[60] 1. Erzählungen. – Leopold Kompert und Marie v. Ebner-Eschenbach
Es ist eine unleugbare Tatsache, daß die literarische Sympathie der Gegenwart sich von den Dichtungswerken in metrischer Form ab- und dafür um so entschiedener dem Roman, der Erzählung, der Novelle zuwendet. Zum Teil mag dies in dem realistischen Zug der Zeit begründet, zum Teil mag es dem Umstand zuzuschreiben sein, daß sich unter der jüngeren Poeten-Generation – und der Jugend gehört die Welt – weder ein Dramatiker noch ein Lyriker ersten Ranges befindet, während sie eine nicht geringe Anzahl bedeutender, zum Teil großartiger Erzählertalente aufzuweisen hat. Wie natürlich fühlt sich das Publikum von dem Gebiet, auf welchem ihm im Augenblick das Beste geboten wird, am meisten angezogen, und betätigt seinen Romanciers und Novellisten gegenüber ein reges, lebendiges Interesse. Ja, es geht [60] in seiner Vorliebe für die Dichtungsform der Gegenwart so weit, daß es mitunter auch Werken von sehr mäßigem literarischen Wert eine Teilnahme und Verbreitung angedeihen läßt, über die man staunen muß. Freilich gleicht es dieses Übermaß von Empfänglichkeit nicht selten durch die gleichgiltige Aufnahme des Vortrefflichen wieder aus.
Um nur ein Beispiel anzuführen, möchte ich auf Louise v. François »Die letzte Reckenburgerin« hinweisen. Mit vollem Recht nennt Karl Hillebrand, der geist- und geschmackvolle Kenner, diesen Roman den besten, der seit 25 Jahren in Deutschland erschienen ist. Nichtsdestoweniger hat dieses wahrhaft ausgezeichnete Werk, das eine an die Droste erinnernde Geistestiefe und Gestaltungskraft bekundet, nur in einem verhältnismäßig kleinen Kreise die verdiente Würdigung gefunden; dem großen Publikum ist es bis auf den Titel unbekannt geblieben. So erwahrt sich der alte Spruch: daß auch Bücher ihre Schicksale haben, bald unter einem günstigen, bald unter einem ungünstigen Stern das Licht der Welt erblicken. Das läßt sich nicht ändern; auch hier macht der blinde Zufall sein Recht geltend. Um so mehr hat jedoch der einzelne dafür zu sorgen, daß er selbst, so viel er vermag, Gerechtigkeit übe und nach dem Maß seiner Kräfte den Weizen von der Spreu sondern helfe. Ich glaube in diesem Sinne zu handeln, indem ich die [61] Lesewelt auf zwei neue literarische Erscheinungen aufmerksam mache, die sowohl durch die Wichtigkeit der darin behandelten Probleme, als durch das Talent und die Gesinnung, die sich darin aussprechen, sich vor vielen Erzeugnissen desselben Genres vorteilhaft auszeichnen. Ich meine damit Komperts Roman »Zwischen Ruinen« (Berlin 1875) und die soeben in Cottas Verlag erschienenen Erzählungen der Freiin Marie v. Ebner-Eschenbach.
