenheften eine solche Fertigkeit erworben, daß der Buchbinder eines Nachbarortes schier einmal Luft gehabt hätte, sie wegen »unbefugt ausübenden Gewerbes« zu verklagen. Der alten Lori guter Freund war ein Beamter des Wiener Hofburgtheaters, welcher alljährlich zur Sommerszeit auf etliche Wochen ins Dorf kam. Mit dem sprach sie Französisch, und zwar auf eine Art, daß ihm die Haare zu Berge standen. Trotzdem brachte er ihr, wenn er aus Wien kam, abgetragenen Theatertand, als falsche Seiden und Spitzen, ja selbst echten Glasdiamantenschmuck, hölzerne Goldreifen und dergleichen mit. Damit schmückte sie sich selbst oder erzeugte Figuren, die von den Dorfleuten nicht mehr belächelt, sondern geradezu bewundert wurden.

Das war die alte Lori, und so ist sie heute noch im Gedächtnis der Leute, unter denen sie sechzig Jahre lang wie ein harmloses Gespenst herumgeflattert war. Fremd geblieben ist sie den Menschen, unter Flittern verborgen hatte sie ihr wahres Wesen und die Schatten der Vergangenheit; ihr wehes Erinnern und das Zittern [282] ihrer Seele – niemand hat danach gefragt. Da hat sich einmal plötzlich etwas zugetragen, was den Schleier ein wenig lüftete.

Am Vorabende eines Marienfestes war's, in der Kirche wurde die Vesper gehalten. Die Leute hatten Feierabend gemacht und gingen in das Gotteshaus, an dessen beleuchtetem Altare der Weihrauch aufstieg. Auch der Pankraz schlürfelte am Stock gestützt hinein und seine rechte Hand zuckte ein wenig gegen das Herz. Unweit von ihm hopste die alte Lori heran, auch sie ging in die Kirche, und am Tore noch die Schnupftabaksdose fassend, war's, als besinne sie sich, und schob dieselbe wieder in die Tasche.

In der Kirche fangen sie ein Marienlied, dann spendete der Priester den Segen. Als es nun still war unter den Andächtigen, hörte man plötzlich einen krächzenden Schrei: »Pankerl! Du hast mir mein Herz gestohlen!« Die alte Lori krampfte ihre Finger in den Nacken des alten Holzhändlers, der noch auf dem Pflaster kniete, und rief wiederholt: »Mein Herz! Der hat mein Herz gestohlen!«

Die Leute fuhren zusammen und bildeten einen Knäuel um die Gruppe; etliche waren bestrebt, die Lori, von der man glaubte, sie sei wahnsinnig geworden, von dem ächzenden Pankraz loszulösen. Sie aber rief: »Er ist neben mir gestanden! Mein Herz! Er hat's!«

Das erste, was man in diesem Augenblick an Pankraz bemerkt hatte: er zuckte mit der Hand nach dem seinen. »Die Hexe!« röchelte er jetzt, »die alte Hexe!« Als er losgekommen war, torkelte er aus der Kirche. Die [283] Alte begann heftig zu weinen, riß die Bänder von ihren Kleidern und warf sie über die Köpfe hin. Dann untersuchte sie mit unheimlicher Hast alle Taschen und Falten ihres Kleides und beteuerte immer wieder: Es sei dahin! Es sei gestohlen! Und schlug mit den Armen um sich und schrie wie rasend: »Es ist dahin!«

In derselben Nacht schlief das arme Wesen freilich nicht in ihrer Dachkammer nächst dem Pankraz, sondern in einem Stübchen des Armenhauses, wohin man sie gebracht. Sie soll aber nicht viel geschlafen, sondern die ganze Nacht ihre Kleider und Taschen durchsucht haben, und immer wieder geseufzt: »Es ist dahin!« Am nächsten Morgen verlangte sie nach dem Ortsrichter und nach dem Pfarrer. Diesen erzählte sie merkwürdig gefaßt und klar allmählich eine abenteuerliche Geschichte.

Da habe sie ein rundes hörnernes Gefäß gehabt und das habe sie stets bei sich getragen und mit einer Schnur an den Leib gehangen.

»Die Dose?«

Nein, schnupfen tue sie nicht. Das Gefäß habe sie noch gehabt am Abend, als sie in die Kirche eingetreten. Dann sei der Pankraz neben ihr gestanden und habe beständig an ihre Seite hergeschielt, und auf einmal sei das Gefäß dahin gewesen mitsamt der Schnur. Es sei ein verdammtes Schelmenstück.

»Und wenn du nicht schnupfest,« versetzte der Pfarrer, »was hast du denn in deinem Gefäß herumgetragen?«

»Sein Herz,« ächzte sie auf.

»Wessen Herz?«

Auf solches Wort starrte sie den Pfarrer an, wie verblüfft und empört zugleich, daß er es nicht wisse.

[284] »Sein Herz,« sagte sie noch einmal, aber leise wie im Traume. Und endlich erzählte sie die Geschichte. Aus Elsaß sei sie mit ihnen hergekommen. Aber als sie das Schloß gekauft, hätte sie – die Mademoiselle – der eine zur Frau haben wollen und der andere hätte von ihr nicht gelassen. Dann wäre ein Zweikampf gewesen und hätte der eine ihren Bräutigam erstochen. Weil die Kriegszeit war, sei das still abgelaufen, aber was in ihr, der Braut, vorgegangen, das sei über allen Krieg und über alles Elend gewesen. Den Mörder, als er ihr genaht, habe sie mit dem Messer von sich gescheucht, Der alte Hausarzt sei noch gewesen, der habe den Bräutigam in die Erde scharren wollen. Dem habe sie sich mit Gewalt widersetzt und von ihm begehrt, daß er dem Toten das Herz aus der Brust löse, bevor er ihn begrabe. Das Herz, das für sie geschlagen und verblutet, wolle sie mit sich tragen alle Tage und alle Tage, und es solle ihr in den Sarg gelegt werden, wenn sie sterbe. So sei sie mit dem Bräutigam gewesen die lange, lange Zeit. – »Eine heimliche Liebschaft!« kicherte sie, »eine lustige Liebschaft! – Und jetzt –«

»Das Herz hat er mir gestohlen!« schrie sie wieder auf und schüttelte den Leib, daß aller Flitter daran flatterte, »er hat's! Der Pankraz, kein anderer!«

Weil die Sache nun gewissermaßen einen sachlichen Hintergrund gewonnen hatte, so wurde der alte Pankerl gerufen. Er kam ganz verstört an, ballte das Sacktuch in der Hand und trocknete mit demselben die Augen.

Er solle sich aussuchen lassen! verlangte die Lori.

»Ich – mich aussuchen lassen?« rief der Pankerl entrüstet und streckte seinen Kahlkopf vor, »aussuchen [285] lassen wie ein Dieb? Das tu' ich nicht. Das tu' ich nicht.«

»Warum nicht?« fragte ihn der Richter, »das ist ja der beste Beweis, wenn du unschuldig bist.«

»Das tu' ich nicht.«

»Ist verdächtig!«

»Aussuchen lassen, das tu' ich nicht!« rief der Alte, »die Schand und Schmach erleben! In alten Tagen die Schand und Schmach! Bin ein ehrlicher Mann! Ein ehrlicher Mann! Das tu' ich nicht!«

So müsse man Gewalt anwenden.

Nun zuckte der Arm des Pankraz gegen seine Brust. Blaß ward er bis in den Mund hinein. »Ich bitt', Herr Pfarrer!« stöhnte er halb flehend, halb drohend, »ich bitt', Herr Pfarrer! Eine Ungerechtigkeit! Ich bin ein ehrlicher Mann. Hab' meine Sach' ehrlich verdient. Eine Ungerechtigkeit! Eine Ungerechtigkeit!«

Aber der Knecht hatte ihm schon den Rock vom Leibe gezerrt, und als er jetzt die Weste öffnete und darinnen etwas Festes tastete, sagte er: »Was ist denn das?«

»Ich hab's ehrlich verdient!« wimmerte der Alte und sank mit gerungenen Händen auf die Knie, »nur nicht wegnehmen, nicht wegnehmen. Ich hab's ehrlich verdient.«

Sie fanden wirklich etwas an ihm, aber nicht das vermißte Herz, sondern ein dickes Paket Fünfzigernoten, in Leinwand gewickelt und von Schweiß durchfeuchtet. Es war sein Erspartes, das er nicht der Sparkasse anvertrauen wollte, das er wie ein Heiligtum bei sich [286] trug. gleichsam sein Herz, wie die alte Lori das ihre hatte in dem Horngefäß.

»Das Herz hast du mir gestohlen!« rief die alte Lori wieder aus.

Jetzt wurde der Pankraz herb und sagte: »Wer wird denn dir dein Herz stehlen, du alter Radstubengeist! Ist nicht einen Groschen wert. Ist nicht einen Groschen wert.«

Fast zu rechter Zeit ließ der Meßner melden, er habe an diesem Morgen beim Ausfegen in einem Winkel am Kirchentor eine braune Horndose gefunden, mit einer grünen durchbrochenen Schnur, und er glaube, das Ding gehöre der Lori und es hätte sich im Gedränge zufällig losgestreift. Scharf stürzte die Lori auf den Meßner los. Dieser hielt die Dose neckend hoch über das Haupt, daß sie selbe nicht zu erreichen vermochte, dann suchte er sie zu öffnen, was ihm aber nicht gelang, erstens weil er sie überhaupt nicht ausmachen konnte, und zweitens, weil die Alte ihm schon in die Hände fiel und mit spießeckigster Kraftanstrengung dem Frevler das Heiligtum entrang. Dann schoß sie heim in ihre Dachkammer, um dort bei verschlossener Tür das Gefäß zu öffnen und sich von der Unversehrtheit des Inhaltes zu überzeugen.

Von dieser Zeit an sah man die alte Lori nur selten mehr; sie blieb die meiste Zeit in ihrer Kammer. Und wenn sie doch hervorging, um Lebensunterhalt zu sammeln, so tänzelte sie nicht mehr, sondern schleppte sich schwerfällig dahin. Wollte man sie zu einem ihrer früheren Schelmenstücke veranlassen, so war's, als beginne sich ihr phantastischer Flitteranzug sachte aufzusträuben [287] wie das Gefieder eines erregten Hahnes, aber es ward nichts weiter und das alte Wesen blieb in sich gekehrt.

Einmal blieb sie zwei Tage lang ganz ungesehen und der Pankraz sagte aus, seine Nachbarschaft sei sehr still. Da ging man, um Nachschau zu halten und fand sie am Fußende ihres Bettes auf einem Schemel sitzend: der Körper in den Winkel gelehnt, das kleine Haupt mit den losen weißen Haarsträhnen nach vorne an die Brust gesunken.

Der Pankraz trocknete mit dem Sacktuchballen seine Augen und wimmerte: »Wer wird mir jetzt den Zins zahlen, wer wird mir jetzt den Zins zahlen!«

Zu ihrem Begräbnis war das ganze Dorf da, denn es war ausgesprengt worden, man würde das braune Gefäß – bevor man es ihr in den Sarg legte – öffnen, um zu sehen, wie es sich mit dessen Inhalt verhalte und ob er mit der Aussage der Alten stimme. Und wo wäre das Weib, das nicht wissen möchte, wie es aussieht, eins von diesen Männerherzen, an welche sie das ihre hängen, mit denen sie spielen. Insonderheit merkwürdig ist ein Männerherz, das wegen der Liebe zu einem Weib den Tod erleiden mußte. – Die Geschichte der Lori war ja bald bekannt geworden.

Als das kümmerliche Gestaltlein, mit etlichem Flitter geschmückt, nun im Sarge so dalag und der Schreiner schon mit dem Deckel daneben stand, nahm richtig jemand die braune Horndose in die Hand und begann an ihr herumzudrehen.

Da langte der Pfarrer nach dem Gefäß und sagte: »Es war ein Geheimnis und es soll eins bleiben.« Dann [288] legte er es der Toten auf die Brust, in den Ellbogenwinkel des linken Armes, der über den rechten gekreuzt war. Und der Deckel wurde auf den Sarg genagelt.

Die Weiber, welche voller Neugierde zugegen waren, fürchten seither nicht mehr den Jüngsten Tag; sie plangen danach, hoffend, daß an jenem Tage, der alles offenbaren soll, auch die braune Dose der alten Lori geöffnet werden wird.

Der Funkenferl
[289] Der Funkenferl.

Die Großstadt hat keine eigentlichen Feste mehr, sie hat nur Tage der Arbeit und Tage des Müßigganges. Im Dorfe steht noch die Himmelsleiter Jakobs; es geht dort kleinlich und kümmerlich zu, allein zu den festlichen Zeiten steigen sie doch die Sprossen hinan, der eine höher, der andere weniger hoch, aber im Staube des Erdreiches bleibt selten einer.

Ich liebe die Feste der katholischen Kirche. Es mag sein, daß mich aus denselben die Zeiten der Kindheit und Jugend wieder anwehen; es mag sein, daß dieser große Kultus mich darum bezaubert, weil er es vermag, das Gute mit dem Schönen zu verbinden und so beides volkstümlich zu machen. Die Schäden und Mißstände, die auch hier vorkommen, lernt man allmählich entschuldigen, weil man zur Einsicht kommt, daß es auf Erden nichts Vollkommenes gibt; manches Häßliche lernt man übersehen, manches Pharisäerhafte überhören. Im Strahle der Kerzen, unter den Klängen der Orgel und des Volksgesanges, inmitten von betenden, weinenden, in Andacht erhobenen Herzen feiert man still für sich und frei von Fesseln seinen Gottesdienst.

So kam ich an jenem Weihnachtstage heim. Der Winter tat sein Möglichstes, um dieses Fest dem Norden würdig vorzubereiten. Schon einige Wochen früher hatte [290] er über das Land eine feste Schneedecke gelegt und die Straßen für Schlitten sein geglättet nach den Worten des Adventevangeliums: was uneben ist, soll zu einem ebenen Wege werden.

Nun zum Feste war nach einem tagelangen stillen Nebelspinnen der frische wogende Winter neuerdings niedergesunken über das weite Alpenrund. Es schneite und stöberte, daß man nicht zwanzig Schritte von sich sah. Die Kirchengeher schoben in den Schneemassen gänsemarschartig heran, der Pfad hinter ihnen ward sofort wieder verschneit und verweht. Von den Dächern stob der Wind dichte weiße Wolken auf, trieb sie in die Fugen der Wände, in die Fenstertiefen, in welchen sich Schnee und Eis aufstaute, in die Kleider und Bärte der Vorübereilenden. Es schneite keine Flocken, es war ein dichter schwerer Nebelstaub allerwärts, jedes Wasserbläschen war Schnee geworden und dieser sank und flog und wirbelte unablässig hin und wieder und man sah endlich nichts mehr, als unter sich das blendende Weiß und über sich das undurchdringliche Grau. Dort und da hub der Schnee, der schon auf dem Boden lag, wieder an zu wirbeln und aufzufliegen, als reue es ihn, aus den Höhen, wo die Engel heute ihr Gloria sangen, niedergesunken zu sein.

Die Leute hatten sich in die Hut der Kirche getummelt, von deren Turme jetzt die Glocken klangen, den Wind übertönend, der an den Mauerecken toste und an den Turmfenstern pfiff und den Schnee an das Erz warf. Hinter den Kirchenfenstern begann der rote Schein zu dämmern, während ich noch im Freien stand und unentschlossen war, sollte ich das Weihnachtsfest drinnen [291] mit den Menschen feiern, oder heraußen bei dem winterlichen Hochgesange der Natur. Man hält es am Ende doch lieber mit den Menschen. Als ich gegen das Kirchentor schritt, sah ich neben mir einen Schneehügel, aus welchem ein paar Holzkanten hervorstanden. Nun gewahrte ich's, daß hier ein Sarg aus Tannenholz stand, mit Stricken auf die Tragbahre gebunden. Der war mit seinem stillen Bewohner heute wohl schon aus einem der Engtäler herausgekommen. Gar ohne allen Schmuck stand er da und mußte warten, bis die Leute drinnen mit ihrer Freudenandacht fertig waren und ihn ins Grab legen wollten. Mittlerweile wob ihm der emsige Winter rasch ein Leichentuch und führte über ihn mit wirbelndem Staube einen weißen Grabhügel auf. – Welch eine ausgebrannte Welt mag – die Hände über der Brust gekreuzt – da drinnen liegen.

Ich trat nun, an der steinernen Schwelle den Schnee von den Kleidern schüttelnd, auch in die Kirche. Allein, während auf dem Chore die Krippenlieder klangen, mußte ich immer wieder an den Schläfer denken, der draußen vor dem Tor in seiner letzten Wiege lag. Neben mir, am Pfeiler halb angelehnt und eifrig seinen Rosenkranz abbetend, stand ein alter Bauer. Dem schielte ich lange auf die Finger und als ich nun merkte, daß er am letzten Knötlein seiner Rosenkranzschnur angelangt war, so daß mir die Unterbrechung in seiner Andacht nicht allzu strafwürdig erschien, flüsterte ich ihm die Frage zu, wer es sei, der draußen in der Truhe liege? Der Befragte betete den Rest des Vaterunsers noch rasch von der Zunge weg, dann neigte er seinen Kopf zu mir und zischelte: »Der Funkenferl.«

[292] Die Auskunft war gering, ein anderer vielleicht hätte damit nicht viel anzufangen gewußt; mich schob sie in eine Welt der Erinnerung und der Betrachtung. Und anstatt der Weihnachtsandacht nachzuhängen, war mein Gedanke jetzt an einen Menschen gekettet, der mir weltfremd gewesen und für den ich mich doch manchmal heimlich erwärmt hatte.

