Rainer Maria Rilke
Auguste Rodin

[137] Erster Teil

Einer jungen Bildhauerin

Paris, im Dezember 1902


[137]

»Die Schriftsteller wirken durch Worte....

die Bildhauer aber durch Taten«

Pomponius Gauricus, in seiner Schrift

»De sculptura.«(Um 1504)


The hero is he who is immovably centred.

(Emerson)


[138] [141]Rodin war einsam vor seinem Ruhme. Und der Ruhm, der kam, hat ihn vielleicht noch einsamer gemacht. Denn Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen sammeln.

Es sind ihrer sehr viele um Rodin, und es wäre eine lange und mühsame Aufgabe, sie aufzuklären. Es ist auch nicht nötig; sie stehen um den Namen, nicht um das Werk, das weit über dieses Namens Klang und Rand hinausgewachsen und namenlos geworden ist, wie eine Ebene namenlos ist, oder ein Meer, das nur auf der Karte einen Namen hat, in den Büchern und bei den Menschen, in Wirklichkeit aber nur Weite ist, Bewegung und Tiefe.

Dieses Werk, von dem hier zu reden ist, ist gewachsen seit Jahren und wächst an jedem Tage wie ein Wald und verliert keine Stunde. Man geht unter seinen tausend Dingen umher, überwältigt von der Fülle der Funde und Erfindungen, die es umfaßt, und man sieht sich unwillkürlich nach den zwei Händen um, aus denen diese Welt erwachsen ist. Man erinnert sich, wie klein Menschenhände sind, wie bald sie müde werden und wie wenig Zeit ihnen gegeben ist, sich zu regen. Und man verlangt die Hände zu sehen, die gelebt haben wie hundert Hände, wie ein Volk von Händen, das vor Sonnenaufgang sich erhob zum weiten Wege dieses Werkes. Man fragt nach dem, der diese Hände beherrscht. Wer ist dieser Mann?

Es ist ein Greis. Und sein Leben ist eines von denen, die sich nicht erzählen lassen. Dieses Leben hat begonnen [141] und es geht, es geht tief in ein großes Alter hinein, und es ist für uns, als ob es vor vielen hundert Jahren vergangen wäre. Wir wissen nichts davon. Es wird eine Kindheit gehabt haben, irgendeine, eine Kindheit in Armut, dunkel, suchend und ungewiß. Und es hat diese Kindheit vielleicht noch, denn –, sagt der heilige Augustinus einmal, wohin sollte sie gegangen sein? Es hat vielleicht alle seine vergangenen Stunden, die Stunden der Erwartung und der Verlassenheit, die Stunden des Zweifels und die langen Stunden der Not, es ist ein Leben, das nichts verloren und vergessen hat, ein Leben, das sich versammelte, da es verging. Vielleicht, wir wissen nichts davon. Aber nur aus einem solchen Leben, glauben wir, kann eines solchen Wirkens Fülle und Überfluß entstanden sein, nur ein solches Leben, in dem alles gleichzeitig ist und wach und nichts vergangen, kann jung und stark bleiben und sich immer wieder zu hohen Werken erheben. Es wird vielleicht eine Zeit kommen, da man diesem Leben seine Geschichte erfinden wird, seine Verwickelungen, seine Episoden und Einzelheiten. Sie werden erfunden sein. Man wird von einem Kinde erzählen, das oft zu essen vergaß, weil es ihm wichtiger schien, mit einem schlechten Messer Dinge in geringes Holz zu schneiden, und man wird in die Tage des jungen Menschen irgend eine Begegnung setzen, die eine Verheißung zukünftiger Größe, eine von jenen nachträglichen Prophezeiungen enthält, die so volkstümlich und rührend sind. Es könnten ganz gut die Worte sein, die irgend ein Mönch vor fast fünfhundert Jahren dem jungen Michel [142] Colombe gesagt haben soll, diese Worte: »Travaille, petit, regarde tout ton saoul et le clocher à jour de Saint-Pol, et les belles œuvres des compaignons, regarde, aime le bon Dieu, et tu auras la grâce des grandes choses.« »Und du wirst die Gnade der großen Dinge haben.« Vielleicht hat ein inneres Gefühl so, nur unendlich viel leiser als der Mund des Mönches, zu dem jungen Menschen gesprochen an einem der Kreuzwege seines Anbeginns. Denn gerade das suchte er: die Gnade der großen Dinge. Da war das Louvre mit den vielen lichten Dingen der Antike, die an südliche Himmel erinnerten und an die Nähe des Meeres, und dahinter erhoben sich andere, schwere steinerne Dinge, aus undenklichen Kulturen hinüberdauernd in noch nicht gekommene Zeiten. Da waren Steine, die schliefen, und man fühlte, daß sie erwachen würden bei irgend einem Jüngsten Gericht, Steine, an denen nichts Sterbliches war, und andere, die eine Bewegung trugen, eine Gebärde, die so frisch geblieben war, als sollte sie hier nur aufbewahrt und eines Tages irgend einem Kinde gegeben werden, das vorüberkam. Und nicht allein in den berühmten Werken und den weithinsichtbaren war dieses Lebendigsein; das Unbeachtete, Kleine, das Namenlose und Überzählige war nicht weniger erfüllt von dieser tiefen, innerlichen Erregtheit, von dieser reichen und überraschenden Unruhe des Lebendigen. Auch die Stille, wo Stille war, bestand aus hundert und hundert Bewegungsmomenten, die sich im Gleichgewicht hielten. Es gab kleine Figuren da, Tiere besonders, die sich bewegten, streckten oder zusammenzogen, und [143] wenn ein Vogel saß, so wußte man doch, daß es ein Vogel war, ein Himmel wuchs aus ihm heraus und blieb um ihn stehen, eine Weite war zusammengefaltet auf jede seiner Federn gelegt und man konnte sie aufspannen und ganz groß machen. Und ganz ähnlich war es mit den Tieren, die auf den Kathedralen standen und saßen oder unter den Konsolen kauerten, verkümmert und gekrümmt und zu träge zum Tragen. Da waren Hunde und Eichhörnchen, Spechte und Eidechsen, Schildkröten, Ratten und Schlangen. Wenigstens eines von jeder Art. Diese Tiere schienen draußen eingefangen worden zu sein in den Wäldern und auf den Wegen, und der Zwang, unter steinernen Ranken, Blumen und Blättern zu leben, mußte sie selbst langsam verwandelt haben zu dem was sie nun waren und immer bleiben sollten. Aber es fanden sich auch Tiere, die schon in dieser versteinten Umgebung geboren waren, ohne Erinnerung an ein anderes Dasein. Sie waren schon ganz die Bewohner dieser aufrechten, ragenden, steil steigenden Welt. Unter ihrer fanatischen Magerkeit standen spitzbogige Skelette. Ihre Münder waren weit und schreiend wie bei Tauben, denn die Nähe der Glocken hatte ihr Gehör zerstört. Sie trugen nicht, sie streckten sich und halfen so den Steinen steigen. Die Vogelhaften hockten oben auf den Balustraden, als wären sie eigentlich unterwegs und wollten nur ein paar Jahrhunderte lang ausruhen und hinunterstarren auf die wachsende Stadt. Andere, die von Hunden abstammten, stemmten sich waagrecht vom Rand der Traufen in die Luft, bereit, das Wasser der Regen aus ihren vom [144] Speien angeschwollenen Rachen zu werfen. Alle hatten sich umgebildet und angepaßt, aber sie hatten nichts an Leben verloren, im Gegenteil, sie lebten stärker und heftiger, lebten für ewig das inbrünstige und ungestüme Leben jener Zeit, die sie hatte erstehen lassen.

Und wer diese Gebilde sah, der empfand, daß sie nicht aus einer Laune geboren waren, nicht aus einem spielerischen Versuch, neue, unerhörte Formen zu finden. Die Not hatte sie geschaffen. Aus der Angst vor den unsichtbaren Gerichten eines schweren Glaubens hatte man sich zu diesem Sichtbaren gerettet, vor dem Ungewissen flüchtete man zu dieser Verwirklichung. Noch suchte man sie in Gott, nicht mehr indem man ihm Bilder erfand und versuchte, sich den Vielzufernen vorzustellen: indem man alle Angst und Armut, alles Bangsein und die Gebärden der Geringen in sein Haus trug, in seine Hand legte, auf sein Herz stellte, war man fromm. Das war besser als malen; denn die Malerei war auch eine Täuschung, ein schöner und geschickter Betrug; man sehnte sich nach Wirklicherem und Einfachem. So entstand die seltsame Skulptur der Kathedralen, dieser Kreuzzug der Beladenen und der Tiere.

Und wenn man von der Plastik des Mittelalters zurücksah zur Antike und wieder über die Antike hinaus in den Anfang unsagbarer Vergangenheiten, schien es da nicht, als verlangte die menschliche Seele immer wieder an lichten oder bangen Wendepunkten nach dieser Kunst, die mehr giebt als Wort und Bild, mehr als Gleichnis und Schein: nach dieser schlichten Dingwerdung ihrer Sehnsüchte oder Ängste? Zuletzt in der Renaissance gab [145] es eine große plastische Kunst; damals als das Leben sich erneut hatte, als man das Geheimnis der Gesichter fand und die große Gebärde, die im Wachsen war.

Und jetzt? War nicht wieder eine Zeit gekommen, die nach diesem Ausdruck drängte, nach dieser starken und eindringlichen Auslegung dessen, was in ihr unsagbar war, wirr und rätselhaft? Die Künste hatten sich irgendwie erneut, Eifer und Erwartung erfüllte und belebte sie; aber vielleicht sollte gerade diese Kunst, die Plastik, die noch in der Furcht einer großen Vergangenheit zögerte, berufen sein zu finden, wonach die andern tastend und sehnsüchtig suchten? Sie mußte einer Zeit helfen können, deren Qual es war, daß fast alle ihre Konflikte im Unsichtbaren lagen. Ihre Sprache war der Körper. Und diesen Körper, wann hatte man ihn zuletzt gesehen? Schichte um Schichte hatten sich die Trachten darüber gelegt, wie ein immer erneuter Anstrich, aber unter dem Schutz dieser Krusten hatte die wachsende Seele ihn verändert, während sie atemlos an den Gesichtern arbeitete. Er war ein anderer geworden. Wenn man ihn jetzt aufdeckte, vielleicht enthielt er tausend Ausdrücke für alles Namenlose und Neue, das inzwischen entstanden war, und für jene alten Geheimnisse, die, aufgestiegen aus dem Unbewußten, wie fremde Flußgötter ihre triefenden Gesichter aus dem Rauschen des Blutes hoben. Und dieser Körper konnte nicht weniger schön sein als der der Antike, er mußte von noch größerer Schönheit sein. Zwei Jahrtausende länger hatte das Leben ihn in den Händen behalten und hatte an ihm gearbeitet, gehorcht und gehämmert Tag [146] und Nacht. Die Malerei träumte von diesem Körper, sie schmückte ihn mit Licht und durchdrang ihn mit Dämmerung, sie umgab ihn mit aller Zärtlichkeit und allem Entzücken, sie befühlte ihn wie ein Blumenblatt und ließ sich tragen von ihm wie von einer Welle, – aber die Plastik, der er gehörte, kannte ihn noch nicht.

Hier war eine Aufgabe, groß wie die Welt. Und der vor ihr stand und sie sah, war ein Unbekannter, dessen Hände nach Brot gingen, in Dunkelheit. Er war ganz allein, und wenn er ein richtiger Träumer gewesen wäre, so hätte er einen schönen und tiefen Traum träumen dürfen, einen Traum, den niemand verstanden hätte, einen von jenen langen, langen Träumen, über denen ein Leben hingehen kann wie ein Tag. Aber dieser junge Mensch, der in der Manufaktur von Sèvres seinen Verdienst hatte, war ein Träumer, dem der Traum in die Hände stieg, und er begann gleich mit seiner Verwirklichung. Er fühlte, wo man anfangen mußte; eine Ruhe, die in ihm war, zeigte ihm den weisen Weg. An dieser Stelle offenbart sich schon Rodins tiefe Übereinstimmung mit der Natur, von der der Dichter Georges Rodenbach, der ihn geradezu eine Naturkraft nennt, so schöne Worte zu sagen wußte. Und in der Tat, es ist eine dunkle Geduld in Rodin, die ihn beinahe namenlos macht, eine stille, überlegene Langmut, etwas von der großen Geduld und Güte der Natur, die mit einem Nichts beginnt, um still und ernst den weiten Weg zum Überfluß zu gehen. Auch Rodin vermaß sich nicht, Bäume machen zu wollen. Er fing mit dem Keim an, unter der Erde gleichsam. Und dieser [147] Keim wuchs nach unten, senkte Wurzel um Wurzel abwärts, verankerte sich, ehe er anfing einen kleinen Trieb nach oben zu tun. Das brauchte Zeit und Zeit. »Man muß sich nicht eilen«, sagte Rodin den wenigen Freunden, die um ihn waren, wenn sie ihn drängten.

Damals kam der Krieg, und Rodin ging nach Brüssel und arbeitete, wie der Tag es befahl. Er führte einige Figuren an Privathäusern aus und mehrere von den Gruppen auf dem Börsengebäude und schuf die vier großen Eckfiguren bei dem Denkmal des Bürgermeisters Loos im Parc d'Anvers. Das waren Aufträge, die er gewissenhaft ausführte, ohne seine wachsende Persönlichkeit zu Worte kommen zu lassen. Seine eigentliche Entwickelung ging nebenher, zusammengedrängt in die Pausen, in die Abendstunden, ausgebreitet in der einsamen Stille der Nächte, vor sich, und er mußte diese Teilung seiner Energie jahrelang ertragen. Er besaß die Kraft derjenigen, auf die ein großes Werk wartet, die schweigsame Ausdauer derer, die notwendig sind.

Während er an der Börse von Brüssel beschäftigt war, mochte er fühlen, daß es keine Gebäude mehr gab, die die Werke der Skulptur um sich versammelten, wie es die Kathedralen getan hatten, diese großen Magnete der Plastik einer vergangenen Zeit. Das Bildwerk war allein, wie das Bild allein war, das Staffelei-Bild, aber es bedurfte ja auch keiner Wand wie dieses. Es brauchte nicht einmal ein Dach. Es war ein Ding, das für sich allein bestehen konnte, und es war gut, ihm ganz das Wesen eines Dinges zu geben, um das man herumgehen und das man von allen Seiten betrachten konnte. [148] Und doch mußte es sich irgendwie von den anderen Dingen unterscheiden, den gewöhnlichen Dingen, denen jeder ins Gesicht greifen konnte. Es mußte irgendwie unantastbar werden, sakrosankt, getrennt vom Zufall und von der Zeit, in der es einsam und wunderbar wie das Gesicht eines Hellsehers aufstand. Es mußte seinen eigenen, sicheren Platz erhalten, an den nicht Willkür es gestellt hatte, und es mußte eingeschaltet werden in die stille Dauer des Raumes und in seine großen Gesetze. In die Luft, die es umgab, mußte man es wie in eine Nische hineinpassen und ihm so eine Sicherheit geben, einen Halt und eine Hoheit, die aus seinem einfachen Dasein, nicht aus seiner Bedeutung kam.

Rodin wußte, daß es zunächst auf eine unfehlbare Kenntnis des menschlichen Körpers ankam. Langsam, forschend war er bis zu seiner Oberfläche vorgeschritten, und nun streckte sich von Außen eine Hand entgegen, welche diese Oberfläche von der anderen Seite ebenso genau bestimmte und begrenzte, wie sie es von Innen war. Je weiter er ging auf seinem entlegenen Wege, desto mehr blieb der Zufall zurück, und ein Gesetz führte ihn dem anderen zu. Und schließlich war es diese Oberfläche, auf die seine Forschung sich wandte. Sie bestand aus unendlich vielen Begegnungen des Lichtes mit dem Dinge, und es zeigte sich, daß jede dieser Begegnungen anders war und jede merkwürdig. An dieser Stelle schienen sie einander aufzunehmen, an jener sich zögernd zu begrüßen, an einer dritten fremd an einander vorbeizugehen; und es gab Stellen ohne Ende und keine, auf der nicht etwas geschah. Es gab keine Leere.

[149] In diesem Augenblick hatte Rodin das Grundelement seiner Kunst entdeckt, gleichsam die Zelle seiner Welt. Das war die Fläche, diese verschieden große, verschieden betonte, genau bestimmte Fläche, aus der alles gemacht werden mußte. Von da ab war sie der Stoff seiner Kunst, das, worum er sich mühte, wofür er wachte und litt. Seine Kunst baute sich nicht auf eine große Idee auf, sondern auf eine kleine gewissenhafte Verwirklichung, auf das Erreichbare, auf ein Können. Es war kein Hochmut in ihm. Er schloß sich an diese unscheinbare und schwere Schönheit an, an die, die er noch überschauen, rufen und richten konnte. Die andere, die große, mußte kommen, wenn alles fertig war, so wie die Tiere zur Tränke kommen, wenn die Nacht sich vollendet hat und nichts Fremdes mehr an dem Walde haftet.

Mit dieser Entdeckung begann Rodins eigenste Arbeit. Nun erst waren alle die herkömmlichen Begriffe der Plastik für ihn wertlos geworden. Es gab weder Pose, noch Gruppe, noch Komposition. Es gab nur unzählbar viele lebendige Flächen, es gab nur Leben, und das Ausdrucksmittel, das er sich gefunden hatte, ging gerade auf dieses Leben zu. Nun hieß es seiner und seiner Fülle mächtig zu werden. Rodin erfaßte das Leben, das überall war, wohin er sah. Er erfaßte es an den kleinsten Stellen, er beobachtete es, er ging ihm nach. Er erwartete es an den Übergängen, wo es zögerte, er holte es ein, wo es lief, und er fand es an allen Orten gleich groß, gleich mächtig und hinreißend. Da war kein Teil des Körpers unbedeutend oder gering: er lebte. Das Leben, [150] das in den Gesichtern wie auf Zifferblättern stand, leicht ablesbar und voll Bezug auf die Zeit, – in den Körpern war es zerstreuter, größer, geheimnisvoller und ewiger. Hier verstellte es sich nicht, hier ging es nachlässig, wo es nachlässig war, und stolz bei den Stolzen; zurücktretend von der Bühne des Angesichtes, hatte es die Maske abgenommen und stand, wie es war, hinter den Kulissen der Kleider. Hier fand er die Welt seiner Zeit, wie er jene des Mittelalters an den Kathedralen erkannt hatte: versammelt um ein geheimnisvolles Dunkel, zusammengehalten von einem Organismus, an ihn angepaßt und ihm dienstbar gemacht. Der Mensch war zur Kirche geworden und es gab tausend und tausend Kirchen, keine der anderen gleich und jede lebendig. Aber es galt zu zeigen, daß sie alle eines Gottes waren.

Jahre und Jahre ging Rodin auf den Wegen dieses Lebens als ein Lernender und Demütiger, der sich als Anfänger fühlte. Niemand wußte von seinen Versuchen, er hatte keinen Vertrauten und wenig Freunde. Hinter der Arbeit, die ihn nährte, verbarg sich sein werdendes Werk und erwartete seine Zeit. Er las viel. Man war gewohnt, ihn in Brüssels Straßen immer mit einem Buche in der Hand zu sehen, aber vielleicht war dieses Buch oft nur ein Vorwand für das Vertieftsein in sich selbst, in die ungeheuere Aufgabe, die ihm bevorstand. Wie allen Tätigen war auch ihm das Gefühl, eine unabsehbare Arbeit vor sich zu haben, ein Antrieb, etwas was seine Kräfte vermehrte und versammelte. Und kamen Zweifel, kamen Ungewißheiten, kam die große Ungeduld der Werdenden zu ihm, die Furcht eines frühen [151] Todes oder die Drohung der täglichen Not, so fand das alles in ihm schon einen stillen, aufrechten Widerstand, einen Trotz, eine Stärke und Zuversicht, alle die noch nicht entfalteten Fahnen eines großen Sieges. Vielleicht war es die Vergangenheit, die in solchen Momenten auf seine Seite trat, die Stimme der Kathedralen, die er immer wieder hören ging. Auch aus den Büchern kam vieles was ihm zustimmte. Er las zum ersten Male Dantes Divina Comedia. Es war eine Offenbarung. Er sah die leidenden Leiber eines anderen Geschlechtes vor sich, sah, über alle Tage fort, ein Jahrhundert, dem die Kleider abgerissen waren, sah das große und unvergeßliche Gericht eines Dichters über seine Zeit. Da waren Bilder, die ihm recht gaben, und wenn er von den weinenden Füßen Nikolaus des Dritten las, so wußte er schon, daß es weinende Füße gab, daß es ein Weinen gab, das überall war, über einem ganzen Menschen, und Tränen, die aus allen Poren traten. Und von Dante kam er zu Baudelaire. Hier war kein Gericht, kein Dichter, der an der Hand eines Schattens zu den Himmeln stieg, ein Mensch, einer von den Leidenden hatte seine Stimme erhoben und hielt sie hoch über die Häupter der anderen empor, wie um sie zu retten vor einem Untergang. Und in diesen Versen gab es Stellen, die heraustraten aus der Schrift, die nicht geschrieben, sondern geformt schienen, Worte und Gruppen von Worten, die geschmolzen waren in den heißen Händen des Dichters, Zeilen, die sich wie Reliefs anfühlten, und Sonette, die wie Säulen mit verworrenen Kapitalen die Last eines bangen Gedankens trugen. Er fühlte dunkel, daß diese [152] Kunst, wo sie jäh aufhörte, an den Anfang einer anderen stieß, und daß sie sich nach dieser anderen gesehnt hatte; er fühlte in Baudelaire einen, der ihm vorangegangen war, einen, der sich nicht von den Gesichtern hatte beirren lassen und der nach den Leibern suchte, in denen das Leben größer war, grausamer und ruheloser.