Komperts Ruf als Erzähler ist längst fest begründet. Schon sein erstes Buch, »Aus dem Ghetto«, das er im Jahre 1848, also in einem nichts weniger als literaturfreundlichen Moment, veröffentlichte, fand eine so günstige Aufnahme, eine so rasche Verbreitung, daß wenige Monate später eine neue Auflage veranstaltet werden mußte. Bei dem Werk eines bis dahin gänzlich unbekannten und von keiner Reklame unterstützten Schriftstellers will dies nichs geringes bedeuten. In erster Linie hatte Kompert diesen großen und wohlverdienten Erfolg seinem Talent und dem richtigen Instinkt zu verdanken, der ihn gleich beim ersten Versuch erkennen ließ, unter welchem Zeichen ihm der Sieg verheißen sei. In zweiter Reihe kam der Umstand hinzu, daß der Stoff, den er gewählt hatte, in innerem Zusammenhang mit einer drängenden Frage der Zeit stand. Nicht als ob die Erzählungen aus dem jüdischen Volksleben, die das Buch enthält, einen [62] tendenziösen Charakter trügen – Kompert ist zu sehr Dichter, um auf anderem als künstlerischen Wege wirken zu wollen; allein aus der einfachen, wahrheitsgetreuen Darstellung des Tatsächlichen ging in diesem Falle ganz von selbst eine Anklage gegen die Intoleranz der die Juden betreffenden Gesetze und ein Plaidoyer für die Unterdrückten hervor. Davon abgesehen, fesselte das Buch durch die vollkommene Neuheit seines Gegenstandes, die Fremdartigkeit der Sitten, Zustände und Anschauungen, mit denen es den Leser bekannt machte, vor allem aber durch das überaus fein und geistreich ausgearbeitete Detail, mittels dessen es die Absonderlichkeiten deutet und erklärt, die eine vielhundertjährige Isolierung im jüdischen Wesen großgezogen hat. Selbstverständlich ist hier nicht von jener Klasse Juden die Rede, welche, lange bevor die Gesetzgebung sich dazu entschloß, durch Bildung und geistigen Anschluß ans Allgemeine sich selbst emanzipierten, sondern von den unteren Schichten der jüdischen Bevölkerung, die, in Dörfern oder kleinen Landstädten lebend, mit ihrer christlichen Umgebung in keinem anderen als einem geschäftlichen Verkehr stehen, keine anderen Bildungsmittel benutzen als ihre heiligen Bücher, und kein anderes Glück kennen als das der Familie. Eine solche teils aufgezwungene, teils freiwillige Beschränkung des geistigen Blickes und der Gefühlssphäre muß notwendig dem Charakter viele [63] seltsame, wunderliche Züge einprägen, einzelne Anlagen ungewöhnlich stark entwickeln, andere halb verkümmern lassen. Uns das Verständnis der Eigentümlichkeiten des Lebens im Ghetto näher zu bringen, uns in einer durch schwere Leiden und lange Erniedrigung entstellten Volksphysiognomie das allgemein Menschliche, uns Verwandte, gewahren zu lassen, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit denjenigen einzuflößen, die ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein pflegten, das war die Aufgabe, welche Kompert sich schon bei seinem ersten Auftreten stellte, und die er seither mit einer tiefster Sympathie entspringenden Treue fast ausschließlich verfolgt hat. Zu ihr gesellte sich im Laufe der Jahre noch eine zweite, innerlichst mit ihr verbundene. Auch für das jüdische Volk war eine neue Zeit angebrochen; die gesetzlichen Schranken, welche es bis dahin in ungesunder Abgeschlossenheit gehalten hatten, fielen eine nach der anderen; die Wahl eines Lebensberufes wurde nicht länger durch engherzige Verordnungen beschränkt. Wenn aber auch de jure kein Ghetto mehr bestand, so waren doch die Anschauungen, die Denk- und Gefühlsweise, die er erzeugt hatte, keineswegs mit ihm entschwunden, und es entstand die Frage: in welchem Sinne und bis zu welchem Grade die bürgerliche Gleichstellung auf die jüdische Volksseele wirken werde. Diese Frage bildet den geistigen Kern von Komperts späteren [64] Werken: »Böhmische Juden«, »Am Pfluge«; auch in vielen kleineren Erzählungen hat er dasselbe Thema bald in anmutig humoristischer, bald in ergreifender Weise variiert. Wenn er die inneren Kämpfe schildert, die durchgerungen werden müssen, um den Bruch mit der Vergangenheit, gleichviel wie trostlos diese war, zu vollziehen, so gemahnt es einen an den nach langer, langer Haft Befreiten, der seinen Kerker nicht verlassen mochte. Man vergesse nicht, daß ein religiöses Gesetz den Juden die Gemeinschaft mit Andersgläubigen verwehrt, daß so manche veraltete Vorschriften des Judentums mit den Anforderungen des modernen Lebens nicht zu vereinbaren sind. Wie könnten dabei schmerzliche Konflikte vermieden werden? Aller Starrsinn, den ein langer Druck in den Gemütern erzeugen kann, die tiefe Anhänglichkeit an die Satzungen, Sitten und Gebräuche, in denen sie bisher ihren einzigen Halt fanden, die ganze Macht des Traditionellen bäumt sich in ihnen noch einmal auf und erschwert den Übergang in die neue Ära. Vieles muß aufgegeben, vom Herzen losgerissen werden, um das Heimatrecht in dieser zu gewinnen. Mit gutem Grund betitelte Kompert seinen neuesten Roman »Zwischen Ruinen«.