Der Funkenferl! Vor Jahren war er als junger Mensch in die Gegend gekommen. Übrigens fragte ihn niemand nach seinem Herkommen und er ließ auch nichts davon verlauten. Die Wahrheit wird gewesen sein, daß der etwa zwei oder drei Meilen weit, »also aus der Fremde« hergezogene Mensch ein vazierender Schneidergeselle war, der die neue Gewerbefreiheit dazu benützte, in unserer Gegend herumzuschneidern. Für uns andere Schneider war der »Neue« merkwürdigerweise nicht ein Gegenstand des Neides, sondern des Bedauerns gewesen. Denn erstens fand der »Schneiderferl« so wenig Arbeit, daß er sich kaum das tägliche Brot erwerben konnte. Und wenn er am Sonntag vor der Tür seines Stübleins stand und sich vor der Leute Augen die Zähne ausstocherte, so war das nicht Ernst zu nehmen, er müßte denn eine verklemmte Kartoffelschale loszustochern gehabt haben. Und zweitens war der Ferl als Halbnarr ausgeschrien. Er tat zwar nichts Närrisches, war ein bescheidener, hübscher Bursche, der sich nur darin von anderen unterschied, daß er lärmende Gesellschaften mied, seine eigenen Wege ging und daß er den Sonnenschein nicht leiden konnte. Den Sonnenschein hat sonst doch jeder gern, er macht helle Augen, ein warmes Blut und ein lustiges Herz. Beim Ferl war's anders, wenn die [293] Sonne schien, da war er verstummt; kaum etwas war ihm öder und langweiliger, als ein Tag ohne Wolken, ohne »Wind und Wetter«, als ein Tag, der nichts hatte, als denn Sonnenschein vom Morgen bis zum Abend. Als einmal fünf Wochen lang eine solche Sonnenwüste war, wie er sich ausdrückte, magerte er ganz erschreckend ab, obzwar er damals in einem Großbauernhof arbeitete, wo ihn: nichts abging. Als endlich das Regenwetter kam und kalter Nordwind die Tropfen scharf an die Fenster strählte, lebte der Ferl wieder auf, pfiff und sang bei seiner Arbeit und am Feierabend warf er seinen Wettermantel um und eilte hinaus in Regen und Sturm. Unter den Bäumen, die am meisten rauschten, strich er hin, an Abhängen ging er entlang, wo die wildesten Gießbäche niederschossen, in Waldschluchten drang er ein, wo der Nebel am dichtesten lag, und vollends wenn Hochwasser war, schwänzte er seine Arbeit und ging bei den Wassern um; wenn die Fluten trübe heranwogten, Erdreich, Bäume und Felsblöcke mit sich rissen, da war ihm zum Jauchzen; wenn der Sturm die ruppigen Wipfel zauste und die alten Stämme brach, daß sie krachend zu Boden stürzten, wenn im Aufruhr der Elemente die Raben und Geier kreischend in den Lüften flatterten und schmetternde Blitze dreinfuhren und blaue Flammen auflohten aus getroffenen Strünken, da war dem Ferl zum Jauchzen. Wenn er endlich aus solchen Wildnissen heimkam, über und über pudelnaß und zerzaust, da blühten seine Wangen in frischem Rot, da leuchtete sein Auge, da schlang er seinen Arm um den Nacken des erstbesten Knechtes und wußte sich vor frischer Lustigkeit nicht zu fassen.

Ein solcher Schneider war noch nicht gesehen worden.

[294] Der Schneidermut ist allbekannt und in Ehren sprichwörtlich geworden; doch das war ein außerordentlicher Schneider! Das war ein dämonischer Schneider. Die ihn nicht für einen Halbnarren hielten, die fürchteten sich vor ihm und jemand brachte es auf, daß der Ferl kein gewöhnliches Fleisch und Blut habe, daß er sicherlich zum Gefolge der wilden Jagd gehöre, von dem er sich aus Gott weiß was für Gründen losgetrennt habe oder aus wildem Jäger in einen Schneider verwünscht worden sei.

Verwunderlich war aber eines. Als sich der Ferl einen Schatz suchte, nahm er nicht etwa ein resches Engerl, aus dem sich später eine böse Sieben entwickeln konnte, so daß er für sein Leben Sturm und Wetter genug im Hause gehabt hätte. Nein, er wählte ein schüchternes sanftes Ding, das nachgerade einen wolkenlosen Ehehimmel mit immerwährendem Sonnenschein befürchten ließ. Gegen diese Art von Sonnenschein jedoch hatte selbst der Ferl nichts einzuwenden. Er war sehr glücklich. Sein Geschäft hob sich allmählich so ansehnlich, daß er daran denken konnte, seine Marthel von ihrer Dienstschaft in der Armut zu erlösen und zur Meisterin zu machen.

Da kam einmal die Kirchweih, und weil es gar so schön stürmte und Regen und Schneeflocken fielen, ging der Ferl auf den Jahrmarkt. Dort gedachte er seiner Marthel und kaufte ihr einen schönen elfenbeinernen Strählkamm. Der war zwar nicht weiß und auch nicht von Bein, sondern glänzend schwarz und federnd, aber der Krämer sagte, man trage sie jetzt so und die elfenbeinernen Kämme mache man heutzutage aus Kautschuk.

[295] Das war dem Ferl auch recht. Er ging nach Hause, und weil er unterwegs mit seiner Marthel zusammentraf und weil der regnerische Abend für das Mädel gar so herb war, so nahm sie der Bursche mit in sein Stüblein. Dort gab er ihr den schönen Strählkamm, legte sich auf die lange Bank und hörte glückselig zu, wie sie zu seinen Häupten sitzend den Kamm pries, daß ein solcher Elfenbeinkamm lange schon ihr Verlangen gewesen, und wie sie nicht wisse, mit welcher Freude sie ihm dieses Geschenk vergelten solle. Dabei streichelte das Dirndel mit ihrer Hand seine Stirn. Mittlerweile war es finster geworden und nun fragte die Marthel etwas ungleich, ob sie denn nicht schon fortgehen müsse? Er riet, daß sie nur sitzen bleiben solle zu seinen Häupten und daß sie jetzt Gelegenheit hätte, ihm was Gutes zu tun. Er habe nämlich noch von Mutters Zeit her eine kindische Gewohnheit, der er freilich schon lange nicht mehr hätte frönen können, weil er niemand habe auf der Welt, der es ihm tue. Er habe es nämlich so gottlos gern, wenn jemand zu seinen Häupten sitze und ihm die Haare strähle.

»O du lieber Ferl,« sagte sie, »daß ich dir die Haare strähle, das will ich ja gerne tun.«

Er hatte ein schönes, langes, nußbraunes Haar, was aber jetzt im Finstern kohlschwarz war. Das begann sie nun zu strählen. Sie strählte es nach vorwärts, sie strählte es nach rückwärts, sie strählte es aus den Winkeln der Ohren und vom Nacken herauf, wo es gar wie der weichste Flaum war. Sie strählte es in Scheiteln, glättete es und lockerte es wieder auf, zerstörte die Krause, um sie von neuem wieder herzustellen. Sie sagte nichts [296] dabei. Er schwieg auch und genoß die stillen Wonnen, die über sein Haupt ausgegossen wurden.

Wenn ihn jetzt jemand gefragt hätte, was angenehmer sei, ein Gang durch die stürmische Wetternacht oder ein solches Haarstrählenlassen von der Marthel, ich glaube schier, er hätte sich nicht entschieden, sondern sich baß geärgert über den Störer seines süßen Friedens.

Als die Marthel lange so gestrählt hatte, fiel ihr ein seines Knistern auf, das in den Haaren war und ein ganz wundersames Prickeln, das an ihre Finger schlug. Plötzlich tat sie einen leisen Schreckruf, dann war sie wieder still und strählte weiter.

Was das gewesen sei? fragte der Ferl.

Sie schwieg und ließ ihre innere Erregung nicht merken. Es war ihr gewesen, als hätten aus den Spitzen der Haare knisternd blaue Funken hervorgezuckt...

Nach einer Weile, da sie immer noch strählte, sagte sie leise und mit Befangenheit: »Ferl, ich habe dich schon lange einmal was fragen wollen.«

»Frage nur her,« entgegnete der Bursche.

»Du mußt mir aber nicht böse werden. Es ist halt um Leben und Sterden.«

»Was meinst du denn, mein Dirndel?«

Sie stockte, endlich sagte sie: »Bist die letzten Ostern wohl auch bei der heiligen Beicht gewesen, Ferl?«

Einen Augenblick war es so still, daß man wieder deutlich das Knistern vernahm in seinem Haar.

»Wie kommst du jetzt auf eine solche Frage?« sagte der Bursche.

»Der böse Feind,« murmelte sie, »hat oft sein Spiel.«

[297] »Geh', Marthel, schau, wie meine Stirn heiß ist! Leg' deine Wange drauf.«

Das tat sie nicht, sondern strählte noch emsiger und schwieg. – Gählings tat sie einen gellenden Schrei, schleuderte den Kamm von sich, sprang auf, stieß mehrmals an die Wand, bis sie stöhnend die Türklinke erhaschte und davonlief.

Am nächsten Tage wußte es die ganze Gegend: Aus dem Haar des Schneiderferl springen Funken!

Der Mann war – man wollte es nicht sagen, was er war. Nun konnte man sich's wohl erklären, daß er keinen Sonnenstrahl leiden konnte, innen Feuer, außen Feuer, das wird freilich niemand aushalten. Jetzt wußte man, warum er Sturm, Regen und Gestöber so sehr aufsuche, aber das höllische Feuer – mer es in sich hat – das löscht kein Eisschauer und kein Wolkenbruch.

Die Marthel bekreuzte sich, wenn vom Schneiderferl die Rede war, sie wich ihm aus auf hundert Schritte und an ihr Bett malte sie mit der Kreide ein Trudenkreuz, damit sie verschont bleibe vor Anfechtungen.

So hatte der Ferl seine sanfte Marthel verloren, hingegen aber den Spitznamen »Funkenferl« gewonnen.

Fürs zweite schadeten die Funken, die aus seinem Haupte sprangen, auch seinem Geschäft, sie verscheuchten ihm die Kunden. Ein feuersprühender Schneider, das wäre so was!

Die Sache kam dis zum Pfarrer. Der Ferl müsse sich mit Weihwasser besegnen lassen – wollten sie – oder trachten, daß er weiter komme! Der Pfarrer riet den Leuten folgendes: Sie sollten Kautschukkämme kaufen [298] und sich im Finstern strählen lassen, es würde auch Funken geben.

Ob ein Weibsbild strählen müsse? ward gefragt.

Es käme nicht gerade auf das Weibsbild an, belehrte der Pfarrer, sondern eigentlich auf die Elektrizität; und die sei mehr oder minder in jedem Menschen vorhanden und entlade sich bei allerlei Gelegenheiten, in Luft und Lieb, in Zank und Zorn, wo es oft schwere Wetter und Blitzschläge gebe, bei Berührungen und Reibungen der Körper, besonders auch beim Kämmen der Haare.

Und jetzt war in der Gegend das Haarstrählen Mode geworden. Alles strählte, vieles gab Funken und in manchem und mancher zündete der Funken.

Die Marthel trachtete nun wieder zurück zu ihrem ursprünglichen Motoren, aber der Ferl wollte nichts mehr von ihr wissen. Er lebte allein dahin, wie bisher, siedelte sich allmählich fest und ward ein geachteter Handwerker. Der Spitzname blieb ihm; die Geschichte, wie er zu demselben kam, geriet allmählich in Vergessenheit, nur mir war sie nun unter den Weihnachtsklängen der Orgel wieder lebendig geworden, während der »Funkenferl« draußen vor dem Tore auf das Begrabenwerden wartete.

Nach dem hochfestlichen Gottesdienste haben wir uns angeschickt, dem ewigen Schläfer sein letztes Recht anzutun. Mitten durch das winterliche Gestöber ging der lange Menschenzug der schwankenden Bahre nach, hinaus über die Felder zum Friedhofe. Die vorderen Reihen beteten laut, wir hinten hörten vor lauter Schneesausen nichts davon, und um uns zu entschädigen, verlegten [299] wir uns, so gut es gehen wollte, aufs Plaudern. Da erfuhr ich denn von meinem Nachbar, einem Bauern vom Gebirge, noch einiges aus dem Lebenslaufe des »Funkenferl«.

»Ein solches Wetter!« knurrte der Mann und schnob sich den Schnee aus dem Bart, »der Ferl, wenn er heut mit dabei sein kunnt, der müßt' eine höllische Freud' haben. Letzt' Zeit ist's ja noch ärger worden mit ihm. Sommerszeit, wenn anderen Leuten das Herz hat gelacht in Wald und Flur, hat er sich in die Häuser verkrochen und geschneidert, daß die Fetzen sind geflogen. Winterszeit hat er die Arbeit liegen und stehen lassen und ist in Wind und Schnee umgegangen, wie nicht gescheit. In Lodenhabit und Wasserstiefeln durch den scharfen Winter gehen, Besseres gibt's nichts, hat er allemal gesagt.

Sommerszeit, wenn gegen Abend die Wolken aufgestiegen sind und es in der Dän: mer angefangen hat zu blitzen, da ist er nicht ins Bett gegangen. Hat sich draußen auf den Anger hingestellt, die Weste aufgeknöpft und dem Gewitter entgegengeschaut, wie es heraufgestiegen ist hinter den Bergen mit Feuer und Krachen und der Wettersturm von ferne her über Wald und Auen ist gefahren und ihm an die Brust gesprungen. Der Blitz rechts herab und der Blitz links herab und der Knall über Häupten hin, so ist er dagestanden wie eine Säule aus Stein. Und wie es vorbei ist, tut er einen hohen Atemzug und geht ins Bett. – So haben wir« – fuhr mein Weggenosse fort – »ihn einmal gefragt, ob er denn nicht mehr leben will, daß er dem Tod so entgegengeht. – Tausend Jahr möcht' ich leben! ist seine Antwort. Herrgott, was werden das noch für [300] Schauspiele sein, bis es aus ist mit dieser Welt! – Herr Peter, ich sag' es Euch: wenn auf unserem Friedhof ein Toter mit Sehnsucht wartet auf das Jüngste Gericht, so ist es der Ferl. Da wird's ihm doch Spektakel genug geben, alsdann!«

»Er muß ja noch nicht alt gewesen sein,« bemerkte ich.

»Nicht vierzig. Und kerngesund noch, vor drei Tagen,« sagte mein Berichterstatter, indem wir uns eng aneinanderschlossen, einer den anderen vor dem sausenden Schneestaub schützend, so gut es gehen mochte. »Im vorigen Jahr ist der Ferl viel kränklich gewesen und zum Erbarmen vom Fleisch gefallen. Es war zumeist eine schöne Zeit und Sonnenschein und der Ferl ist außer in seiner Kammer nicht viel gesehen worden. Eine Dienstmagd, Marthel heißt sie, hat ihn pflegen wollen, er hat Dank gesagt und kunnt's schon allein richten. Wie aber jetzt der strenge Winter ist gekommen, da ist er hervorgekrochen. Jetzt kommt der Thomastag. Das Firmament liegt wolkenfinster über schneeweiß Berg und Tal. Ein weicher Wind geht und die Bäume schütteln den Schnee ab, und fallen auch Regentropfen. Der Funkenferl steigt draußen um und bricht oft bis übers Knie in den Schnee ein. Hinter meinem Haus ist ein Bühel; wie es finster wird und ich beim Fenster hinausschau, weil manchmal so ein besonderer Schein aufzuckt, steht auf dem Bühel ein Mann und reckt sich ins Firmament hinein. Schau, sag' ich zu meinem Weib, wenn der dort keiner ist, der in der Thomasnacht das Wünschhütl suchen geht oder den Fünfguldenbeutel oder den Talerschimmel, so ist's der Schneider. Der schaut sich wieder einmal die schöne Welt an bei der Nacht. Ich [301] hab' Euch noch nicht ausgeredet, so macht's einen Blegezer (Blitz) und einen schwachen Schlag, just als wie wenn bei dem Stadt draußen das Hoftor umgefallen wär'. Jesus Maria! sagt mein Weib, mich deucht gar, das ist ein Donnerwetter mitten im Winter! – Du, sag' ich, jetzt steht der Mann nicht mehr dort auf dem Bühel. Daß ihm nicht etwa was geschehen ist! So eine Mahnung hab' ich gehabt. Wie ich hinausgeh' und nachschau, liegt er im Schnee und ist maustot.«

Wir schritten durch das Friedhofstor. Von der hölzernen Einplankung guckten nur die Bretterspitzen aus dem Schnee. Von einzelnen Kreuzen ragten die Dachbrettchen hervor, von anderen nichts. Am großen Kruzifix, das mitten im Gottesgarten steht, waren die Füße des Heilands unter dem Schnee. Zwischen den Kreuzen hin war ein schmaler Gang ausgeschaufelt, in welchen fortwährend der Schneestaub hineinwirbelte.