Seit jenen Tagen blieben diese beiden Dichter ihm immer nah, er dachte über sie hinaus und kehrte zu ihnen zurück. In jener Zeit, wo seine Kunst sich formte und vorbereitete, wo alles Leben, das sie lernte, namenlos war und nichts bedeutete, gingen Rodins Gedanken in den Büchern der Dichter umher und holten sich dort eine Vergangenheit. Später, als er als Schaffender diese Stoffkreise wieder berührte, da stiegen ihre Gestalten wie Erinnerungen aus seinem eigenen Leben, weh und wirklich, in ihm auf und gingen in sein Werk wie in eine Heimat ein.


Endlich, nach Jahren einsamer Arbeit machte er den Versuch, mit einem Werke hervorzutreten. Es war eine Frage an die Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit antwortete verneinend. Und Rodin verschloß sich abermals für dreizehn Jahre. Es waren die Jahre, in denen er, immer noch als Unbekannter, zum Meister ausreifte, zum Unumschränkten Beherrscher seiner eigenen Mittel, immerfort arbeitend, denkend, versuchend, unbeeinflußt von der Zeit, die an ihm nicht teilnahm. Vielleicht gab ihm der Umstand, daß seine ganze Entwickelung in dieser ungestörten Stille vor sich gegangen war, später, als man um ihn stritt, als man seinem Werk widersprach, [153] jene gewaltige Sicherheit. Da, als man anfing an ihm zu zweifeln, hatte er keinen Zweifel mehr an sich selbst. Das alles lag hinter ihm. Nicht mehr von dem Zuruf und dem Urteil der Menge hing sein Schicksal ab, es war schon entschieden, als man meinte, es mit Spott und Feindseligkeit vernichten zu können. In der Zeit, als er wurde, klang keine fremde Stimme zu ihm, kein Lob, das ihn hätte irremachen, kein Tadel, der ihn hätte verwirren können. Wie Parzifal heranwächst, so wuchs sein Werk in Reinheit heran, allein mit sich und mit einer großen ewigen Natur. Nur seine Arbeit sprach zu ihm. Sie sprach zu ihm des Morgens beim Erwachen, und des Abends klang sie lange in seinen Händen nach wie in einem fortgelegten Instrumente. Darum war sein Werk so unüberwindlich: weil es erwachsen zur Welt kam; nicht mehr als werdendes erschien es, das um seine Berechtigung bat, sondern als Wirklichkeit, die sich durchgesetzt hat, die da ist, mit der man rechnen muß. Wie ein König, der hört, daß in seinem Reiche eine Stadt gebaut werden soll, überlegt, ob es gut sei, das Privileg zu gewähren, zögert und endlich aufbricht, die Stelle zu besehen; er kommt hin und findet eine große gewaltige Stadt, die fertig ist, steht, steht wie von Ewigkeit her mit Mauern, Türmen und Toren: so kam die Menge, als man sie schließlich rief, zu dem Werke Rodins, das fertig war.

Diese Periode des Reifwerdens ist begrenzt durch zwei Werke. An ihrem Anfang steht der Kopf desMannes mit der gebrochenen Nase, an ihrem Ende die Gestalt des jungen Mannes, des Mannes der ersten Zeiten, wie [154] Rodin ihn genannt hat. Der Homme au nez cassé wurde im Jahre 1864 vom »Salon« zurückgewiesen. Man begreift das sehr gut, denn man fühlt, daß in diesem Werke Rodins Art schon ganz ausgereift war, ganz vollendet und sicher; mit der Rücksichtslosigkeit eines großen Bekenntnisses widersprach es den Anforderungen der akademischen Schönheit, die noch immer die allein herrschende war. Umsonst hatte Rude seiner Göttin des Aufruhrs auf dem Triumphtor der place de l'Étoile die wilde Gebärde gegeben und den weiten Schrei, umsonst hatte Barye seine geschmeidigen Tiere geschaffen, und den ›Tanz‹ Carpeaux' hatte man nur verhöhnt, um sich schließlich so weit an ihn zu gewöhnen, daß man ihn nichtmehr sah. Es war alles beim alten geblieben. Die Plastik, die betrieben wurde, war immer noch die der Modelle, der Posen und der Allegorieen, das leichte, billige und gemächliche Metier, das mit der mehr oder weniger geschickten Wiederholung von einigen sanktionierten Gebärden auskam. In dieser Umgebung hätte schon der Kopf des Mannes mit der gebrochenen Nase jenen Sturm erregen müssen, der erst bei späteren Werken Rodins losbrach. Aber wahrscheinlich hat man ihn, als die Arbeit eines Unbekannten, fast unbesehen wieder zurückgeschickt.

Man fühlt, was Rodin anregte, diesen Kopf zu formen, den Kopf eines alternden, häßlichen Mannes, dessen gebrochene Nase den gequälten Ausdruck des Gesichtes noch verstärken half; es war die Fülle von Leben, die in diesen Zügen versammelt war; es war der Umstand, daß es auf diesem Gesichte gar keine symmetrischen [155] Flächen gab, daß nichts sich wiederholte, daß keine Stelle leer geblieben war, stumm oder gleichgültig. Dieses Gesicht war nicht vom Leben berührt worden, es war um und um davon angetan, als hatte eine unerbittliche Hand es in das Schicksal hineingehalten wie in die Wirbel eines waschenden, nagenden Wassers. Wenn man diese Maske in Händen hält und dreht, ist man überrascht über den fortwährenden Wechsel der Profile, von denen keines zufällig ist, ratend oder unbestimmt. Es giebt an diesem Kopf keine Linie, keine Überschneidung, keinen Kontur, den Rodin nicht gesehen und gewollt hat. Man glaubt zu fühlen, wie einige von diesen Furchen früher kamen, andere später, wie zwischen dem und jenem Riß, der durch die Züge geht, Jahre liegen, bange Jahre, man weiß, daß von den Zeichen dieses Gesichtes einige langsam eingeschrieben wurden, gleichsam zögernd, daß andere erst leise vorgezeichnet waren und von einer Gewohnheit oder einem Gedanken, der immer wiederkam, nachgezogen wurden, und man erkennt jene scharfen Scharten, die in einer Nacht entstanden sein mußten, wie vom Schnabel eines Vogels hineingehackt in die überwache Stirne eines Schlaflosen. Man muß sich mühsam erinnern, daß alles das auf dem Raume eines Gesichtes steht, so viel schweres, namenloses Leben erhebt sich aus diesem Werke. Legt man die Maske vor sich nieder, so meint man auf der Höhe eines Turmes zu stehen und auf ein unebenes Land herabzusehen, über dessen wirre Wege viele Völker gezogen sind. Und hebt man sie wieder auf, so hält man ein Ding, das man schön [156] nennen muß um seiner Vollendung willen. Aber nicht aus der unvergleichlichen Durchbildung allein ergiebt sich diese Schönheit. Sie entsteht aus der Empfindung des Gleichgewichts, des Ausgleichs aller dieser bewegten Flächen untereinander, aus der Erkenntnis dessen, daß alle diese Erregungsmomente in dem Dinge selbst ausschwingen und zu Ende gehen. War man eben noch ergriffen von der vielstimmigen Qual dieses Angesichtes, so fühlt man gleich darauf, daß keine Anklage davon ausgeht. Es wendet sich nicht an die Welt; es scheint seine Gerechtigkeit in sich zu tragen, die Aussöhnung aller seiner Widersprüche und eine Geduld, groß genug für alle seine Schwere.

Als Rodin diese Maske schuf, hatte er einen ruhig sitzenden Menschen vor sich und ein ruhiges Gesicht. Aber es war das Gesicht eines Lebendigen und als er es durchforschte, da zeigte sich, daß es voll von Bewegung war, voll von Unruhe und Wellenschlag. In dem Verlauf der Linien war Bewegung, Bewegung war in der Neigung der Flächen, die Schatten rührten sich wie im Schlafe, und leise schien das Licht an der Stirne vorbeizugehen. Es gab also keine Ruhe, nicht einmal im Tode; denn mit dem Verfall, der auch Bewegung ist, war selbst das Tote dem Leben noch untergeordnet. Es gab nur Bewegung in der Natur; und eine Kunst, die eine gewissenhafte und gläubige Auslegung des Lebens geben wollte, durfte nicht jene Ruhe, die es nirgends gab, zu ihrem Ideale machen. In Wirklichkeit hat auch die Antike nichts von einem solchen Ideal gewußt. Man mußte nur an die Nike denken. Diese [157] Skulptur hat uns nicht nur die Bewegung eines schönen Mädchens überliefert, das seinem Geliebten entgegengeht, sie ist zugleich ein ewiges Bildnis griechischen Windes, seiner Weite und Herrlichkeit. Und sogar die Steine älterer Kulturen waren nicht ruhig. In die hieratisch verhaltene Gebärde uralter Kulte war die Unruhe lebendiger Flächen eingeschlossen, wie Wasser in die Wände des Gefäßes. Es waren Strömungen in den verschlossenen Göttern, welche saßen, und in den stehenden war eine Gebärde, die wie eine Fontäne aus dem Steine stieg und wieder in denselben zurückfiel, ihn mit vielen Wellen erfüllend. Nicht die Bewegung war es, die dem Sinne der Skulptur (und das heißt einfach dem Wesen des Dinges) widerstrebte; es war nur die Bewegung, die nicht zu Ende geht, die nicht von anderen im Gleichgewicht gehalten wird, die hinausweist über die Grenzen des Dinges. Das plastische Ding gleicht jenen Städten der alten Zeit, die ganz in ihren Mauern lebten: die Bewohner hielten deshalb nicht ihren Atem an und die Gebärden ihres Lebens brachen nicht ab. Aber nichts drang über die Grenzen des Kreises, der sie umgab, nichts war jenseits davon, nichts zeigte aus den Toren hinaus und keine Erwartung war offen nach außen. Wie groß auch die Bewegung eines Bildwerkes sein mag, sie muß, und sei es aus unendlichen Weiten, sei es aus der Tiefe des Himmels, sie muß zu ihm zurückkehren, der große Kreis muß sich schließen, der Kreis der Einsamkeit, in der ein Kunst-Ding seine Tage verbringt. Das war das Gesetz, welches, ungeschrieben, lebte in den Skulpturen vergangener Zeiten. Rodin erkannte [158] es. Was die Dinge auszeichnet, dieses Ganz-mit-sich-Beschäftigtsein, das war es, was einer Plastik ihre Ruhe gab; sie durfte nichts von außen verlangen oder erwarten, sich auf nichts beziehen, was draußen lag, nichts sehen, was nicht in ihr war. Ihre Umgebung mußte in ihr liegen. Es war derBildhauer Lionardo, der der Gioconda die Unnahbarkeit gegeben hat, diese Bewegung, die nach innen geht, dieses Schauen, dem man nicht begegnen kann. Wahrscheinlich wird sein Francesco Sforza ebenso gewesen sein, von einer Gebärde bewegt, die, gleich einem stolzen Gesandten seines Staates nach vollbrachtem Auftrag, zu ihm zurückkehrte.

In den langen Jahren, die zwischen der Maske desHomme au nez cassé und jener Figur des Mannes der ersten Zeiten vergingen, vollzogen sich viele stille Entwickelungen in Rodin. Neue Beziehungen verbanden ihn fester mit der Vergangenheit seiner Kunst. Diese Vergangenheit und ihre Größe, an der so viele wie an einer Last getragen hatten, ihm wurde sie der Flügel, der ihn trug. Denn wenn er in jener Zeit je eine Zustimmung empfangen hat, eine Bestärkung dessen, was er wollte und suchte, so kam sie von den Dingen der Antike und aus dem faltigen Dunkel der Kathedralen. Menschen redeten nicht zu ihm. Steine sprachen.


Der Homme au nez cassé hatte geoffenbart, wie Rodin den Weg durch ein Gesicht zu gehen wußte, der Mann der ersten Zeiten bewies seine unumschränkte Herrschaft über den Körper. »Souverain tailleur d'ymaiges«, dieser Titel, den die Meister des Mittelalters einander [159] in neidloser ernster Wertung gaben, kam ihm zu. Hier war ein lebensgroßer Akt, auf dessen allen Stellen das Leben nicht nur gleich mächtig war, es schien auch überall zur Höhe desselben Ausdrucks erhoben zu sein. Was im Gesichte stand, dieselbe Schmerzhaftigkeit eines schweren Erwachens und zugleich diese Sehnsucht nach dem Schweren, war auf dem kleinsten Teil dieses Körpers geschrieben; jede Stelle war ein Mund, der es sagte, in seiner Art. Das strengste Auge konnte an dieser Figur keinen Platz entdecken, der weniger lebendig, weniger bestimmt und klar gewesen wäre. Es war, als stiege in die Adern dieses Mannes Kraft aus den Tiefen der Erde. Das war die Silhouette eines Baumes, der die Märzstürme noch vor sich hat und bange ist, weil die Frucht und Fülle seines Sommers nicht mehr in den Wurzeln wohnt, sondern schon, langsam steigend, im Stamme steht, um den die großen Winde jagen werden.

Diese Gestalt ist auch noch in anderem Sinne bedeutsam. Sie bezeichnet im Werke Rodins die Geburt der Gebärde. Jene Gebärde, die wuchs und sich allmählich zu solcher Größe und Gewalt entwickelte, hier entsprang sie wie eine Quelle, welche leise an diesem Leibe niederrann. Sie erwachte im Dunkel der ersten Zeiten und sie scheint, in ihrem Wachsen, durch die Weite dieses Werkes wie durch alle Jahrtausende zu gehen, weit über uns hinaus zu denen, die kommen werden. Zögernd entfaltet sie sich in den erhobenen Armen; und diese Arme sind noch so schwer, daß die Hand des einen schon wieder ausruht auf der Höhe des Hauptes. Aber sie schläft nichtmehr, sie sammelt sich; ganz hoch oben auf dem [160] Gipfel des Gehirnes, wo es einsam ist, bereitet sie sich vor auf die Arbeit, auf die Arbeit der Jahrhunderte, die nicht Absehn noch Ende hat. Und in dem rechten Fuße steht wartend ein erster Schritt.

Man könnte von dieser Gebärde sagen, daß sie wie in einer harten Knospe eingeschlossen ruht. Eines Gedankens Glut und ein Sturm im Willen: sie öffnet sich und es entsteht jener Johannes mit den redenden, erregten Armen, mit dem großen Gehen dessen, der einen Anderen hinter sich kommen fühlt. Der Körper dieses Mannes ist nicht mehr unerprobt: die Wüsten haben ihn durchglüht, der Hunger hat ihm weh getan, und alle Dürste haben ihn geprüft. Er hat bestanden und ist hart geworden. Sein hagerer Asketenleib ist wie ein Holzgriff, in dem die weite Gabel seines Schrittes steckt. Er geht. Er geht, als wären alle Weiten der Welt in ihm und als teilte er sie aus mit seinem Gehen. Er geht. Seine Arme sagen von diesem Gang und seine Finger spreizen sich und scheinen in der Luft das Zeichen des Schreitens zu machen.

Dieser Johannes ist der erste Gehende im Werke Rodins. Es kommen viele nach. Es kommen die Bürger von Calais, die ihren schweren Gang beginnen, und alles Gehen scheint vorzubereiten auf den großen herausfordernden Schritt des Balzac.

Aber auch die Gebärde des Stehenden entwickelt sich weiter, sie schließt sich, sie rollt sich zusammen wie brennendes Papier, sie wird stärker, geschlossener, erregter. So ist jene Figur der Eva, die ursprünglich bestimmt war, über dem Höllentor zu stehen. Der Kopf [161] senkt sich tief in das Dunkel der Arme, die sich über der Brust zusammenziehen wie bei einer Frierenden. Der Rücken ist gerundet, der Nacken fast horizontal, die Haltung vorgebogen wie zu einem Lauschen über dem eigenen Leibe, in dem eine fremde Zukunft sich zu rühren beginnt. Und es ist, als wirkte die Schwerkraft dieser Zukunft auf die Sinne des Weibes und zöge sie herab aus dem zerstreuten Leben in den tiefen demütigen Knechtdienst der Mutterschaft.

Immer und immer wieder kam Rodin bei seinen Akten auf dieses Sich-nach-innen-Biegen zurück, auf dieses angestrengte Horchen in die eigene Tiefe; so ist die wundervolle Gestalt, die er La Méditation genannt hat, so ist jene unvergeßliche Voix intérieure, die leiseste Stimme Victor Hugo'scher Gesänge, die auf dem Denkmal des Dichters fast verborgen unter der Stimme des Zornes steht. Niemals ist ein menschlicher Körper so um sein Inneres versammelt gewesen, so gebogen von seiner eigenen Seele und wieder zurückgehalten von seines Blutes elastischer Kraft. Und wie auf dem tief seitwärts gesenkten Leibe der Hals sich ein wenig aufrichtet und streckt und den horchenden Kopf über das ferne Rauschen des Lebens hält, das ist so eindringlich und groß empfunden, daß man sich keiner ergreifenderen und verinnerlichteren Gebärde zu erinnern weiß. Es fällt auf, daß die Arme fehlen. Rodin empfand sie in diesem Fall als eine zu leichte Lösung seiner Aufgabe, als etwas, was nicht zu dem Körper gehört, der sich in sich selber hüllen wollte, ohne fremde Hülfe. Man kann an die Duse denken, wie sie in einem Drama d'Annunzio's,[162] schmerzhaft verlassen, ohne Arme zu umarmen versucht und zu halten ohne Hände. Diese Szene, in der ihr Körper eine Liebkosung lernte, die weit über ihn hinausging, gehört zu den Unvergeßlichkeiten ihres Spieles. Es vermittelte den Eindruck, daß die Arme ein Überfluß waren, ein Schmuck, eine Sache der Reichen und der Unmäßigen, die man von sich werfen konnte, um ganz arm zu sein. Nicht als hatte sie Wichtiges eingebüßt, wirkte sie in diesem Augenblick; eher wie einer, der seinen Becher verschenkt, um aus dem Bache zu trinken, wie ein Mensch, der nackt ist und noch ein wenig hülflos in seiner tiefen Blöße. So ist es auch bei den armlosen Bildsäulen Rodins; es fehlt nichts Notwendiges. Man steht vor ihnen als vor etwas Ganzem, Vollendetem, das keine Ergänzung zuläßt. Nicht aus dem einfachen Schauen kommt das Gefühl des Unfertigen, sondern aus der umständlichen Überlegung, aus der kleinlichen Pedanterie, welche sagt, daß zu einem Körper Arme gehören und daß ein Körper ohne Arme nicht ganz sein könne, auf keinen Fall. Es ist nicht lange her, da lehnte man sich in derselben Weise gegen die vom Bildrande abgeschnittenen Bäumen der Impressionisten auf; man hat sich sehr rasch an diesen Eindruck gewöhnt, man hat, für den Maler wenigstens, einsehen und glauben gelernt, daß ein künstlerisches Ganzes nicht notwendig mit dem gewöhnlichen Ding-Ganzen zusammenfallen muß, daß, unabhängig davon, innerhalb des Bildes neue Einheiten entstehen, neue Zusammenschlüsse, Verhältnisse und Gleichgewichte. Es ist in der Skulptur nicht anders. Dem Künstler steht es zu, aus [163] vielen Dingen eines zu machen und aus dem kleinsten Teil eines Dinges eine Welt. Es giebt im Werke Rodins Hände, selbständige, kleine Hände, die, ohne zu irgend einem Körper zu gehören, lebendig sind. Hände, die sich aufrichten, gereizt und böse, Hände, deren fünf gesträubte Finger zu bellen scheinen wie die fünf Halse eines Höllenhundes. Hände, die gehen, schlafende Hände, und Hände, welche erwachen; verbrecherische, erblich belastete Hände und solche, die müde sind, die nichts mehr wollen, die sich niedergelegt haben in irgend einen Winkel, wie kranke Tiere, welche wissen, daß ihnen niemand helfen kann. Aber Hände sind schon ein komplizierter Organismus, ein Delta, in dem viel fernherkommendes Leben zusammenfließt, um sich in den großen Strom der Tat zu ergießen. Es giebt eine Geschichte der Hände, sie haben tatsächlich ihre eigene Kultur, ihre besondere Schönheit; man gesteht ihnen das Recht zu, eine eigene Entwickelung zu haben, eigene Wünsche, Gefühle, Launen und Liebhabereien. Rodin aber, der durch die Erziehung, die er sich gegeben hat, weiß, daß der Körper aus lauter Schauplätzen des Lebens besteht, eines Lebens, das auf jeder Stelle individuell und groß werden kann, hat die Macht, irgendeinem Teil dieser weiten schwingenden Fläche die Selbständigkeit und Fülle eines Ganzen zu geben. Wie der menschliche Körper für Rodin nur so lange ein Ganzes ist, als eine gemeinsame (innere oder äußere) Aktion alle seine Glieder und Kräfte im Aufgebot hält, so ordnen sich ihm andererseits auch Teile verschiedener Leiber, die aus innerer Notwendigkeit aneinander haften, zu [164] einem Organismus ein. Eine Hand, die sich auf eines anderen Schulter oder Schenkel legt, gehört nicht mehr ganz zu dem Körper, von dem sie kam: aus ihr und dem Gegenstand, den sie berührt oder packt, entsteht ein neues Ding, ein Ding mehr, das keinen Namen hat und niemandem gehört; und um dieses Ding, das seine bestimmten Grenzen hat, handelt es sich nun. Diese Erkenntnis ist die Grundlage für die Gruppierung der Gestalten bei Rodin; aus ihr kommt jenes unerhörte Aneinander-Gebunden-Sein der Figuren, jenes Zusammenhalten der Formen, jenes Sich-Nicht-Loslassen, um keinen Preis. Er geht nicht von den Figuren aus, die sich umfassen, er hat keine Modelle, die er anordnet und zusammenstellt. Er fängt bei den Stellen der stärksten Berührung als bei den Höhepunkten des Werkes an; dort, wo etwas Neues entsteht, setzt er ein und widmet alles Wissen seines Werkzeugs den geheimnisvollen Erscheinungen, die das Werden eines neuen Dinges begleiten. Er arbeitet gleichsam beim Schein der Blitze, die an diesen Punkten entstehen, und sieht nur diejenigen Teile der ganzen Körper, die beschienen sind. Der Zauber der großen Gruppe des Mädchens und des Mannes, die Der Kuß genannt wird, liegt in dieser weisen und gerechten Verteilung des Lebens; man hat das Gefühl, als gingen hier von allen Berührungsflächen Wellen in die Körper hinein, Schauer von Schönheit, Ahnung und Kraft. Daher kommt es, daß man die Seligkeit dieses Kusses überall auf diesen Leibern zu schauen glaubt; er ist wie eine Sonne, die aufgeht, und sein Licht liegt überall. Aber noch wunderbarer ist jener [165] andere Kuß, um den sich, wie die Mauer um einen Garten, jenes Werk erhebt, welches Éternelle Idole heißt. Eine der Wiederholungen dieses Marmors ist im Besitze Eugène Carrières, und in der stillen Dämmerung seines Hauses lebt dieser klare Stein wie ein Quell, in dem immer dieselbe Bewegung ist, derselbe Aufstieg und Niederfall verzauberter Kraft. Ein Mädchen kniet. Ihr schöner Leib hat sich sanft zurückgelehnt. Ihr rechter Arm hat sich nach hinten gestreckt, und ihre Hand hat tastend ihren Fuß gefunden. In diese drei Linien, aus denen kein Weg hinausführt in die Welt, schließt sich ihr Leben mit seinem Geheimnis ein. Der Stein unter ihr hebt sie empor, wie sie so kniet. Und man glaubt plötzlich in der Haltung, in die dieses junge Mädchen aus Trägheit, aus Träumerei oder aus Einsamkeit verfiel, eine uralte heilige Gebärde zu erkennen, in welche die Göttin ferner, grausamer Kulte versunken war. Der Kopf dieses Weibes neigt sich ein wenig vor; mit einem Ausdruck von Nachsicht, Hoheit und Geduld, sieht sie, wie aus der Höhe einer stillen Nacht, auf den Mann hinab, der sein Gesicht in ihre Brust versenkt wie in viele Blüten. Auch er kniet, aber tiefer, tief im Stein. Seine Hände liegen hinter ihm, wie wertlose und leere Dinge. Die Rechte ist offen; man sieht hinein. Von dieser Gruppe geht eine geheimnisvolle Größe aus. Man wagt (wie so oft bei Rodin) nicht, ihr eine Bedeutung zu geben. Sie hat tausende. Wie Schatten gehn die Gedanken über sie und hinter jedem steigt sie neu und rätselhaft auf in ihrer Klarheit und Namenlosigkeit.