Die in Österreich eingeführte Notzivilehe ist es, die hier den Dichter beschäftigt. Das Gesetz gestattet die Ehe zwischen Christen und Juden nur unter der Bedingung, daß beide Teile sich als konfessionslos [65] erklären – eine harte Klausel, wenn man bedenkt, wie untrennbar bei den meisten gewisse religiöse Vorstellungen und Gemütsbewegungen mit allen ihren Jugendeindrücken und Jugenderinnerungen verwebt sind. Um sich dieses Auswegs ohne innerliches Widerstreben zu bedienen, muß man entweder auf jener geistigen Höhe stehen, von der aus betrachtet die Formen, in welche sich die Ahnung eines Göttlichen kleidet, nur äußerlich und deshalb gleichgiltig erscheinen, oder man muß frivol und oberflächlich genug sein, um überhaupt kein religiöses Bedürfnis zu verspüren. Die beiden Hauptpersonen des Kompertschen Romans sind von dem einen so entfernt wie von dem anderen. Der Weg zum Glück steht ihnen offen, ihr Herz drängt sie nach ihm hin, und schaudert doch wieder ängstlich zurück, wenn sie ihn betreten wollen.
Die Handlung begibt sich im nördlichen Böhmen, in einem jener Distrikte, in welchen die Rivalität des tschechischen und des deutschen Elements der religiösen Antipathie auch noch die politische beigesellt. Der katholische Tscheche haßt in dem Juden nicht nur den Andersgläubigen, sondern auch den fast durchgängig zur deutschen Partei Gehörigen. In einem Städtchen dieser Gegend lebt der wohlhabende jüdische Fabrikant Jonathan Falck. Er ist mit einer Frau seines Glaubens verheiratet. Ihre Ehe gilt für glücklich, weil die beiden Gatten friedlich nebeneinander hinleben; niemand denkt [66] daran, daß zum Glück einer Ehe unendlich mehr erforderlich ist. Jonathan und Bella passen nicht zueinander. In ihm ist vor allem das Gefühlsleben mächtig, während ein scharfer überlegener Verstand der Grundzug ihres Wesens ist. Ohne es zu wollen, verletzt sie ihren Mann bald durch den geistigen Hochmut, der sie, die in einer gebildeteren, aufgeklärteren Gemeinde aufgewachsen ist, den Verkehr mit ihrer jetzigen Umgebung meiden läßt, bald durch ihre Gleichgiltigkeit gegen die rituellen Vorschriften. Nicht als ob er ein Zelot wäre; er ist nur einer jener Menschen, die gern dem geringfügigsten eine Bedeutung unterschieben, um ihrer Überfülle von Pietät Abfluß zu verschaffen. Um die Dogmen kümmert er sich wenig; hingegen ist es ihm hochwichtig, daß »König Sabbath« mit den gebührenden Ehren empfangen und alles in der Weise seiner orthodoxen Eltern gehalten werde. Der Zufall führt Dorothea, die halberwachsene Tochter eines armen deutschen Webers, in diesen Familienkreis, und bald erlebt Jonathan die Genugtuung, die zahllosen Vorschriften des jüdischen Rituals