»Es ist wohl seltsam,« sagte ich zu meinem Weggenossen, der nun des schmalen Weges wegen hinter mir dreinging.

»Wenn ich's nicht selber gesehen hätt',« rief er mir über die Achsel her, »ich kunnt's nicht glauben. Der Blitz hat ihn erschlagen, sagt der Arzt. Es muß dem Funkenferl rein so aufgesetzt gewesen sein. – Alsdann hat's angefangen zu schneien. Und so viel Schnee, daß wir den Toten vier Tage haben müssen liegen lassen in seiner Kammer, bis jetzt zu den Feiertagen der Weg ist ausgemacht worden von unserem Hintergebirg zur Pfarrkirche heraus. – So, jetzt hätten wir ihn glücklich da.«

Die Menge staute sich, voran die Träger mit dem Sarge standen am Grab. Wir hörten im Sausen des[302] Windes kaum den Grabgesang und nur wie dumpfes Donnern war's, als der Sarg in die Tiefe des gefrorenen Erdreichs hinabrollte. Die üblichen Vaterunser wurden etwas schleunig abgetan, hierauf eilten die Leute fast fluchtartig in das schirmende Dorf zurück. Bald stand am Grabe nur ich allein und der Winter wollte dem Totengräber zuvorkommen und die Grube mit Schnee füllen.

Ich weiß von dem Schneider Ferdinand weiter nichts zu erzählen, es war ein armes, verborgenes, unbedeutendes Leben. Aber ich sah in ihm ein Sein, welches als einen Gegensatz seines kindlichen Herzensfriedens die brausenden Gewalten der äußeren Natur suchte und liebte, und gleichsam in der erhabenen, bauenden und zerstörenden Betätigung der Elemente den Schöpfer und Erlöser geahnt hat.

Ein kleiner Spaziergang
[303] Ein kleiner Spaziergang.

Nun findet sich in den Waldheimatschriften auch noch ein klein Stück Wanderleben, das in seiner Art das seelische Jugendbild vervollständigen soll.

– Es war zu Pfingsten. Da stand am Vorabende des Festes in einer Schneiderwerkstatt des oberen Mürztales ein junger Mensch von der Arbeit auf, zog seinen braunen Sonntagsrock an und sagte: er wolle nun zum Feierabend einen kleinen Spaziergang machen.

Er ging über die Wiese hin gegen das Wäldchen, durch dieses hinaus auf einen Acker und dann am Wege entlang, der nach Mürzzuschlag führt. Weil die Sonne noch hoch am Himmel stand, so dachte der junge Mensch, er könne von Mürzzuschlag aus auch noch ein bißchen der klaren Mürz entlang gehen, wodurch er in ein paar Stunden nach Neuberg kam. Dort blieb er bei einem Bekannten über Nacht, und weil am nächsten Tag das Pfingstfest war und der Spaziergänger das Kirchlein zu Mürzsteg und die berühmte Engschlucht zum Toten Weib noch nicht gesehen hatte, so wanderte er wohlgemut flußaufwärts. Beim Toten Weib begegneten ihm Wallfahrer, welche sagten, daß es nur mehr vier Stunden nach Mariazell sei. Eine bessere Gelegenheit gibt's doch nicht mehr, den Gnadenort zu sehen. Er wanderte also weiter, denn er war ein schwärmerischer Junge, wie es überhaupt unter den [304] Schneidern ganz seltsame Leute gibt. Der nächste Morgen war ein Pfingstmontag, an dem es nicht regnete. Also meinte der junge Mensch, weil er hier in Mariazell schon so nahe dem eigentlichen Hochgebirge sei, so wolle er es auch einmal ansehen, und ging über Gußwerk bis Weichselboden, das hart unter dem Gewände des Hochschwaben liegt. Von Weichselboden wanderte er in den viele Stunden langen Gebirgsschluchten an der Salza bis Wildalpen und am nächsten Tage zur Enns hinaus, dann durch das Gesäuse, das damals noch keine Eisenbahn hatte, sondern eine menschenleere, sausende Wildnis war, bis Admont. Und wieder am nächsten Tage ging er durch das sonnige Ennstal und an dem grimmigen Grimming vorüber bis Aussee. Dort fragte er einen Mann, warum der Ort Aussee heiße, worauf er die Antwort erhielt: »Heißt Aussee, weil man da schon bald ausse kumt aus Steiermark und ins Österreichische übri.«

Ist der junge Mensch stutzig geworden und hat nachgedacht darüber, wie weit er auf seinem kleinen Spaziergang gekommen, und daß er schon fünf Tage lang auf der Wander ist. Was der Meister dazu sagen wird, wenn er sich solange Pfingsten macht? Nach solchen Erwägungen kehrte er um und eilte auf dem kürzesten Wege, nämlich über das Kammergebirge, die Sölkeralpen, die Murtalalpen, über Deutschlandsberg, Leibnitz, Gleichenberg, Riegersburg, Hartberg und Vorau ins Mürztal zurück. Zu diesem kürzesten Wege brauchte der Bursche neun Tage. Ein Büchlein hatte er im Sack, in welches er sonst seine Arbeit und seinen Taglohn hineinzuschreiben pflegte, in das schrieb er nun seine Reisebegebnisse, wobei er manchmal verrückt ward wie ein Dichter. Aus diesem unterhaltsamen [305] Büchlein sollen hier etliche Blätter herausgedruckt werden, als ein Beispiel, wie zwanzigjährige Schneidergesellen ihre Spaziergänge machen.

Über das körperliche Fortkommen unseres Wanderers gibt die folgende Bemerkung auf Seite 6 Aufschluß: »Reisegeld? Wozu? Meine Reise ist ein Feldzug, und bei einem solchen kommt es nicht auf Geld an, sondern auf tapferes Fechten.«

Hernach das Wanderlied:


»Wanderer, Wanderer,

Heut' bist du ein anderer!

Sonnen und Monde und Sternengewimmel

Wandern und Winde


Wolken und Winde

Ziehnen geschwinde

Hin übers Land.

Weilet die Quelle, wo sie entsprossen?


Hüpft zu Genossen

Über die Wand.

Mensch, nicht die Füße, einen zum andern?

Frei mit den Vöglein

Schwingen und singen.

Gestern noch zagen,

Heute frisch wagen,

Wanderer, Wanderer,

Heut' bist' ein anderer!«


Klingt fast wie ein Gedicht.

In den ersten Blättern ist viel die Rede von Mühlen und dergleichen, daß man sich baß fragt, wie es komme, daß dieser Schneider so sehr am Rade hängt.

Das wird anders.

[306] Von Mariazell bis hinaus gegen die Enns hatte unser Spaziergänger einen munteren, helläugigen Genossen – den Salzafluß gehabt. Mit diesem führte er einmal folgendes Gespräch:

»Woher des Weges?«

»Aus dem Österreicherlandel,« antwortete der Fluß.

»Und wie weit noch?«

»O Gott, wie weit!« rief der Fluß rauschend. »Heute nur bis zur Enns hinaus. Morgen bis zur Donau, dann ins Schwarze Meer, dann um die Welt, dann in die Wolken, dann wieder vom Berg herab und so weiter.«

»Warum so hastig voran?«

»Immer Eile, immer Weile!« rauschte der Fluß.

»Warum denn so ungeduldig? so aufwallend, wenn sich dir ein Stein entgegenstellt?«

»Du fragst so?« lachte der Fluß, »du, der die Leidenschaft selber ist? Bist es nicht du, der bei jedem Hindernis, das ihm im Wege steht, vor Zorn schäumt oder vor Herzweh gröhlt? Und mir verübelst du den Sprung, den ich gen Himmel tue, wenn die Steine mich verwunden?«

»Ha, deine Wunden, die im nächsten Augenblicke wieder heil sind! sage mir einmal, Fischblutwasser, kennst du die Liebe?«

»Ich habe mir's gedacht,« antwortete das Wasser. »Du siehst mir danach aus. Du bist gerade in den Jahren, wo einen jede Woche eine andere unglücklich macht.«

»Es gibt nur eine!« rief der junge Mensch empört ob solcher Unterstellung. »Die oder keine!«

»Alsdann wahrscheinlich keine,« flüsterte und schmunzelte das Wasser vor sich hin.

[307] »Du sollst ja die Müllerstöchter kennen,« sagte der Wanderer zum Fluß. »Die Meinige ist eine solche. Aber ein gottverdammter Müllersbursche daneben. Mit dem tut sie lieb und mich laßt sie laufen,«

»Wer sich zwischen zwei Mühlsteine zwängt!« sagte das kluge Wasser.

»Ich habe mich nicht dazwischengezwängt,« versicherte der Bursche, »der Weißlappen hat sich dazwischen gedrängt; denn für mich allein hat sie Gott erschaffen und ich kann einfach nicht leben, wenn mich die nicht mag.«

»Und hast du ihr das schon gesagt?«

»Gesagt nicht, aber sie kunnt sich's denken. Am ersten Maitag sind wir uns auf der Wiese begegnet, hab' ich ihr ein Blümel Vergißmeinnicht gepflückt, sie hat's genommen und an ihren Busen gesteckt, just mitten hinein, daß ich gemeint hab', toll müßt' ich werden vor Freud'. Jetzt tut sie nichts desgleichen und geht mit dem andern. Desweg' bin ich fort.«

»Wohin willst denn?«

»Gleichgültig.«

»Junger Freund,« sprach nun der Fluß. »Wenn du dir die Lieb' so schwer leg'st, wirst du noch viel aushalten müssen auf der Welt. Vergißmeinnicht! Schau', da am Ufer hin und hin wachsen ihrer mehr als genug. Ziegenfutter, Milchkraut. Das Weib, mein Lieber, das mußt du nicht für einen Mann halten, sondern für ein Weib. Beständigkeit! Treue! – Des Weibes einzige Tugend ist die Schönheit.«

»O Wasser!« rief der junge Mensch, »sprichst du aus Erfahrung?«

[308] »Gestern hat ein Bauerndirndel in mir gebadet. Bald darauf ein sommerfrischlerisches Stadtfräulein. Ich habe keinen Unterschied gesehen, eine wie die andere; im Beichtstuhl und im Wasser geben sie sich wie sie sind.«

»Du meinst also, daß man sie nicht ernst nehmen soll?«

»O, im Gegenteile, sehr ernst! Genau so ernst, wie man einen frischen Trunk Wassers nimmt, wenn man Durst hat.« –

Später ging er am Fuße des Grimming hin. An der Straße war ein Steinbruch; von welchem gerade zwei Arbeiter eilends hinwegliefen und dem heranschreitenden Burschen zuschrien, daß er stehenbleibe. In demselben Augenblick krachte es und die Trümmer des zersprengten Felsens flogen am Haupte des Wanderers vorüber. – Verfluchte Unvorsichtigkeit! dachte der Bursche, tat hierauf einen gellenden Schrei und stürzte zu Boden. Die erschrockenen Arbeiter sprangen herbei, da erhob sich der Gefallene langsam und sagte: »Es ist gut, aber möglich wäre es. Ein andermal rufet dem arglosen Geher ein rechtzeitiges Halt zu!« – Sie dürften sich's gemerkt haben.

Als er hernach seines Weges weiterging, kam ihm ein gelbhaariges Almdirndel mit einem Handbündel nach, griff seinen Arm an und fragte: »Ist dir wirklich nichts geschehen?«

Der junge Mensch gab die kecke Antwort: »Wenn du dich überzeugen willst, kein Splitterl!«

Sie gingen eine Stunde lang miteinander. Auf seine Frage, wohin sie wolle, lachte sie und sagte, das wisse sie selber nicht. Sie sei vom Ennstal, dort habe sie ihr Dienstherr verjagt und jetzt suche sie einen neuen Platz.

[309] Warum er sie verjagt habe? Auf diese seine Frage wurde sie rot und meinte: »Na, halt so.«

»Na, halt so! Der Grund ist mir zu wenig,« sprach der Wanderer.

Sie blickte ihn von der Seite an und sagte hernach: »Was soll ich's leugnen! Meine Bauernleut' haben aufgebracht, ich hätt' die Mannsbilder zu gern, und deswegen hab' ich fort müssen.«

»Und ist das auch wahr?« fragte der junge Mensch.

»Ho!« lachte sie auf, »freilich. Ich hab' alle Leut' gern.«

»Das ist ja ganz christlich,« meinte er.

Sie schaute ihn genauer an und sagte: »Du bist gewiß so einer, der auf Geistlich studiert, weil du vom Christlichsein was sagst?«

Soll ich sie anlügen oder nicht? dachte der junge Mensch bei sich. Da fiel ihm ein, der kürzeste Weg zu einem guten Ziele wäre doch allzeit die Wahrheit.

»Ich bin kein frommer Student,« sagt er, »sondern ich bin ein ganz weltlicher, lustiger, sündhafter Schneiderjung!«

»Das macht nichts,« antwortete sie, »wir sind alle sündhaft.«

»Da hast eh recht,« sagte der junge Mensch.

»Ich leugne es gar nicht,« hierauf sie, »daß ich mich mit Mannsbildern lieber unterhalt' als mit Weibsbildern; und eine, die anders redet, ist eh schon schlecht.«

»Das ist ganz gescheit,« sagte der Bursche.

»Heiraten kann unsereins sowieso nicht,« sagte sie.

»Wüßtest dir einen?«

[310] »O, ihrer genug. Aber aufs Geld gehen sie. Hat eine Geld, so ist sie allemal auch brav.«

»Du bist pfiffig!« sagte der Bursche.

»Jetzt, das Jungsein möcht' eins doch auch g'spüren.«

»Freilich möcht' eins das Jungsein g'spüren.«

»Dauert eh nit lang auf der Welt.«

»Nur ein kleines Ruckerl. Kaum fingerlang dauert das Jungsein.«

In solcher Verständnisinnigkeit gingen die beiden nebeneinander her. Da fragte das Almdirndl plötzlich: »Heißest du Hansel?«

»Nein.«

»Nicht? Jetzt hab' ich geglaubt, du heißest Hansel.«

»Warum?«

»Wenn du Hansel geheißen hättest, so hätte ich deinen Namen erraten. Die Hanseln errat' ich alle. Wie heißt denn nachher dein Namen?«

»Den kannst lang' suchen.«

»Hast du eine starke Brust?«

»Meine Brust ist nicht schlecht.«

»Nachher geh' und schrei' deinen Namen in den Wald hinein, wenn du ihn mir nicht willst anvertrauen. Dort drüben im Wald ist ein Felsen, und ein schöner Widerhall, wenn man hingeht und schreit.«

»Bei Weichselboden unten ist auch ein schöner Widerhall,« sprach der Bursche, »wenn man hinschreit: Guten Morgen! so ruft es zurück: Auch soviel! Und wenn man recht laut niest, so ruft es »Zum Wohlsein!«

»Plauder' nur weiter,« sagte das Dirndl, »ich laß mich gern foppen. Sollst doch mit mir zum Felsen hinübergehen und den Widerhall probieren.«

[311] Wir sind – heißt es wörtlich im Büchlein – jetzt halt in das Waldl hineingegangen, aber kein Weg und Steg, lauter Heidelkraut und noch nichts reif. Sie voraus, habe sie so angeschaut und gedacht: Die Schönheit ertragst leicht. Aber gesund. Die Ärmel hat sie aufgestreift. Bleibt am Weißdornstrauch ihr schwarzseidenes Kopftüchel hängen. Heiß ist's auch. Und Eidechsen. Kommen alleweil tiefer ins Strauchwerk. »Verführst mich ja!« sag' ich. »Was denn?« sagt sie und pflückt Steinnelken und anderes Geblümel, was sie mir nachher ins Knopfloch steckt. Wie sie so steht, geht sie mir just bis aus Kinn, so daß ich sage: »Gehst mir just bis aus Kinn.«

»Das macht ja nichts,« sagt sie, »'s Bübel soll allemal eppas länger sein wie's Dirndl.«

»Wo ist denn der Felsen?« frage ich.

»Uj Gott!« sagt sie, »jetzt denkt der noch an Felsen!«

So weit geht's, da fehlen im Büchel plötzlich drei Blätter. Von Seite 15 bis 21. Sie sind herausgerissen worden.

Wenn es gestattet wäre, diese schauerliche Lücke mit Mutmaßungen auszufüllen, so könnte man folgendes annehmen: Den Echofelsen haben sie endlich gefunden. Der junge Mensch hat fortwährend den Namen der Müllerstochter auf ihn hingerufen und der Felsen hat denselben Namen fortwährend hergerufen. Darüber ist dem Almdirndl langweilig geworden, es hat ihn einen »tapperten Buabn« geheißen und ist davongelaufen. Der Spaziergänger ist hierauf sehr zufrieden mit sich selbst seines Weges gegangen. – Es wird auch sicher nicht anders gewesen sein.

Wie auf Seite 22 die Beschreibung weitergeht, ist der [312] junge Mensch über alle Berge. Er ergeht sich von nun an in vernünftigen Gedanken, ruhigeren Schilderungen und ernsthaften Betrachtungen. Nur als er nach Tagen zum Murflusse kommt, spricht er zu diesem: »Du gehst auch ins Schwarze Meer. Wenn du dort die Salza begegnen solltest, so sage ihr einen Gruß vom wandernden Gesellen.«

Als der junge Mensch am fünfzehnten Tage des kleinen Spazierganges nach Hause kam, begegnete ihm als die erste die Müllerstochter.