[166] Etwas von der Stimmung eines Purgatorio lebt in diesem Werke. Ein Himmel ist nah, aber er ist noch nicht erreicht; eine Hölle ist nah, aber sie ist noch nicht vergessen. Auch hier strahlt aller Glanz von der Berührung aus; von der Berührung der beiden Körper und von der Berührung des Weibes mit sich selbst.


Und nichts anderes als eine immer neue Ausgestaltung des Themas von der Berührung lebendiger und bewegter Flächen, ist jene gewaltige Porte de I'Enfer, an der Rodin seit zwanzig Jahren einsam gearbeitet hat und deren Guß nun bevorsteht. Gleichzeitig im Erforschen der Bewegung von Flächen und ihrer Vereinigung fortschreitend, kam Rodin dazu, Körper zu suchen, die sich mit vielen Stellen berührten, Körper, deren Berührungen heftiger waren, stärker, ungestümer. Je mehr Berührungspunkte zwei Körper einander boten, je ungeduldiger sie aufeinander zustürzten, gleich chemischen Stoffen von großer Verwandtschaft, desto fester und organischer hielt das neue Ganze, das sie bildeten, zusammen. Erinnerungen aus Dante tauchten auf. Ugolino, und die Wandernden selbst, Dante und Virgil aneinandergedrängt, das Gewühl der Wollüstigen, aus dem, wie ein verdorrter Baum, die greifende Gebärde des Geizigen ragte. Die Zentauren, die Riesen und Ungeheuer, Sirenen, Faune und Weiber von Faunen, alle die wilden und reißenden Gott-Tiere des vorchristlichen Waldes kamen auf ihn zu. Und er schuf. Er verwirklichte alle die Gestalten und Formen des Dantischen Traumes, hob sie empor, [167] wie aus der bewegten Tiefe eigener Erinnerungen und gab ihnen, einem nach dem anderen, des Dingseins leise Erlösung. Hunderte von Figuren und Gruppen entstanden auf diese Art. Aber die Bewegungen, die er in den Worten des Dichters fand, gehörten einer anderen Zeit; sie erweckten in dem Schaffenden, der sie auferstehen ließ, das Wissen von tausend anderen Gebärden, Gebärden des Greifens, Verlierens, Leidens und Lassens, die inzwischen entstanden waren, und seine Hände, die keine Ermüdung kannten, gingen weiter und weiter, über die Welt des Florentiners hinaus zu immer neuen Gesten und Gestalten.

Dieser ernste, gesammelte Arbeiter, der nie nach Stoffen gesucht hatte und keine andere Erfüllung wollte, als die, welche seinem immer reiferen Werkzeug erreichbar war, kam auf diesem Wege durch alle Dramen des Lebens: jetzt tat sich ihm die Tiefe der Liebesnächte auf, die dunkle lust- und kummervolle Weite, in der es, wie in einer noch immer heroischen Welt, keine Kleider gab, in der die Gesichter verlöscht waren und die Leiber galten. Er kam mit weißglühenden Sinnen, als ein Suchender des Lebens, in die große Wirrnis dieses Ringens und was er sah war: Leben. Es wurde nicht eng um ihn, klein und schwül. Es wurde weit. Die Atmosphäre der Alkoven war fern. Hier war das Leben, war tausendmal in jeder Minute, war in Sehnsucht und Weh, in Wahnsinn und Angst, in Verlust und Gewinn. Hier war ein Verlangen, das unermeßlich war, ein Durst so groß, daß alle Wasser der Welt in ihm wie ein Tropfen vertrockneten, hier war [168] kein Lügen und Verleugnen, und die Gebärden von Geben und Nehmen, hier waren sie echt und groß. Hier waren die Laster und die Lästerungen, die Verdammnisse und die Seligkeiten, und man begriff auf einmal, daß eine Welt arm sein mußte, die das alles verbarg und vergrub und tat, als ob es nicht wäre. Es war. Neben der ganzen Geschichte der Menschheit ging diese andere Historie her, die keine Verkleidungen kannte, keine Konventionen, keine Unterschiede und Stände, – nur Kampf. Auch sie hatte ihre Entwickelung gehabt. Sie war aus einem Trieb eine Sehnsucht geworden, aus einer Begierde zwischen Mann und Weib ein Begehren von Mensch zu Mensch. Und so erscheint sie im Werke Rodins. Noch ist es die ewige Schlacht der Geschlechter, aber das Weib ist nicht mehr das überwältigte oder das willige Tier. Sie ist sehnsüchtig und wach wie der Mann, und es ist, als hätten sie sich zusammengetan, um beide nach ihrer Seele zu suchen. Der Mensch, der nachts aufsteht und leise zu einem anderen geht, ist wie ein Schatzgräber, der das große Glück, das so notwendig ist, ergraben will am Kreuzweg des Geschlechts. Und in allen Lastern, in allen Lüsten wider die Natur, in allen diesen verzweifelten und verlorenen Versuchen, dem Dasein einen unendlichen Sinn zu finden, ist etwas von jener Sehnsucht, die die großen Dichter macht. Hier hungert die Menschheit über sich hinaus. Hier strecken sich Hände aus nach der Ewigkeit. Hier öffnen sich Augen, schauen den Tod und fürchten ihn nicht; hier entfaltet sich ein hoffnungsloses Heldentum, dessen [169] Ruhm wie ein Lächeln kommt und geht und wie eine Rose blüht und bricht. Hier sind die Stürme des Wunsches und die Windstillen der Erwartung; hier sind Träume, die zu Taten werden, und Taten, die in Träumen vergehen. Hier wird, wie in einer Riesenspielbank, ein Vermögen von Kraft gewonnen oder verloren. Das alles steht in dem Werke Rodins. Er, der schon durch soviel Leben gegangen war, hier fand er des Lebens Fülle und Überfluß. Die Körper, an denen jede Stelle Wille war, die Wunde, die die Form von Schreien hatten, welche aus den Tiefen der Erde zu steigen schienen. Er fand die Gebärden der Urgötter, die Schönheit und Geschmeidigkeit der Tiere, den Taumel alter Tanze und die Bewegungen vergessener Gottesdienste seltsam verbunden mit den neuen Gebärden, die entstanden waren in der langen Zeit, während welcher die Kunst abgewendet war und allen diesen Offenbarungen blind. Diese neuen Gebärden waren ihm besonders interessant. Sie waren ungeduldig. Wie einer, der lange nach einem Gegenstand sucht, immer ratloser wird, zerstreuter und eiliger, und um sich herum eine Zerstörung schafft, eine Anhäufung von Dingen, die er aus ihrer Ordnung zieht, als wollte er sie zwingen mitzusuchen, so sind die Gebärden der Menschheit, die ihren Sinn nicht finden kann, ungeduldiger geworden, nervöser, rascher und hastiger. Und alle die durchwühlten Fragen des Daseins liegen um sie her. Aber ihre Bewegungen sind zugleich auch wieder zögernder geworden. Sie haben nicht mehr die gymnastische und entschlossene Gradheit, mit der frühere[170] Menschen nach allem gegriffen haben. Sie gleichen nicht jenen Bewegungen, die in den alten Bildwerken aufbewahrt sind, den Gesten, bei denen nur der Ausgangspunkt und der Endpunkt wichtig war. Zwischen diese beiden einfachen Momente haben sich unzählige Übergänge eingeschoben, und es zeigte sich, daß gerade in diesen Zwischen-Zuständen das Leben des heutigen Menschen verging, sein Handeln und sein Nicht-handeln-Können. Das Ergreifen war anders geworden, das Winken, das Loslassen und das Halten. In allem war viel mehr Erfahrung und zugleich auch wieder mehr Unwissenheit; viel mehr Mutlosigkeit und ein fortwährendes Angehen gegen Widerstände; viel mehr Trauer um Verlorenes, viel mehr Abschätzung, Urteil, Erwägung und weniger Willkür. Rodin schuf diese Gebärden. Er machte sie aus einer oder aus mehreren Gestalten, formte sie zu Dingen in seiner Art. Er gab Hunderten und Hunderten von Figuren, die nur ein wenig größer waren als seine Hände, das Leben aller Leidenschaften zu tragen, das Blühen aller Lüste und aller Laster Last. Er schuf Körper, die sich überall berührten und zusammenhielten wie ineinander verbissene Tiere, die als ein Ding in die Tiefe fallen; Leiber, die horchten wie Gesichter und ausholten wie Arme; Ketten von Leibern, Gewinde und Ranken, und schwere Trauben von Gestalten, in welche der Sünde Süße stieg aus den Wurzeln des Schmerzes. Gleich machtvoll und überlegen hat nur Lionardo Menschen zusammengefügt in seiner grandiosen Beschreibung des Weltuntergangs. Wie dort, gab es auch [171] hier solche, die sich in den Abgrund warfen, um das große Weh vergessen zu können, und solche, die ihren Kindern die Köpfe zerschlugen, damit sie nicht hineinwüchsen in das große Weh. – Das Heer dieser Figuren war viel zu zahlreich geworden, um in den Rahmen und die Türflügel des Höllen-Tores hineinzupassen. Rodin wählte und wählte. Er schied alles aus, was zu einsam war, um sich der großen Gesamtheit zu unterwerfen, alles was nicht ganz notwendig war in diesem Zusammenhang. Er ließ die Gestalten und Gruppen selbst sich ihren Platz finden; er beobachtete das Leben des Volkes, das er geschaffen hatte, belauschte es und tat jedem seinen Willen. So erwuchs allmählich die Welt dieses Tores. Seine Fläche, an welche die plastischen Formen angefügt wurden, begann sich zu beleben; mit immer leiser werdenden Reliefs verhallte die Erregung der Figuren in die Fläche hinein. Im Rahmen ist von beiden Seiten ein Aufsteigen, ein Sich-empor-Ziehen und Hoch-Heben, in den Flügeln des Tores ein Fallen, Gleiten und Stürzen die herrschende Bewegung. Die Flügel treten ein wenig zurück, und ihr oberer Rand ist von dem vorspringenden Rand des Querrahmens noch durch eine ziemlich große Fläche getrennt. Vor diese, in den still geschlossenen Raum, ist die Gestalt desDenkers gesetzt, des Mannes, der die ganze Größe und alle Schrecken dieses Schauspieles sieht, weil er es denkt. Er sitzt versunken und stumm, schwer von Bildern und Gedanken, und alle seine Kraft (die die Kraft eines Handelnden ist) denkt. Sein ganzer Leib ist Schädel geworden und alles Blut in [172] seinen Adern Gehirn. Er ist der Mittelpunkt des Tores, obwohl noch über ihm auf der Höhe des Rahmens drei Männer stehen. Die Tiefe wirkt auf sie und formt sie aus der Ferne. Sie haben ihre Köpfe zusammengebogen, ihre drei Arme sind vorgestreckt, laufen zusammen und zeigen hinunter auf dieselbe Stelle, in denselben Abgrund, welcher sie niederzieht mit seiner Schwere. Der Denker aber muß sie in sich tragen.


Unter den Gruppen und Bildwerken, die aus Anlaß dieses Tores entstanden sind, giebt es viele von großer Schönheit. Es ist unmöglich, sie alle aufzuzählen, wie es unmöglich ist, sie zu beschreiben. Rodin selbst hat einmal gesagt, er müßte ein Jahr reden, um eines seiner Werke mit Worten zu wiederholen. Man kann nur sagen, daß diese kleinen Bildwerke, welche in Gips, Bronze und Stein erhalten sind, ähnlich wie manche von den kleinen Tierfiguren der Antike den Eindruck ganz großer Dinge machen. Es giebt in Rodins Atelier den Abguß eines kaum handgroßen Panthers griechischer Arbeit (das Original befindet sich im Medaillen-Kabinett der Pariser National-Bibliothek); wenn man unter seinem Leibe durch von vorn in den Raum blickt, der von den vier geschmeidigstarken Tatzen gebildet wird, kann man glauben, in die Tiefe eines indischen Felsentempels zu sehen; so wächst dieses Werk und weitet sich zur Größe seiner Maße. Ähnlich ist es bei den kleinen Plastiken Rodins. Indem er ihnen viele Stellen giebt, unzählbar viele, vollkommene und bestimmte Flächen, macht er sie [173] groß. Die Luft ist um sie wie um Felsen. Wenn in ihnen ein Aufstehn ist, dann scheint es, als hüben sie die Himmel empor, und die Flucht ihres Falles reißt die Sterne mit.

Vielleicht ist damals auch die Danaïde entstanden, die sich aus dem Knieen niedergeworfen hat in ihr fließendes Haar. Es ist wunderbar, um diesen Marmor langsam herumzugehen: den langen, langen Weg um die reichentfaltete Rundung dieses Rückens, zu dem sich im Stein wie in einem großen Weinen verlierenden Gesicht, zu der Hand, die, wie eine letzte Blume, noch einmal leise vom Leben spricht, tief im ewigen Eise des Blockes. Und die Illusion, die Tochter des Ikarus, diese blendende Dingwerdung eines langen hülflosen Falles. Und die schöne Gruppe, dieL'homme et sa pensée genannt worden ist. Die Darstellung eines Mannes der kniet und, mit seiner Stirne Berührung, aus dem Stein vor ihm die leisen Formen eines Weibes weckt, die an den Stein gebunden bleiben; wenn man hier auslegen will, so mag man sich freuen über den Ausdruck dieser Untrennbarkeit, mit der der Gedanke an des Mannes Stirne haftet: denn es ist immer nur sein Gedanke, der lebt und vor ihm steht; gleich dahinter ist Stein. Verwandt damit ist auch der Kopf, der sich sinnend und still bis zum Kinn aus einem großen Steine löst, der Gedanke, dieses Stück Klarheit, Sein und Gesicht, das sich langsam aus dem schweren Schlafe des dumpf Dauernden erhebt. Und dann die Karyatide. Nichtmehr die aufrechte Figur, die leicht oder schwer das Tragen eines Steines erträgt, unter den [174] sie sich doch nur gestellt hat, als er schon hielt; ein weiblicher Akt, knieend, gebeugt, in sich hineingedrückt und ganz geformt von der Hand der Last, deren Schwere wie ein fortwährender Fall in alle Glieder sinkt. Auf jedem kleinsten Teile dieses Leibes liegt der ganze Stein wie ein Wille, der größer war, älter und mächtiger, und doch hat seines Tragens Schicksal nicht aufgehört. Er trägt, wie man im Traum das Unmögliche trägt, und findet keinen Ausweg. Und sein Zusammengesunkensein und Versagen ist immer noch Tragen geblieben, und wenn die nächste Müdigkeit kommt und den Körper ganz niederzwingt ins Liegen, so wird auch das Liegen noch Tragen sein, Tragen ohne Ende. So ist dieKaryatide.

Man kann, wenn man will, die meisten Werke Rodins mit Gedanken begleiten, erklären und umgeben. Für alle, denen das einfache Schauen ein zu ungewohnter und schwerer Weg zur Schönheit ist, giebt es andere Wege, Umwege über Bedeutungen, die edel sind, groß und voll Gestalt. Es ist, als ob das unendliche Gut und Richtigsein dieser Akte, das vollkommene Gleichgewicht aller ihrer Bewegungen, die wunderbare innere Gerechtigkeit ihrer Verhältnisse, ihr Vom-Leben- Durchdrungensein, als ob alles das, was sie zu schönen Dingen macht, ihnen auch die Kraft verliehe, unübertreffliche Verwirklichungen der Stoffe zu sein, die der Meister in die Nähe rief, da er sie benannte. Nie ist ein Stoff bei Rodin an ein Kunst-Ding gebunden, wie ein Tier an einen Baum. Er lebt irgendwo in der Nähe des Dinges und lebt von ihm, etwa wie der Kustos einer Sammlung. [175] Man erfährt manches, wenn man ihn ruft; wenn man es aber versteht, ohne ihn auszukommen, ist man mehr allein und ungestört und erfährt noch mehr.


Wo die erste Anregung vom Stofflichen ausging, wo eine antike Sage, die Stelle eines Gedichtes, eine historische Szene oder eine wirkliche Person Schaffens-Anlaß war, da übersetzt sich, wenn Rodin beginnt, während der Arbeit das Stoffliche immer mehr in Sachliches und Namenloses: in die Sprache der Hände übertragen, haben die Anforderungen, die sich ergeben, alle einen neuen, ganz auf die plastische Erfüllung bezüglichen Sinn.

In den Zeichnungen Rodins geht, vorbereitend, dieses Vergessen und Verwandeln der stofflichen Anregung vor sich. Er hat auch in dieser Kunst seine eigenen Ausdrucksmittel sich erzogen, und das macht diese Blätter (es sind viele Hunderte) zu einer selbständigen und originellen Offenbarung seiner Persönlichkeit.

Da sind zunächst, aus früherer Zeit, Tuschzeichnungen mit überraschend starken Licht- und Schattenwirkungen, wie der berühmte Homme au Taureau, bei dem man an Rembrandt denken möchte, wie der Kopf des jungen Saint Jean-Baptiste oder die schreiende Maske für den Genius des Krieges; lauter Notizen und Studien, welche dem Künstler das Leben der Flächen erkennen halfen und ihr Verhältnis zur Atmosphäre. Dann kommen Akte, die mit jagender Sicherheit gezeichnet sind, Formen, ausgefüllt von allen ihren Konturen, modelliert mit vielen schnellen Federstrichen, [176] und andere, eingeschlossen in die Melodie eines einzigen vibrierenden Umrisses, aus dem sich mit unvergeßlicher Reinheit eine Gebärde erhebt. So sind die Zeichnungen, mit denen Rodin, auf den Wunsch eines feinsinnigen Sammlers hin, ein Exemplar der »Fleurs du Mal« begleitet hat. Man sagt nichts, wenn man da von einem sehr tiefen Verständnis Baudelaire'scher Verse spricht; man versucht mehr zu sagen, wenn man sich erinnert, wie diese Gedichte in ihrem Mit-sich-Gesättigtsein keine Ergänzung zulassen und keine Steigerung über sich hinaus: und daß man doch beides empfindet, Ergänzung und Steigerung, wo Rodin'sche Linien sich diesem Werke anschmiegen, das ist ein Maßstab für die hinreißende Schönheit dieser Blätter. Die Federzeichnung, die neben das Gedicht La mort des pauvres gestellt ist, reicht mit einer Gebärde von so einfacher, fortwährend wachsender Großheit über diese großen Verse hinaus, daß man meint, sie erfülle die Welt von Aufgang nach Untergang.

Und so sind auch die Radierungen mit der kalten Nadel, in denen der Lauf unendlich zarter Linien wie der äußerste Umriß eines schönen gläsernen Dinges erscheint, der, in jedem Augenblicke genau bestimmt, hinfließt über das Wesen einer Wirklichkeit.