in seinem Hause pünktlich befolgt zu sehen. Und eine Christin ist es, welche dieses Wunder bewirkt. Die Erklärung liegt in der tiefen Frömmigkeit, welche Dorotheen angeboren ist, und sie in jeder Religion etwas heiliges und ehrwürdiges erkennen läßt. Dieser Zug ihres Charakters macht sie Jonathan nicht minder wert als ihre leidenschaftliche[67] Zärtlichkeit für sein Söhnchen. Ahnungslos erwidert Dorothea seine Neigung; beide lieben einander ohne es sich selbst zu gestehen. Bellas früher Tod scheint eine Lösung bringen zu wollen, führt aber nur noch größeres Wirrsal herbei. Alles was bisher geschah, ist nur als Exposition zu betrachten; erst jetzt beginnt das eigentliche Drama, das harte Ringen in zwei Menschenseelen, die ihre heiße Sehnsucht nach dem Glück, das ihnen verheißend winkt, nicht in Einklang mit ihrem Gewissen zu bringen vermögen. Daß dieser Kampf in so eigenartigen Gemütern ein schwerer, bedrängnisvoller sein muß, braucht nicht erst gesagt zu werden. Seine Mühen und Qualen hier wiederzugeben, seinen Ausgang mitzuteilen, würde zu weit führen, und könnte überdies nur auf Kosten der Spannung geschehen, mit welcher die Leser des Romans seinem Gange folgen werden.
Von mancher Seite her dürfte dem Verfasser der Vorwurf gemacht werden, daß uns seine eigene Ansicht über die Institution, die ihm das Motiv zu seinem Werke gab, zweifelhaft bleibt. Mit Recht könnte er jedoch darauf erwidern: daß jede Polemik ganz außerhalb seiner Absichten lag; daß er nicht Gesetze verbessern, sondern nur die Konflikte, die hervorzurufen sie geeignet sind, schildern wollte; daß überhaupt ein Kunstwerk nur darzustellen, nicht zu beweisen hat. Mehr Grund möchte das Bedenken haben ob der[68] Autor nicht besser getan hätte, seinen Helden mit etwas mehr Männlichkeit und Willenskraft auszustatten. Der Kampf, der hier in einer Menschenbrust tobt, wäre ergreifender, wenn ein starkes Herz ihn zu bestehen hätte, und schließlich aus eigener Erkenntnis das Richtige wählte. Jonathans Schwäche, die ihn jedem Einflusse preisgibt, vermindert unsere Teilnahme für ihn. Fast möchte man es nur als einen glücklichen Zufall betrachten, daß das gute Prinzip, das durch die alte blinde Lehrerswitwe Veile Oberländer vertreten wird, den Sieg davonträgt. Bei einem Menschen, der so ganz der Selbstbestimmung ermangelt wie Jonathan, könnte ebenso zufällig der haßvolle Wahn, der wilde Fanatismus, dessen Repräsentant sein halbtoter Bruder ist, die Oberhand gewinnen. Da es jedoch in der Wirklichkeit genug ähnliche Charaktere gibt, so hat man kaum die Befugnis mit dem Autor darüber zu rechten, daß er in seinem Helden eine dieser weichen, jedem Anstoße folgenden, Naturen darstellte.