»Da ist er!« rief sie hell.

Als der Geselle ins Haus seines Meisters eintrat, sagte dieser: »Da ist er!« Der Ruf war rauh. An des Meisters Seite saß bereits ein neuer Gehilfe, der in unerklärlicher Abwesenheit des anderen aufgenommen worden.


»Wanderer, Wanderer.

Heute bist ein anderer!« –


trällerte der junge Mensch, suchte sein Felleisen hervor und ging es von neuem an. –

Ich meine, wir lassen den Burschen laufen. Ob als Handwerksbursche, ob als Studiosus, ob als Waldsang, ob als Bergsteiger, ob als Jauchzender auf der Höhe oder als Rufer in der Wüste. Gott mit ihm! Wir müssen noch einen letzten Blick tun in das dunkle Waldbauernhaus, um das Ableiden der Alten zu betrachten.

[313] Der Waldbauer, dieser Dodel!

Schau, schau, das ist wieder schön! Ums Roß kommst du betteln. Habt ihr leicht das letzte Paar Ochsen auch schon verhaust?«

»Verhaust nicht,« antwortete der kleine Bub bescheidentlich, »aber die Kläseuch' (Klauenseuche) haben die Ochsen und können halt jetzt nicht ziehen.«

»So wiedet's die Kuh ins Joch!«

»Die Kuh hat jetzt ein Kalb.«

»So spannt's deinen Vater ein, der ist nix zu gut dazu; der wird eh schmöckend vor lauter Faulheit!«

»Faul ist er nicht, der Vater, Blut husten tut er.«

»Ja freilich! Das könnt' ein anderer auch sagen, wenn er nicht arbeiten will. Und herumliegen in der Sonn', bis er Maden ansetzt über und über. Was Vorstand! Bei der Schüssel ist er Vorstand. Und verdienen sollen ihm die Brocken andere Leut'! Der Dodel (Tropf)! Den werd' ich mir noch einmal vergunnen, deinen Vater, wenn er uns in die Einleg' kommt mit dem Bettelsack! Der Taderling, dem will ich das Bluthusten schon ausziehen, darauf könnt's euch verlassen! – Soll halt die Mutter an den Pflug!«

»Hat's eh schon versucht,« sagte das Bübel, »aber sie kann ihn nicht derziehen.«

[314] »Versteht sich! Das zernichte Zeugl nicht derziehen können! So ein Trum Weibsbild her! Soll sich halt das Kinderwerk abtun. Alle Jahr' kindern, das kann sie, aber die Arbeit sollen ihnen andere Leut' richten. Greif' du was an, Fratz! Gescheiter, wie alleweil in die Bücheln gucken, wo eh lauter Spitzbübereien drinnen stehen. Taugenichts, verdächtiger! Mein solltst du sein! Alle Tag' siebenmal unters Knie und karabatschen. Ausstampern einmal das ganze Waldbauernnest, nachher werden's schon ziehen können. G'lump, faules!«

Das hat sich vor Zeiten der kleine Waldbauernbub sagen lassen müssen von der Großbergerin, zu der er geschickt worden war, auf daß er bitte um ein Pferd. An anderen Berghängen grünten die Felder schon, beim Waldbauern lag der Acker noch ungebrochen, der Pflug stand bereits am Rain und hatte seine Scharre in den Rasen gewühlt, ihn weiter zu ziehen waren sie nicht imstande gewesen. Krankheiten bei Menschen und Vieh und anderes Ungemach hatten den Winter über gehaust bei diesen Leuten und sie in allem zurückgeworfen, so daß sie jetzt Nachbarshilfe ansprechen mußten.

Als der Knabe nun so schneidig abgefertigt war, watschelte er in seinem unten zerfaserten grauen Leinwandhöslein wegshin. Er war soweit ganz gleichmütig geblieben. Derlei Vorhaltungen war er schon gewohnt. Anfangs, als sie über den Vater oder gar über die Mutter so herfielen – das hat weh getan. Jetzt erschien es ihm fast selbstverständlich. Wurden doch auch die anderen armen Leute so verschimpft, wenn sie bitten kamen. Die Kohlenbrennerwaberl war die Fraßwaberl genannt, weil sie von dem, was ihr zum Almosen vorgesetzt wurde, nie [315] auch nur den geringsten Rest in der Schüssel ließ. Der alte Schwammnantel wurde verspottet und gemieden, weil er »Unfrutt« im Gewand hatte; denn niemand kümmerte sich um die Reinlichkeit des siechen Alten. Und erst die Holzknechtin Mariandel! Als die plötzlich mit einem kleinen Kind dahergekommen, waren alle tugendsamen Weiber der Gegend so grenzenlos empört, daß man ihr das schwarze Haar »schippelweis« ausreißen wollte, weil es diese Schlange geheim hielt – von wem. Sie mußte heilig schwören, nie mehr mit einem kleinen Kinde zu erscheinen und hielt den Schwur. Im nächsten Jahre kam sie nicht mit einem, sondern mit Drillingen. Da lachte sie sich vorweg den Hals voll über die schönen Namen, die sie bekommen würde. Die bekam sie auch, und dazu Windeln und Milch von den entsetzten Nachbarinnen.

Es geht überall so. Die Armen können sich nicht verteidigen, weil ihre Stimmen heiserer sind, als die der Wohlhabenden und Festgesessenen. Und wo doch einmal so ein schriller Laut hervorgellt, da kann's Prügel setzen, und diese Beweisgründe haben noch zu aller Zeit jeden Einwand niedergeschlagen. Auf solche Weise werden die vergewaltigten Leute ungut und ungeschickt, sie gewöhnen sich das überstürzte Reden an, denn auf eine geduldige Zuhörerschaft haben sie nicht zu rechnen. Sie müssen mit kurzen Worten viel zu sagen trachten und reden sich bei der Aufregung manchmal in eine große Dummheit hinein. Entweder sie sind eingeschüchtert, sagen gar nichts und geben also scheinbar eine Schuld zu, die sie nicht haben, oder sie schreien eine schauderhafte Beleidigung heraus, die dem Gegner erst recht das Heft in die Hand gibt. So nehmen sich die armen Leute wirklich zumeist ganz [316] dumm aus und glauben es am Ende selbst, daß sie's sind und glauben – verzagt geworden – noch mehr. Sie finden es in Ordnung, daß man roh und rücksichtslos auf ihnen herumtritt, kommen nur selten zum Nachdenken über das ihnen widerfahrene Unrecht, verstumpfen und versumpfen.

Im Waldbauernbübel war von der wüsten Rede der dicken Großbergerin nichts haften geblieben, als der Sinn: Das Roß ist nicht zu haben! – Er watschelte also mit hängendem Kopf durch den Krautgarten hinaus. Da schrie sie ihm plötzlich nach: »Saubub! Ob du nicht warten kannst, bis es ausgeredet ist. Kunnt dein Vater auch einen gescheiteren Boten schicken, heißt das, wenn das ganze Waldbauernhaus nicht voller Dodeln wär'. Stehn bleib', hab' ich gesagt. Heut' hat's Roß nit Zeit. Morgen wird's der Knecht hinüberführen und euch den Dreck anbauen.«

Die gute Großbergerin! Das Bübel war voller Rührung. »Ein bissel scharf ist sie gewesen,« berichtet er nachher daheim, »aber das Roß kommt morgen mitsamt dem Knecht.«

Der Großberger Pferdeknecht war ein zugereister »Krobat« und seine grobe Rede holperte, als ob sie über lauter Steinhaufen gehen müßte. Er war ein unsauberer Gesell und hatte auch schon Anstände bei dem Richter gehabt. Na, dieser Knecht behandelte den Waldbauern großartig. Der Waldbauer war zwar seit zwei Jahren gewählter Gemeindevorstand, aber das respektierte der Knecht nicht, wie es eigentlich niemand respektierte im ganzen Gau. Gleichwohl kamen sie zu ihm, wenn irgend etwas außer der Regel war. Dieser Gemeindevorstand hatte bei den Amtshandlungen verhältnismäßig nur wenige Torheiten gesprochen, er redete ganz anständige Klugheiten, aber [317] zu leise sagte er sie. Und eine leise gesprochene Klugheit nimmt sich dümmer aus, als eine mit mächtigem Brustton hervorgebrachte Dummheit. Zwar nicht allemal. – Wir wollen jetzt den Pferdeknecht voran lassen. Der hatte gehört, wie seine Großbergerin von den Waldbauernleuten sprach, er behandelte diese also teils mit zerschmetternder Derbheit, teils mit sprachloser Verachtung. Den kränklichen Waldbauern, der unsicher, blaß und demütig den Pflug an den Hörnern führte, nannte er abwechselnd Lalli, Dalgerd, Motzer, Locherl, Britsch und Dodel. – Die Waldbäuerin versuchte es, einen besseren Humor aufzupäppeln und schickte den Zwillingstopf aufs Feld; in dem einen Teil war feister Sterz, in dem anderen Rahmmilch. Der Bub trug das doppelte Ding am Henkel; fast feierlich trottete er damit einher, in dem Glauben, er trüge eine große Versöhnung mit sich.

Das schickt die Mutter dem Fuhrmann für Vormittag!« Mit solcher Anrede überreichte er den Zwillingstopf.

Der Knecht packte ihn heftig an und rief: »Nau, was wird denn das wieder für ein Fressen sein!« Dann roch er und stellte das Essen vors Pferd hin: »Vielleicht weißt du was damit anzufangen, Brauner. Ich nicht.«

Das Pferd schnupperte dran und stieß mit der Schnauze das Geschirr um, Sterz und Milch lagen im Grase.

Der Waldbauer war ob solcher Ablehnung nicht ermutigt, aber er schwieg. Er bedurfte ja des Fuhrwerks, und ein einziges Wort hätte ihn drum bringen können. Langsam und schwerfällig leitete er den Pflug; er war erschöpft. Es tat ihm leid um das verschüttete Essen.

[318] Der Knecht fuhr ihn an: »Wieviel Knödeln hast denn heut' wieder im Bauch, Dodel, daß du dich nicht rühren kannst?«

Als der Waldbauer friedfertig antwortete, daß er des Morgens nur ein paar Löffel voll Topfensuppe gegessen hätte, gröhlte der Knecht auf und rief: »Recht geschieht dir, alter Dürrmagler, wenn du hin wirst. Wer sich von anderen Leuten das Brot anbauen lassen muß, um den ist's kein Schaden. Verdammtes G'lump übereinander!« Dem Pferde gab er mit dem Peitschenstecken einen Schlag, daß es erschreckt voransprang und der Waldbauer bei dem plötzlichen Ruck stolpernd fast auf das Gesicht gefallen wäre. Der Knecht war ärgerlich. Ihm tat's jetzt leid um Sterz und Milch. Und den Zorn darüber, daß er das Essen verschüttet, wollte er an anderen auslassen. Als hernach die Raststunde kam, sagte er zum Waldbauern: »Gib aufs Roß achting, alter Locherl!« und ging in die Schlucht hinab. Der Waldbauer wischte sich mit dem Ärmling den Schweiß von der Stirn und sagte für sich: »Eine traurige Sach', wenn der Mensch arm ist.« Der Knabe, der da war, um die schlechtgebrochenen Furchen mit einer Haue zu zerhacken, hörte es, und da hub sein Vater an so sehr ihn zu erbarmen, daß er in einem grellen Schrei ausweinte.

Als der Knecht von der Schlucht zurückkam, hatte er etwas bei sich, das in ein blaues Sacktuch gewickelt war.

»Dein Furchenzerhacken ist für die Katz!« fuhr er den Knaben an, »geh', Nixnutz, trag' Stauden zusammen und mach' Feuer. Eure Mehlpampsen zu Mittag werden ja doch wieder nicht zum Fressen sein. Zu diesen lausigen Leuten muß man selber sein Essen mitbringen, will man [319] nicht verhungern. Eine schundige Wirtschaft, meiner Seel'!«

Als am Rain das Feuer knisterte, torkte der Knecht hin, häufte Glut und warf ein großes Stück Rohfleisch hinein. Wie prächtig es gebraten wurde, weiß man nicht; raucheln tat es, der Knecht aber nahm das Stück in die Faust und biß drein. Während des Kauens fluchte und schimpfte er unaufhörlich darüber, daß einer bei diesem »G'fröttbauern« schon einmal gar nichts Ordentliches zu essen bekäme. »So, da hast auch was!« mit diesem Worte warf er dem Waldbauern die Knochen vor.

Vom Waldhause her schrillte ein Pfiff. Die Bäuerin rief herab, der Vater sollt' heimkommen, es wär' jemand da, der was Notwendiges zu reden habe mit dem Vorstand.

So war der Bub nun ganz dem schrecklichen Knecht überantwortet. Er sollte den Pflug führen und wurde von dem holpernden Ungetüm so mächtig hin und her geschleudert, daß der Fuhrmann auflachte: »Nichtige Kochschneck, schau, daß du weiter kommst!« Er packte den Kleinen an den Arm und warf ihn auf die dampfenden Furchen hin.

Vom Hause her wurde das zweitemal gepfiffen. Der Knecht solle ausspannen und hinauskommen.

»Eßt ihr eure Talken selber!« gab der Knecht zur Antwort.

Nein, nicht zur Mahlzeit wäre es. Er solle nur hinauskommen.

Das verblüffte den Knecht ein wenig und er tat, als wolle er das Pferd ausspannen und gegen seinen Großbauernhof treiben. Nun kamen sie aber schon herab, der Nachbar Grieslacher und sein Bruder, der Jokel, und [320] zwei andere Männer und der Waldbauer. Dieser Waldbauer war aber jetzt nicht mehr der Dalkerd, auch nicht der Locherl, und schon gar nicht der Dodel, sondern der Gemeindevorstand. Er war so sanftmütig wie vorher und sagte zum Knecht: »Stephan, jetzt wirst du müssen Feierabend machen.«

Dann setzte er sich auf den Pfluggründel, die anderen standen ringsherum, der Grieslacher und sein Bruder hatten den Knecht zwischen sich.

Der Waldbauer streifte sich die Erdkrumen von den Schuhen, er war verlegen.

»So heb' an, Vorstand!« drängte der Nachbar.

Der Waldbauer wendete sich gegen den Knecht und sagte: »Du, ich muß dich um was fragen, Stephan. Gelt, du gibst mir gottsaufrichtig Antwort?«

Dem Knecht wurde jetzt ungleich. Das war eine höchst befremdliche Feierlichkeit. Er tat, als wollte er anfangen zu schimpfen, denn seine Schweigsamkeit kam ihm selber verdächtig vor.

»Sag' uns, Stephan: In der Philipp- und Jakobinacht bist du wohl daheim gewesen in deinem Bett?«

»Warum soll ich nicht daheim gewesen sein?«

»Ich hab' nur gefragt.«

»Wo soll ich denn gewesen sein bei der Nacht, als daheim!«

»Weißt du es gewiß?« fragte der Waldbauer. »Denke nach. In der Philipp- und Jakobinacht. Das ist die Nacht gewesen am vorigen Samstag bis auf den Sonntag.«

»Sakra, was hat's denn? Daheim bin ich gewesen und geschlafen hab' ich die ganze Nacht.«

[321] »Sie ganze Nacht? Sag' es noch einmal, aber bedenk's vorher. Ich laß dir Zeit dazu.«

»Brauch deine Zeit nicht. Geschlafen hab' ich die ganze Nacht.«

»Sie sagen aber, du wärst in derselbigen Nacht auf der Puchebene beim Maibaumsetzen gesehen worden!«

»Wen geht's was an!« fuhr der Knecht jetzt derb drein, »das Maibaumsetzen ist nichts Schlechtes.«

»Das meine ich wohl auch,« drauf der Waldbauer, »und desweg möcht' ich nur wissen, warum du so fest gesagt hast, daheim wärst du in derselbigen Nacht gewesen und geschlafen hättest du die ganze Nacht.«

Der Knecht hub an, aus sich herauszugehen. »Was habt's denn mit mir? Ich laß mich nicht ausfragen wie einen Spitzbuben, von dir nicht, alter Dodel!«

»Oho!« riefen die Männer. »Vergiß nicht, vor wem du stehst.«

»Was ist denn Schlechtes geschehen beim Maibaumsetzen, he?«

»Gewiß nicht, Stephan, vom Maibaumsetzen weiß kein Mensch nichts Schlechtes,« sagte der Waldbauer immer in gutmütiger Weise. »Aber wenn du uns schon die Philipp- und Jakobinacht verleugnet hast, wo nichts geschehen ist, so wirst uns die Nacht vom Montag auf den Erchtag noch gewisser verleugnen, wo was geschehen ist.«

Der kleine Waldbauernbub betrachtete den Knecht und könnte heute noch den Ruck beschreiben, der jetzt auf einmal den ganzen Kerl erschüttert hat. Aber nur einen Augenblick hatte ihn die unverhoffte Wendung so gestoßen, dann stand er wieder starr wie ein Holzstrunk zwischen den zwei Männern.