Endlich aber entstanden auch jene seltsamen Dokumente des Momentanen, des unmerklich Vorübergehenden. Rodin vermutete, daß unscheinbare Bewegungen, die das Modell tut, wenn es sich unbeobachtet glaubt, rasch zusammengefaßt, eine Stärke des Ausdrucks enthalten könnten, die wir nicht ahnen, weil [177] wir nicht gewohnt sind, sie mit gespannter und tätiger Aufmerksamkeit zu begleiten. Indem er das Modell nicht aus dem Auge verlor und seiner erfahrenen und raschen Hand ganz das Papier überließ, zeichnete er eine Unmenge niegesehener, immer versäumter Gebärden auf, und es ergab sich, daß die Kraft des Ausdrucks, die von ihnen ausging, ungeheuer war. Bewegungszusammenhänge, die noch nie als Ganzes überschaut und erkannt worden waren, stellten sich dar, und sie enthielten alle Unmittelbarkeit, Wucht und Wärme eines geradezu animalischen Lebens. Ein Pinsel voll Ocker, schnell, mit wechselnder Betonung durch diesen Kontur geführt, modellierte so unglaublich stark die eingeschlossene Fläche, daß man meinte, plastische Figuren aus gebrannter Erde zu sehen. Und wieder war eine ganz neue Weite entdeckt, namenlosen Lebens voll; eine Tiefe, über die alle hallenden Schrittes gegangen waren, gab ihre Wasser dem, in dessen Händen die Weidenrute gewahrsagt hatte.

Auch wo es galt, Porträts zu geben, gehörte der zeichnerische Ausdruck des Themas zu den Vorbereitungen, über welche Rodin, langsam und sich sammelnd, zu dem fernen Werke geht. Denn, so unrecht man hat, in seiner plastischen Kunst eine Art von Impressionismus zu sehen, so ist doch die Menge präzis und kühn erfaßter Impressionen immer der große Reichtum, aus welchem er schließlich das Wichtige und Notwendige auswählt, um es in reifer Synthese zusammenzufassen. Wenn er von den Körpern, die er erforscht und bildet, zu den Gesichtern kommt, muß es ihm manchmal sein, [178] als träte er aus einer windigen, bewegten Weite in eine Stube, in welcher viele beisammen sind: hier ist alles gedrängt und dunkel, und die Stimmung eines Interieurs herrscht unter den Bogen der Brauen und im Schatten des Mundes. Wahrend über den Leibern immer Wechsel und Wellenschlag ist, Ebbe und Flut, steht in den Gesichtern die Luft. Es ist wie in Zimmern, in denen sich viel ereignet hat, Freudiges und Banges, Schweres und Erwartungsvolles. Und kein Ereignis ist ganz vergangen, keins hat das andere ersetzt; eines ist neben das andere gestellt worden und stehn geblieben und welk geworden wie eine Blume im Glase. Wer aber von draußen kommt, aus dem großen Wind, der bringt Weite herein in die Stuben.


Die Maske des Mannes mit der gebrochenen Nase war das erste Porträt, das Rodin geschaffen hat. In diesem Werke ist seine Art, durch ein Gesicht zu gehen, schon ganz ausgebildet, man fühlt seine unbegrenzte Hingabe an das Vorhandene, seine Ehrfurcht vor jeder Linie, die das Schicksal gezogen hat, sein Vertrauen zu dem Leben, das schafft, auch wo es entstellt. In einer Art von blindem Glauben hatte er denHomme au nez cassé geschaffen, ohne zu fragen, wer der Mann war, dessen Leben in seinen Händen noch einmal verging. Er hatte ihn gemacht, wie Gott den ersten Menschen gemacht hat, ohne die Absicht, etwas anderes zu wirken als das Leben selbst, namenloses Leben. Aber immer wissender, immer erfahrener und größer kam er zu den Gesichtern der Menschen zurück. Er konnte ihre [179] Züge nichtmehr sehen, ohne an die Tage zu denken, die daran gearbeitet hatten, an dieses ganze Heer von Handwerkern, die fortwährend um ein Gesicht herumgehen, als könnte es niemals fertig werden. Aus einer stillen und gewissenhaften Wiederholung des Lebens wurde so in dem reifen Manne eine erst tastende und versuchende, immer sicherer und kühner werdende Auslegung der Schrift, mit der die Gesichter über und über bedeckt waren. Er gab seiner Phantasie nicht Raum; er erfand nicht. Er verachtete nicht einen Augenblick den schweren Gang seines Werkzeugs. Es wäre ja so leicht gewesen, es auf irgend welchen Flügeln zu überholen. Wie früher ging er neben ihm einher, ging die ganzen weiten Strecken, die gegangen sein mußten, ging wie der Pflüger hinter seinem Pflug. Aber während er seine Furchen zog, dachte er über sein Land nach und über die Tiefe seines Landes, über den Himmel, der darüber war, über den Gang der Winde und über der Regen Fall, über alles das, was war und wehe tat und verging und wiederkam und nicht aufhörte zu sein. Und er glaubte in alledem jetzt, besser und weniger verwirrt von dem Vielen, das Ewige zu erkennen, das, um dessenwillen auch das Leid gut und die Schwere Mutterschaft war und der Schmerz schön.

Diese Auslegung, die bei den Porträts begann, wuchs von da immer weiter in sein Werk hinein. Sie ist die letzte Stufe, der äußerste Kreis seiner weiten Entwickelung. Sie fing langsam an. Mit unendlicher Vorsicht betrat Rodin diesen neuen Weg. Wieder drang er von Fläche zu Fläche vor, ging der Natur nach und hörte [180] auf sie. Sie selbst bezeichnete ihm gleichsam die Stellen, von denen er mehr wußte, als zu sehen war. Wenn er dort einsetzte und aus kleinen Verworrenheiten eine große Vereinfachung schuf, so tat er, was Christus den Leuten tat, wenn er die unklar Fragenden mit einem erhabenen Gleichnis reinigte von ihrer Schuld. Er erfüllte eine Intention der Natur. Er vollendete etwas, was im Werden hülflos war, er deckte die Zusammenhänge auf, wie der Abend eines Nebeltages die Berge aufdeckt, die in großen Wellen sich fortpflanzen in die Ferne.

Voll von seines ganzen Wissens lebendiger Last, sah er wie ein Zukünftiger in die Gesichter derer hinein, die um ihn lebten. Das giebt seinen Porträts die ungemein klare Bestimmtheit, aber auch jene prophetische Größe, die in den Bildern des Victor Hugo oder des Balzac sich zu einer unbeschreiblichen Vollendung erhob. Ein Bildnis schaffen hieß für ihn, in einem gegebenen Gesichte Ewigkeit suchen, jenes Stück Ewigkeit, mit dem es teilnahm an dem großen Gange ewiger Dinge. Er hat keinen gebildet, den er nicht ein wenig aus den Angeln gehoben hätte in die Zukunft hinein; wie man ein Ding vor den Himmel hält, um seine Formen reiner und einfacher zu verstehen. Das ist nicht, was man verschönern heißt, und auch charakteristisch machen ist kein passender Ausdruck dafür. Es ist mehr; es ist: das Dauernde vom Vergänglichen scheiden, Gericht halten, gerecht sein.

Sein Porträt-Werk umfaßt, auch wenn man von den Radierungen absieht, eine sehr große Zahl vollendeter [181] und meisterhafter Bildnisse. Es giebt da Büsten in Gips, in Bronze, in Marmor und Sandstein, Köpfe in gebranntem Ton und Masken, die man einfach hat eintrocknen lassen. Frauenbildnisse kehren immer wieder zu allen Zeiten seines Werkes. Die berühmte Büste des Luxembourg-Museums ist eines der frühesten. Sie ist voll eigentümlichen Lebens, schön, von einem gewissen frauenhaften Zauber, aber sie wird von vielen späteren Werken an Einfachheit und Zusammenfassung der Flächen übertroffen. Sie ist vielleicht das einzige unter Rodins Werken, dem nicht nur die diesem Bildhauer eigentümlichen Tugenden seine Schönheit gegeben haben; dieses Porträt lebt zum Teil auch durch die Gnade jener Grazie, die in der französischen Plastik seit Jahrhunderten erblich ist. Es glänzt ein wenig mit der Eleganz, die auch die schlechte Skulptur französischer Tradition immer noch aufweist; es ist nicht ganz frei von jener galanten Auffassung der belle femme, über welche der Ernst und die tief einsetzende Arbeit Rodins so rasch hinauswuchs. Aber man tut gut, sich an dieser Stelle zu erinnern, daß er auch dieses angestammte Gefühl zu überwinden hatte; er mußte ein angeborenes Können unterdrücken, um ganz arm zu beginnen. Er mußte deshalb nicht aufhören, Franzose zu sein: auch die Meister der Kathedralen waren es.

Die späteren Frauen-Bildnisse haben eine andere, tiefer begründete und weniger geläufige Schönheit. Dabei ist vielleicht zu sagen, daß es meistens Ausländerinnen waren, Amerikanerinnen, deren Porträts Rodin ausgeführt hat. Es giebt darunter solche von wunderbarer Arbeit, [182] Steine, die wie antike Kameen rein und unberührbar sind. Gesichter, deren Lächeln nirgends befestigt ist und so schleierleise über den Zügen spielt, daß es sich zu heben scheint bei jedem Atemholen. Rätselhaft verschlossene Lippen und Augen, die, über alles fort, in eine ewige Mondnacht schauen, traumhaft weit aufgetan. Und doch ist es, als empfände Rodin das Angesicht des Weibes am liebsten als einen Teil seines schönen Körpers, als wollte er, daß seine Augen Augen des Leibes seien und der Mund seines Leibes Mund. Wo er es so im Ganzen erschafft und schaut, da erhält auch das Gesicht einen so starken und ergreifenden Ausdruck nieverkündeten Lebens, daß die Porträts von Frauen (obwohl sie scheinbar »ausgeführter« sind) weit übertroffen werden.

Anders ist es bei den Männer-Bildnissen. Das Wesen eines Mannes kann man sich leichter im Raume seines Gesichtes versammelt denken. Man kann sich sogar vorstellen, daß es Augenblicke giebt (solche der Ruhe und solche der inneren Erregung), in welchen alles Leben in sein Gesicht eingetreten ist. Solche Augenblicke wählt Rodin, wo er ein männliches Porträt geben will; oder besser er schafft sie. Er holt weit aus. Er giebt nicht dem ersten Eindruck recht und nicht dem zweiten und von allen nächsten keinem. Er beobachtet und notiert. Er notiert Bewegungen, die keines Wortes wert sind, Wendungen und Halb – Wendungen, vierzig Verkürzungen und achtzig Profile. Er überrascht sein Modell in seinen Gewohnheiten und Zufälligkeiten, bei Ausdrücken, die erst im Entstehen sind, bei Müdigkeiten und Anstrengungen. [183] Er kennt alle Übergänge in seinen Zügen, weiß, woher das Lächeln kommt und wohin es zurückfällt. Er erlebt das Gesicht des Menschen wie eine Szene, an der er selbst teilnimmt, er steht mitten drin und nichts was passiert ist ihm gleichgültig oder entgeht ihm. Er läßt sich nichts von dem Betreffenden erzählen, er will nichts wissen als was er sieht. Aber er sieht alles.

So vergeht über jeder Büste viel Zeit. Das Material wächst, zum Teil in Zeichnungen, in ein paar Federstrichen und Tuschflecken festgehalten, zum Teil im Gedächtnisse angesammelt; denn dieses hat Rodin sich zu einem ebenso verläßlichen als bereiten Hülfsmittel ausgebildet. Sein Auge sieht während der Sitzungs-Stunden viel mehr, als er in dieser Zeit ausführen kann. Er vergißt nichts davon und oft, wenn das Modell ihn verlassen hat, beginnt für ihn das eigentliche Arbeiten aus der Fülle seiner Erinnerung. Seine Erinnerung ist weit und geräumig; die Eindrücke verändern sich nicht in ihr, aber sie gewöhnen sich an ihre Wohnung, und wenn sie von da in seine Hände steigen, so ist es, als wären sie natürliche Gebärden dieser Hände.

Diese Arbeitsweise führt zu gewaltigen Zusammenfassungen von hundert und hundert Lebensmomenten: und so ist auch der Eindruck, den diese Büsten machen. Die vielen fernen Kontraste und die unerwarteten Übergange, die einen Menschen bilden und eines Menschen fortwährende Entwickelung, treffen einander hier in glücklichen Begegnungen und halten aneinander mit einer inneren Adhäsionskraft fest. Aus allen Weiten ihres Wesens sind diese Menschen zusammengeholt, alle [184] Klimaten ihres Temperamentes entfalten sich auf den Hemisphären ihres Hauptes. Da ist der Bildhauer Dalou, in dem neben einer ausdauernden und geizigen Energie eine nervöse Müdigkeit vibriert, da ist Henri Rocheforts abenteuernde Maske, da ist Octave Mirbeau, bei dem hinter einem Tatmenschen eines Dichters Traum und Sehnsucht dämmert, und Puvis de Chavannes und Victor Hugo, den Rodin so genau kennt, und da ist vor allem die unbeschreiblich schöne Bronze, das Bildnis des MalersJean-Paul Laurens, von dem eine gute Abbildung diesem Buch beigegeben wurde. Diese Büste ist vielleicht die schönste Sache im Luxembourg-Museum. Sie ist von einer so tiefen und zugleich so groß empfundenen Durchbildung der Oberfläche, so geschlossen in der Haltung, so stark im Ausdruck, so bewegt und wach, daß man das Gefühl nicht verliert, die Natur selbst habe dieses Werk aus den Händen des Bildhauers genommen, um es zu halten wie eines ihrer liebsten Dinge. Die prachtvolle Patina, deren rauch-schwarzen Belag das Metall wie Feuer, flammend und sprühend, durchbricht, trägt viel dazu bei, die unheimliche Schönheit dieses Bildwerkes zu vollenden.

Auch eine Büste von Bastien-Lepage existiert, schön und melancholisch, mit dem Ausdruck des Leidenden, dessen Arbeit ein fortwährender Abschied von seinem Werke ist. Sie ist für Damvillers, das kleine Heimatdorf des Malers, gemacht worden und ist dort auf dem Kirchhofe aufgestellt. Sie ist also eigentlich ein Denkmal. Und die Büsten Rodins in ihrer Vollständigkeit und ihrer ins Große gehenden Zusammenfassung haben alle etwas [185] vom Denkmal an sich. Es kommt bei diesem nur eine weitere Vereinfachung der Flächen, eine noch strengere Auswahl des Notwendigen und die Bedingung des Weithinsichtbaren dazu. Die Denkmaler, die Rodin geschaffen hat, näherten sich immer mehr diesen Ansprüchen. Er begann mit dem Denkmal des Claude Gelée für Nancy; und es ist ein steiler Aufstieg von diesem ersten, interessanten Versuch bis zu dem grandiosen Gelingen des Balzac.

Mehrere von den Denkmälern Rodins sind nach Amerika gegangen, und das reifste von diesen ist bei den Unruhen in Chile zerstört worden, noch ehe es an seinen Platz gebracht worden war. Es war das Reiter-Standbild des Generals Lynch. Gleich dem verlorenen Meisterwerke Lionardos, dem es sich vielleicht durch die Macht des Ausdrucks und durch die wundervoll beseelte Einheit von Mann und Roß näherte, sollte auch diese Statue nicht erhalten bleiben. Nach einem kleinen Gips-Modell im Musée Rodin in Meudon muß man schließen, daß sie das plastische Bild eines mageren Mannes war, der sich gebietend im Sattel aufrichtete, nicht in der brutalen Herren-Art eines Condottiere, sondern nervöser und erregter, mehr wie einer, der die Macht zu befehlen nur ausübt als Amt und sie nicht als Leben lebt. Hier schon erhob sich übrigens die vorwärtsweisende Hand des Generals aus der ganzen Masse des Standbildes, aus Mensch und Tier; und dieser Umstand ist es auch, welcher der Gebärde Victor Hugo's ihre unvergeßliche Hoheit, dieses Weit-Herkommende giebt, diese Macht, an die man glaubt auf den ersten Blick. Die große, lebendige Greisenhand, [186] die mit dem Meere redet, kommt nicht aus dem Dichter allein; sie steigt herab von dem Gipfel der ganzen Gruppe wie von einem Berge, auf dem sie betete, ehe sie sprach. Victor Hugo ist hier der Verbannte, der Einsame von Guernesey, und es ist eines von den Wundern dieses Denkmales, daß die Musen, die ihn umgeben, nicht wie Gestalten wirken, die den Verlassenen heimsuchen: sie sind, im Gegenteil, seine sichtbar gewordene Einsamkeit. Durch die Verinnerlichung der einzelnen Figuren und ihre Konzentration, man möchte sagen: um das Innere des Dichters, hat Rodin diesen Eindruck erreicht; indem er auch hier wieder von einer Individualisierung der Berührungsstellen ausging, ist es ihm gelungen, die wundervoll bewegten Akte gleichsam zu Organen des sitzenden Mannes zu machen. Sie sind um ihn wie große Gebärden, die er einmal getan hat, Gebärden, die so schön und jung waren, daß ihnen eine Göttin die Gnade verlieh, nicht zu vergehen und in der Gestalt schöner Frauen immer zu dauern.

Für die Figur des Dichters selbst hat Rodin viele Studien gemacht. Während der Empfänge im Hôtel Lusignan beobachtete und notierte er, von einer Fensternische aus, hundert und hundert Bewegungen des Greises und alle Ausdrücke seines belebten Gesichtes. Aus diesen Vorbereitungen entstanden die Porträts Hugos, die Rodin geschaffen hat. Für das Denkmal bedurfte es einer noch weiteren Vertiefung. Er drängte alle die Einzeleindrücke zurück, faßte sie in der Ferne zusammen, und, wie man vielleicht aus einer Reihe von Rhapsoden eine Gestalt gebildet hat: Homer, so schuf er aus allen Bildern [187] seiner Erinnerung dieses Eine. Und diesem einen, letzten Bilde gab er die Größe des Sagenhaften; als könnte das alles am Ende nur ein Mythos gewesen sein und zurückgehen auf einen phantastisch ragenden Felsen am Meer, in dessen seltsamen Formen entfernte Völker eine Gebärde schlafen sahen.


Diese Macht, Vergangenes zum Unvergänglichen zu erheben, offenbarte Rodin immer, wenn historische Stoffe oder Gestalten in seiner Kunst aufzuleben verlangten; am überlegensten vielleicht in den Bürgern von Calais. Was hier Stoff war, beschränkte sich auf einige Spalten in der Chronik des Froissart. Es war die Geschichte, wie die Stadt Calais von Eduard III., dem englischen Könige, belagert wird; wie der König der in der Furcht des Hungers verzagenden Stadt nicht Gnade geben will; wie derselbe König endlich einwilligt, von der Stadt abzulassen, wenn sechs ihrer vornehmsten Bürger sich in seine Hände geben, »damit er mit ihnen tue nach seinem Willen«. Und er verlangt, daß sie die Stadt verlassen sollen, barhaupt, nur mit dem Hemde bekleidet, einen Strick um den Hals und die Schlüssel von Stadt und Kastell in der Hand. Der Chronist erzählt nun die Szene in der Stadt; er berichtet, wie der Bürgermeister, Messire Jean de Vienne, die Glocken läuten läßt und wie die Bürger sich auf dem Marktplatze versammeln. Sie haben die bange Botschaft gehört und warten und schweigen. Aber schon stehen unter ihnen die Helden auf, die Auserwählten, die den Beruf in sich fühlen zu sterben. Hier drängt sich durch die Worte des Chronisten [188] das Schreien und Weinen der Menge. Er selbst scheint eine Weile ergriffen zu sein und mit zitternder Feder zu schreiben. Aber er sammelt sich wieder. Er nennt vier von den Helden beim Namen, zwei vergißt er. Er sagt von dem einen, daß er der reichste Bürger der Stadt war, von dem zweiten, daß er Ansehen und Vermögen besaß und »zwei schöne Fräulein zu Töchtern hatte«, von dem dritten weiß er nur, daß er reich an Besitz und Erbschaft war, und von dem vierten, daß er des dritten Bruder gewesen ist. Er berichtet, daß sie sich bis auf das Hemde entkleideten, daß sie Stricke um ihren Hals banden und daß sie so aufbrachen, mit den Schlüsseln von Stadt und Kastell. Er erzählt, wie sie in das Lager des Königs kamen; er schildert, wie hart sie der König empfing und wie der Henker schon neben ihnen stand, als der Fürst, auf die Bitten der Königin hin, ihnen das Leben schenkte. »Er hörte auf seine Gemahlin« – sagt Froissart, »weil sie sehr schwanger war.« Mehr enthält die Chronik nicht.

Für Rodin aber war das Stoff genug. Er fühlte sofort, daß es in dieser Geschichte einen Augenblick gab, wo etwas Großes geschah, etwas, was von Zeit und Namen nicht wußte, etwas Unabhängiges und Einfaches. Er wandte alle Aufmerksamkeit dem Moment des Aufbruchs zu. Er sah, wie diese Männer ihren Gang begannen; er fühlte, wie in jedem noch einmal das ganze Leben war, das er gehabt hatte, wie jeder, beladen mit seiner Vergangenheit, dastand, bereit, sie hinauszutragen aus der alten Stadt. Sechs Männer tauchten vor ihm auf, von denen keiner dem anderen [189] glich; nur zwei Brüder waren unter ihnen, zwischen denen vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Aber jeder einzelne hatte auf seine Art den Entschluß gefaßt und lebte diese letzte Stunde auf seine Weise, feierte sie mit seiner Seele und litt sie an seinem Leibe, der am Leben hing. Und dann sah er auch die Gestalten nichtmehr. In seiner Erinnerung stiegen Gebärden auf, Gebärden der Absage, des Abschiedes, des Verzichts. Gebärden über Gebärden. Er sammelte sie. Er bildete sie alle. Sie flossen ihm aus der Fülle seines Wissens zu. Es war, als stünden in seinem Gedächtnis hundert Helden auf und drängten sich zu dem Opfer. Und er nahm alle hundert an und machte aus ihnen sechs. Er bildete sie nackt, jeden für sich, in der ganzen Gesprächigkeit ihrer fröstelnden Leiber. Überlebensgroß: in der natürlichen Größe ihres Entschlusses.