Was die Ausführung betrifft, so läßt sich kein Tadel dagegen erheben; die Gestalt ist wahr und in allen Schwankungen fein empfunden. Dasselbe gilt von Dorothea, deren Wesen mit reizenden Zügen bedacht ist. Merkwürdigerweise fällt die Rolle, welche sonst das männliche Geschlecht für sich in Anspruch zu nehmen pflegt, in diesem Roman den Frauen zu: von ihrer Einsicht, ihrem hellen Verstand geleitet, tut Bella was [69] sie vermag, um den Moder der Vergangenheit zu beseitigen; von ihrem warmen treuen Herzen erleuchtet, lernt Veile die Vorurteile, in denen sie ergraut ist, mit Füßen treten. Hier sind die Frauen die Verkünderinnen der neuen Zeit, während die Männer zäh am Überkommenen hangen. Mit dem Fanatiker, der nach einem zügellosen Leben den Glauben als letzten Anker verzweifelnd erfaßt, hat Kompert so recht einen Schuß ins Schwarze getan. Er ist eine ebenso wahre wie durchaus originelle Figur, und die Erzählung, in der er von seiner wüsten Vergangenheit berichtet, ist allein schon ein Meisterwerk. Nicht so unbedingt, wie die feine lebendige Individualisierung jüdischer Typen, läßt sich die Führung der Handlung rühmen, die mitunter stocken, mitunter über wichtige Phasen zu rasch hinweg eilt. Der Gehalt des Romans ist jedoch zu bedeutend, als daß einzelne Schwächen der Komposition seinen Wert und seinen Erfolg erheblich beeinträchtigen könnten; durch den Gedankenreichtum, dem man überall begegnet, die Wahrheit der Charaktere, die schöne Wärme der Empfindung werden sie mehr als aufgewogen. Der Roman wird um so sicherer durchdringen, als er mit literarischer Trefflichkeit den Vorzug verbindet, ein lebenatmendes Kulturbild zu sein.
In dem Buche der Freiin Marie v. Ebner-Eschenbach begegnet man einem Erzählertalent, das mit offenem Sinn und reger Empfänglichkeit für die [70] Erscheinungen der Welt die Tiefe der Auffassung verbindet, ohne welche sie der inneren Begründung entbehren. Unter den fünf Erzählungen, welche der Band enthält, ist nicht eine, die nicht ein ungewöhnliches Maß von Geist, poetischer Kraft, umfassender Weltkenntnis bekundete, und nur eine in welcher Form und Inhalt sich nicht vollkommen decken. Die erste derselben, »Ein Spätgeborener«, entrollt uns die Schicksale eines Idealisten, den sein Unstern in einer Zeit geboren werden ließ, die mit allen Idealen gründlich aufgeräumt und für jede schwärmerische Regung nur ein mitleidiges Lächeln hat. Vor hundert Jahren, in Höltys Tagen, hätte Andreas Muth gleichgestimmte Seelen finden können; in der nur auf Gewinn und Genuß erpichten Gegenwart stände er allein, wenn nicht ein armer Volksschullehrer die Freundschaft, die er für Andreas empfindet, auch auf dessen poetische Schöpfungen übertrüge. Die Schilderung dieses Verhältnisses und der milden Heiterkeit, die ein reiner Sinn, ein demütig sich bescheidendes Herz über ein scheinbar sonnenloses Leben ergießen, ist von rührender Schönheit. Arm, von den meisten übersehen, für andere ein Gegenstand des Spottes, ist Andreas dennoch weit entfernt, sich unglücklich zu fühlen, solang' es ihm gegönnt bleibt, sich in seiner Einsamkeit mit geliebten Traumgestalten zu umgeben und den Zusammenstoß mit der rauhen Wirklichkeit zu vermeiden. Unerwartete Ereignisse reißen [71] ihn aus diesem trauten Dämmerzustande. Der Schüchterne, in sich Versunkene wird in die Öffentlichkeit hinausgezerrt, und soll sich in einer Welt behaupten, die ihn so wenig versteht, wie er sie. Die Zeichnung dieses Charakters, die Schilderung der namenlosen Bedrängnis, die eine so zart besaitete Natur im Kampfe mit den