[322] »Da ist der Grieslacher zu mir gekommen,« fuhr der Waldbauer fort, »und hat erzählt, daß ihm in der Montagsnacht seine beste Sau aus dem Stall gestohlen worden ist.«

Der Knecht hub an zu erstaunen, wer denn so sumpflackenschlecht sein könne und dem Grieslacher eine Sau stehlen! Daß es doch gar so schlechte Leut' geben könne auf der Welt!

Sagte der Grieslacher: »Tu, Stephan, möchtest nicht so gut sein und uns dein Taschenmesser ein bissel anschauen lassen? Das mit der Hirschhornschale, weißt eh.«

»Mein Messer, warum denn nicht?« Der Knecht griff in die Taschen, fand es aber nicht gleich. »Ist ja wohl nichts dran, ist ein alter Scherben.«

»Schau, der Vorstand möcht' just einmal so ein hirschhornschalenes Messer sehen, 's hat sonst keiner eins.«

Der Knecht suchte sehr angelegen das Messer. »Wo es nur steckt! Sollt' ich den Scherben daheim vergessen haben? Ist eh ein rechter Scherben. Wenn ich ihn gar verloren hätt'? Liegt auch nichts dran.«

»Sollt's vielleicht das sein?« fragte der Grieslacher und hielt in der flachen Hand ein Taschenmesser mit Hirschhornschale hin.

»Kümmere mich nicht drum,« rief der Knecht und hieb mit seiner Hand in die leere Luft hinein.

»Nicht so, Stephan, was dein ist, bleibt dein, und um seine Sach' muß sich der Mensch rühren. Hab's ja gleich gesagt, das ist dem Großberger Knecht sein Messer, wie ich's gefunden hab' im Schachen, wo die gestohlene Sau geschlachtet worden ist. Siehst eh noch das Blut dran. Abwaschen tun wir's derweil nicht.«

[323] »Das dumme Messer da hat mein Lebtag nie mein gehört »' versicherte der Knecht.

Hierauf ging ein schnelles Hin- und Widerreden an, sogar der langsame Waldbauer entfachte ein Kreuzfeuer.

»Knecht Stephan,« sagte er, »du hast dir dort – die Glut glost eh noch – vorhin ein Schweinernes gebraten.«

Der Knecht: »Vergunnst mir's etwan nicht, das bissel Kälberne?«

Der Gemeindevorstand: »Gunnen, wohl, wohl, hast mich ja mithalten lassen wollen. Schau, da liegt noch so ein Knöchel. Aber Kalbsbein ist das keins.«

Ber Knecht: »Was weiß ich! Bei so einem Hungerbauern frißt man; was man zu schenken kriegt.«

Ber Vorstand: »Zu schenken, sagst? Stephan, du hast dem Grieslacher die beste Sau mitsamt den drei Ferkeln gestohlen.«

Der Knecht: »Das ist derlogen! Ferkeln nicht!«

Der Vorstand: »Also nur die Sau. – Nachher wären wir so weit.«

Der Knecht setzte zu einem Sprunge an, da hielten sie ihn schon fest.

»Tut's ihn halt zum Bezirksgericht treiben,« sagte der Vorstand.

»Treiben!« schnob der Knecht wütend auf, »treiben wie ein Vieh! Waldbauer, mir scheint, du weißt es nicht, daß man auch einen Angeklagten nicht schimpfen darf, sonst kannst kurios eingehen, mein Lieber!«

»Also nicht treiben, nur führen. Mußt schon verzeihen, ich kenn' mich bei den Spitzbubenbräuchen nicht so aus.«

[324] Wie der Knecht vorhin ihn selbst mit den niedrigsten Schimpfwörtern überhäuft hatte, an das erinnerte er gar nicht. War auch was anderes, Bauer. Das Kriminalgesetz sagt für diesen Fall nur, daß der Delinquent nicht geschimpft werden darf. Ein armer Notbauer ist doch kein Delinquent!

Also, der Großberger Knecht ist fortgeführt worden. Und war es wieder ein Beispiel, wie der Waldbauer überall Malheur gehabt hat. Lange hatte er in seiner Bedrängung keinen Knecht bekommen können zum Anbauen in diesem Notjahr, und als er endlich doch einen gefunden, mußte er ihn vom Acker weg einsperren lassen.

Was die schneidige Großbergerin über eine solche Undankbarkeit gesagt, das dürfte sich der Leser reimen können. Als das Richteramt vorüber, war der Vorstand wieder der notige Waldbauer, der erst recht alles einstecken mußte, wie es sich für arme Leute geziemt. »Meinetwegen,« sagte er gerne, »das macht mich nicht besser und nicht schlechter. Ein solches Krepierl, das das Schimpfen nimmer aushalten kann, bin ich halt doch nicht.«

Das Kreuz an der Stiegel
[325] Das Kreuz an der Stiegel.

Mancher Mensch weiß nicht, was er alles im Kopfe hat. Es steht in irgendeinem Winkel ein Trühelein mit Großvaters oder Urgroßvaters Hausrat. Es ist, als ob wir das Gehirn des Großvaters in unserem Kopfe hätten, nur daß es sorgfältig gewaschen und ausgebügelt worden. Trotzdem ist hie und da ein ganz blasses Mal, ein ganz seines Fältchen zurückgeblieben von den Eindrücken längst vergangener Zeiten. Es ist wunderlich beschaffen mit dem Inhalte eines Menschenhauptes.

Ich erzähle aus eigenem Erinnern. Wahr wird's wohl sein, denn wie könnte ich's aus dem Kopfe herausschreiben, wenn's nicht drinnen wäre!

In den ersten Jahren meines Lebens bin ich natürlich viel auf dem grünen Anger, wo die Maßliebchen stehen, herumgesprungen oder habe zu den Fenstern des Vaterhauses hinausgeguckt. Die starrenden Fichtenbäume und die weiten Berge, die ringsum standen, habe ich zwar nicht gesehen, wohl aber die Weisen und die Finken, die auf den Wipfeln waren und die weißen Kühe und die schwarzen Schafe, die an den Hängen herumstiegen. Dann habe ich auch noch gesehen eine alte graubemooste Torsäule, die drüben am Angertor stand, durch das der Weg ins Tal führte. Diese Torsäule stand etwas schief, war schon so verwittert, daß der Kopf nur mehr in stumpfen Splittern aufragte. Wenn ich sie sah, mußte ich immer an die[326] Ahnel (meines Vaters Mutter) denken oder an einen heißen Sommernachmittag mit aufsteigenden Wetterwolken. Warum gerade diese Vorstellungen damit verbunden waren, weiß ich nicht. Dann sah ich am oberen Rande des Angers, neben dem Zaun das Bildstöckel, wir nannten es »das Kreuz«, weil im Holzkästlein an der Säule das Bild des gekreuzigten Heilandes war. Letzteres eine bunte Glasmalerei: auf kanarigelbem Grunde das rote Kreuz, an beiden Seiten oben Rosen und am unteren Rande die Stadt Jerusalem. Für mich hatte dieses Bildnis schon auch deshalb einen geheimnisvollen Reiz, weil mein Kinderleiblein nicht hinausragte, um es ordentlich betrachten zu können; und als ich nach und nach so hoch emporgewachsen war, daß meine Nase über die untere Kante des Holzkästleins ging, da war das Bild in Scherben, das rückwärtige Holz starrte hervor, nur in den Rahmenecken stak noch manches Stück Glas mit einem Kreuzarm oder einem roten Zwiebelturm der Jerusalemstadt.

Und endlich sah ich in jenen fernen Tagen ein zweites, großes Kreuzbild. Dasselbe stand am unteren Zaunrande des Hausangers, neben der »Stiegel«, wo man vermittelst eines durchgezogenen Brettes über den Zaun steigen konnte, wenn man das unweit stehende schwere und widerspenstige Tor nicht ausmachen wollte. Jeder, der des Steiges kam und über die Stiegel stieg, schlug vor dem großen Holzkreuz ein kleines Kreuz über sein Gesicht, wie es der Brauch war bei mir daheim. Vom Stubenfenster aus war das Kreuz sehr gut zu sehen, das unten, etwa zehn Klafter vom Hause entfernt, an der Zaunstiegel stand. Es war so hoch wie etwa zwei Männer [327] übereinander, hatte ein zweiflügeliges Bretterdach und rückwärts eine Verschalung, die bis zur Mitte der Säule herabging und die mich ihrer Form halber immer an den »Meßrock« eines Priesters erinnerte. Ost bin ich vor dieser Bildsäule gestanden. Auf dem Kreuze war ein fast lebensgroßer weißer Christus, über dessen Haupt die nach einer Seite ausgezackte Tafel mit der Inschrift I. N. R. I., »und an dessen Fuß ein schwerer roter Eisennagel, der an einem Kettlein hing. Der Christus hatte das Haupt nach der rechten Seite gesenkt, er schloß halb die Augen und seine Gesichtszüge mit den dick hingemalten Augenbrauen, mit dem schwarzen Kinnbart, der sich kipfelförmig über die Mundwinkel hinaufschlang, erinnerten mich an meinen Taufpater Patritz Königshofer, der im Graben unten sein Haus hatte und auch so ähnlich aussah.

Das Kreuz hatte vor sich eine Betbank und stand so, daß es dem Hause fast abgewendet war und sich gegen den Torweg hin kehrte; vom Stubenfenster aus sah man nur die hervorstehenden Knie des Heilandes. –

Dieses Kreuz nun vor unserem Hause hatte ich in meiner Kindheit gerne angeschaut. Gewöhnlich stand es im silbernen Schimmer der Morgensonne, auf dem Anger ringsum der Tau und die Blümlein, und voller Vogelsang war die Welt.

Etwa im elften oder zwölften Lebensjahre mochte es gewesen sein, daß ich meinen Vater fragte, warum er denn das große Kreuz habe niederreißen lassen, das unten an der Zaunstiegel gestanden. Der Vater antwortete, er wisse nicht, was für ein Kreuz ich meine, wenn nicht das Bildstöckl, welches hinter dem Hause am oberen Angerzaun [328] stehe. Das sehe man ja, sagte ich, aber jenes Kreuz täte ich meinen, welches vor dem Hause am unteren Angerzaun gestanden mit dem großen geschnitzten Christus und mit dem eisernen Nagel am Kettlein! Der Vater schüttelte das Haupt – was ich denn da zusammenrede, am unteren Angerzaun sei sein Lebtag nie ein Kreuz gestanden. Hierauf nahm ich ihn an der Hand, führte ihn hinab zur Stiegel und zeigte neben dem Zaune genau den Platz, wo das Kreuz gewesen ist. Jetzt wuchs wildes Gekräute dort, auch Distelwerk darunter. Mein Vater wiederholte, daß seines Gedenkens an dieser Stelle niemals eine Kreuzsäule gestanden, ja daß auch sein Vater von einer solchen nie gesprochen hätte. Darauf gab ich mich zufrieden und dachte: So wird's halt gewesen sein, als ich das frühere Mal auf der Welt gewesen bin.

Aus dem Kopfe ist's mir aber nicht gegangen. So oft ich als Ochsenführer, als Hirt oder sonst wie an der Stelle vorbeikam, dachte ich aus Kreuz, und heute noch sehe ich es in allen seinen Einzelheiten so klar und deutlich vor mir, wie man in der Erinnerung nur etwas sehen kann. Mein Vaterhaus, die Bäume davor, der Brunnentrog, die heute dort noch sind, sie stehen nicht lebhafter vor mir als das Kreuz an der Stiegel, das gar nie vorhanden gewesen sein soll. – Damals hatte ich dann das innere Gesicht allmählich aus den Augen verloren. Ich wuchs auf, dem Begehren, dem Streiten des Lebens zu. Rößlein gibt es zum Reiten und Dirnlein zum Necken, da hat der Knab' nicht Zeit, aus Kreuz zu denken. Zudem war ein ganz anderes Kreuz aufgestanden. Wir hatten abgehaust, und eines Tages mußten, wie noch erzählt werden soll, Vater und Mutter fort aus dem Heimatshause. [329] Ich war zur Zeit daheim auf Ferien. Die Werkzeuge, die Axt und das Spinnrad wurden zusammengepackt, die alten Kästen wurden aus ihren Winkeln gerückt, wo sie länger als ein Jahrhundert gestanden, um sie nun auf den Karren zu laden und ins Ausgedinghäusel hinabzuführen. Und als wir so den großen braunen Kasten mit den altväterischen Gesimsverzierungen von der Wand rückten und dabei hinten ein Geflocke von Spinnweben aufdeckten, da bemerkte der Vater zwei Brettlein, die zwischen Wand und Kasten aneinandergelehnt waren. Wir taten sie auseinander und da fand sich, daß auf der Innenseite des einen mit Kohlen etwas geschrieben stand. Die Buchstaben waren unbeholfen, aber sorgfältig gezogen und als ich den Staub weggeblasen, stand da deutlich zu lesen: »Das Geld ist beim unteren Kreutz vergraben.«

»Was für ein Geld?« war der erste Ausruf des Vaters. Niemand wußte etwas davon. Sollte das Brettel aus alten Zeiten stammen? Vom Ahnen ging immer die Mär, daß er reich gewesen, soll ja nach seinem Tode auch einmal altes Silbergelb gefunden worden sein. Aber nicht beim unteren Kreuz. Wo ist denn das? Es gibt kein unteres Kreuz! »Gelb vergraben! Von wem! Für wen? Der Ähndl Ignaz (des Vaters Vater) hat gar nicht schreiben können. Das wird ein anderer gewesen sein, ein Leutfopper.« So weinte mein Vater und wollte das Brettlein wieder in den Winkel werfen. Ich nahm es ihm aus der Hand und war der festen Meinung, daß die hölzerne Urkunde etwas zu bedeuten haben müsse. Beim unteren Kreuz sei gewiß ein Schatz vergraben und das untere Kreuz sei gewiß dort gestanden, wo ich es in Kindeszeiten so oft gesehen.

[330] Den alten Kasten ließen wir stehen querüber in der Kammer, wie wir ihn eben zum Aufladen gerückt hatten; die Ochsen, die schon draußen am Karren standen, ließ der Vater wieder ausspannen. – Geld vergraben! Wenn wir es f Biben! Wenn wir damit die Schulden bezahlen und nachher wieder auf unserem lieben alten Hofe bleiben könnten! Ganz heiß wurde uns unter dem Brustfleck. – Ich nahm den Spaten vom Karren und sagte zum Vater, er solle desgleichen tun und mit mir kommen. So langte er nach der Schaufel und wir gingen über den Anger hinab gegen die Zaunstiegel.

»Wie wirst denn du das Kreuz finden – wo nie eins gestanden ist?« murmelte mein Vater.

Ich hub an, neben der Stiegel das Gestrüppe wegzuhauen und in den Boden zu graben. Die Erde war schwarz, ich stieß auf moderiges Holz. »Da schaut her,« sagte ich zum Vater, »der Kreuzstock ist noch da. Man kennt's, es ist rotes Lärchenholz.«

Er schüttelte den Kopf. Es war tatsächlich der Rest einer eingetriebenen viereckigen Säule.

»Jetzt werden wir auch den Schatz bald haben,« sagte ich, spuckte in die Hände und grub emsig weiter. Der Vater schaufelte mit großer Rüstigkeit die Erde seitab. Die Mutter schwankte auf ihrem Stocke vom Hause zur Stiegel herab und wieder zurück, und wieder herab und sah, wie das Loch immer breiter und tiefer wurde. »Schwitzen tut ihr,« sprach sie dann, »soviel schwitzen tut ihr.«

Vom Nachbarsweg herüber humpelte unter seinem Rückkorbe ein alter abgehauster Bauer, der Zirl genannt. Im Korbe hatte er sein Bett, mit dem ging er von Haus [331] zu Haus, und sammelte milde Gaben. Und wo es Abend wurde, dort blieb er, richtete in der Scheune oder im Holzschuppen sein Bett auf und schlief darin wie ein König. Aber wie einer, der im Reiche Frieden hat. Diesem Alten humpelte die Mutter jetzt entgegen und fragte ihn, ob er heute seinen Hunger noch im Magen habe, denn das war sonst des alten Zirls Sprüchlein: er habe noch den gestrigen Hunger im Magen. Diesmal war der Alte verblüfft über die Frage und sagte mit einiger Bösartigkeit: »Was fragst meinem Hunger nach, Waldbäuerin, wenn du ihn doch nicht füttern kannst. Hast ja selber nichts. Gehst ja selber just vom Haus wie die Dirn vom Tanz. Jetzt können wir miteinander gehen.«

Ein hoffnungsreiches Herz ist stark, daher entgegnete ihm die Mutter ganz gelassen: »So schlimm wird's etwa doch nicht sein, wenn's Gottes Willen ist. Vielleicht kann ich auch deinem Weib wieder einmal ein Bröckel schicken. Wie geht's ihr denn?«

»Dank dir Gott, sie hat alleweil guten Appetit.«

»Gesegne Gott, sie wird schon was kriegen.«

»Aber Bäuerin, ich höre doch, daß ihr absiedelt.«

»Muß sich erst weisen. Es kommt immer einmal eine Veränderung. Ein Eiersüppel, wenn du magst!«

»Ein Eiersüppel mag ich schon,« meinte der Alte. »Jeßtl, Jeßtl, wenn ich nur meinen Depp bei mir hätt', der tut auch gerne Eiersüppeln essen.«

»Tust ihn halt ein andersmal mitbringen, deinen Buben,« sagte meine Mutter. Denn der Bub war ein armes Taubstummerl. Und so hatte sie die ganze Zirlfamilie zu sich ins Haus geladen, bevor sie wußte, ob wir selber drinnen bleiben werden.

