4. Briefe von Annette v. Droste-Hülshoff an Levin Schücking.

Der Briefwechsel zwischen der großen Dichterin und ihrem Freund Levin Schücking ist nach langer Verzögerung nunmehr erschienen – eine werte Gabe für alle, denen Annette v. Droste durch ihre herrlichen Schöpfungen teuer geworden, und deren Wunsch, ihr auch menschlich näher zu treten, mehr und mehr von ihrem Seelenleben zu erfahren, ein berechtigter ist. Diese neueste Publikation scheint mir auch ein Beweis, daß das Verständnis für die Bedeutung dieser ungewöhnlichen [36] Frau sich in immer weiteren Kreisen verbreitet. Es gibt wahrlich nicht viele Poeten, deren Briefe man fast fünfzig Jahre nach ihrem Tod veröffentlichen dürfte, ohne der Gleichgiltigkeit, wenn nicht dem Spott zu begegnen, wenn sie, wie die vorliegenden, ganz intimer Natur sind, weder allgemeine Fragen berühren, noch ein vielbewegtes Leben abspiegeln. Nur bei weit über das Mittelmaß hervorragenden Menschen kann das Interesse, das wir an ihrer Persönlichkeit nehmen, groß genug sein, um uns nach nichts anderem verlangen zu lassen, als nur diese so genau als möglich kennen zu lernen.

Die Herausgeberin, Levin Schückings Tochter, macht in einer von ebenso viel Verständnis als Pietät zeugenden Einleitung den Leser mit den Umständen bekannt, unter welchen die beiden Briefsteller einander näher kamen. Der erste der hier mitgeteilten Briefe der Droste ist vom 4. Mai 1842 datiert, der erste Schückings vom 19. November 1840, es scheint daher eine Anzahl Briefe in Verlust geraten oder nicht veröffentlicht worden zu sein. Jedenfalls reicht beider Bekanntschaft um mehrere Jahre zurück. Schon im ersten Jünglingsalter wurde Schücking von seiner Mutter, einer Jugendfreundin der Droste, an diese empfohlen. Schücking hat in seinem lesenswerten Buch, das den Namen der Dichterin trägt, Näheres darüber berichtet. Die Droste nahm ihn mit all der Güte auf, die den [37] Grundzug ihres Wesens bildete, doch begreift sich leicht, daß es zwischen dem damaligen Gymnasiasten und der bedeutend älteren, geistig gereiften Frau vorläufig nicht viele Anknüpfungspunkte geben konnte. Erst sechs Jahre später, als Schücking nach Vollendung seiner juridischen Studien in seine westfälische Heimat zurückgekehrt war, entspann sich zwischen diesen beiden Menschen ein Verhältnis so eigentümlicher Natur, daß keine der landläufigen Bezeichnungen für die Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern vollkommen darauf paßt. Die Neigung, die der junge Mann der Dichterin einflößte, war die, von der es im Liede heißt:


»Ich liebe dich, wie man Musik
Und wie man liebt die Rose.«

Das heißt ohne den entferntesten Gedanken oder Wunsch, der Empfindung, die ihr Inneres erfüllte und beseligte, einen Einfluß auf ihr Leben einzuräumen. Der Verstand der Droste war viel zu richtig, ihr Urteil zu unbestechlich, als daß sie sich über die wahre Sachlage auch nur einen Augenblick hätte täuschen mögen; zudem war ihr jede Sentimentalität fremd. Aus Schückings Briefen an sie spricht die innigste Verehrung und Ergebenheit, das rückhaltloseste Vertrauen, aber auch nicht mehr. Sie war ihm vor allem »das liebe, liebe Mütterchen«, auf dessen Verständnis und innige Teilnahme er zu jeder Stunde seines Lebens sicher zählen konnte. Dies reine, edle Verhältnis[38] entsprach vollkommen dem Sinn der Droste; jeder Versuch, daran etwas zu ändern, wäre in ihren Augen eine frevelhafte Entweihung gewesen. Man darf sie nicht mißverstehen, wenn sie in ihren Briefen manchmal – wohl nur selten – in Überschwänglichkeiten verfällt, Schücking ihr Talent nennt oder sich zu dem Ausruf hinreißen läßt: »Mich dünkt, könnte ich dich alle Tage nur zwei Minuten – o Gott nur einen Augenblick! – sehen, dann würde ich jetzt singen, daß die Lachse aus dem Bodensee sprängen und die Möven sich mir auf die Schultern setzten!« Das war aber auch eine jener Selbsttäuschungen, denen Dichter noch häufiger als andere Menschenkinder ausgesetzt sind. In Wahrheit konnte Schücking keinen wesentlichen Einfluß auf die in sich gefestete Natur der Droste haben. Dennoch war dieser Freundschaftsbund von unschätzbarem Wert für sie, und insofern das befreiende und beglückende Moment in ihrem Leben, als er ihr Gelegenheit bot, die ganze Liebesfülle ihres Wesens frei ausströmen zu lassen. Obgleich das Mitglied einer weitverzweigten Familie, an der sie mit rührender Stammestreue hing, stand die Droste doch innerlich allein. Niemand in ihrer Umgebung hatte Sinn für ihre geistigen Bedürfnisse und Bestrebungen, ja ihren nächsten Verwandten wäre es am liebsten gewesen, wenn Annette nie eine Zeile veröffentlicht hätte. Standesvorurteile und beschränkte Ansichten über das Wesen der Weiblichkeit [39] ließen diese übrigens höchst ehrenwerten Menschen das Heraustreten aus den Schranken des Herkömmlichen als eine Irrfahrt betrachten. Jeder Vers, den die Droste schrieb, wurde einer Zensur unterworfen, von der nur nach langen Verhandlungen und manchen Konzessionen das imprimatur zu erlangen war. Welche Seligkeit mußte es nun für die Dichterin sein, endlich einen Menschen zu finden, dem sie ihr Bestes und Innerstes enthüllen konnte, der ihre Bestrebungen verstand und teilte und sie eben dadurch zu neuem Aufschwung befeuerte, wenn sie manchmal halb entmutigt die Flügel sinken lassen wollte. Zu diesem Dank- und Frohgefühl gesellte sich noch ein anderes, echt weibliches: der Drang, dem Menschen, dem sie sich so tief verpflichtet fühlte, die Lebenswege zu ebnen so viel in ihrer Macht stand, für ihn zu sorgen, sein Schicksal zu ihrem eigenen machen. Der frische Mut des um so viel jüngeren Freundes belebte den ihren, ihre Ziele waren auch die seinen, und so woben sich zwischen beiden Bande, die damals unzerreißbar schienen.