Er schuf den alten Mann mit den hängenden Armen, die in den Gelenken gelockert sind; und er gab ihm den schweren, schleppenden Schritt, den abgenützten Gang der Greise, und einen Ausdruck von Müdigkeit, der über sein Gesicht fließt bis in den Bart.

Er schuf den Mann, welcher den Schlüssel trägt. In ihm ist Leben noch für viele Jahre und alles in die plötzliche letzte Stunde gedrängt. Er erträgt es kaum. Seine Lippen sind zusammengepreßt, seine Hände beißen in den Schlüssel. Er hat Feuer an seine Kraft gelegt und sie verbrennt in ihm, in seinem Trotze.

Er schuf den Mann, der den gesenkten Kopf mit beiden Händen hält, wie um sich zu sammeln, um noch einen Augenblick allein zu sein.

[190] Er schuf die beiden Brüder, von denen der eine noch zurückschaut, während der andere mit einer Bewegung der Entschlossenheit und Ergebung das Haupt neigt, als hielte er's schon dem Henker hin.

Und er schuf die vage Gebärde jenes Mannes, der »durch das Leben geht«. »Le Passant« hat Gustave Geffroy ihn genannt. Er geht schon, aber er wendet sich noch einmal zurück, nicht zu der Stadt, nicht zu den Weinenden und nicht zu denen, die mit ihm gehen. Er wendet sich zurück zu sich selbst. Sein rechter Arm hebt sich, biegt sich, schwankt; seine Hand tut sich auf in der Luft und läßt etwas los, etwa so wie man einem Vogel die Freiheit giebt. Es ist ein Abschied von allem Ungewissen, von einem Glück, das noch nicht war, von einem Leid, das nun umsonst warten wird, von Menschen die irgendwo leben und denen man vielleicht einmal begegnet wäre, von allen Möglichkeiten aus Morgen und Übermorgen, und auch von jenem Tod, den man sich fern dachte, milde und still, und am Ende einer langen, langen Zeit.

Diese Gestalt, allein in einen alten, dunklen Garten gestellt, könnte ein Denkmal sein für alle Jungverstorbenen.

Und so hat Rodin jedem dieser Männer ein Leben gegeben in dieses Lebens letzter Gebärde.

Die einzelnen Figuren wirken erhaben in ihrer einfachen Größe. Man denkt an Donatello und vielleicht noch mehr an Claux Sluter und seine Propheten in der Chartreuse von Dijon.

Es scheint zunächst, als hätte Rodin nichts weiter getan, [191] sie zusammenzufassen. Er hat ihnen die gemeinsame Tracht gegeben, das Hemd und den Strick, und hat sie nebeneinandergestellt in zwei Reihen; die drei, welche schon im Schreiten begriffen sind, in die erste Reihe, die anderen, mit einer Wendung nach rechts, dahinter, als ob sie sich anschlössen. Der Platz, für den das Denkmal bestimmt war, war der Markt von Calais, dieselbe Stelle, auf der einst der schwere Gang begonnen hatte. Dort sollten jetzt die stillen Bilder stehen, von einer niedrigen Stufe nur wenig emporgehoben über den Alltag, so als stünde der bange Aufbruch immer bevor, mitten in jeder Zeit.

Man weigerte sich aber in Calais, einen niedrigen Sockel zu nehmen, weil es der Gewohnheit widersprach. Und Rodin schlug eine andere Aufstellungsart vor. Man sollte, verlangte er, hart am Meer einen Turm bauen, viereckig, im Umfange der Basis, mit schlichten, behauenen Wänden und zwei Stockwerke hoch, und dort oben sollte man die sechs Bürger aufstellen in der Einsamkeit des Windes und des Himmels. Es war vorauszusehen, daß auch dieser Vorschlag abgelehnt wurde. Und doch lag er im Wesen des Werkes. Hätte man den Versuch gemacht, man hätte eine unvergleichliche Gelegenheit gehabt, die Geschlossenheit dieser Gruppe zu bewundern, die aus sechs Einzelfiguren bestand und doch so fest zusammenhielt, als wäre sie nur ein einziges Ding. Und dabei berührten die einzelnen Gestalten einander nicht, sie standen nebeneinander wie die letzten Bäume eines gefällten Waldes, und was sie vereinte, war nur die Luft, die an [192] ihnen teilnahm in einer besonderen Art. Ging man um diese Gruppe herum, so war man Überrascht zu sehen, wie aus dem Wellenschlag der Konturen rein und groß die Gebärden stiegen, sich erhoben, standen und zurückfielen in die Masse, wie Fahnen, die man einzieht. Da war alles klar und bestimmt. Für einen Zufall schien nirgends Raum zu sein. Wie alle Gruppen des Rodin'schen Werkes, war auch diese in sich selbst verschlossen, eine eigene Welt, ein Ganzes, erfüllt von einem Leben, das kreiste und sich nirgends ausströmend verlor. An Stelle der Berührungen waren hier die Überschneidungen getreten, die ja auch eine Art von Berührung waren, unendlich abgeschwächt durch das Medium der Luft, die dazwischen lag, beeinflußt von ihr und verändert. Berührungen aus der Ferne waren entstanden, Begegnungen, ein Übereinander-Hinziehen der Formen, wie man es manchmal bei Wolkenmassen sieht oder bei Bergen, wo auch die dazwischen gelagerte Luft kein Abgrund ist, der trennt, vielmehr eine Leitung, ein leise abgestufter Übergang.

Für Rodin war immer schon die Teilnahme der Luft von großer Bedeutung. Er hatte alle seine Dinge, Fläche für Fläche, in den Raum gepaßt, und das gab ihnen diese Größe und Selbständigkeit, dieses unbeschreibliche Erwachsensein, das sie von allen Dingen unterschied. Nun aber, da er, die Natur auslegend, allmählich dazu gekommen war, einen Ausdruck zu verstärken, zeigte es sich, daß er damit auch das Verhältnis der Atmosphäre zu seinem Werke steigerte, daß sie die zusammengefaßten Flächen bewegter, gleichsam leidenschaftlicher [193] umgab. Hatten seine Dinge früher im Raume gestanden, so war es jetzt, als risse er sie zu sich her. Nur bei einzelnen Tieren auf den Kathedralen konnte man Ähnliches beobachten. Auch an ihnen nahm die Luft in eigentümlicher Weise teil: es schien als würde sie Stille oder Wind, jenachdem sie über betonte oder über leise Stellen ging. Und in der Tat, wenn Rodin die Oberfläche seiner Werke in Höhepunkten zusammenfaßte, wenn er Erhabenes erhöhte und einer Höhlung größere Tiefe gab, verfuhr er ähnlich mit seinem Werke, wie die Atmosphäre mit jenen Dingen verfahren war, die ihr preisgegeben waren seit Jahrhunderten. Auch sie hatte zusammengefaßt, vertieft und Staub abgesetzt, hatte mit Regen und Frost, mit Sonne und Sturm diese Dinge erzogen für ein Leben, das langsamer verging in Ragen, Dunkeln und Dauern.

Schon bei den Bürgern von Calais war Rodin auf seinem eigenen Wege zu dieser Wirkung gekommen; in ihr lag das monumentale Prinzip seiner Kunst. Mit solchen Mitteln konnte er weithinsichtbare Dinge schaffen, Dinge, die nicht nur von der allernächsten Luft umgeben waren, sondern von dem ganzen Himmel. Er konnte mit einer lebendigen Fläche, wie mit einem Spiegel, die Fernen fangen und bewegen, und er konnte eine Gebärde, die ihm groß schien, formen und den Raum zwingen, daran teilzunehmen.

So ist jener schmale Jüngling, der kniet und seine Arme empor wirft und zurück in einer Geste der Anrufung ohne Grenzen. Rodin hat diese Figur Der verlorene [194] Sohn genannt, aber sie hat, man weiß nicht woher, auf einmal den Namen: Prière. Und sie wächst auch über diesen hinaus. Das ist nicht ein Sohn, der vor dem Vater kniet. Diese Gebärde macht einen Gott notwendig, und in dem, der sie tut, sind alle, die ihn brauchen. Diesem Stein gehören alle Weiten; er ist allein auf der Welt.

Und so ist auch der Balzac. Rodin hat ihm eine Größe gegeben, die vielleicht die Gestalt dieses Schriftstellers überragt. Er hat ihn im Grunde seines Wesens erfaßt, aber er hat an den Grenzen dieses Wesens nicht Halt gemacht; um seine äußersten und fernsten Möglichkeiten, um sein Unerreichtes hat er diesen mächtigen Kontur gezogen, der in den Grabsteinen fernvergangener Völker vorgebildet scheint. Jahre und Jahre hat er ganz in dieser Gestalt gelebt. Er hat Balzacs Heimat besucht, die Landschaften der Touraine, die in seinen Büchern immer wieder aufsteigen, er hat Briefe von ihm gelesen, er hat die Bilder studiert, die von Balzac existieren, und er ist durch sein Werk gegangen, wieder und wieder; auf allen den verzweigten und verschlungenen Wegen dieses Werkes begegneten ihm die Balzac'schen Menschen, ganze Familien und Generationen, eine Welt, die immer noch an das Dasein ihres Schöpfers zu glauben, aus ihm zu leben und ihn zu schauen schien. Er sah, daß alle diese tausend Figuren, möchten sie tun was sie wollten, doch ganz mit dem Einen beschäftigt waren, der sie gemacht hatte. Und wie man vielleicht aus den vielen Mienen eines Zuschauerraumes das Drama erraten kann, das sich auf [195] der Bühne vollzieht, so suchte er in allen diesen Gesichtern nach dem, der für sie noch nicht vergangen war. Er glaubte, wie Balzac, an die Wirklichkeit dieser Welt, und es gelang ihm eine Weile, sich ihr einzuordnen. Er lebte, als ob Balzac auch ihn geschaffen hätte, unauffällig gemischt unter die Menge seiner Existenzen. So kam er zu den besten Erfahrungen. Was sonst da war, schien bei weitem weniger beredt. Die Daguerreotypieen boten nur ganz allgemeine Anhaltspunkte und nichts Neues. Man kannte dieses Gesicht, das sie darstellten, schon von der Schulzeit her. Nur die eine, die im Besitze Stephan Mallarmé's gewesen war und Balzac ohne Rock mit Hosenträgern zeigte, war charakteristischer. Und dann mußten die Aufzeichnungen der Zeitgenossen helfen. Théophile Gautier's Worte, die Notizen der Goncourts und das schöne Porträt Balzac's, das Lamartine geschrieben hatte. Außerdem war nur noch die Büste von David da in der Comédie-Francaise und ein kleines Bildnis von Louis Boulanger. – Ganz vom Geiste Balzac's erfüllt, ging Rodin mit diesen Hülfsmitteln nun daran, seine äußere Erscheinung aufzurichten. Er benutzte lebende Modelle von ähnlichen Körperverhältnissen und bildete in verschiedenen Stellungen sieben, vollkommen ausgeführte Akte. Es waren dicke, gedrungene Männer mit schwerfälligen Gliedern und kurzen Armen, deren er sich bediente, und er schuf nach diesen Vorarbeiten einen Balzac, ungefähr in der Auffassung, wie die Nadar'sche Daguerreotypie ihn überlieferte. Aber er fühlte, daß damit noch nichts Endgültiges gegeben war. Er kehrte [196] zu der Beschreibung Lamartine's zurück. Dort stand: »Er hatte das Gesicht eines Elementes« und: »Er besaß soviel Seele, daß sie seinen schweren Körper trug wie nichts.« Rodin fühlte, daß in diesen Sätzen ein großer Teil der Aufgabe lag. Er kam ihrer Lösung näher, indem er allen den sieben Akten Mönchskutten anzulegen versuchte, von der Art, wie Balzac sie bei der Arbeit zu tragen pflegte. Es entstand hierauf ein Balzac in Kapuze, viel zu intim, zu sehr zurückgezogen in die Stille seiner Verkleidung.

Aber langsam wuchs Rodin's Vision von Form zu Form. Und endlich sah er ihn. Er sah eine breite, ausschreitende Gestalt, die an des Mantels Fall alle ihre Schwere verlor. Auf den starken Nacken stemmte sich das Haar, und in das Haar zurückgelehnt lag ein Gesicht, schauend, im Rausche des Schauens, schäumend von Schaffen: das Gesicht eines Elementes. Das war Balzac in der Fruchtbarkeit seines Überflusses, der Gründer von Generationen, der Verschwender von Schicksalen. Das war der Mann, dessen Augen keiner Dinge bedurften; wäre die Welt leer gewesen: seine Blicke hätten sie eingerichtet. Das war der, der durch sagenhafte Silberminen reich werden wollte und glücklich durch eine Fremde. Das war das Schaffen selbst, das sich der Form Balzac's bediente, um zu erscheinen; des Schaffens Überhebung, Hochmut, Taumel und Trunkenheit. Der Kopf, der zurückgeworfen war, lebte auf dem Gipfel dieser Gestalt wie jene Kugeln, die auf den Strahlen von Fontänen tanzen. Alle Schwere war leicht geworden, stieg und fiel.

[197] So hatte Rodin in einem Augenblick ungeheuerer Zusammenfassung und tragischer Übertreibung seinen Balzac gesehen, und so machte er ihn. Die Vision verging nicht; sie verwandelte sich.

Diese Entwickelung Rodin's, welche die großen und monumentalen Dinge seines Werkes mit Weite umgab, beschenkte auch die anderen mit einer neuen Schönheit. Sie gab ihnen eine eigene Nähe. Es giebt unter den neueren Werken kleine Gruppen, die durch ihre Geschlossenheit wirken und durch die wunderbar sanfte Behandlung des Marmors. Diese Steine behalten auch mitten im Tage jenes geheimnisvolle Schimmern, das weiße Dinge ausströmen, wenn es dämmert. Das kommt nicht allein von der Belebtheit der Berührungsstellen her; es zeigt sich, daß auch sonst zwischen den Figuren und zwischen ihren einzelnen Teilen hier und da flache Steinbänder stehen geblieben sind, Stege gleichsam, die in der Tiefe eine Form mit der anderen verbinden. Das ist kein Zufall. Diese Füllungen verhüten das Entstehen wertloser Durchblicke, die aus dem Dinge hinausführen in leere Luft; sie bewirken, daß die Ränder der Formen, die vor solchen Lücken immer scharf und abgeschliffen scheinen, ihre Rundung behalten, sie sammeln das Licht wie Schalen und fließen fortwährend leise über. Wenn Rodin das Bestreben hatte, die Luft so nahe als möglich an die Oberfläche seiner Dinge heranzuziehen, so ist es, als hätte er hier den Stein geradezu in ihr aufgelöst: der Marmor scheint nur der feste, fruchtbare Kern zu sein und sein letzter leisester Kontur schwingende Luft. Das Licht, welches zu diesem [198] Steine kommt, verliert seinen Willen; es geht nicht über ihn hin zu anderen Dingen; es schmiegt sich ihm an, es zögert, es verweilt, es wohnt in ihm.

Dieses Verschlossenlassen unwesentlicher Durchblicke war eine Art von Annäherung an das Relief. Und in der Tat plant Rodin ein großes Relief-Werk, bei dem alle die Wirkungen des Lichtes, die er mit den kleinen Gruppen erreichte, zusammengefaßt werden sollen. Er denkt daran, eine hohe Säule zu schaffen, um die ein breites Relief-Band sich aufwärtswindet. Neben diesen Windungen wird eine gedeckte Treppe hergehen, die nach außen durch Arkaden abgeschlossen ist. In diesem Gange werden die Gestalten an den Wänden, wie in ihrer eigenen Atmosphäre, leben; eine Plastik wird entstehen, die das Geheimnis des Helldunkels kennt, eine Skulptur der Dämmerung, verwandt jenen Bildwerken, die in den Vorhallen alter Kathedralen stehen.

So wird das Denkmal der Arbeit sein. Auf diesen langsam aufsteigenden Reliefs wird eine Geschichte der Arbeit sich entwickeln. In einer Krypta wird das lange Band beginnen, mit den Bildern derer, die in den Bergwerken altern, und es wird sich in seinem weiten Weg durch alle Gewerbe ziehen, von den lärmenden und bewegten zu den immer leiseren Werken, von den Hochöfen zu den Herzen, von den Hämmern zu den Gehirnen. Am Eingang sollen zwei Gestalten aufragen: Tag und Nacht, und auf dem Gipfel werden zwei geflügelte Genien stehen, die Segnungen, die sich aus hellen Höhen zu diesem Turme niederließen. Denn [199] dieses Denkmal der Arbeit wird ein Turm sein. Nicht in einer großen Gestalt oder Gebärde versuchte Rodin die Arbeit darzustellen; sie ist nicht das Weithinsichtbare. Sie geht in den Werkstätten vor sich, in den Stuben, in den Köpfen; im Dunkel.

Er weiß es, denn auch seine Arbeit ist so; und er arbeitet unaufhörlich. Sein Leben geht wie ein einziger Arbeitstag.

Er hat mehrere Ateliers; bekanntere, in denen ihn Besuche und Briefe finden, und andere, entlegene, von denen niemand weiß. Das sind Zellen, kahle, ärmliche Räumen voll Staub und Grau. Aber ihre Armut ist wie jene große graue Armut Gottes, in der im März die Bäume aufwachen. Etwas von einem Frühlingsanfang ist darin: eine leise Verheißung und ein tiefer Ernst.

Vielleicht wächst in einer dieser Werkstätten schon der Turm der Arbeit auf. Jetzt, da seine Verwirklichung noch bevorsteht, mußte man von seiner Bedeutung reden; und sie schien im Stofflichen zu liegen. Wenn dieses Denkmal aber einmal erstanden sein wird, wird man fühlen, daß Rodin auch mit diesem Werke nichts gewollt hat über seine Kunst hinaus. Der arbeitende Körper hat sich ihm gezeigt, wie früher der liebende. Es war eine neue Offenbarung des Lebens. Aber dieser Schaffende lebt so sehr unter seinen Dingen, ganz in der Tiefe seines Werkes, daß er Offenbarungen gar nicht anders empfangen kann, als nur mit den schlichten Mitteln seiner Kunst. Neues Leben heißt für ihn letzten Sinnes nur: neue Oberflächen, neue Gebärden. So ist es einfach um ihn geworden. Er kann nicht mehr irren.

[200] Mit dieser Entwickelung hat Rodin allen Künsten ein Zeichen gegeben in dieser ratlosen Zeit.

Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat: Daß er ein Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz, mit allen seinen Kräften, in das niedrige und harte Dasein seines Werkzeugs einzugehen. Darin lag eine Art von Verzicht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann er es: denn zu seinem Werkzeug kam die Welt.

[201][203]

Zweiter Teil

Ein Vortrag

(1907)


[203][205]

[Vorrede]

Es möchte manchen als eine sparsame Ausnutzung von Vorhandenem erscheinen, wenn hier die Wortfolge eines Vortrags (stellenweise so, wie er gesprochen worden ist, nur um mehr als die Hälfte erweitert) im Druck angeboten wird. Da aber die in jenem Zusammenhang enthaltenen Gedanken noch gültig sind, so mag ihnen auch die ursprüngliche Form der Äußerung nicht genommen werden; sie ist die natürlichste. Denn nicht in ihrer Verwendung allein, schon im Wesen dieser Gedanken liegt etwas Anredendes; sie wollen gehört sein. Sie wollen wirklich reden, und zu Vielen, und wollen versuchen, zwischen dem und jenem Leben und einer sehr großen Kunst zu vermitteln. Diese Absicht wird niemanden überraschen; sie hebt sich kaum ab von den vielen ähnlichen Absichten, die an der Arbeit sind und von denen die meisten zu Erfolg oder Ansehen kommen. Das Interesse für Kunst-Dinge hat zugenommen. Die Ateliers sind zugänglicher geworden und mitteilsamer gegen eine Kritik, der man nicht mehr vorwerfen kann, daß sie im Rückstande sei; der Kunsthandel selbst hat sich seiner Vorurteile begeben und sich, merkwürdig jung, an die Spitze der Entwickelung gestellt, an welcher sich das Publikum nun leicht beteiligen kann: mit seiner Kritik und mit seiner Kauflust. Diese Verfassung aber (so erfreulich und fortschrittlich sie sein mag) geht über ein Werk wie das Rodin's fort; sie überspringt es, sie berührt es kaum.

[205] Die Einsicht, daß dieses ausgedehnte, noch so wenig aufgeklärte Werk dem bloßen Interesse nicht erreichbar ist, hat jenen Vortrag hervorgerufen. Sie wird vielleicht imstande sein, seine Veröffentlichung zu rechtfertigen.


Paris, im Juli 1907.

[206]

Es giebt ein paar große Namen, die, in diesem Augenblicke ausgesprochen, eine Freundschaft zwischen uns stiften würden, eine Wärme, eine Einigkeit, die es mit sich brächte, daß ich – nur scheinbar abgesondert – mitten unter Ihnen spräche: aus Ihnen heraus wie eine Ihrer Stimmen. Der Name, der weit, wie ein Sternbild aus fünf großen Sternen über diesem Abend steht, kann nicht ausgesprochen werden. Nicht jetzt. Er würde Unruhe über Sie bringen, Strömungen würden in Ihnen entstehen, Zuneigung und Abwehr, während ich Ihre Stille brauche und die ungetrübte Oberfläche Ihrer gutwilligen Erwartung.