[332] Mittlerweile waren wir mit unserem Schatzgraben ziemlich tief gekommen. Nun lehnte ich den Spaten an den Zaun und ging ins Haus, um noch einmal genau zu lesen, was auf dem Brettel stand. »Das Geld ist beim unteren Kreutz vergraben.« – Es mußte doch stimmen. Ich ging wieder hinab, um weiter zu arbeiten. Da rief mir der Vater schon entgegen: »Du geh' her! Geschwind geh' her! Da drinnen, schau einmal!«

Er zeigte in das Loch. Da drinnen war, noch halb mit Erde bedeckt, etwas, wie die bauchige Wand eines eisernen Topfes. Rasch faßte ich den Spaten, Gott, wie ist das Arbeiten lustig, wenn man den Topf schon sieht! Endlich war das Ding bloßgelegt. Es war ein großer Eisentopf, aber der Rost hatte stellenweise Löcher hineingefressen. Darinnen war nichts als Erde und der schlappige Fetzen eines härenen Stoffes, der auseinanderfiel, als wir ihn anfaßten.

Lange haben wir noch herumgewühlt in der Erde, haben den Topf herausgehoben, ihn beguckt von allen Seiten. Dann hat mich der Vater mit länglichem Gesicht angeschaut und ganz leise gesagt: »Die Ochsen können wir wieder einspannen.«

Als die Mutter von dem Ausgang unserer Schatzgräberei gehört, sprach sie zum alten Zirl: »Nur sauber ausessen, das Eiersüppel. Wird wohl eh das letztemal sein, daß ich dir was kann zukommen lassen.«

Dann machte sich der Alte mit vieler Umständlichkeit auf den Weg. Er kann zum Aufladen seines Bettelkorbes eine halbe Stunde brauchen, wer sagt ihm was dagegen? Er in sein eigener Herr. Als der Zirl dann zur Stiegel hinabkam und die Grube sah, blieb er stehen, schaute eine [333] Weile hinein und rief mit seiner kreischenden Stimme zum Karren herauf, wo wir gerade den Kasten festbanden: »Was willst denn da einsetzen, Waldbauer? Leicht wieder ein Kreuz?«

Gingen wir etliche Schritte gegen ihn hinab.

»Su redest auch von einem Kreuz?« fragte ihn der Vater.

»Ja,« sagte der Alte, »weil da einmal ein Kreuz gestanden ist. Eh vor Zeiten einmal. Hab's selber sehen liegen, wie es der Wettersturm hat umgeworfen. Du wirst selm noch nicht auf der Welt gewesen sein, Lenzel.«

Meine Eltern sind abgesiedelt, vom großen Bauernhof ins kümmerliche Häusel. über das vergrabene Geld haben wir noch Mutmaßungen augestellt, aber diese waren so wenig erträglich, als früher das Graben gewesen. So ließen wir es endlich auch sein. Länger hat uns das Kreuz beschäftigt; das noch vor der Geburt meines Vaters umgefallen war und das ich in meiner Kindheit im Morgensonnenscheine so oft habe stehen gesehen.

Wie soll ich das nach unserem grobkörnigen Erkennen anders sagen, als daß das Kreuz mit allen seinen Einzelheiten zufällig im Gehirn drinnen noch gesteckt ist, das ich von meinem Großvater geerbt habe. – Und wenn es sich mit diesem Kreuze an der Zaunstiegel so verhält, dann kann ich nicht gutstehen für anderes, was ich gesehen, gehört und erfahren. Es mag manches in unserem Kopfe sein, was nicht wir, sondern die Ahnen hineingetan haben.

[334] So leb' denn wohl, du stilles Haus!

Nun beginnt die Jugend in der Waldheimat allmählich zu verblassen und ich kann schon nicht mehr genau erkennen, was an den trauten Bildern, die noch dämmern, Wirklichkeit gewesen und was Gesicht. Eine Furche ist aber doch noch besonders vorhanden in meiner Erinnerung, eine vom Pfluge des Geschickes hart und tief gezogene Furche – auch über diese beginnt Gras zu wachsen. Heute zurückschauend wundere ich mich, daß es damals nicht noch mehr weh getan hat. Ich erinnere mich eigentlich an keinen Schmerz, nur an die derben Tatsachen, die damals eben wie etwas Selbstverständliches erlebt und ertragen worden waren. über alle schwanken Wege führte sicher die heilige Einfalt. Wenn man einen jener Tage ausruft, wie steht er fremd in der heutigen Welt! –

An diesem einen Tage war der Waldbauer wieder einmal reich gewesen. Auf freier, lustiger Berghöhe oben stand ja sein großer Hof, er stand mit den vielen Holzgebäuden, Haus, Ställen, Schuppen und Gerätehütten da wie ein kleines, enge aneinander geschobenes Alpendorf. Unten im Engtale, am Wiesenhang zwischen Fichtenschachen, stand das Ausgedinghäuslein. Das war das »Ruhstübel« des Waldbauern. Wenn einer alt geworden, den Hof dem Sohn übergeben hatte, so zog er sich in dieses [335] Häuschen zurück, das zwar mit einigem Feld- und Wiesengrund, mit Wald, Stall und Vieh auch ein kleiner Hof war, doch lange nicht so viele Sorgen machte, wie das große, mit seinen Grundstücken den ganzen Berg einhüllende Waldbauerngut, das oft mehr Ungut als Gut gewesen war. Gewöhnlich wurde das dem ältesten Sohn übergeben. War dieser kränklich oder gar einmal ein Krüppel, dann bekam den Hof ein jüngerer Sohn, und zwar der strammste und frischeste; nicht etwa, um ein starkes Geschlecht zu erzielen, sondern um den Burschen von der Militärpflicht freizumachen. Denn ein Grundbesitzer war zu jener Zeit der Wehrpflicht enthoben. Grund und Boden machte frei und eigenständig, während jetzt ein Mensch durch Grund und Boden sich gebunden fühlt und in dieser Wahnvorstellung Heim und Freiheit für Geld verkauft, lieber heute als morgen. Die Fremdlinge kommen, kaufen, kletten sich an und die Einheimischen werden mit ihren Kindern hinausgedrängt aus der Väter heiligem Bereich, oder sie bleiben als Hörige unter den neuen Besitzern. Das ist die Schuld, an der das alte Bauerntum gemeiniglich zugrunde geht. Der Waldbauer ging zwar auch zugrunde, aber nicht an dieser Schuld. Wir müssen uns jetzt an etliche Dinge erinnern, die in diesem Buche schon erzählt worden sind.

Heute also war er wieder einmal sehr reich gewesen. Freilich vorwiegend sorgenreich. Denn er hatte noch die beiden Güter, das große auf der Höhe und das kleine im Engtal zu versorgen. Sein ältester Sohn ging ja erst als halberwachsener Junge neben ihm her. In der Waldheimat sind die halberwachsenen Jungen, selbst wenn sie schon zwanzig Jahre alt wären, noch Kinder. Und ganz [336] kindisch freute ich mich, mit dem Vater hinabgehen zu dürfen zum »Gasthäusel«, wie wir das Ausgeding zu nennen pflegten. Jahrelang hatte der Vater einen alten Zimmermann als »Gast« darin wohnen lassen. Der war gestorben und so gingen wir denn manchmal vom Berge herab, um die kleine Wirtschaft zu versorgen und in dem Gasthäusel zu wohnen. Und das war's. Dieses Wohnen in der kleinen mürfelnden Stube mit den vielen Heiligenbildern im Tischwinkel war köstlich. Und dann das Wasser. Durch die steile Schlucht rauschte ein klares, kaltes Wässerlein herab, das sich vor dem Gasthäusel in einen großen Brunnentrog ergoß, um dann über weißen Sand flach weiter zu rinnen. Solch ein Wasser gab es oben im Hofe nicht. Was ließ sich an diesem Wasser alles machen! Die Rädchen tanzten, die Hämmerlein klopften und in einem eigens gehöhlten Tümpel war sogar eine lebendige Forelle eingesperrt. Mit nackten Händen und Füßen tappte ich in diesem Wasser herum und holte mir aus demselben allemal den prächtigsten Husten, auch Ohrenreißen, Halsweh, Zahnschmerz. Man konnte sich dieser ergiebigen Krankheitsfischerei auch nur hingeben hinter dem Rücken des Vaters, der im Stalle oder in der Scheune beschäftigt war; aber schon in der folgenden Nacht, wenn das Gewimmer anging, kam es an den »Tag«, daß wieder einmal »gewaschelt« worden war.

Doch ich wollte ja von dem Tage erzählen, da der Waldbauer wieder einmal reich gewesen.

Als gegen Abend mein Vater die Tür des Gasthäusels zuschloß, indem er ein Eisenstänglein, das eine bewegliche Zunge hatte, durch das runde Loch in die Wand steckte, mit diesem Schlüssel drinnen dem Holzriegel in [337] die Scharten griff und ihn vorschob, da sagte er: »Unser Herrgott wird's beschützen vor Feuer und Schelm. 's ist derweil alles rechtschaffen gut beieinander.«

Hernach sind wir durch den Waldsteig angestiegen, jeder mit einem vollgeschichteten Futterkorb am Rücken, denn solange unten auf der Wiese das Gras war und oben auf dem Berg die Herde, durfte man niemals »leer« hinausgehen. Dort drüben an der Lehne, zwischen jungem Fichtenanwuchs standen schöne alte Lärchen. Sie standen mit ihren hellgrünen Hauben hoch über alle anderen Bäume hinaus, so daß man sie bequem zählen konnte.

»Siehst du,« sagte mein Vater, »dort sind unsere Schuhe, die Lodenjoppen und das ganze Wintergewand. Das neue Stalldach ist auch dort.«

Das sollte sagen, daß er für den Erlös dieser Lärchen die Kleider anschaffen und das schadhafte Dach ausbessern lassen wolle.

»Ist das Leben-Christi-Buch auch dort?« fragte ich, dieweilen mir halb und halb versprochen war, auf dem Thomaskirchtag in Krieglach würde mir mein großer Wunsch erfüllt werden.

»Ja, Peter, wenn der Eisenbahner die Lärchen gut zahlt, nachher kriegst du auch dein Leben-Christi-Buch.«

Als wir hinauskamen, wo an steilen Lehnen die Felder lagen, stand mein Vater still und blickte wohlgefällig auf die weiten, goldgelben Flächen hin. Das Korn war gut geraten und stand in der Reise. »Morgen heben wir an zu schneiden. Ist wohl Zeit, daß uns der Gott Vater die volle Hand herabhält, dem letzten Mehlschaffel sieht man schon auf den Boden. Da werden wir uns einmal helfen können. In etlichen Tagen will ich den ersten Kornsack [338] in die Mühl' tragen.« Unsere Kornmühle, drei Gänge groß, stand unten im Engtale unweit dem Gasthäusel am gießenden Wasser. – Am Kartoffelacker, zu dem wir auf unserem Heimweg kamen, sahen wir ein Fleckchen aufgewühlter Erde. Mutter hatte die ersten Erdäpfel ausgegraben. Heute abends gibt's ihrer! Das war allemal ein Freudentag, wenn die ersten Erdäpfel im Topfe brodelten. Es hatte Winter gegeben im Waldlande, da Kartoffeln und Kohlkraut fast die einzigen Nahrungsmittel gewesen.

Wir redeten unterwegs wenig, aber keuchten um so mehr in der schwülen Abendluft. Sie war sehr schwül. Wenn die Kost, die wir in den Körben trugen, wenigstens unser, der Menschen, gewesen wäre!

Als wir gegen den Hof kamen, dunkelte es schon. Aus den Küchenfenstern schimmerte der Schein des Herdfeuers. Mein jüngerer Bruder trieb die Herde von der Weide heim. Es waren zwei Ochsen, zwei Kühe und ein Kalb.

»Wenn wir nur wieder zu einem Vieh kommen könnten!« sagte mein Vater. Unsere Ställe konnten leicht an dreißig Stück Rinder fassen und noch ungezählte Schafe, Schweine und Hühner. Aber in den letzten Jahren war es leer geworden. Mißwachs, Seuchen, Gläubiger!

Und dann war mein Vater manchmal ein guter Viehhändler gewesen. Den Ochsen hatte er gegen eine Kuh vertauscht – die gab Milch. Die Kuh gegen ein Kalb – das brauchte weniger Futter und Pflege. Das Kalb gegen ein Ferkel, bas konnte man schlachten und Schweinernes ist vortrefflich zu essen. Es war nicht gerade so wie bei jenem Hans im Glück, aber ähnlich. Mein Vater war nur [339] so lange ein kluger Hauswirt gewesen, als er Glück gehabt hatte. Als er's mit allerlei Mißgeschick zu tun bekam, suchte er für seine innere Zufriedenheit einen anderen Grundstein als den des Wohlstandes. Es war ihm gar nicht mehr viel daran gelegen; bis jedoch immer mehr der Mangel kam, die Bedrängnis, da fragte er: »Wieso denn? Ganz arm werden? Wieso denn?« – Seinem geruhigen Leben merkte man nicht viel an, daß etwas nicht richtig war.

Froh waren wir nach Hause gekommen, hatten unsere Körbe in die Krippen der Kühe geleert und hatten uns zu Tische gesetzt, um Erdäpfel zu essen. Aber die Schüssel war nur halb voll und die Mutter sagte: An den Erdäpfeln würde dies Jahr keine große Freude zu erleben sein, mehr als die Hälfte von denen, die sie zur Probe ausgegraben, seien krank. »Wär' nit schlecht!« antwortete der Vater, »dann müssen wir uns halt aus Kraut halten. Haben zum Glück einen weiten Fleck angebaut.«

»Kraut ist eh gut,« meinte der alte Knecht, unser einäugiger Simon, der mit seinem einzigen Auge immer mehr Gutes an der Welt sah, als andere mit zweien. »Kraut ist etwas Ausgezeichnetes, wenn die rechte Zuspeis' dazu kommt: Speckknödeln und Selchfleisch.«

Unser jüngerer Knecht, der Poldel, war in zweifelhaften Fällen immer witzig, der sagte nun, am besten sei das Kraut, wenn es Hirschfleisch geworden. Er spielte auf das nachbarliche Herrschaftswild an, das uns häufig den Krautgarten kahlgeäset hatte und das man füglich zu Wildbrat machen sollte. Dies Jahr stand im Krautgarten, der oben hinter dem Gehöfte lag, alles gut. Kein Wunder also, daß sich der Waldbauer bei den vielen Sachen an [340] diesem Tage reich vorkam. Aber nur an diesem Tage, am nächsten nicht mehr. –

Als die Nacht vorüber war; hatte der trübdämmernde Morgen keinen einzigen Bewohner des Waldbauernhauses im Bette gefunden. Sie lehnten so in den Winkeln umher. Die Weibsleute hätten noch gern geweint, aber es ging nicht mehr. Der Simon hatte sich eine Pfeife angezündet, aber sie schmeckte nicht. Die Mutter ging verloren umher und verstopfte die eingeschlagenen Fenster mit Lappen. Der Vater schritt ums Haus herum. Die Erde war besäet mit Dachsplittern. Auf den weiten Feldern lag das schwere Eis. Aus dem Engtale stieg langsam ein brauner, brenzeliger Rauch heraus. Als das die Mutter durch ein Fenster sah, rief sie gellend aus: »Das Gasthäusel ist auch hin!«

Ber Vater wußte anderes: »Das Gasthäusel steht, aber in die Mühl' hat's eingeschlagen. Raucht nur mehr die Brandstatt.«

Als es ganz licht geworden war und die Verwüstung offen dalag, sagte der Knecht Poldel: »So schön, jetzt ersparen wir uns die Arbeit.«

»Und das Essen,« setzte der Knecht Simon bei, dann versuchte er es wieder mit der Pfeife; sie begann zu schmecken.

Der Halterbub berichtete: »Das Kraut steht noch!«

Und das war merkwürdig. Wie der Hagel schon mitunter seine schmalen Streifen nimmt: so sehr vom Gehöfte abwärts alles vernichtet war, vom Hause aufwärts war wenig zu spüren; außer daß die Kohlköpfe ihre äußeren Blätter verloren hatten.

[341] Der Vater war den ganzen Tag wortlos herumgegangen, um nach schwerem Arbeitsjahre diese »Ernte« zu betrachten. Am Abende, als wir bei der Milchsuppe saßen, alles schweigsam und verdrossen, sagte er plötzlich mit frischer Stimme: »Verhungern werden wir nit. Wir haben noch die zwei Kühe, wir haben die Sau, wir haben die Erdäpfel und das Kraut. Wir fretten uns durch und nächst Jahr wird's wieder besser sein.«

Die Dienstboten machten dazu saure Gesichter und mochten sich denken, drüben in Fischbach und in Trabach hat's nicht gehagelt. Brauchen auch dort Leute, und müssen nicht erst aufs Besserwerden im nächsten Jahre warten. – Der Vater sagte: »Wie es jetzt ausschaut ums Haus herum, ich brauch' nötig Arbeitsleut'. Aber wer fortgehen will, aufhalten mag ich keinen.«

Der einäugige Simon stemmte den Beinlöffel auf den Tisch: »Ich bin im guten Jahr geblieben und bleib' auch im schlechten.« Und keines sagte etwas vom Fortgehen.