niederen Mächten des Lebens empfinden muß, gehören zu dem besten, was die neue Novellistik aufzuweisen hat. Mit künstlerischer Einsicht hat die Verfasserin die Klippen vermieden, an denen die Darstellung eines solchen Seelenzustandes leicht hätte scheitern können. Ihr Held ist weder ein verkanntes Genie noch ein Phantast, sondern ein ungewöhnlich rein gestimmtes Gemüt, das instinktmäßig die höchste und reinste Sphäre aufsucht. Das Maß seines poetischen Talents kümmert uns wenig; er selbst ist ein Gedicht, wie es der Natur nur selten gelingt. Seine Schüchternheit, sein unbeholfenes Wesen hindern ihn nicht, mit festem Mannesmut das Recht und den Ruf anderer zu vertreten; unerschrocken gibt er der Wahrheit die Ehre, gleichviel, wie teuer ihm dieses Beginnen zu stehen kommt. Die Zeichnung des ganzen Charakters atmet einen liebenswürdigen, von leiser Wehmut überflogenen Humor. Denn auch diese, bei Frauen so seltene Gabe, ist der Verfasserin zuteil geworden, und kommt in manchen Figuren, häufig mit einem satirischen Beigeschmack, zur vollen Geltung, z.B. in dem vom Gefühl [72] seiner Würde durchdrungenen Bureauchef, dem skandalsüchtigen Journalisten Salmeyer und den Kollegen Andreas', die nach Art der Flachköpfe dasjenige verlachen, was sie nicht zu begreifen imstande sind. Das dramatische Talent, von dem Freiin v. Ebner schon früher Proben abgelegt hat, kommt ihr als Erzählerin gar sehr zu statten. Es betätigt sich in der Plastik ihrer Gestalten, in dem Geschick, womit sie die Personen perspektivisch gruppiert, und in dem fein individualisierenden Dialog.
Die zweite Erzählung »Chlodwig«, beweist, daß die Verfasserin für die Darstellung starker, leidenschaftlicher Charaktere ebenso befähigt ist wie für die mimosenhaften Gemüter vom Schlag Andreas'. Das tiefe psychologische Interesse, das sie erweckt, und die frappante Schlußwendung machen diese Erzählung zur vorzüglichsten der Sammlung. Die Eigentümlichkeit der Figuren, der fatalistische, weil in inneren Notwendigkeiten begründete, Gang der Handlung, die strenge Knappheit der Form, die objektive, scheinbar kunstlose Art des Erzählens, verraten ein eifriges Studium Mérimées und Turgenjeffs, der beiden Meister der Novelle. Heines Vers »Verfehlte Lieb', verfehltes Leben« dürfte der genannten Erzählung als Motto voranstehen. Sie zeigt uns, welche moralischen Krüppel anerzogene Vorurteile ausbilden, wie sie das Herz zu lähmen und dem Willen eine seiner natürlichen Richtung [73] entgegengesetzte zu geben vermögen. Was von dem ursprünglichen Menschen bilde dann noch übrig bleibt, ist nur ein blutloser Schemen, und wehe dem Verblendeten, der vermeint, frisches Leben in ihm wecken zu können. Mit großer Kunst hat die Verfasserin bei der Zeichnung eines im innersten Nerv beschädigten Frauencharakters das Anwidernde fernzuhalten gewußt. Vielleicht wäre Hedwig unter anderen Verhältnissen ein liebendes Weib geworden; so wie sie ist, erblicken wir in ihr das traurige Resultat einer törichten Erziehung, das Opfer der vorurteilsvollen Umgebung, in der sie stets gelebt hat. Neben den trefflich ausgeführten Hauptcharakteren verdient die meisterhaft skizzierte Figur des Majors eine besondere Erwähnung. Er steht außerhalb der Handlung, nichts geschieht durch ihn, wir lernen ihn durch die lakonischen Äußerungen kennen, mit welchen er die Erzählung Chlodwigs unterbricht; diese sind so überaus bezeichnend, daß uns in ihnen das ganze Wesen des Mannes, und der Stand, dem er angehört, deutlich werden. Er ist der in einen Offiziersrock gesteckte Durchschnittsmensch.