Ich bitte die, die es noch können, den Namen zu vergessen, um den es sich handelt, und ich mache an Alle den Anspruch eines noch breiteren Vergessens. Sie sind es gewohnt, daß man Ihnen von Kunst spricht, und wer dürfte verschweigen, daß Ihre Geneigtheit immer williger den Worten entgegenkommt, die sich in solchem Sinne an Sie wenden? Eine gewisse schöne und starke Bewegung, die sich nicht länger verbergen ließ, hat, wie eines großen Vogels Flug, Ihre Blicke ergriffen –: nun aber mutet man Ihnen zu, Ihre Augen zu senken für die Weile eines Abends. Denn nicht dorthin, nicht in die Himmel ungewisser Entwickelungen will ich Ihre Aufmerksamkeit versammeln, nicht aus dem Vogel-Flug der neuen Kunst will ich Ihnen wahrsagen.

Mir ist zu Mute wie einem, der Sie an Ihre Kindheit erinnern soll. Nein, nicht nur an Ihre: an alles, was je Kindheit war. Denn es gilt, Erinnerungen in Ihnen aufzuwecken, die nicht die Ihren sind, die älter sind als [207] Sie; Beziehungen sind wiederherzustellen und Zusammenhänge zu erneuern, die weit vor Ihnen liegen.

Hätte ich Ihnen von Menschen zu sprechen, so könnte ich dort anfangen, wo Sie eben aufgehört haben, da Sie hier eintraten; in Ihre Gespräche einfallend, würde ich, wie von selbst, zu allem kommen –, getragen, mitgerissen von dieser bewegten Zeit, an deren Ufern alles Menschliche zu liegen scheint, überschwemmt von ihr und auf eine unerwartete Weise gespiegelt. Aber, da ich es versuche, meine Aufgabe zu überschauen, wird mir klar, daß ich Ihnen nicht von Menschen zu reden habe, sondern von Dingen.


Dinge.

Indem ich das ausspreche (hören Sie?) entsteht eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird Kontur, und aus vergangener und künftiger Zeit schließt sich ein Dauerndes: der Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge.

Aber nein: so fühlen Sie die Stille noch nicht, die da entsteht. Das Wort: Dinge geht an Ihnen vorüber, es bedeutet Ihnen nichts: zu vieles und zu gleichgültiges. Und da bin ich froh, daß ich die Kindheit angerufen habe; vielleicht kann sie mir helfen, Ihnen dieses Wort ans Herz zu legen als ein liebes, das mit vielen Erinnerungen zusammenhängt.

Wenn es Ihnen möglich ist, kehren Sie mit einem Teile Ihres entwöhnten und erwachsenen Gefühls zu irgend einem Ihrer Kinder-Dinge zurück, mit dem Sie viel umgingen. Gedenken Sie, ob es irgend etwas gab, was Ihnen [208] näher, vertrauter und nötiger war, als so ein Ding. Ob nicht alles – außer ihm – imstande war, Ihnen weh oder unrecht zu tun, Sie mit einem Schmerz zu erschrecken oder mit einer Ungewißheit zu verwirren? Wenn Güte unter Ihren ersten Erfahrungen war und Zutraun und Nichtalleinsein – verdanken Sie es nicht ihm? War es nicht ein Ding, mit dem Sie zuerst Ihr kleines Herz geteilt haben wie ein Stück Brot, das reichen mußte für zwei?

In den Legenden der Heiligen haben Sie später eine fromme Freudigkeit gefunden, eine selige Demut, eine Bereitschaft, alles zu sein, die Sie schon kannten, weil irgend ein kleines Stück Holz alles das einmal für Sie getan und auf sich genommen und getragen hatte. Dieser kleine vergessene Gegenstand, der alles zu bedeuten bereit war, machte Sie mit Tausendem vertraut, indem er tausend Rollen spielte, Tier war und Baum und König und Kind, – und als er zurücktrat, war das alles da. Dieses Etwas, so wertlos es war, hat Ihre Beziehungen zur Welt vorbereitet, es hat Sie ins Geschehen und unter die Menschen geführt und mehr noch: Sie haben an ihm, an seinem Dasein, an seinem Irgendwie-Aussehn, an seinem endlichen Zerbrechen oder seinem rätselhaften Entgleiten alles Menschliche erlebt bis tief in den Tod hinein.

Sie erinnern sich dessen kaum mehr, und es wird Ihnen selten bewußt, daß Sie auch jetzt noch Dinge nötig haben, die, ähnlich wie jene Dinge aus der Kindheit, auf Ihr Vertrauen warten, auf Ihre Liebe, auf Ihre Hingabe. Wie kommen diese Dinge dazu? Wodurch sind [209] überhaupt Dinge mit uns verwandt? Welches ist ihre Geschichte?


Sehr frühe schon hat man Dinge geformt, mühsam, nach dem Vorbild der vorgefundenen natürlichen Dinge; man hat Werkzeuge gemacht und Gefäße, und es muß eine seltsame Erfahrung gewesen sein, Selbstgemachtes so anerkannt zu sehen, so gleichberechtigt, so wirklich neben dem, was war. Da entstand etwas, blindlings, in wilder Arbeit und trug an sich die Spuren eines bedrohten offenen Lebens, war noch warm davon, – aber kaum war es fertig und fortgestellt, so ging es schon ein unter die Dinge, nahm ihre Gelassenheit an, ihre stille Würde und sah nur noch wie entrückt mit wehmütigem Einverstehen aus seinem Dauern herüber. Dieses Erlebnis war so merkwürdig und so stark, daß man begreift, wenn es auf einmal Dinge gab, die nur um seinetwillen gemacht waren. Denn vielleicht waren die frühesten Götterbilder Anwendungen dieser Erfahrung, Versuche, aus Menschlichem und Tierischem, das man sah, ein Nicht-Mitsterbendes zu formen, ein Dauerndes, ein Nächsthöheres: ein Ding.

Was für ein Ding? Ein schönes? Nein. Wer hätte gewußt was Schönheit ist? Ein ähnliches. Ein Ding, darin man das wiedererkannte was man liebte und das was man fürchtete und das Unbegreifliche in alledem.

Erinnern Sie sich solcher Dinge? Da ist vielleicht eines, das Ihnen lange nur lächerlich erschien. Aber eines Tages fiel Ihnen seine Inständigkeit auf, der eigentümliche, fast verzweifelte Ernst, den sie alle haben; und [210] merkten Sie da nicht, wie über dieses Bild, gegen seinen Willen beinah, eine Schönheit kam, die Sie nicht für möglich gehalten hätten?

Wenn es einen solchen Augenblick gegeben hat, so will ich mich jetzt auf ihn berufen. Es ist derjenige, mit dem die Dinge wieder in Ihr Leben eintreten. Denn es kann keines an Sie rühren, wenn Sie ihm nicht gestatten, Sie mit einer Schönheit zu überraschen, die nicht abzusehen war. Schönheit ist immer etwas Hinzugekommenes, und wir wissen nicht was.

Daß es eine ästhetische Meinung gab, die die Schönheit zu fassen glaubte, hat Sie irre gemacht und hat Künstler hervorgerufen, die ihre Aufgabe darin sahen, Schönheit zu schaffen. Und es ist immer noch nicht überflüssig geworden zu wiederholen, daß man Schönheit nicht »machen« kann. Niemand hat je Schönheit gemacht. Man kann nur freundliche oder erhabene Umstände schaffen für Das, was manchmal bei uns verweilen mag: einen Altar und Früchte und eine Flamme – Das Andere steht nicht in unserer Macht. Und das Ding selbst, das, ununterdrückbar, aus den Händen eines Menschen hervorgeht, ist wie der Eros des Sokrates, ist ein Daimon, ist zwischen Gott und Mensch, selber nicht schön, aber lauter Liebe zur Schönheit und lauter Sehnsucht nach ihr.

Nun stellen Sie sich vor, wie diese Einsicht, wenn sie einem Schaffenden kommt, alles verändern muß. Der Künstler, den diese Erkenntnis lenkt, hat nicht an die Schönheit zu denken; er weiß ebensowenig wie die Anderen, worin sie besteht. Gelenkt von dem Drang nach [211] der Erfüllung über ihn hinausreichender Nützlichkeiten, weiß er nur, daß es gewisse Bedingungen giebt, unter denen sie vielleicht zu seinem Dinge zu kommen geruht. Und sein Beruf ist, diese Bedingungen kennen zu lernen und die Fähigkeit zu erwerben, sie herzustellen.

Wer aber diese Bedingungen aufmerksam bis an ihr Ende verfolgt, dem zeigt sich, daß sie nicht über die Oberfläche hinaus und nirgends in das Innere des Dinges hineingehn; daß alles, was man machen kann, ist: eine auf bestimmte Weise geschlossene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche, – sonst nichts. Aus allen den großen anspruchsvollen und launenhaften Worten scheint die Kunst aufeinmal ins Geringe und Nüchterne gestellt, ins Alltägliche, ins Handwerk. Denn was heißt das: eine Oberfläche machen?

Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche ist was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? Und wer uns das geformt geben will, muß er sich nicht an das Greifbare halten, das seinen Mitteln entspricht, an die Form, die er fassen und nachfühlen kann? Und wer alle Formen zu sehen und zu geben vermöchte, würde der uns nicht (fast ohne es zu wissen) alles Geistige geben? Alles, was je Sehnsucht oder Schmerz oder Seligkeit genannt war [212] oder gar keinen Namen haben kann in seiner unsagbaren Geistigkeit?

Denn alles Glück, von dem je Herzen gezittert haben; alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten umwandelnden Gedanken –: es gab einen Augenblick, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen; und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht, – vielleicht waren sie genau so schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht...

Es giebt nur eine einzige, tausendfältig bewegte und abgewandelte Oberfläche. In diesem Gedanken konnte man einen Moment die ganze Welt denken, und sie wurde einfach und als Aufgabe dem in die Hände gelegt, der diesen Gedanken dachte. Denn ob etwas ein Leben werden kann, das hängt nicht von den großen Ideen ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen ein Handwerk schafft, ein Tägliches, Etwas, was bei einem aushält bis ans Ende.


Ich wage es jetzt, Ihnen den Namen zu nennen, der sich nicht langer verschweigen läßt: Rodin. Sie wissen, es ist der Name unzähliger Dinge. Sie fragen nach ihnen, und es verwirrt mich, daß ich Ihnen keines zeigen kann.

Aber mir ist, als säh ich Eines und noch Eines in Ihrer Erinnerung und als könnt ich sie dort herausheben, um sie mitten unter uns zu stellen:

[213]

diesen Mann mit der gebrochenen Nase, unvergeßlich wie eine plötzlich erhobene Faust;

diesen Jüngling, dessen aufrechte dehnende Bewegung

Ihnen so nahe ist wie das eigene Erwachen;

diesen Gehenden, der wie ein neues Wort für gehen in dem Wortschatz Ihres Gefühles steht;

und den, der sitzt, denkend mit dem ganzen Körper, sich einsaugend in sich selbst;

Und den Bürger mit dem Schlüssel, wie ein großer Schrank, in dem lauter Schmerz eingeschlossen ist.

Und die Eva, wie von weit in die Arme hineingebogen, deren nach auswärts gewendete Hände alles abwehren möchten, auch den eigenen, sich verwandelnden Leib.

Und die süße leise Innere Stimme, armlos wie Inneres und wie ein Organ ausgelöst aus dem Kreislauf jener Gruppe.

Und irgend ein kleines Ding, dessen Namen Sie vergessen haben, gemacht aus einer weißen, schimmernden Umarmung, die wie ein Knoten zusammenhält; und jenes andere, das vielleicht Paolo und Francesca heißt, und kleinere noch, die Sie in sich finden wie Früchte mit ganz dünner Schale –

und: da werfen Ihre Augen, wie die Linsen einer Laterna magica, über mich fort, einen riesigen Balzac an die Wand. Das Bild eines Schöpfers in seinem Hochmut, stehend in seiner eigenen Bewegung wie in einem Sturmwirbel, der die ganze Welt hinaufreißt in dieses kreißende Haupt.

Soll ich neben die Dinge aus Ihrer Erinnerung, nun, da sie da sind, andere von diesen hundert und hundert[214] Dingen stellen? Diesen Orpheus, diesen Ugolino, diese heilige Therese, die die Wundenmale empfängt, diesen Victor Hugo mit seiner großen, schrägen, beherrschenden Gebärde und jenen anderen, ganz hingegeben an Einflüsterungen, und einen dritten noch, den drei Mädchenmunde von unten ansingen, wie eine um seinetwillen aus der Erde brechende Quelle? Und ich fühle schon, wie mir der Name im Munde zerfließt, wie das alles nurmehr der Dichter ist, derselbe Dichter, der Orpheus heißt, wenn sein Arm auf einem ungeheuern Umweg über alle Dinge zu den Saiten geht, derselbe, der krampfhaft schmerzvoll die Füße der fliehenden Muse faßt, die sich entzieht; derselbe, der endlich stirbt, das steil aufgestellte Gesicht im Schatten seiner in der Welt weitersingenden Stimmen, undso stirbt, daß dieselbe kleine Gruppe manchmal auch Auferstehung heißt –.

Wer aber vermag nun die Welle der Liebenden aufzuhalten, die sich draußen aufhebt auf dem Meere dieses Werkes? Mit diesen unerbittlich verbundenen Gestalten kommen Schicksale heran und süße und trostlose Namen –: aber auf einmal sind sie fort, wie ein Glanz der sich zurückzieht – und man sieht den Grund. Man sieht Männer und Frauen, Männer und Frauen, immer wieder Männer und Frauen. Und je länger man hinsieht, desto mehr vereinfacht sich auch dieser Inhalt, und man sieht: Dinge.


Hier werden meine Worte machtlos und kehren zu der großen Einsicht zurück, auf die ich Sie schon vorbereitet [215] habe, zu dem wissen von der einen Oberfläche, mit welchem dieser Kunst die ganze Welt angeboten war. Angeboten, noch nicht gegeben. Um sie zu nehmen bedurfte es (bedarf es immer noch) unendlicher Arbeit.

Bedenken Sie, wie der arbeiten mußte, der aller Oberfläche mächtig werden wollte; da doch kein Ding dem andern gleich ist. Einer, dem es nicht darum zu tun war, den Leib im Allgemeinen kennen zu lernen, das Gesicht, die Hand (das alles giebt es nicht); sondern alle Leiber, alle Gesichter, alle Hände. Was für eine Aufgabe erhebt sich da. Und wie schlicht und ernst ist sie; wie ganz ohne Anlockung und Versprechung; wie ganz ohne Phrase.

Ein Handwerk entsteht, aber es scheint ein Handwerk für einen Unsterblichen zu sein, so weit ist es, so ohne Absehn und Ende und so sehr auf Immer-noch-Lernen angelegt. Und wo war eine Geduld, die solchem Handwerk gewachsen war?

Sie war in der Liebe dieses Arbeitenden, sie erneute sich unaufhörlich aus ihr. Denn das ist vielleicht das Geheimnis dieses Meisters, daß er ein Liebender war, dem nichts widerstehen konnte. Sein Verlangen war so lang und leidenschaftlich und ununterbrochen, daß alle Dinge ihm nachgaben: die natürlichen Dinge und alle die rätselhaften Dinge aller Zeiten, in denen Menschliches sich sehnte, Natur zu sein. Er blieb nicht bei denen stehen, die leicht zu bewundern sind. Er wollte das Bewundern ganz erlernen bis ans Ende. Er nahm die schweren verschlossenen Dinge auf sich und trug [216] sie, und sie drückten ihm mehr und mehr in sein Handwerk hinein mit ihrer Last. Unter ihrem Drucke muß ihm klar geworden sein, daß es bei den Kunst-Dingen, genau wie bei einer Waffe oder einer Waage, nicht darauf ankommt, irgendwie auszusehen und durch das Aussehn zu »wirken«, sondern daß es sich vielmehr darum handelt, gut gemacht zu sein.

Dieses Gut-Machen, dieses Arbeiten mit reinstem Gewissen, war Alles. Ein Ding nachformen, das hieß: über jede Stelle gegangen sein, nichts verschwiegen, nichts übersehen, nirgends betrogen haben; alle die hundert Profile kennen, alle die Aufsichten und Untersichten, jede Überschneidung. Erst dann war ein Ding da, erst dann war es Insel, überall abgelöst von dem Kontinent des Ungewissen.

Diese Arbeit (die Arbeit am Modelé) war die gleiche bei allem was man machte, und sie mußte so demütig, so dienend, so hingegeben getan sein, so ohne Wahl an Gesicht und Hand und Leib, daß nichts Benanntes mehr da war, daß man nur formte, ohne zu wissen, was gerade entstand, wie der Wurm, der seinen Gang macht im Dunkel von Stelle zu Stelle. Denn wer ist noch unbefangen Formen gegenüber, die einen Namen haben? Wer wählt nicht schon aus, wenn er etwas Gesicht nennt? Der Schaffende aber hat nicht das Recht, zu wählen. Seine Arbeit muß von gleichmäßigem Gehorsam durchdrungen sein. Uneröffnet gleichsam, wie Anvertrautes, müssen die Formen durch seine Finger gehn, um rein und heil in seinem Werke zu sein.

[217] Und das sind die Formen in Rodin's Werk: rein und heil; ohne zu fragen hat er sie weitergegeben an seine Dinge, die wie nie berührt sind, wenn er sie verläßt. Licht und Schatten wird leiser über ihnen wie über ganz frischen Früchten und bewegter, wie vom Morgenwind darüber hingeführt.

Hier muß von der Bewegung gesprochen werden; nicht in dem Sinne allerdings, in dem es oft und vorwurfsvoll geschah; denn die Bewegtheit der Gebärden, die in dieser Skulptur viel bemerkt worden ist, geht innerhalb der Dinge vor sich, gleichsam als ein innerer Kreislauf, und stört niemals ihre Ruhe und die Stabilität ihrer Architektur. Es wäre auch keine Neuerung gewesen, Bewegtheit in die Plastik einzuführen. Neu ist die Art von Bewegung, zu der das Licht gezwungen wird durch die eigentümliche Beschaffenheit dieser Oberflächen, deren Gefälle so vielfach abgewandelt ist, daß es da langsam fließt und dort stürzt, bald seicht und bald tief erscheint, spiegelnd oder matt. Das Licht, das eines dieser Dinge berührt, ist nicht mehr irgend ein Licht, es hat keine zufälligen Wendungen mehr; das Ding nimmt von ihm Besitz und gebraucht es wie sein eigenes.

Diese Erwerbung und Aneignung des Lichts als Folge einer ganz klar bestimmten Oberfläche hat Rodin als eine wesentliche Eigenschaft plastischer Dinge wiedererkannt. Die Antike und die Gotik hatten, jede auf ihre Art, Lösungen dieser plastischen Aufgabe gesucht, und er hat sich in uralte Traditionen gestellt, indem er die Gewinnung des Lichtes zu einem Teil seiner Entwickelung machte.

[218] Es giebt da wirklich Steine mit eigenem Licht, wie das gesenkte Gesicht auf dem Block im Luxembourg-Museum, La Pensée, das, vorgeneigt bis zum Schattigsein, über das weiße Schimmern seines Steines gehalten ist, unter dessen Einfluß die Schatten sich auflösen und in ein durchsichtiges Helldunkel übergehn. Und wer denkt nicht mit Entzücken an eine der kleinen Gruppen, wo zwei Leiber eine Dämmerung schaffen, um sich darin leise, mit verhaltenem Licht zu begegnen? Und ist es nicht merkwürdig, das Licht über den liegenden Rücken der Danaïde gehen zu sehen: langsam, als ob es kaum vorwärts käme seit Stunden. Und wußte noch jemand von dieser ganzen Skala der Schatten bis hinauf zu jenem leicht verscheuchten dünnen Dunkel, wie es manchmal um den Nabel kleiner Antiken huscht und das wir nurmehr aus der Rundung hohler Rosenblätter kannten?


In solchen – kaum sagbaren – Fortschritten liegt die Steigerung in Rodin's Werk. Mit der Unterwerfung des Lichts begann auch schon die nächste große Überwindung, der seine Dinge ihre Gestalt verdanken, jene Art Großsein, die unabhängig ist von allen Maßen. Ich meine die Erwerbung des Raumes.

Wieder waren es die Dinge, die sich seiner annahmen, wie schon oft, die Dinge draußen in der Natur und einzelne Kunstdinge von erhabener Abstammung, die er immer wieder befragen kam. Sie wiederholten ihm jedesmal eine Gesetzmäßigkeit, von der sie erfüllt waren und die er nach und nach begriff. Sie gewährten [219] ihm einen Blick in eine geheimnisvolle Geometrie des Raumes, die ihn einsehen ließ, daß die Konturen eines Dinges in der Richtung einiger gegeneinander geneigter Ebenen sich ordnen müssen, damit dieses Ding vom Raume wirklich aufgenommen, gleichsam von ihm anerkannt sei in seiner kosmischen Selbständigkeit.

Es ist schwer, diese Erkenntnis präzise auszusprechen. Aber am Werke Rodin's läßt sich zeigen, wie er sie verwendet. Immer energischer und sicherer werden die vorhandenen Details in starken Flächen-Einheiten zusammengefaßt, und endlich stellen sie sich, wie unter dem Einfluß rotierender Kräfte, in einigen großen Ebenen auf, richten sich aus sozusagen, und man meint zu sehen wie diese Ebenen zum Himmels-Globus gehören und ins Unendliche sich fortsetzen lassen.

Da ist der Jüngling des Âge d'airain, der noch wie in einem Innenraum steht, um den Johannes weicht es schon auf allen Seiten zurück, um den Balzac ist die ganze Atmosphäre, – aber ein paar hauptlose Akte, der neue ungeheuere Gehende vor allem, sind wie über uns hinausgestellt, wie ins All, wie unter die Sterne in ein weites unbeirrbares Kreisen.


Aber wie in einem Märchen das Übergroße, wenn es einmal bewältigt ist, sich klein macht für seinen Überwinder, um ihm ganz zu gehören, so hat der Meister diesen von seinen Dingen gewonnenen Raum wirklich in Besitz nehmen dürfen, als sein Eigentum. Denn er ist ganz, mit aller Unermeßlichkeit, in den seltsamen [220] Blättern, von denen man immer wieder meinen möchte, daß sie das Äußerste dieses Werkes sind. Diese Zeichnungen aus den letzten zehn Jahren sind nicht, wofür manche sie nehmen wollten, rasche Anmerkungen, Vorbereitendes, Vorläufiges; sie enthalten das Endgültigste einer langen ununterbrochenen Erfahrung. Und sie enthalten es, wie durch ein fortwährendes Wunder, in einem Nichts, in einem raschen Umriß, in einem atemlos der Natur abgenommenen Kontur, in dem Kontur eines Konturs, den sie selber abgelegt zu haben scheint, weil er ihr zu zart und zu kostbar war. Niemals sind Linien, auch in den seltensten japanischen Blättern nicht, von solcher Ausdrucksfähigkeit gewesen und zugleich so absichtslos. Denn hier ist nichts Dargestelltes, nichts Gemeintes, keine Spur von einem Namen. Und doch, was ist hier nicht? Welches Halten oder Loslassen oder Nicht-mehr-Haltenkönnen, welches Neigen und Strecken und Zusammenziehen, welches Fallen oder Fliegen sah oder ahnte man je, das hier nicht wieder vorkommt? Und wenn es irgendwo vorkam, so verlor man es: denn es war so flüchtig und fein, so wenig für einen bestimmt, daß man nicht fähig war, ihm einen Sinn zu geben. Jetzt erst, da man es unvermutet in diesen Blättern wiedersieht, weiß man seine Bedeutung: das Äußerste von Lieben und Leiden und Trostlos- und Seligsein geht von ihnen aus, man begreift nicht warum. Da sind Gestalten, die aufsteigen, und dieses Aufsteigen ist so hinreißend, wie nur ein Morgen es sein kann, wenn die Sonne ihn auseinanderdrängt. Und da sind leichte, sich rasch entfernende[221] Gestalten, die, indem sie fortgehn, einen mit Bestürzung erfüllen, als könnte man sie nicht entbehren. Da sind Liegende, um die herum Schlaf entsteht und geballte Träume; und Träge, ganz schwer von Trägheit, die warten; und Lasterhafte, die nicht mehr warten wollen. Und man sieht ihr Laster, und es ist wie das Wachsen einer Pflanze, die im Wahnsinn wächst weil sie nicht anders kann; man begreift, wie viel vom Neigen einer Blume auch noch in dieser sich Neigenden ist, und daß alles das Welt ist, auch noch diese Figur, die, wie ein Sternbild im Tierkreis, für immer entrückt ist und festgehalten in ihrer leidenschaftlichen Vereinsamung.

Wenn aber eine von den bewegten Gestalten unter ein wenig grüner Farbe sichtbar wird, so ist es das Meer oder der Meeresgrund, und sie rührt sich anders, mühsamer, unter dem Wasser; und es genügt ein Wink mit Blau hinter einer fallenden Figur, so stürzt sich der Raum auf allen Seiten in das Blatt hinein und umgiebt sie mit soviel Nichts, daß einen der Schwindel nimmt und man unwillkürlich nach der Hand des Meisters greift, die, mit einer zärtlich gebenden Wendung, die Zeichnung hinhält.


Nun hab ich Sie, merk ich, eine Gebärde des Meisters sehen lassen. Sie verlangen andere. Sie fühlen sich vorbereitet genug, um Äußeres und Äußerliches sogar ergänzend einordnen zu können, daß es zum Zuge würde im persönlichen Bilde. Sie verlangen den Wortlaut eines Satzes zu hören, wie er gesprochen worden ist; [222] Sie wollen Orte und Daten eintragen in die Berg- und Flußkarte dieses Werkes.

Da ist eine nach einem Ölbild hergestellte Photographie. Sie zeigt undeutlich einen jungen Mann aus dem Ende der Sechzigerjahre. Die einfachen Linien in dem bartlosen Gesicht sind nahezu hart, aber die klar im Dunkel stehenden Augen verbinden das Einzelne zu einem milden, fast träumerischen Ausdruck, wie ihn junge Menschen unter dem Einfluß der Einsamkeit bekommen; es ist fast das Antlitz von einem, der gelesen hat bis zum Dunkelwerden.

Aber da ist ein anderes Bild; um 1880. Da sieht man einen Mann, geprägt von Tätigkeit. Das Gesicht ist abgemagert, der lange Bart läßt sich nachlässig hinabgleiten auf die breitschultrig angelegte Büste, über der der Rock zu weit geworden ist. In den aschblonden, verblaßten Tönen der Photographie meint man zu erkennen, daß die Lider gerötet sind, aber der Blick tritt sicher und entschlossen aus den überanstrengten Augen, und in der Haltung ist eine elastische Spannung, die nicht brechen wird.

Und mit einem Mal, nach ein paar Jahren, scheint das alles umgewandelt. Aus dem Vorläufigen und Unbestimmten ist ein Endgültiges geworden, das gemacht ist, lange zu dauern. Auf einmal ist diese Stirne da, ›felsig‹ und steil, aus der die gerade starke Nase entspringt, deren Flügel leicht und empfindlich sind. Wie unter alten steinernen Bogen liegen die Augen, weitsichtig nach Außen und Innen. Der Mund einer faunischen Maske, halb verborgen und vermehrt um das [223] sinnliche Schweigen neuer Jahrhunderte, und darunter der Bart, wie zu lange zurückgehalten, hervorstürzend in einer einzigen weißen Welle. Und die Gestalt, die dieses Haupt trägt, wie nicht von der Stelle zu rücken.

Und soll man sagen, was von dieser Erscheinung ausgeht, so ist es dieses: daß sie zurückzureichen scheint wie ein Flußgott und vorauszuschauen wie ein Prophet. Sie ist nicht bezeichnet von unserer Zeit. Genau bestimmt in ihrer Einzigkeit, verliert sie sich doch in einer gewissen mittelalterlichen Anonymität, hat jene Demut der Größe, die an die Erbauer der großen Kathedralen denken macht. Ihre Einsamkeit ist keine Absonderung, denn sie beruht im Zusammenhang mit der Natur. Ihre Männlichkeit ist bei aller Hartnäckigkeit ohne Härte, so daß sogar ein Freund Rodin's, den er manchmal gegen Abend besuchte, schreiben konnte: »Es bleibt, wenn er geht, in der Dämmerung des Zimmers etwas Mildes zurück, als wäre eine Frau dagewesen.«

Und in der Tat, die wenigen, die in der Freundschaft des Meisters aufgenommen waren, haben seine Güte erfahren, die elementar wie die Güte einer Naturkraft ist, wie die Güte eines langen Sommertags, der alles wachsen läßt und spät dunkelt. Aber auch die flüchtigen Besucher der Sonnabend-Nachmittage haben Anteil daran gehabt, wenn sie in den beiden Stadt-Ateliers im Dépôt des Marbres zwischen vollendeten und halbfertigen Arbeiten immer wieder dem Meister begegneten. Man fühlt sich sicher in seiner Höflichkeit vom ersten Augenblick an, aber man erschrickt fast vor der [224] Intensität seines Interesses, wenn er sich einem zuwendet. Dann hat er jenen Blick konzontrierter Aufmerksamkeit, der kommt und geht wie das Licht eines Scheinwerfers, aber so stark ist, daß man es noch weit hinter sich hell werden fühlt.


Sie haben diese Werkstätten in der rue de l'Université oft beschreiben hören. Es sind Bauhütten, in denen die Bausteine dieses großen Werkes behauen werden. Fast steinbruchhaft unwirtlich, bieten sie dem Besucher keine Zerstreuung; nur für Arbeit eingerichtet, zwingen sie ihn, das Schauen als Arbeit auf sich zu nehmen, und viele haben an dieser Stelle zuerst empfunden, wie ungewohnt ihnen diese Arbeit ist. Andere, die es lernten, traten mit einem Fortschritt wieder heraus und merkten, daß sie gelernt hatten, an allem was draußen war. Am merkwürdigsten aber sind diese Räume sicher für die gewesen, die schauen konnten. Von einem Gefühl sanfter Notwendigkeit geführt, kamen sie hierher, manchmal von weit, und es war für sie das, was eines Tages kommen mußte, hier zu stehen, unter dem Schutz dieser Dinge. Es war ein Abschluß und ein Anfang und die stille Erfüllung des Wunsches, daß es irgendwo ein Beispiel geben möge unter all den Worten, eine einfache Wirklichkeit des Gelingens. Zu solchen trat dann wohl Rodin heran und bewunderte mit ihnen, was sie bewunderten. Denn der dunkle Weg seiner absichtslosen Arbeit, der durch das Handwerk führt, ermöglicht ihm, vor seinen vollendeten Dingen, die er nicht überwacht und bevormundet hat, selber [225] bewundernd zu stehn, wenn sie erst da sind und ihn übertreffen. Und seine Bewunderung ist jedesmal besser, gründlicher, entzückter als die des Besuchers. Seine unbeschreibliche Konzentrierung kommt ihm überall zugute. Und wenn er im Gespräch die Zumutung der Inspiration nachsichtig und mit ironischem Lächeln abschüttelt und meint es gäbe keine –, keine Inspiration sondern nur Arbeit, so begreift man plötzlich, daß für diesen Schaffenden die Eingebung dauernd geworden ist, daß er sie nicht mehr kommen fühlt, weil sie nicht mehr aussetzt, und man ahnt den Grund seiner ununterbrochenen Fruchtbarkeit.

»Avez-vous bien travaillé?« – ist die Frage, mit der er jeden begrüßt, der ihm lieb ist; denn wenn die bejaht werden kann, so ist weiter nichts mehr zu fragen und man kann beruhigt sein: wer arbeitet, ist glücklich.

Für Rodin's einfache und einheitliche Natur, die über unglaubliche Kraftvorräte verfügt, war diese Lösung möglich; für sein Genie war sie notwendig; nur so konnte es sich der Welt bemächtigen. Zu arbeiten wie die Natur arbeitet, nicht wie Menschen, das war seine Bestimmung.

Vielleicht hat das Sebastian Melmoth empfunden, als er, einsam, an einem seiner traurigen Nachmittage hinausgegangen war, die Porte de l'Enfer zu sehen. Vielleicht hat die Hoffnung, neu anzufangen, noch einmal in seinem halbzerstörten Herzen gezuckt. Vielleicht hatte er, wenn es möglich gewesen wäre, den Mann, als er mit ihm allein war, fragen mögen: Wie ist Ihr Leben gewesen?

[226] Und Rodin hätte geantwortet: Gut.

Haben Sie Feinde gehabt?

Sie haben mich nicht am Arbeiten hindern können.

Und der Ruhm?

Hat mich verpflichtet zu arbeiten.

Und die Freunde?

Haben Arbeit von mir verlangt.

Und die Frauen?

In der Arbeit hab ich sie bewundern gelernt.

Aber Sie sind jung gewesen?

Da war ich irgendeiner. Man begreift nichts wenn man jung ist; das kommt später, langsam.

Was Sebastian Melmoth nicht gefragt hat, vielleicht hat es mancher gedacht, wenn er zu dem Meister hinübersah, immer wieder, erstaunt über die dauerhafte Kraft des fast Siebzigjährigen, über diese Jugend in ihm, die nichts Konserviertes hat, die frisch ist, als käme sie ihm immer wieder aus der Erde zu.

Und Sie selbst fragen, ungeduldiger, nochmals: Wie ist sein Leben gewesen?


Wenn ich zögere, es Ihnen zu erzählen, der Zeit nach, wie man Lebenslaufe berichtet, so ist es, weil es mir scheint, als ob alle Daten, die man kennt (und es sind nur sehr vereinzelte), wenig persönlich und recht allgemein waren im Vergleich zu dem, was dieser Mann aus ihnen gemacht hat. Von allem was vorher war abgetrennt, durch das ungangbare Gebirge des gewaltigen Werkes, hat man es schwer, Vergangenes zu erkennen; man ist auf das angewiesen, was der Meister[227] selbst gelegentlich erzählt hat und was von Anderen wiedererzählt worden ist.[ 1]

Von der Kindheit hat man nur erfahren, daß der Knabe frühzeitig aus Paris in eine kleine Pension nach Beauvais gebracht worden ist, wo er das Haus entbehrt und, zart und empfindsam, unter denen leidet, die ihn mit Fremdheit und Rücksichtslosigkeit umgeben. Er kommt als Vierzehnjähriger zurück nach Paris und lernt in einer kleinen Zeichenschule zuerst den Ton kennen, den er am liebsten nicht wieder aus den Händen ließe: so sehr sagt dieses Material ihm zu. Wie überhaupt alles ihm gefällt, was Arbeit ist: er arbeitet sogar während des Essens, er liest, er zeichnet. Er zeichnet unterwegs auf der Straße und ganz früh am Morgen, im Jardin des Plantes, die verschlafenen Tiere. Und wozu ihn die Lust nicht verlockt, dazu treibt ihn die Armut. Die Armut, ohne die sein Leben nicht denkbar wäre, und der er es nie vergißt, daß sie ihn mit Tieren und Blumen gehalten hat, besitzlos unter all dem Besitzlosen, das von Gott abhängt und nur von ihm.

Mit siebzehn Jahren tritt er bei einem Dekorateur ein und arbeitet für ihn, wie später an der Manufaktur von Sèvres für Carrier-Belleuse und für van Rasbourg in Antwerpen und in Brüssel. Sein eigentliches, selbständiges Leben beginnt, der Öffentlichkeit gegenüber, etwa um das Jahr 1877. Es beginnt damit, daß man ihn anklagt, die damals ausgestellte Statue desÂge d'airain durch Naturabguß verfertigt zu haben. Es beginnt damit, daß man ihn anklagt. Er wüßte es jetzt [228] vielleicht kaum mehr, wenn nicht die öffentliche Meinung so ausdauernd dabeigeblieben wäre, ihn anzuklagen und abzuwehren. Er beklagt sich nicht darüber; nur daß sich unter dem Einfluß der Feindsäligkeit, die nicht nachließ, ein gutes Gedächtnis für böse Erfahrungen in ihm ausgebildet hat, das er sonst, mit seinem Sinn für das Wesentliche, hätte verkümmern lassen. Sein Können war schon enorm zu jener Zeit, war es schon im Jahre 1864, als die Maske des Mannes mit der gebrochenen Nase entstand. Er hatte sehr viel in seiner Abhängigkeit gearbeitet, aber was da war, war von anderen Händen entstellt und trug nicht seinen Namen. Die Modelle, die er für Sèvres ausgeführt hatte, fand später Mr. Roger-Marx und erwarb sie; man hatte sie in der Fabrik als unbrauchbar zu Scherben geworfen. Zehn Masken, für eines der Bassins am Trocadero bestimmt, verschwanden, gleich nachdem sie angebracht worden waren, von ihrem Platz und sind noch nicht wieder aufgefunden worden. Die Bürger von Calais bekamen nicht die Aufstellung, die der Meister vorgeschlagen hatte; niemand wollte sich an der Enthüllung dieses Denkmals beteiligen. In Nancy zwang man Rodin, am Sockel des Standbildes Claude Lorrains Veränderungen vorzunehmen, die gegen seine Überzeugung waren. Sie erinnern sich noch der unerhörten Ablehnung des Balzac von seiten seiner Besteller, mit der Begründung, die Statue wäre nicht ähnlich genug. Vielleicht haben Sie es in den Zeitungen übersehen, daß noch vor zwei Jahren der probeweise vor dem Panthéon aufgerichtete Gipsabguß des Denkers [229] durch Axthiebe zertrümmert worden ist. Aber es ist möglich, daß Ihnen heut oder morgen eine ähnliche Notiz auffällt, falls es wieder zum öffentlichen Ankauf eines Rodinschen Werkes kommen sollte. Denn diese Liste, die nur eine Auswahl der Kränkungen enthält, die man unablässig zu vermehren bemüht war, wird wohl kaum abgeschlossen sein.

Es wäre denkbar, daß ein Künstler schließlich diesen immer wieder erklärten Krieg angenommen hätte; Unwillen und Ungeduld hätten den und jenen hinreißen können; aber wie sehr wäre er, auf den Kampfplatz tretend, von seinem Werke entfernt worden. Es ist Rodin's Sieg, daß er in dem seinen ausharrte und Zerstörung in der Art der Natur beantwortete: mit einem neuen Anfang und zehnfacher Fruchtbarkeit.


Wer sich scheut, den Vorwurf der Übertreibung auf sich zu nehmen, hat überhaupt kein Mittel, Ihnen die Tätigkeit Rodin's nach seiner Rückkehr aus Belgien zu schildern. Der Tag begann für ihn mit der Sonne, aber er endete nicht mit ihr; denn da wurde noch ein langer Streifen Lampenlicht angefügt an die vielen hellen Stunden. Spät nachts, wenn kein Modell mehr zu haben war, war die Frau, die sein Leben schon lange mit rührender Hülfe und Hingabe teilte, immer bereit, die Arbeit in dem dürftigen Zimmer zu ermöglichen. Sie war unscheinbar als Gehülfin, ganz verschwindend in den vielen geringen Diensten, die ihr zufielen, aber daß sie auch schön sein konnte, das läßt die La Bellone genannte Büste nicht vergessen, und[230] auch das schlichte spätere Bildnis spricht davon. War auch sie schließlich müde, so erwies sich, daß das Gedächtnis des Arbeitenden mit Form-Erinnerungen so sehr angefüllt war, daß er keinen Grund hatte die Arbeit zu unterbrechen.

Damals entstehen die Fundamente des ganzen unermeßlichen Werkes, fast alle Arbeiten, die man kennt, setzen in jenen Tagen mit einer verwirrenden Gleichzeitigkeit ein. Als wäre der Beginn der Verwirklichung die einzige Gewähr, daß es möglich sein wird, so Ungeheueres durchzuführen. Und Jahre und Jahre hielt diese überlegene Kraft unvermindert vor, und als endlich eine gewisse Erschöpfung eintrat, war es nicht die Arbeit, die sie verschuldete, sondern viel eher die ungesunden Verhältnisse der sonnenlosen Wohnung (in der rue des Grands-Augustins), die Rodin lange gar nicht beachtet hatte. Freilich die Natur hatte er oft entbehrt, und manchmal, an Sonntagnachmittagen, war man aufgebrochen; aber gewöhnlich war es Abend, ehe man, gehend unter den vielen Gehenden (denn an die Benutzung eines Omnibus war nicht zu denken jahrelang), an den Fortifications angekommen war, vor denen, ungewiß und schon dämmernd, das Land begann, nicht zu erreichen. Nun aber war es endlich möglich geworden, den alten Wunsch auszuführen und ganz aufs Land zu ziehen; zuerst nach Bellevue in das kleine Landhaus, in dem Scribe gewohnt hatte, und später auf die Höhen von Meudon.

Dort war das Leben um vieles geräumiger geworden; das Haus (die einstöckige Villa des Brillants mit dem [231] hohen Louis-treize-Dach) war klein und ist seither nicht vergrößert worden. Aber nun war ein Garten da, der mit seinem heiteren Beschäftigtsein teilnahm an allem, was geschah, und die Ferne war vor den Fenstern. Was sich nun in den neuen Verhältnissen ausbreitete und immer wieder Zubauten beanspruchte, das war nicht der Herr dieses Hauses, das waren seine geliebten Dinge, die nun verwöhnt werden sollten. Für sie ist alles getan worden; noch vor sechs Jahren hat er – Sie werden sich dessen erinnern – den Ausstellungs-Pavillon vom Pont de l'Alma nach Meudon überführt und diesen hellen hohen Raum draußen den Dingen überlassen, die ihn nun zu Hunderten erfüllen.

Neben diesem »Musée Rodin« ist nach und nach ein sehr persönlich ausgewähltes Museum antiker Statuen und Fragmente erwachsen, das Werke griechischer und ägyptischer Arbeit enthält, von denen einzelne in den Sälen des Louvre auffallen würden. In einem anderen Raum stehen hinter attischen Vasen Bilder, denen man, auch ohne die Signatur zu suchen, die richtigen Namen giebt: Ribot, Monet, Carrière, van Gogh, Zuloaga, und unter Bildern, die man nicht zu nennen weiß, ein paar, die auf Falguière zurückgehen, der ein großer Maler war. Es ist natürlich, daß es nicht an Widmungen fehlt: die Bücher allein bilden eine umfangreiche Bibliothek und eine seltsam selbständige, unabhängig von der Wahl ihres Besitzers und doch nicht zufällig um ihn gestellt. Alle diese Gegenstände sind von Sorgfalt umgeben und in Ehren gehalten, [232] aber niemand erwartet von ihnen, daß sie Annehmlichkeit oder Stimmung verbreiten sollen. Fast hat man das Gefühl, Kunst-Dinge verschiedenster Art und Zeit nie in so starker, unverminderter Einzelwirkung erlebt zu haben, wie hier, wo sie nicht ehrgeizig, aussehen wie in einer Sammlung und auch nicht gezwungen sind, aus dem Vermögen ihrer Schönheit zu einem allgemeinen, von ihnen absehenden Behagen beizutragen. Jemand hat einmal gesagt, daß sie gehalten wären wie schöne Tiere, und er hat damit wirklich Rodin's Beziehung zu den Dingen, die ihn umgeben, festgestellt; denn wenn er, oft nachts noch, unter ihnen herumgeht, vorsichtig, wie um nicht alle zu wecken, und mit einem kleinen Licht schließlich zu einem antiken Marmor tritt, der sich rührt, aufwacht und plötzlich aufsteht: so ist es das Leben, das er suchen gegangen ist und das er nun bewundert: »La vie, cette merveille«, wie er einmal schrieb.