Als die Gläubiger in Fischbach, in Krieglach, in Langenwang gehört, dem Waldbauern hätte der Hagel alles niedergedroschen, trachteten sie nach ihrer Sache. Denn wenn der Hof auf die Gant kommt, hätten sie das Nachsehen. Soll auch im Steueramt viel schuldig sein. Einem schimpfenden Mehlhändler in Mitterdorf, der uns in früheren Mißjahren vor Hungersnot gerettet, hatte mein Vater nun mit dem Kalb den Mund gestopft, wie der Poldel sagte. Der Bader von Fischbach hatte zwei Männer gesandt, um das Paar Ochsen fortzutreiben. Da mußte der Waldbauer lachen. Die Armut ist stärker als der Reichtum, der Armut kann man nichts nehmen. Die [342] Ochsen gehörten nicht ihm, sondern einem Nachbar, der sie »auf Zag und Zucht« hergeliehen hatte. Auch andere der Ärzte begannen zu drängen. Die hatten sich für ihre Medizinen und Krankenbesuche jahrelang vertrösten lassen auf bessere Zeiten, jetzt, da die schlechtesten da waren, streckten sie hart ihre Hände aus. Eine Kuh wurde fortgetrieben und am nächsten Tage das Schwein. Meine Mutter rang buchstäblich mit den Treibern, aber sie wurde an die Wand geschupft. Der Vater hatte den »Räubern«, wie er die amtlichen Pfänderknechte nannte, ein Scheit nachgeschleudert, aber schon während es flog, schrie er zum Himmel, daß es nicht treffe. Dann wurde er nachdenklich. »Mich wird Gott noch ganz verlassen,« sagte er zu mir: »Ich habe keine Geduld im Unglück. Du sollst mir wohl wieder einmal was aus einem geistlichen Buch vorlesen.« Er selber hatte nie einen Buchstaben lesen oder schreiben gelernt. Ich meinte, es wäre halt gut, wenn man jetzt »das Leben-Christi-Buch« hätte.

Eines Morgens, es lag schon Herbstreif auf dem kurzen Grase, kam der Halterbub, der die einzige Kuh auf den Anger geführt hatte und berichtete, beim Kraut wäre der Hirsch gewesen. Am oberen Rand des Gartens seien alle Kohlköpfe zerfressen.

»Das auch noch,« sagte der Vater gelassen.

»Siehst du, Waldbauer!« rief der Knecht Simon, »siehst du, daß der Herrgott noch auf uns denkt. Jetzt schickt er uns Hirschfleisch.«

Darauf der Vater: »Schieß' ihn nur nieder! Nachher wirst auf ein halbes Jahr – du weißt schon, was!«

»Ja, jetzt weiß ich was, schießen wir jedes einen Hirschen nieder und wir sind über den Winter versorgt«

[343] »Ja, mit dem Kotter.«

»Das meine ich. Brauchen nichts zu arbeiten und haben unsere ordentliche Kost. Um die Anbauzeit sind wir wieder da.«

So haben wir das angehende Elend ertragen mit Schalkereien und Kummer.

Als der Winter kam, ließ mein Vater die großen Lärchen fällen, um sie für Eisenbahnschwellen zu verkaufen. Aber auch diese lieben alten Bäume haben sich nicht treu erwiesen. Bis auf nur wenige Stämme waren sie kernfaul und nicht zu verwerten. Mit dem geringen Gelde, das der Vater dafür gelöst hatte, ging er am Thomastage nach Krieglach auf den Markt, um für die derb eingetretene Winterzeit ein paar Kleidungsstücke und einen Sack Bohnen zu kaufen. Und siehe, jetzt hatte er zu meinem geradezu freudigen Schreck auch noch etwas anderes heimgebracht vom Markte. »Da,« sagte der Vater zu mir, als er's aus dem Bündel nahm, »da hast du dein Leben-Christi-Buch, daß du vorlesen kannst; schau nur; daß du gesund wirst.« Ich lag zurzeit im dunkeln Bette, litt an einer Augenentzündung so arg, daß es mir unmöglich war, irgendwelchen Lichtschein zu vertragen oder ein Buch anzusehen. So machte sich gleich an demselben Abend der Jungknecht Poldel über das »Leben Christi« her und begann, so gut es ging, daraus etwas zu lesen. Der Vater hatte sich an den Tisch gesetzt, er dürstete schon nach christlichem Zuspruch. Der Poldel nahm das erstbeste Kapitel, das Buch ist ja auf jeder Seite groß.

»Zur Be – rei – tung von – Trüffel- oder Gänse– leber – Pa – ste – ten –«

[344] »Ah!« sagte mein Vater, »schon ein Gleichnis!«

Der Jungknecht las holpernd weiter: »Nimm Speck – latten, Fasch mit Leber – stücken und Trüffeln, dann dicken Teig aus Roggen – mehl, Eierklar – kommt in ein mäßig erhitztes Kochrohr, zwei bis drei Stunden, dann mit gutem Wein ausgekocht –«

»Das ist kein Leben-Christi-Buch!« schrie ich von meinem Bette aus. Und jetzt erst besah man den Titel: »Kochbuch für deutsche Küche, nebst Ratgeber in häuslichen Dingen, insonderheit um Vorräte aufzubewahren –«

»Au weh zwick!« rief mein Vater schrecklich hell aus, »was hab' ich da heimgebracht?« – Ja, der Irrtum unten auf dem Markt war durch das Gedränge entstanden. Alles kaufte Kalender und da hatte der Büchermann ihm in der Eile das unrichtige Buch in die Hand gegeben. Bezahlt war das »Leben Christi«.

Als meine Augen soweit waren, daß sie Schneelicht vertragen konnten, ging ich mit dem Kochbuch, um den Buchhändler zu suchen. Ich fand ihn in Kindberg, er war sehr froh, als der Mißgriff gut gemacht wurde, schien das Kochbuch mit der Trüffelpastete wesentlich höher zu bewerten als das »Leben Christi«, mit dem ich dann nach Hause eilte. Das war für uns Waldbauernleute das richtige Buch! – Am Christtage habe ich schon zu aller Erbauung daraus vorgelesen. Der Christtag fiel überhaupt nicht so traurig aus, als wir in Ermangelung von Speckklößen und Schweinsbraten erwartet hatten. Meine Mutter leistete auch ohne Kochbuch etwas. Da gab es Erdäpfelsuppe, Erdäpfelbrei, Erdäpfelschmarren, Erdäpfelkrapfen, und wer was Gebratenes haben wollte, für den waren die schönsten »Grundbirnen« in die Glut gelegt [345] worden. Kurz, wir hatten unser Festmahl, waren fröhlich und tranken Brunnenbacher Auslese.

Wenn der Jungknecht an diesem Tage das Wort »Erdäpfelbauer« aufbrachte, so geschah es, weil man die besten Witze stets im Zustande behaglicher Sättigung macht. Die Mutter war froh. Sie dachte, das würden die letzten Weihnachten gewesen sein auf dem Hofe. Die nächsten möchte sie wohl schon im Ausgedinghäusel verleben in Ruhe und größerer Sorglosigkeit. Aufs Ausgedinghäusel hatte sie immer all Trost und Hoffnung gesetzt, wenn Kummer und Mühsal sie überwältigen wollten.

Ter Winter war mit harter Macht gekommen, die Fenster hatten so dicke Eisblumen, daß es ganz dunkel war in der Stube. Im Ofen brüllten fortwährend Scheiter und doch verkrochen wir Kinder uns immer wieder ins Bettstroh, um nicht zu frieren. Der Vater war um diese Zeit viel außer Hause, wie es hieß, beim Bruckmüller draußen, wohl um künftige Mahlvereinbarungen zu machen; da ja unsere Mühle tief unter dem Schnee in Asche lag. Eines Tages kam der Vater gegen seine Gewohnheit erst spät abends heim; er trat fester auf als sonst und hatte ein frisches, unternehmendes Gesicht, so daß die Mutter betroffen dreinschaute. Was wäre denn das, wenn er so anfinge?! Beim Bruckmüller war ein Wirtshaus. – Nein, das war es nicht, getrunken hatte er nicht. Aus Krieglach kam er. Ein großes Paket trug er unter dem Arm. Loden, Joppen und Wollhauben hatte er eingekauft für uns Kinder und ein großes schottisch gestreiftes Umhängetuch für die Mutter. Und Bargeld hatte er in der Brieftasche. Wenn die Mutter erst betroffen [346] gewesen, jetzt, als sie die Sachen und das Geld sah, ere schrak sie. Woher hat er das? Der Altknecht hatte an einem Abend zuvor das Märchen erzählt, wie ein armer Mann für einen Hut voll Geld dem Teufel seine Seele verschrieben. Sie wußte wohl, daß derlei Geschichten nicht wahr sind, aber sie sind ein Gleichnis! –

Meine Geschwister schliefen schon in der Stube, ich noch nicht, ich guckte und hörte, was gesprochen wurde.

»Lenzl, woher hast du's Geld!« fragte sie ihn leise, aber scharf.

»Wirst nit raten,« antwortete der Vater wohlgemut.

»Hast das letzte Restel Wald verkauft?«

»Dafür möcht' ich wohl nit fünf so saubere Bildeln bekommen haben. Schau nur her!« Fünf fast neue Hundertguldenscheine zog er aus der Brieftasche und legte sie vor ihren Augen auf die Bettdecke. »Weißt, Weib, ich hab' mir gedacht, besser das kleine ist weg, als das große. Mit dem großen Haus kann man sich immer noch leichter helfen, wenn wieder bessere Zeiten kommen.«

»Mensch! Lenzl!« sagte sie stockenden Atems, »du wirst doch nit –«

»Tu denkst dir's eh schon. Dem Bruckmüller hab' ich das Gasthäusel verkauft. Es ist abgemacht. Sind heut' beim Gericht gewesen.« Nicht mit ganzer Sicherheit hatte der Vater diese Worte gesagt. Er hatte jetzt doch befürchtet, daß sie arg auffahren würde.

Nein, sie blieb ruhig und schwieg. Sie zog ihr Obergewand aus und legte sich ins Bett. Und war immer noch still. Erst nach Mitternacht begann sie zu schluchzen.

Am nächsten Tage stand die Mutter früh auf, legte ihr Sonntagsgewand an, weckte den Vater und fragte ihn [347] gütig, ob er mitgehen wolle. Sie gehe nach Kindberg zum Gericht. Der Handel mit dem Bruckmüller müsse wieder zurück. Sie habe ihren Ehevertrag gut aufgehoben, darin heiße es, daß sie Miteigentümerin sei von dem ganzen Waldbauerngut und wenn er das Gasthäusel verkaufen wolle, so müsse das auch ihr recht sein.

Er habe das alles bedacht, antwortete der Vater demütig, aber sie würde so wenig wie er die Kinder erfrieren und verhungern lassen wollen. Der Winter währe noch lang und auf Borg habe ihm der Bruckmüller und der Krämer und der Bäcker in Krieglach nichts mehr gegeben.

»Das will ich doch einmal sehen,« sagte sie. »Steh' erst nur auf und geh' mit. Derweil du dich anlegst, koch' ich die Erdäpfelsuppen.«

Als sie hernach auf dem Wege ins Gericht zum Bruckmüllerhause kamen, kehrten sie bei diesem zu. Der Müller saß in seinem dicken Schafhautpelz beim Küchenherd und aß behäbig Kaffee mit Heidensterz. Daneben stand die Müllerin und schürte das Feuer.

»Du wirst schon verzeihen, mein lieber Bruckmüller,« sagte die Waldbäuerin zu ihm. »Ich bin auch noch auf der Welt. Der Handel geht zurück. Mein Mann hat's halt unüberlegt getan, weil's uns just ein bissel zwickt. Und weil ich Mitbesitzerin bin, gehe ich jetzt schnurgerade nach Kindberg zum Gericht, wenn du den Kaufbrief nicht willig hergibst.«

»Da ist er,« antwortete der Müller und zog den Schein aus seiner Brieftasche. »Schau ihn an, ob er's ist und dann zerreiß' ihn, wenn du willst. Unterschrieben ist er eh noch nit. Mir ist nix um euer Gasthäusel, hab's [348] nur kaufen wollen, weil ich gesehen hab', daß ihr Geld braucht.«

Das sprach der Mann ganz ruhig und ohne jede Gereiztheit, so daß die Waldbäuerin sich ein wenig schämte, ihn gleich so scharf angefahren zu haben. Sie sagte nun zu ihrem Manne: »So gib ihm das Geld zurück.«

Recht zögernd langte der Waldbauer in seinen inneren Rocksack. »Das kommt mir wohl sauer an.«

»Ich bin kein Stein,« sprach nun der Müller, dieweilen er mit dem Tischtuch seinen Löffel abwischte. »Wenn's euch gar arg zwickt, so leih' ich euch das Geld gegen fünf von hundert im Jahr.«

»Du bist ein Tor!« rief die Müllerin drein und warf ein paar Scheiter in das Herdfeuer, daß die Funken stoben. »Fünf von hundert, das zahlt jede Sparkasse. Der Waldbauer soll sechs geben!«

»Es ist wahr, ihr könnt mir sechs geben,« entschied der Bruckmüller. So durfte mein Vater diesmal das Geld in der Tasche behalten und die Mutter war wieder Mitbesitzerin des Gasthäusels. Zufrieden gingen sie miteinander heim.

Auf solche Weise war zu den alten Gläubigern ein neuer gekommen, und zwar einer zu sechs Prozent. Als die anderen Gläubiger wahrnahmen, daß der Bruckmüller Zinsen verlangte, taten sie es auch. Zinsen waren bishin im Waldlande etwas Unerhörtes gewesen, nun aber fand der neue Brauch Eingang, und das war das Ende. Das nächste fruchtbare Jahr half nicht mehr viel; was einkam, das holten sich die Gläubiger. Die Dienstboten hatten sich auch allmählich vom »Erdäpfelbauer« abgewendet, denn in der Nachbarschaft gab es bessere Plätze. Nur der [349] alte Simon blieb, der mit seinem einzigen Auge immer noch mehr Gutes sah auf dem Hofe, als andere mit zwei. Er sagte zu einem Kameraden, auf diesem Hofe gehe es zwar arm her, aber verträglich und friedlich – und das sei sein Wohlgefallen.

Wenige Jahre noch und der Frieden im Waldbauernhause war zu groß geworden. Es rührte sich nichts am Hause, als nur die Brennesseln und der Holunderstrauch, wenn der Wind ging. Und es rührte sich nichts im Hause, als etwa ein Spinnengewebe, wenn die Luft durch die Fugen strich.

Die alten Leute hockten notig unten im Gasthäusel mit ihren noch kleineren Kindern. Ein paar der größeren hatten sich in den Dienst fremder Bauernhöfe begeben. Und der Älteste suchte sein Glück in der weiten Welt, also, wie im dritten Bande dieses Buches erzählt worden ist.

Der Waldheimat letzter Tag
[350] Der Waldheimat letzter Tag.

Das war am 16. Januar 1872. – In der Stadt Graz war der lustige Karneval. An den Abenden ein tolles Gedränge auf den Gassen, ein fast betäubendes Rasseln der Wagen, ein Johlen und Schreien, ein Flimmern und Leuchten aus den Gewölben und Auslagen und von den Laternen und den Spiegeln der Fenster. Gold und Silber, Seide und Damast funkelten aus den Glaskästen. Gesichtsmasken in allen Farben und Formen grinsten daneben. Ich eilte durch das Gedränge. Die Uhr am Schloßberge tat sechs Schlage, so hell – sie überklangen alles Geräusch, sie widerhallten von den hohen, lichtdurchbrochenen Mauern der Häuser. – Ich ging nach Hause in meine Stube und begab mich bald zur Ruhe.

Des anderen Morgens lag das Winterglühen der Sonne auf den schneeigen Dächern, ich schrieb eben das Märchen auf von dem verlorenen Kinde am Gansstein – als es an meiner Tür klopfte. Ein Mann trat herein und brachte mir folgendes Telegramm:


»Lieber Sohn, gestern abend um sechs Uhr ist unsere liebe Mutter verschieden. Komme zu uns, wir erwarten dich in Trübsal.

Dein Vater.«


[351] – Gestern abend, als ich durch das Weltleben schritt, war es geschehen in der armen Hütte. Und zur sechsten Stunde.

Am anderen Tage in der Morgenfrühe war ich im Pfarrdorfe. Allein trat ich den Weg an, über schneefunkelnde Höhen und durch große Wälder, weit hinein in das Gebirgstal. Unzähligemale war ich den Weg gewandelt, immer hatte ich mich ergötzt an dem Glitzern des Schnees, an den funkelnden Eiszapfen, an den Schneemänteln der Baumäste oder, wenn es Sommerzeit war, an dem Grünen und Blühen und Duften, an dem Vogelsang, an den Tropfen des Lichtes, die niedersickerten zwischen den Ästen, an der Ruhe und tiefen Einsamkeit. Wie oft war ich hier mit der Mutter gegangen, als sie noch gesund und blühend gewesen, und später, als sie durch Krankheit gebeugt an meinem Arm einherwankte. – Und ich dachte auf diesem Waldweg an den Lebenslauf meiner Eltern.