Die oben angeführte Stelle, in der die Droste ihrer Empfindung für den Freund einen leidenschaftlichen Ausdruck leiht, ist gleichsam der Nachhall einer glücklichen Zeit, die beide gemeinsam auf der alten, sagenreichen Meersburg verlebten. Der Besitzer derselben, Frhr. v. Laßberg – allen Germanisten unter dem Namen Meister Sepp wohlbekannt – Annettens[40] Schwager, hatte das Ordnen seiner umfangreichen und wertvollen Bibliothek Schücking übertragen. Auch die Droste verlebte den Winter von 1841 auf 1842 auf der Meersburg und konnte sich an dem täglichen Verkehr mit dem ihr so teueren Menschen erfreuen. Hier entstanden die meisten ihrer lyrischen Gedichte eigentlich infolge einer Wette, die von der Dichterin siegreich gewonnen wurde. Es mögen schöne, gehaltreiche Tage gewesen sein, die ihr dort beschieden waren. Im Frühjahr gingen sie zu Ende. Schücking mußte trachten, eine dauernde Lebensstellung zu erringen, die Droste kehrte wenig später nach ihrem stillen Rüschhaus, dem Witwensitz ihrer Mutter zurück. Den inneren Verband beider konnte die Trennung jedoch nicht schädigen, das bezeugen die nun folgenden Briefe, in denen alle Liebe und treue Sorge, die ein Menschenherz bewegen können, Ausdruck findet. Nirgends die leiseste Spur von Sentimentalität, nur tiefes, echtes Empfinden und heitere Resignation. Schücking schickt der Freundin, die er als eifrige Sammlerin kennt, alle Kuriositäten, deren er habhaft werden kann; sie, anderseits verabsäumt nicht, ihm auch die kleinen Vorkommnisse ihres Münsterschen Bekanntenkreises mitzuteilen. Diese können uns nicht interessieren, für Schücking hingegen, der die Menschen und ihre Verhältnisse kannte, waren sie interessant. In der Ferne will man ja so gern wissen, was sich zu Hause begibt. Diese Mitteilungen waren [41] doch nur für ihn bestimmt. Nichts lag der Droste ferner als der Gedanke, daß ihre Briefe an ihn jemals gedruckt werden könnten. Hätte sie geahnt, daß das zarteste Geheimnis ihres Seelenlebens einst vor aller Welt enthüllt werden sollte, dann wären sie sicher nie geschrieben worden.