Dieses Leben hat er hier in der ländlichen Einsamkeit seiner Wohnung mit noch gläubigerer Liebe umfassen gelernt. Es zeigt sich ihm jetzt wie einem Eingeweihten, es verbirgt sich ihm nirgends mehr, es hat kein Mißtrauen ihm gegenüber. Er erkennt es im Kleinen und im Großen; im kaum mehr Sichtbaren und im Unermeßlichen. Im Aufstehen und im Schlafengehen ist es, und es ist im Nachtwachen; die schlichten altmodischen Mahlzeiten sind erfüllt davon, das Brot, der Wein; in der Freude der Hunde ist es, in den Schwänen und im glänzenden Kreisen der Tauben. In jeder kleinen Blume ist es ganz, und hundertmal in jeder [233] Frucht. Irgend ein Kohlblatt aus dem Küchengarten brüstet sich damit und mit wieviel Recht. Wie gerne schimmert es im Wasser und wie glücklich ist es in den Bäumen. Und wie nimmt es, wo es kann, das Dasein der Menschen in Besitz, wenn sie sich nicht sträuben. Wie stehn da drüben die kleinen Häuser gut, genau wo sie stehen müssen, in den richtigen Ebenen. Und wie prachtvoll springt bei Sèvres die Brücke über den Fluß, absetzend, ruhend, ausholend und wieder springend, dreimal. Und ganz dahinter der Mont-Valérien mit seinen Befestigungen, wie eine große Plastik, wie eine Akropolis, wie ein antiker Altar. Und auch das hier haben Menschen gemacht, die dem Leben nahestanden: diesen Apollo, diesen ruhenden Buddha auf der offenen Blume, diesen Sperber und, hier, diesen knappen Knabentorso, an dem keine Lüge ist.

Auf solchen Einsichten, die Nahes und Entferntes ihm fortwährend bestätigt, ruhen die Arbeitstage des Meisters von Meudon. Arbeitstage sind es geblieben, einer wie der andere, nur daß jetzt auch Das mit zur Arbeit gehört: dieses Hinausschauen und Mitallemsein und Verstehen. Je commence à comprendre – sagt er manchmal nachdenklich und dankbar. »Und das kommt, weil ich mich um eine Sache ernstlich bemüht habe; wer Eines versteht, der versteht überhaupt; denn in allem sind dieselben Gesetze. Ich habe die Skulptur gelernt, und ich wußte wohl, daß das etwas Großes ist. Ich erinnere mich jetzt, daß ich einmal in der ›Nachfolge Christi‹, im dritten Buch besonders, überall statt Gott Skulptur gesetzt hatte, und es war richtig und stimmte –.«

[234] Sie lächeln, und es ist ganz in der Ordnung, bei dieser Stelle zu lächeln; ihr Ernst ist so unbeschützt, daß man das Gefühl hat, ihn verbergen zu müssen. Aber Sie merken schon, daß Worte wie dieses nicht gemacht sind, um so laut gesprochen zu werden, wie ich hier sprechen muß. Sie erfüllen vielleicht auch ihre Mission, wenn die Einzelnen, die sie selbst empfangen haben, versuchen, ihr Leben danach einzurichten.

Übrigens ist Rodin schweigsam wie alle Handelnden. Er giebt sich auch selten das Recht, seine Einsichten in Worten zu verwenden, weil das des Dichters ist; und der Dichter steht seiner Bescheidenheit weit über dem Bildbauer, der, wie er einmal vor seiner schönen Gruppe Le sculpteur et sa muse mit verzichtendem Lächeln gesagt hat, »sich unbeschreiblich anstrengen muß, in seiner Schwerfälligkeit, die Muse zu verstehen«.

Trotzdem gilt, was von seiner Rede gesagt worden ist: »quelle impression de bon repas, de nourriture enrichissante –«; denn hinter jedem Wort seines Gesprächs steht, massiv und beruhigend, die schlichte Wirklichkeit seiner erfahrenen Tage.


Sie können jetzt begreifen, daß diese Tage ausgefüllt sind. Der Vormittag vergeht in Meudon; oft werden in den verschiedenen Ateliers mehrere begonnene Arbeiten nach einander vorgenommen und jede ein wenig gefördert; dazwischen drängt sich, lästig und unabweisbar, der ganze geschäftliche Verkehr, dessen Sorge und Mühsal dem Meister nicht erspart bleibt, da fast keines seiner Werke durch den Kunsthandel geht. Meistens [235] schon um zwei Uhr wartet ein Modell in der Stadt, ein Porträtbesteller oder ein Berufsmodell, und nur im Sommer erreicht es Rodin, vor Einbruch der Dämmerung wieder in Meudon zu sein. Der Abend draußen ist kurz und immer derselbe; denn um neun Uhr begiebt man sich regelmäßig zu Ruhe.

Und fragen Sie nach den Zerstreuungen, den Ausnahmen: es giebt im Grunde keine; Renan's »travailler, ça repose« hat vielleicht noch nie so tägliche Gültigkeit angenommen wie hier. Aber die Natur erweitert manchmal unversehens diese äußerlich so gleichen Tage und fügt Zeiten ein, ganze Ferien, die vor dem Tagwerk liegen; sie läßt ihren Freund nichts versäumen. Morgen, die sich glücklich fühlen, wecken ihn und er teilt mit ihnen. Er sieht seinem Garten zu, oder er kommt nach Versailles zu dem prunkvollen Aufstehn der Parke, wie man zum Lever des Königs kam. Er liebt die Unberührtheit dieser ersten Stunden. »On voit les animaux et les arbres chez eux«, sagt er heiter, und er bemerkt alles, was am Wege steht und sich freut. Er hebt einen Pilz auf, entzückt, und zeigt ihn Madame Rodin, die, gleich ihm, diese frühen Wege nicht aufgegeben hat: »Sieh«, sagt er angeregt, »und das braucht nur eine Nacht; in einer Nacht ist das gemacht, alle diese Lamellen. Das arbeitet gut.«

Am Rande des Parkes dehnt sich die ländliche Landschaft. Ein Viergespann pflügender Rinder wendet langsam und bewegt sich gewichtig in dem frischen Feld. Rodin bewundert die Langsamkeit, das Ausführliche im Langsamen, seine Fülle. Und dann: »C'est [236] toute obéissance.« Seine Gedanken gehen ähnlich durch die Arbeit. Er versteht dieses Bild, wie er die Bilder bei den Dichtern begreift, mit denen er sich manchmal am Abend beschäftigt. (Das ist nicht mehr Baudelaire, Rousseau ist es noch ab und zu, sehr oft ist es Platon.) Aber als jetzt von den Übungsplätzen drüben aus Saint-Cyr über die ruhige Feldarbeit die Hörner herüberrufen, aufrührerisch und rasch –, da lächelt er: er sieht den Schild des Achill.

Und an der nächsten Biegung liegt die Landstraße vor ihm, »la belle route«, eben und lang und wie das Gehen selbst. Und auch das Gehen ist ein Glück. Das hat ihn die belgische Zeit gelehrt. Sehr gewandt im Arbeiten und von seinem damaligen Kompagnon aus verschiedenen Gründen nur halb in Anspruch genommen, gewann er ganze Tage, um sie draußen zu verbringen. Ein Malkasten war zwar mit, aber er wurde immer seltener gebraucht, weil Rodin einsah, daß die Beschäftigung mit einer Stelle ihn von der Freude an tausend anderen Dingen ablenkte, die er noch so wenig kannte. So wurde es eine Zeit des Schauens. Rodin nennt sie seine reichste. Die großen Buchenwälder von Soignes, die blanken langen Straßen, die aus ihnen hinaus dem weiten Wind der Ebenen entgegenlaufen, die klaren Estaminets, in denen Rast und Mahlzeit etwas Festliches hatten bei aller Schlichtheit (gewöhnlich nur Brot in Wein getaucht: »une trem pête«): dieses war lange der Kreis seiner Eindrücke, in den jedes einfache Ereignis eintrat wie mit einem Engel; denn er erkannte hinter jedem die Flügel einer Herrlichkeit.

[237] Er hat sicher Recht, wenn er an dieses jahrelange Gehen und Schauen mit einer Dankbarkeit ohnegleichen zurückdenkt. Es war seine Vorbereitung auf die kommende Arbeit; es war ihre Vorbedingung in jedem Sinn; denn damals nahm auch seine Gesundheit die endgültige dauernde Festigkeit an, mit der er später rücksichtslos rechnen mußte.

Wie er aus jenen Jahren unerschöpfliche Frische mitbrachte, so kehrt er jetzt noch jedesmal gestärkt und voll Arbeitslust von einem weiten morgendlichen Wege zurück. Glücklich, wie mit guten Nachrichten, tritt er bei seinen Dingen ein und geht auf eines zu, als hätte er ihm etwas Schönes mitgebracht. Und ist im nächsten Augenblick vertieft, als arbeite er seit Stunden. Und fängt an und ergänzt und verändert hier und dort, als ginge er, durch das Gedränge, dem Ruf der Dinge nach, die ihn nötig haben. Keines ist vergessen; die zurückgerückten warten auf ihre Stunde und haben Zeit. Auch in einem Garten wächst nicht alles zugleich. Blüten stehen neben Früchten, und irgend ein Baum ist noch bei den Blättern. Sagte ich nicht, daß es im Wesen dieses Gewaltigen liegt, Zeit zu haben wie die Natur und hervorzubringen wie sie?


Ich wiederhole es; und es scheint mir immer noch wunderbar, daß es einen Menschen giebt, dessen Arbeit zu solchen Maßen angewachsen ist. Aber ich kann doch nicht den erschreckten Blick vergessen, der mich einmal abwehrte, als ich fiel einem kleinen Kreise mich dieses Ausdrucks bediente, um die ganze Größe Rodinschen [238] Genies für einen Moment gleichzeitig heraufzurufen. Eines Tages begriff ich diesen Blick.

Ich ging in Gedanken durch die ungeheueren Werkstätten und ich sah, daß alles im Werden war und nichts eilte. Da stand, riesig zusammengeballt, derDenker, in Bronze, vollendet; aber er gehörte ja in den immer noch wachsenden Zusammenhang desHöllentors. Da wuchs das eine Denkmal für Victor Hugo heran, langsam, immerfort beobachtet, vielleicht noch Abänderungen ausgesetzt, und weiterhin standen die anderen Entwürfe, werdend. Da lag, wie ausgegrabenes Wurzelwerk einer uralten Eiche, die Gruppe des Ugolino und wartete. Da wartete das merkwürdige Denkmal für Puvis de Chavannes mit dem Tisch, dem Apfelbaum und dem herrlichen Genius der ewigen Ruhe. Das da drüben wird ein Denkmal für Whistler sein und hier diese ruhende Gestalt wird vielleicht einmal das Grab eines Unbekannten berühmt machen. Es ist kaum durchzukommen; aber schließlich bin ich wieder vor dem kleinen Gipsmodell der Tour du Travail, das nun in seiner endgültigen Anordnung nur des Bestellers harrt, der das riesige Beispiel seiner Bilder aufrichten hilft unter den Menschen.[ 2]

Aber da ist neben mir ein anderes Ding, ein stilles Gesicht, zu dem eine leidende Hand gehört, und der Gips hat jene durchscheinende Weiße, die er nur unter Rodins Werkzeug annimmt. Auf dem Gestell steht, vorläufig vorgemerkt und schon wieder durchgestrichen: Convalescente. Und nun finde ich mich unter lauter namenlosen neuen werdenden Dingen; sie sind[239] gestern begonnen oder Vorgestern oder vor Jahren; aber sie haben dieselbe Unbekümmertheit wie jene anderen. Sie rechnen nicht.

Und da fragte ich mich zum ersten Male: Wie ist es möglich, daß sie nicht rechnen? Warum ist dieses immense Werk immer noch im Ansteigen und wohin steigt es? Denkt es nichtmehr an seinen Meister? Glaubt es wirklich, in den Händen der Natur zu sein, wie die Felsen, an denen tausend Jahre hingehen wie ein Tag?

Und es war mir, in meiner Bestürzung, als müßte man alles Fertige hinausschaffen aus den Werkstätten, um übersehen zu können, was noch zu tun ist in den nächsten Jahren. Aber während ich das viele Vollendete zählte, die schimmernden Steine, die Bronzen, alle diese Büsten, da blieb mein Blick hoch an demBalzac haften, dem Zurückgekommenen, Abgewiesenen, der dastand, hochmütig, als wollte er nicht wieder hinaus.


Und seither sehe ich die Tragik dieses Werkes auf dem Grunde seiner Größe. Ich fühle deutlicher als je, daß in diesen Dingen die Skulptur unaufhaltsam zu einer Macht angewachsen ist, wie niemals seit der Antike. Aber diese Plastik ist in eine Zeit geboren worden, die keine Dinge hat, keine Häuser, kein Äußeres. Denn das Innere, das diese Zeit ausmacht, ist ohne Form, unfaßbar: es fließt.

Dieser hier mußte es fassen; er war ein Former in seinem Herzen. Er hat alles das Vage, Sich-Verwandelnde, Werdende, das auch in ihm war, ergriffen und eingeschlossen und hingestellt wie einen Gott; denn[240] auch die Verwandlung hat einen. Als ob einer ein dahinstürzendes Metall aufhielte und es erstarren ließe in seinen Händen.

Vielleicht erklärt es einen Teil des Widerstandes, der sich diesem Werke überall entgegenstemmte, daß hier Gewalt geschah. Das Genie ist immer ein Schrecken für seine Zeit; aber indem hier eines die unsere nicht nur im Geiste, sondern auch im Verwirklichen fortwährend überholt, wirkt es furchtbar, wie ein Zeichen am Himmel.

Fast möchte man einsehen: diese Dinge können nirgends hin. Wer wagt es, sie bei sich aufzunehmen?

Und gestehen sie nicht selbst ihre Tragik ein, die strahlenden, die den Himmel an sich gerissen haben in ihrer Verlassenheit? Und die nun dastehn, von keinem Gebäude mehr zu bändigen? Sie stehen im Raume. Was gehn sie uns an.

Denken Sie, daß ein Berg aufstünde im Lager von Nomaden. Sie würden ihn verlassen und weiterziehen um ihrer Herden willen.

Und wir sind ein Wandervolk, alle; nicht deshalb weil keiner ein Zuhause hat, bei dem er bleibt und an dem er baut, sondern weil wir kein gemeinsames Haus mehr haben. Weil wir auch unser Großes immer mit uns herumtragen müssen, statt es von Zeit zu Zeit hinzustellen, wo das Große steht.

Und doch wo immer Menschliches ganz groß wird, da verlangt es danach, sein Gesicht zu verbergen im Schooße allgemeiner namenloser Größe. Als es zuletzt, noch einmal nach der Antike, in Standbildern anwuchs [241] aus Menschen heraus, die auch unterwegs waren in ihren Geistern und voller Verwandlung, – wie stürzte es da nach den Kathedralen hin und trat in die Vorhallen zurück und bestieg Tore und Türme wie bei einer Überschwemmung.

Wohin aber sollten die Dinge Rodin's?

Eugène Carrière hat einmal von ihm geschrieben: »Il n'a pas pu collaborer à la cathédrale absente.«

Er hat nirgends mitarbeiten können, und keiner hat mit ihm gearbeitet.

In den Häusern des achtzehnten Jahrhunderts und seinen gesetzvollen Parken sah er wehmütig das letzte Gesicht der Innenwelt einer Zeit. Und geduldig erkannte er in diesem Gesicht die Züge jenes Zusammenhangs mit der Natur, der seither verloren gegangen ist. Immer unbedingter wies er auf sie hin und riet, zurückzukehren »à l'œuvre même de Dieu, œuvre immortelle et redevenue inconnue«. Und es galt schon denen, die nach ihm kommen werden, wenn er vor der Landschaft sagte: »Voilà tous les styles futurs.«

Seine Dinge konnten nicht warten; sie mußten getan sein. Er hat ihre Obdachlosigkeit lange vorausgesehen. Ihm blieb nur die Wahl, sie in sich zu ersticken oder ihnen den Himmel zu gewinnen, der um die Berge ist.

Und das war seine Arbeit.

In einem ungeheueren Bogen hat er seine Welt über uns hingehoben und hat sie in die Natur gestellt.

Anmerkungen

1 [1907.] Die meisten und zuverlässigsten Angaben enthält: Judith Cladel, »Auguste Rodin, pris sur la vie« (Paris, Editions de la Plume, 31, rue Bonaparte; 1903): eine sorgfältige und sympathische Arbeit, der, aus persönlichen Eindrücken und Gesprächen, ein liebevoll geschriebenes Bildnis Rodin's gelingt. Unter späteren Veröffentlichungen ist ein Sonderheft von »L'Art et Le Beau« (le Année, No 12, Décembre 1906) zu nennen, das, neben guten Abbildungen, einen gründlich unterrichteten Aufsatz von Gustave Kahn enthält.

2 [1907.] Wiederholte Anfragen lassen mich vermuten, daß eine kurze Beschreibung der Tour du Travail nicht überflüssig erscheinen dürfte. Ich halte mich an das erwähnte Gipsmodell, das im Musée Rodin in Meudon zu sehen ist.

Auf einem viereckigen ziemlich geräumigen Unterbau erhebt sich ein runder Turm. Seine offenen Arkaden lassen einen Moment an den Pisaner Campanile denken; aber die Bogen stehen hier nicht, zu Stockwerken geordnet, übereinander; sie winden sich als spiraliges Band nach oben, wo der Gürtel eines plastischen Gesimses sie zusammenhält. Den Abschluß des Ganzen bildet eine Gruppe von zwei geflügelten Figuren, die auf der vom Gesimse eingeschlossenen Plattform aufruhen.

Der Unterbau wird einen fensterlosen viereckigen Saal enthalten, eine Art Krypta, aus deren Wänden, in Basrelief, Darstellungen unterirdischer und unterseeischer Arbeiten, Bergleute und Taucher, bei elektrischer Beleuchtung hervortreten sollen. Vor dem etwas zurückliegenden Eingang zu diesem Raume stehen zu beiden Seiten, das Untergeschoß überragend, die Statuen des Tages und der Nacht, architektonisch in die Treppenanlage eingefügt, die den Aufgang zur Terrasse des Unterbaus vermittelt. Von da aus betritt man den Turm. Er besteht aus einer massigen Säule, an welcher, in sanftem Anstieg, die Wendeltreppe entlangführt, die nach außen von den Arkaden eingeschlossen ist. Durch diese fallt reichliches Licht auf die gegenüberliegenden Reliefs, die, die Oberfläche der Säule belebend, die Treppe auf ihrem ganzen Wege begleiten. Handwerk aus Handwerk entrollt sich hier, Zimmerleute, Mauerer, Schmiede, – Gewerbe aus Gewerbe, wie von einer einzigen riesigen Bewegung hingerissen und hinauf. Das Band, das die Spirale an ihrem Ende schließlich von außen zusammennimmt, trägt die Bilder des Tierkreises, die wiederholen sollen, was schon die Statuen des Tages und der Nacht am Fuße des Denkmals andeuten: daß alles das ununterbrochen am Werke ist und im Steigen, auf die Genien zu, die sich aus den Himmeln segnend niederlassen, von der Fülle der wirkenden Kräfte wie von einem Anruf angezogen. Unten am Turme sind noch zwei Steinreliefs, wie Grabtafeln, eingemauert, die an Herakles und Hephaïstos erinnern, die heroischen Ahnherrn menschlicher Arbeit.

Die anderen dargestellten Figuren tragen die Kleidung unserer Zeit; der Stil des Bauwerks, im Ganzen und im Einzelnen (Arkaden, Türen u.s.f.), schließt sich an die Formen der französischen Renaissance an.

*

(1913.) Für dieses große Projekt besteht nur noch wenig Aussicht auf Ausführung, teils weil die Strömungen innerhalb des Werkes andere Wege genommen haben, teils weil der entscheidende Auftrag ausgeblieben ist, der, wenn er im rechten Moment aufgetreten wäre, den Ausschlag gegeben hätte.

*

(1919.) Es wird nicht der Tod Rodin's gewesen sein, der die Ausführung dieses großen Projekts verhindert hat. Das Fehlen von Auftraggebern und von gleichgerichteten Mitarbeitern war seiner Verwirklichung von vornherein ungünstig. Dagegen scheint die Porte de l'Enfer, dieses größte Gebirg seiner Schöpfung, das dem Meister jahrzehntelang als Steinbruch von Ideen gedient hat, in einem neuen Aufbau letzter Hand auf die Bronze zu warten. Das »Monument à Whistler« ist, wie man hört, fertig für den Guß, der für das Pantheon bestimmte aufrechte Victor Hugo harrt seiner Übertragung in den Marmor, und auch das Denkmal für Puvis de Chavannes soll, unter Despiau's Mitarbeit, noch zum Abschluß gekommen sein. Die lange Reihe der Porträts setzt sich in drei bedeutenden Werken fort: der Büste Clemenceau's, die schon im Jahre 1913 begonnen worden war, dem Papst-Bildnis von 1915 und dem Porträt des Handelsministers Clémentel, Rodin's letzter Arbeit.

Mit dem Tode Rodin's hat der Staat seine gewaltige Erbschaft angetreten: das schöne Hôtel de Biron umfaßt, als Musée Rodin, seinen gesamten künstlerischen Nachlaß, einschließlich der reichen Sammlungen. Durch diese Einrichtung ist auch dem fragmentarisch Zurückgebliebenen der Anschluß an das überlebende Werk dauernd gesichert.

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