Nach Stunden stand ich vor dem kleinen Haus im Engtal, dem »Gasthäusel«, in das meine Eltern hatten ziehen müssen, und wo die letzte Krankheit meiner Mutter angefangen hat.

Mein Vater sah mich zuerst, er kam mir entgegen. »Mußt dich in den Willen Gottes geben,« sagte er und führte mich in das Haus. In der Vorlauben hinter der Bodenstiege lag sie aufgebahrt, arm und schmucklos.

Ihre Kinder daheim hatten geschlafen in der Sterbenacht. Erst als das Morgenrot durch die Fensterchen leuchtete, ging der Vater zu ihnen in die Kammer und sagte: »Tut die Augen auf und schaut, über den Wechsel [352] steigt schon die Sonne herauf, und unsere liebe Frauen tut drin sitzen mit dem Christkind, und auf dem Schemel zu ihren Füßen sitzt eure Mutter und tut aus einem Rocken das himmlische Kleid spinnen.«

Da wußten sie's gleich, es war die Mutter gestorben.

Dann war noch eine Nacht und dann der letzte Waldheimattag. Zwei Männer stellten den Sarg auf die Trage und huben ihn auf und trugen ihn aus der armen Menschenwohnung im Walde, und davon über die Heiden und durch hohe Wälder – ein langer, betender Leichenzug.

Und ringsum war die Winternacht, und über allem stand der Sternenhimmel.

Und nun lag die Waldhütte da in der Dunkelheit und in der tiefsten Stille, ohne Schmerz und ohne Freude. Das Leben war fort, der Tod war fort – eine größere Einsamkeit kann nicht sein.

Man hörte das Summen der Betenden, man sah das Flimmern der wenigen Laternen zwischen den Baumstämmen. Die Träger gingen mit schnellem Schritte. Ich war mit dem kleinen Bruder zurückgeblieben, der Knabe konnte so schnell nicht vorwärts. – Im Leben hätte uns die Mutter nie so zurückgelassen, da hätte sie gewartet, ein wenig lächelnd und ein wenig grollend, und den Kleinen an der Hand geführt. Jetzt verlangte ihr schon nach der Rast in der Erde.

Vor dem Pfarrdorfe am Wege steht ein Kreuz mit dem Bilde des Heilands. Hier setzten sie den Sarg zu Boden und warteten auf den Arzt, der aus dem Dorfe kam zur Totenbeschau. Als wir zwei Zurückgebliebenen nachkamen, [353] da war der Sargdeckel bereits wieder festgehämmert. –

Im Dämmerlichte der Morgenröte zogen sie zur Pfarrkirche ein.

Die Glocken klangen hell zusammen. Mitten in der dunkeln Kirche war ein hoher Sarkophag ausgerichtet, es strahlten Lichter, und es begann ein feierlicher Trauergottesdienst. Der Pfarrer des Ortes, ein alter, blinder Mann mit schneeweißen Haaren, eine ehrwürdige Gestalt, umgeben von Priestern in reichem Ornat, hielt das Requiem. Seine Stimme war hell und feierlich, ein Sängerchor antwortete, und Trompeten und Posaunen tönten durch die Kirche.

Ich sah den Vater an, er mich, wir wußten nicht, wer das alles so angeordnet hatte. Heute weiß ich, daß es meine Freunde in Krieglach gewesen.

Als der Trauergottesdienst vorüber war, wurde der Sarkophag weggeräumt, wurden am Hochaltare alle Festkerzen angezündet und drei Priester, nicht mehr in Farben der Trauer, sondern in rosigem, golddurchwirktem Meßgewande traten an die Stufen des Altares, und es wurde ein Hochamt mit hellem Glockenschall und fröhlichem Musikklange ausgeführt. »Weil sie erlöst ist von dem Leide,« sagte ich zu dem Knaben.

Endlich schwankte der Sarg, nun reich geziert, von der Pfarrkirche, in welcher die Waldbäuerin voreinst getauft und getraut worden war, dem Friedhofe zu. Die Priester und der Sängerchor sangen das Requiem, die Glocken klangen über das Dorf weit hin in die Wälder, und die Lichter flackerten im Sonnenschein. Ein langer Zug von Menschen bewegte sich durch die breite Dorfgasse. Wir [354] gingen hinter dem Sarge, hielten brennende Kerzen in den Händen.

Draußen zwischen den Äckern und Wiesen auf einer sanften Anhöhe liegt der Friedhof. Er ist nicht klein, denn die Pfarre erstreckt sich weit hin über Berg und Tal. Er ist eingefriedet mit einem Bretterzaun, viele Kreuze von Holz und verrostetem Eisen stehen darin, und mitten ragt hoch das Bildnis des Gekreuzigten.

Vor diesem Bilde, zur rechten Hand, mar das tiefe Grab.

Hier ließen die Träger den Sarg zu Boden, entkleideten ihn aller Zier, und arm, wie er gekommen war aus der Waldhütte, rollte er hinab in die Grube.

»Heut' ist's an dir, morgen ist's an mir; so bin ich schon zufrieden,« murmelte mein Vater. Aber noch vierundzwanzig Jahre hat er warten müssen, bis sie ihn zu ihr hinabgelegt haben.

Die Leute warfen jetzt Erdschollen ins Grab und gingen davon. Gingen dem Wirtshause zu, genossen Wein und Brot und redeten von täglichen Dingen. – Als die zwölfte Stunde war und nach der Sitte die Kirchenglocken noch einmal anhuben zu läuten, der Bestatteten zum letzten Gruß, machten sich die Waldbewohner auf den Weg gegen ihr Hochtal.

Wir Zusammengehörigen saßen noch eine Weile beisammen und sprachen traurig von der Zeit, die nun kommen mußte und wie sie einzurichten sei. Dann nahmen wir Abschied, Vater und Geschwister gingen heim in die Waldhütte. Ich mußte wieder fort zu meinen Arbeiten in der Stadt.

[355] In der letzten Stunde vor der Abreise ging ich durch ein Nebengäßchen auf den Friedhof. Das Grab war noch offen, und still stand unten der weiße Sarg. – Die Sonne deines letzten Tages geht jetzt unter, und dereinst werden die Zeiten nimmer zu messen sein, vor denen du das irdische Licht hast gesehen.

Über den Bergen der Waldheimat lag ein fremder Schatten.

Das Büscherl auf dem Hut
[356] Das Büscherl auf dem Hut.

Und nun zu gutem Ende noch einen Blick auf Ihn.

Ungefähr wie ein jugendlicher Landpfarrer. Ein schwarztuchener Gehrock, der ziemlich schwerfaltig um die Knie pendelte und oben einen hochaufgebauten Kragen hatte. Schwarze Hofe, die an den Knien in hohen Stiefeln stak, deren Röhren glänzend gewichst waren. Die Weste ebenfalls dunkel, aber mit rotbräunlichen Sternchen durchsetzt und mit einer Reihe schwarzer Hornknöpfe. Der breit übergelegte weiße Hemdkragen vorne mit einem kirschroten Seidentuche lose zusammengehalten. Der schwarze Filzhut fast zylinderartig hoch und mit breiten, gerade ausstehenden Krempen. Es war ein »Hasenhaarener« und seine wolligen Flächen waren weich wie Seide und hatten einen zarten Glanz. Im schwarzen Hutband Unterseits stak ein buntes »Büscherl«. Wenn der Mann an einem Bildstöckel vorüberkam, da lüpfte er den Hut und da sah man schön das rötliche Rundgesicht mit dem salben Haar, das über die halbe Stirn herabgekämmt lag, sah den offenen, freundlichen Blick der runden grauen Augen, sah die munter hervorspringende nicht zu lange Nase, sah unter den Ohren die blonden Bartschöpfchen und auf der Oberlippe den leichten Schnurrbart, der sich von der Hautfarbe so wenig unterschied, daß man den Mann von gewisser Entfernung wirklich für einen bartlosen Pfarrer halten konnte – der er aber durchaus nicht gewesen ist.

[357] Die Bräutigamstracht und Art war's, nach damaliger Sitte.

Ich war nicht dabei, als mein Vater von seiner Hochzeit heimkam; aber so ungefähr mußte er ausgesehen haben, als er in sein Waldbauernhaus das junge Weib einführte, das nachher meine Mutter geworden ist. Denn zehn Jahre später hat er an hohen Festtagen noch genau dasselbe Gewand getragen. Ja, der feierlich lange Bräutigamsrock und der würdige schwarze Hut mit dem »Büscherl« ist noch nach zwanzig Jahren und länger in Ehren gestanden.

Bauersleute halten nicht viel auf Schmuck mit natürlichen Blumen. Solche wachsen auf der Wiese und sind für die Kinder zur Kurzweil und fürs liebe Vieh. Und selbst wenn es Gartenblumen sind, was ist viel dran, sie wachsen ja selber. Es müßte nur des Duftes wegen sein, wie bei der Nelke oder bei der Resede oder beim Kohlröserl, dann steckt man sich wohl einmal auch etwas »Frisches« auf den Hut. Für die Hochzeit jedoch waren zu jener Zeit natürliche Blumen und Rosen viel zu »ordinär!« Die Hochzeitsgäste und der Altar waren geschmückt mit Blumen aus roter oder weißer oder blauer Leinwand. Die grünen, sein gekerbten, glänzend lackierten Blätter waren aus Papier, zierlich gezähnt. »Gewachsen« waren sie beim Dorfkrämer in großen Schachteln. Dorthin war denn auch das schwarzhaarige Dirndl gegangen und hatte für seinen Bräutigam ein »Büscherl« ausgesucht. »Es soll gar nit groß sei u, aber schon rot und grün und gut schmecken soll's.« Gut schmecken (riechen) eine gemachte Blume? »Gewiß, du liebherzige Brant, wir haben schon auch schmeckende!« und der Krämer [358] nestelte ihr aus der Schachtel ein niedliches »Büscherl« hervor; wie ein volles Heckenröslein war es anzuschauen und auf den Blättern, deuchte ihr, zuckten Tautropfen und am Stengel lauerten zwei Dörnlein und stachen sie zärtlich in den Finger. Und wie sie das halb entfaltete hellrote Leinwandröslein an die Nase hebt, da duftet es wie Nelken. Denn dort drinnen im Blumenherzlein, wo sonst die Staubgefäße sind und das Fruchtknötlein, steckt ein braunes »Gewürznagerl« und gibt würzigen Hauch der Nase, so oft sie davon haben will. – Und so kam es, daß auch ich es noch habe erfahren können nach vielen Jahren, wie schön rot das Brautbüscherl war und wie gut es »schmeckte«.

Selbst zur Zeit, als der Jungbub schon anfing, nach schönen »Büscherln« auszulugen, um jemandem damit heimlich den Busen zu schmücken, hat Vaters Bräutigamsbüscherl immer noch geblüht, freilich schon recht blaß und blind, aber immer noch stak es am schwarzen, weichwolligen Hut und immer noch dünkte dem Vater, es sei völlig neu und leuchte und rieche so, wie einst am Hochzeitstage. Daher verwahrte er – wenn er von einem »heiligen Tage« heimkam – den Hut mit großer Fürsorge in seinem Kasten, hing ihn ganz an den obersten Nagel, daß ja keines von dem kleinen Gezücht über sein Büscherl komme. Die Mutter hatte an jenem weit verwichenen Hochzeitstage den Rosmarinkranz bekommen, aber der fand sich schon lange nicht mehr. Dem dritten Kinde hatte sie ihn um seine weiße Totenstirne geschlungen.

Der Vater hatte bei diesem Leichenbegängnisse und bei späteren und bei Hochzeiten und bei Kindstaufen und bei Osterbeichten seinen schwarzen Rock getragen und seinen [359] Hut mit dem Büscherl. Ob inwendig Trauer war oder Freude oder Übermut oder Andacht – auswendig blieb er gleich, im Gewande und im Betragen, und das bunte Büscherl auf dem schwarzen »Hasenhaarenen« war wie ein Sträußchen Gleichmut und Ergebung in allen Wandel. Nur alljährlich, wenn vor Ostern die »schwarze Woche« kam und in der Kirche alle Kränze und Fahnen abgenommen und alle Bildnisse mit blauen Tüchern verhüllt wurden, da hielt der Vater den Hut mit dem roten Büscherl im Verborgenen des Kastens und trug eine schwarze Kappe. Am Ostersonntag hingegen bürstete er die weichen glänzenden Hasenhaare glatt, blies mit gebauchten Wangen heftig in das Büscherl hinein, um den Staub auszujagen, und dann ging der Mann mit dem roten Flämmchen auf dem Haupte gemessenen Schrittes kirchwärts.

Der große Hut hatte aber auch noch inwendig seine Geheimnisse. Am unteren Rande war er mit einem drei Finger breiten Lederstreifen besetzt. Weiter in der Huthöhlung war ein rotseidenes Futter, das am oberen Rande mittelst eines Schnürchens in Falten so zusammengezogen werden konnte, daß es sich der Kopfform anpaßte. Hinter diesem zusammengezogenen Seidenfutter war dann ein leerer Raum, in welchem der Vater manchmal sein Sacktuch barg oder eine Semmel, die er uns Kindern mit heimbrachte, oder eine »Herrschaftsschrift«, wenn er beim Amte zu tun hatte, oder wohl gar die Brieftasche mit Geld. Im Gewande hatte er ja seine Säcke, aber das Obergeschoß dünkte ihm am sichersten, zumal der Hut, außer wenn man an der Wegsäule dem Herrgott begegnete, nicht von der Stelle gerückt wurde.

Für die gewöhnliche Zeit hatte der Vater ja sein[360] graues Lodengewand, in den besten Jahren die Knielederhose mit blauen Strümpfen und starkbenagelten Bundschuhen getragen, einen roten Brustfleck auch, darüber den grünen Hosenträger, und mancherlei Gattung von Hauben und Hüten. Aber Blumen oder Sträuße trug er keine dran, weder gewachsene noch gemachte. Er verschmähte an den Jacken die grünen Aufschläge, er trug nie einen grünen Steirerhut mit Hahnenfedern und Gemsbart. Ich weiß auch nicht, ob er immer eine Taschenuhr gehabt hat oder einen Fingerring oder sonst ein Behängsel. Dünkte es ihn wie Hoffart? Oder hatte sein rosiges freundliches Gesicht mit den hellen Rundäuglein alle weitere Zier überflüssig machen sollen? Dieses ernstfrohe Antlitz mit den noch in späten Zeiten goldigschimmernden Blondhaaren, mir war es freilich wohl lieber gewesen als Gesträuße und Geschmeide. Es veränderte sich auch kaum. Während der langen Jahre, als ich ihn kannte, war er aus einem jugendlich schlanken Manne zu einem runzeligen Greislein zusammengeschrumpft, aber dieses stand noch ziemlich gerade aufrecht und hatte immer noch das rosige Rundgesichtlein.

Dann kam jener Tag, als sie ihm sein Weib forttrugen aus dem Waldhause. Er ging fröstelnd hinter dem Sarge drein, faltete die Hände und betete. Da stieß meine ältere Schwester mich am Ellbogen und flüsterte: »Wir müssen uns frei schämen, was der Vater heute für ein Gewand an hat! Hab's in der Früh' nicht beachtet, so hätte ich ihn nicht mit der Mutter gehen lassen.« Er war zwar ganz in Schwarz. Oder vielmehr, diese verschabte Hofe, dieser faltige Gehrock, dieser Hut waren einmal schwarz gewesen. Jetzt waren alle Fäden bloßgebürstet [361] und der »Hasenhaare ne«, der sonst eine so zarte Wolle gehabt, hatte das letzte Härchen längst verloren. Aber im halbzerfransten Bande stak das Büscherl. Das verknitterte, schier farblos gewordene Büscherl.

»Vater, Ihr hättet doch Euer besseres Lodengewand anlegen sollen.«

Er schaute drein. Was war denn da nicht in Ordnung? In diesem gleichen Festgewande war er doch auch vor just dreißig Jahren mit der Mutter in die Kirche gegangen? Für wen soll er den schönen Rock und den guten Hut noch viel aufsparen?

Den schönen Rock und den guten Hut! Ja, so waren im Hause diese Kleidungsstücke genannt worden seit dreißig Jahren. Das treue Herz hat trotz schwerer Zeiten nicht gefühlt, daß es selbst alt geworden und hat also auch das alte Gewand noch immer in seiner einstigen Pracht gesehen. Und als unten vor der Dorfkapelle der Totenbeschau wegen die Truhe noch einmal geöffnet wurde, stand der Vater daneben und schaute auf ihr weißes Gesicht. Er lächelte ein wenig, dieweilen die Augen voll Wasser standen und sagte leise vor sich hin: »Meine Mirzel! Daß du mir so jungerheit hast sterben müssen!«

Und nachher auf dem Heimweg an demselbigen Abend, da schritt er den anderen voraus und setzte den Stecken bedächtig auf den Erdboden und schaute nicht rechts und nicht links. Die schwammigen Falten des Rockes pendelten ein wenig um die Knie, der große Hut saß fest auf dem Kopfe.

Und das Büscherl? Das Büscherl ist nicht mehr dran gewesen. Ich weiß nicht, wohin es auf einmal geraten sein konnte, vermute aber, daß es ihm – in ihr Grab hinabgefallen war.

[362]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek