Betty Paoli
[Conrad Ferdinand Meyer]

[209] 1. Das Amulet

Seit den Tagen des Horaz wetteifern Dichter und Philosophen im Lobe der goldenen Mittelmäßigkeit und rühmen sie als sichere Zuflucht vor den Stürmen des Schicksals, die den Großen und Mächtigen drohen. Worte! Worte! möchte man dabei mit Hamlet ausrufen. Allerdings kann, wer keinen Thron besitzt, keinen verlieren, ist ihm aber deshalb der Fortbestand seines bescheidenen Glücksteils sicherer verbürgt oder der Verlust desselben minder empfindlich? Steht es in der Macht des Einzelnen, sein Los von dem der Gesamtheit zu trennen? Zwingt ihn nicht das unerschütterliche Gesetz der Solidarität, ihre Kämpfe und Gefahren zu teilen? Wenn zwischen den Königen Streit entbrennt, müssen die Völker ihn ausfechten, wenn neue Erkenntnisse, neue Überzeugungen mit elementarischer Gewalt sich Bahn brechen, wird jedes Herz in den großen [209] Sturm hinausgerafft, jedes Geschick von den Wendungen des allgemeinen Kampfes bestimmt. Das Individuum gehört nicht mehr sich selbst an; es ist nur noch ein Bruchteil der Partei, zu der es sich geschlagen hat, die Geschichte seines Lebens nur eine Episode, die, je nach ihrem Charakter, die Schrecken des gewaltigen Dramas vermehrt oder mildert.

Zu ähnlichen Betrachtungen wird man durch C. F. Meyers neuestes Werk angeregt, in dem die reine Gesinnung edler Natur und ein seelenvolles Liebeswerben sich von dem dunklen Grunde politischer Greuel wohltuend abheben. Ich möchte diese Novelle ein historisches Genrebild nennen, denn wenn sie auch nur eine anspruchslose Selbstbiographie zu geben scheint, ist sie doch innerlichst von historischem Geiste durchdrungen. Der Held derselben ist ein junger Schweizer, namens Schadau, der seine Heimat verläßt, um in Frankreich unter dem großen Hugenottenführer Coligny zu dienen. Von den Schicksalen zu berichten, die seiner in der Fremde harren, hieße dem Autor wie dem Leser einen schlechten Dienst erzeugen. Die Mitteilung des tatsächlichen Inhaltes wäre hier um so weniger am Platze, je entschiedener die Bedeutung und der Reiz der in Rede stehenden Novelle in der feinen Charakteristik der handelnden Personen und ihrer Zeit liegen. Die darin erzählten Vorgänge sind fesselnd genug, um für sich bestehen zu können; jenes höhere Interesse aber, das [210] mit der Spannung auf ihren Abschluß nichts gemein hat, erhalten sie doch erst durch die scharf ausgeprägte Physiognomie der Zeit, die sich in ihnen abspiegelt. – Die Erzählung beginnt mit dem Religionsfrieden, der den wegen ihres Glaubens verbannten Protestanten die Rückkehr in die Heimat gestattete. Die erlangten Zugeständnisse, die Beweise von Gunst und Vertrauen, womit Karl IX. die Häupter der reformierten Partei überhäuft, die bevorstehende Vermählung seiner Schwester mit Heinrich von Navarra scheinen den endlichen Anbruch friedlicher Tage zu verbürgen.