Mittlerweile waren die Gedichte der Droste zu einem stattlichen Band herangewachsen und der Moment gekommen, an die Sammlung und Veröffentlichung derselben zu denken. Es mußte nur noch die letzte Feile angelegt und eine Verständigung mit Schücking erzielt werden, der Verschiedenes geändert und sorgfältiger ausgearbeitet sehen wollte. Er hatte gewiß nicht Unrecht, wenn er den Mangel an Klarheit rügte, von dem manche Gedichte nicht freigesprochen werden können, anderseits hatte aber die Droste triftige Gründe, bei ihrem Wahlspruch: sint ut sunt zu beharren, nicht aus Eigensinn, sondern aus richtiger Selbsterkenntnis. Das Traumhafte, Ahnungs- und Geheimnisvolle, das für diese echte Tochter Westfalens so charakteristisch ist, wäre in einer präziseren Ausführung nun und nimmermehr zu so ergreifendem Ausdruck gelangt. Auch die Stoffe, die sie gern wählte, hätten eine andere Behandlung schlecht vertragen. Da ist nur ein andeutendes Verfahren das richtige; es muß dem mit einiger Phantasie begabten Leser überlassen bleiben, das Nichtausgesprochene aus Eigenem zu ergänzen. Bei solcher [42] Macht der Stimmung, wie sie in diesen Gedichten herrscht, wird es ihm nicht schwer werden. Ein anderes ist es mit jenen Dichtungen der Droste, die auf dem festen Boden der Wirklichkeit fußen. Hier offenbart sich ein gesunder, kräftiger Realismus und das künstlerische Vermögen, das im Geist Geschaute plastisch zu gestalten.

Da die Droste vom literarischen Handwerk nicht das Geringste verstand, war es an Schücking, für einen Verleger zu sorgen. Dieser war bald gefunden. Im Jahre 1844 erschienen die Gedichte im Cottaschen Verlag, und der Schatz deutscher Poesie war um ein Kleinod reicher.

Die nun folgenden Briefe zeugen von der alten Herzlichkeit; die wichtige Veränderung, die kurz zuvor in Schückings Verhältnissen eingetreten war – er hatte inzwischen das schöne und liebenswürdige Fräulein Louise v. Gall geheiratet – konnte bis nun daran nichts ändern. Nach wie vor sah er in Droste sein liebes, teures Mütterchen, und in ihr lebte die innige Teilnahme an seinem und der Seinen Schicksal unvermindert fort. Über ihre geheimsten Empfindungen, als sie den Freund die neuen Lebenswege beschreiten sah, gibt vielleicht eine Strophe ihres schönen Gedichts »Der Mittelpunkt der Welt« (Letzte Gaben, Seite 14) Aufschluß. Sie lautet:


[43]
»Und der Moment, wo eine Rechte schwimmt
Ob teurem Haupte mit bewegtem Segen,
Und sich das Herz vom eignen Herzen nimmt,
Um weinend an das fremde es zu legen,
Hast Du ihn je erlebt? und standest dann,
Die Arme still und freundlich umgeschlagen,
Selig berechnend, welche Früchte kann,
Wie liebliche, das neue Bündnis tragen.«

Schwerlich hat sich die herzenskundige Dichterin darüber getäuscht, daß Schückings Verheiratung ein Wendepunkt in ihrer Freundschaft sei, daß sie ihm fortan nicht mehr sein könne, was sie ihm bis dahin gewesen war. Eine glückliche Ehe – und ihr heißester Wunsch war, daß die ihres Freundes eine solche sein möge – duldet kein Verhältnis von gleicher Innigkeit neben sich. Das ist in der Natur der Dinge gelegen. Niemand vermesse sich, daran etwas ändern zu wollen. Gewiß war sich die Droste, die von der Ehe den höchsten, idealsten Begriff hatte, darüber klar, doch sollte die Schuld nicht an ihr liegen, wenn die früheren Beziehungen nicht mehr dieselben blieben. Mit der größten Herzlichkeit kommt sie der jungen Frau entgegen, und will sie um so lieber haben, je glücklicher sie Schücking machen wird. In der Tat scheint eine Weile hindurch alles nach Wunsch zu gehen. Schückings machen der Freundin den übrigens erfolglosen Vorschlag, den Winter bei ihnen in Augsburg zuzubringen. Um so überraschter ist man, wenn dann der [44] Briefwechsel plötzlich abbricht. Der letzte der hier mitgeteilten Briefe der Droste ist vom Februar 1846; ihr Tod erfolgte erst zwei Jahre später. War in dem dazwischen liegenden Zeitraum eine Entfremdung eingetreten? Oder haben die späteren Briefe hier keine Stelle gefunden? Wir bleiben im Ungewissen darüber, und alle Vermutungen müssen als unstatthaft zurückgewiesen werden. Mit voller Bestimmtheit läßt sich nur sagen, daß Schücking bis an sein Lebensende das Andenken der Droste treu und heilig bewahrt hat.

Wer die Droste nach Verdienst würdigt, wird diese Briefe, in denen die ganze Wärme ihres Herzens pulsiert und ihr liebenswürdiger Humor an manchen Stellen bezaubernd wirkt, mit Teilnahme und Verehrung lesen. Und so sei das Buch dem Kreis derer, die bisher nur ihr Talent bewunderten, warm empfohlen. Man pflegt die Droste die westfälische Dichterin zu nennen, und allerdings fällt bei ihr die Stammeseigentümlichkeit stark ins Gewicht. Ihr volles Recht wird ihr aber erst dann widerfahren, wenn ganz Deutschland sie als eine seiner edelsten Dichtergrößen preist.

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