Dennoch – und hierin zeigt sich die Kunst des Erzählers – empfindet man den schwülen Druck der gewitterschwangeren Atmosphäre, wird man fort und fort erinnert, daß man auf vulkanischem Boden stehe. Schroff und unversöhnlich tritt die Abneigung der unverhältnismäßig großen Mehrzahl des französischen Volkes gegen die neue Lehre hervor. Ihrem ganzen Wesen gemäß mußte die leichtblütige Rasse einen bequemen Autoritätsglauben dem mühevollen Recht der freien Forschung vorziehen. Zur Zeit ihrer größten Ausbreitung zählte die Reformation in Frankreich nicht mehr als etwa den fünften Teil der Nation zu ihren Anhängern. Um diese Tatsache zu erklären, legt der Verfasser dem welt- und menschenkundigen Montaigne folgende Worte in den Mund: »Ihr Hugenotten verfehlt euch gegen den ersten Satz der Lebensweisheit: [211] daß man das Volk, unter dem man wohnt, nicht durch Mißachtung seiner Sitten beleidigen darf. Ihr kleidet euch in düstere Farben, tragt ernsthafte Mienen und seid so steif wie eure Halskrägen. Kurz, ihr schließt euch ab und das bestraft sich in der größten Stadt wie auf dem kleinsten Dorfe.« Diese Antipathie ward durch politisches Mißtrauen noch gesteigert. Man haßte die Hugenotten nicht nur als Ketzer, sondern wohl mehr noch als die natürlichen Verbündeten ihrer nichtfranzösischen Glaubensgenossen. Es bedurfte nur eines Zeichens, um alle Schrecken zu entfesseln, und dieses Zeichen ließ nicht lange auf sich warten. Die Glocke von St. Germain l'Auxerrois ertönte und in den Straßen von Paris begann das Gemetzel, das Frankreich 60.000 Bürger kosten sollte.

Dies sind die Verhältnisse, die sich in Meyers Darstellung vor unseren Blicken entfalten und unaufhaltsam der Katastrophe zustreben. Sie verdeutlichen sich uns in den Charakteren wie in den Geschicken der handelnden Personen. Wie verschieden diese auch denken und empfinden mögen, in jeder von ihnen begegnen wir der inneren Konsequenz, die das Wollen zum Müssen macht. So ist z.B. Gaspard de Coligny eine mit ungewöhnlicher Feinheit und Präzision ausgeführte Figur. Mit großem künstlerischen Verstand sind schon auf den ersten Seiten die Fäden angesponnen, die am Schlusse Schadau aus dem grauenvollen Labyrinth zurück ans [212] Licht des Tages führen sollen. Auf diese Weise vorbereitet und motiviert, ist seine Rettung nicht das Werk eines dei ex machina, sondern die Folge seines eigenen Tuns, einer gutmütigen Handlung, die, von ihm längst vergessen, ihm im Augenblick der höchsten Not Früchte trägt. Ein wohl zu bezeichnender Vorzug der Novelle liegt darin, daß sie jene Pariser Schreckensnacht stimmungsvoll schildert, ohne durch eine zu peinliche Ausmalung das ästhetische Gefühl zu verletzen. Der Verfasser wirkt mit geistigen, nicht mit sinnlichen Mitteln, er zeigt uns nicht die leiblichen, sondern die in den Gemütern aufklaffenden Wunden. Vortrefflich ist das Entsetzen ausgedrückt, das sich nach vollbrachter Untat der Bevölkerung von Paris bemächtigt – das Entsetzen des Verbrechers vor sich selbst. Die Schlichtheit der Darstellung verstärkt den Eindruck.

Obgleich der Erzähler sich nicht des Kunstgriffes bediente, altertümliche Redeformen zu gebrauchen, glaubt man in der Tat die Aufzeichnungen eines Mannes aus jener Zeit zu lesen, der in späten Jahren sich entschloß, die merkwürdigen Begebenheiten, an denen seine Jugend reich war, für die Nachwelt aufzubewahren. Nur an der genau abgewogenen Gruppierung der Personen und Begebenheiten merkt man das Walten eines künstlerischen Geistes, der die hier nahe liegende Gefahr zu vermeiden wußte, entweder die historischen Ereignisse auf Kosten der erfundenen Handlung zu betonen oder [213] durch das Übergewicht der letzteren die Darstellung jener zu verkleinlichen. Hier sehen wir das Allgemeine und das Persönliche sich gegenseitig bedingen und zu einem Zeitbild voll überzeugender Treue verschmelzen. Nicht minder als in seinen früher erschienenen Dichtungen in metrischer Form, die ebenso allgemeine wie gerechte Würdigung fanden, hat Ferdinand Meyer sich in diesem seinem ersten Prosawerk als eine echte Poetennatur bewährt.

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