Schärfe der Zeichnung und frische Lokalfärbung sind überhaupt sehr wesentliche Vorzüge dieser Erzählungen. Man kann nicht sagen, daß sie Bilder österreichischer Verhältnisse sind, dieselben Begebenheiten wären auch anderswo möglich, um so treffender schildern sie aber die dem österreichischen Stamme eigene [74] Anschauungs- und Gefühlsweise. »Die erste Beichte« läßt uns einen Blick in das Seelenleben eines ungewöhnlich begabten Kindes tun, das von den Seinigen zwar geliebt, aber nicht verstanden, in religiöser Exaltation die Befriedigung seines schwärmerischen Dranges sucht. An der kleinen Clary ist vor allem die vollkommene Naivetät zu rühmen, welche die Verfasserin ihr zu bewahren wußte. In Pater Joseph, dem die Aufgabe zuteil wird, dieses sich selbst unklare, schwer bedrängte Herz auf die Bahn richtigen Empfindens zu leiten und den anderen zu besserer Einsicht in das Wesen des eigenartigen Kindes zu verhelfen, lernen wir eine, trotz ihrer Schlichtheit, ehrfurchtgebietende Priestergestalt kennen. Clarys Vater und ihre Großmutter sind wahre Kabinettsstücke: er gutmütig, von redlichem Willen seine Pflicht zu tun erfüllt, aber unfähig zu begreifen, worin sie eigentlich bestehe, und eigenwillig, wie die Beschränktheit zu sein pflegt; sie edel, großsinnig, aber zu müde, zu sehr der Ruhe bedürftig, um auf die heftigen Empfindungen eines Kindes teilnehmend einzugehen. Das Ganze ist ein reizendes und rührendes Seelengemälde, von dem wohlweislich jeder frömmelnde Zug ausgeschlossen blieb.
Die kleine Erzählung »Die Großmutter« besteht eigentlich nur aus einer Szene, aber diese genügt, um uns die ganze Vergangenheit der unglücklichen alten Frau überblicken zu lassen, deren in harter Arbeit und [75] steter Sorge verbrachtes Leben nur einen Lichtpunkt hatte: ihren Enkel, den Sohn ihrer mißratenen, elend verkommenen Tochter. Auch ihn muß sie verlieren; in der Leichenkammer des Spitals findet sie unter den zufällig Verunglückten den vermißten Liebling wieder. Viele werden es unbegreiflich, ja empörend finden, daß sie in diesem entsetzlichen Augenblick an die Verwertung der Kleider des Toten denken mag. Die glücklicher Gestellten wissen aber nichts von der harten Kruste, die langes Elend um das Herz des Menschen legt. Unter ihr mag es seine volle Wärme, seine ganze Leidensfähigkeit bewahren, aber schön empfinden, seinem Schmerz einen verklärten Ausdruck geben, kann es nicht mehr. Der bitterste Fluch der Armut liegt in dem Zwang, das Gefühl der Sorge um das tägliche Brot zu unterordnen; ihr schwerer Druck macht die Seele endlich ebenso schwielig wie die Hände.
Die fünfte und letzte Erzählung, »Ein Edelmann«, ist in ihrem Gedankeninhalt nach vielleicht die bedeutendste, steht jedoch, als Kunstwerk betrachtet, nicht auf der gleichen Höhe mit ihren Vorgängerinnen. Sie leidet an den Folgen, die eine Verrückung des natürlichen Schwerpunkts nach sich zieht. Diesen Schwerpunkt bildet hier Gräfin Beate, sie müßte daher die Hauptfigur sein. Selbst dann bliebe es noch fraglich, ob der enge Rahmen einer Erzählung für die Ausführung eines solchen Charakterbildes ausreichend wäre.[76] Der Stoff hätte zu einem Roman gestaltet werden sollen, denn nur die breite Behandlung, welche dieser gestattet, ja fordert, hätte eine überzeugende Motivierung der Untaten ermöglicht, zu welchen Beate sich hinreißen läßt. Um zu begreifen, wie der Hochmut an einer Seele nach und nach alle menschlichen Regungen zu ersticken vermag, müßten wir ihren Entwicklungsgang genau kennen lernen. Weil die Prämissen fehlen, die uns eine solche Erscheinung erklären sollten, macht sie uns den Eindruck des Gespenstischen, Spukhaften. Ist aber diese Erzählung, trotz mancher großen Schönheiten, die sie enthält, nicht tadellos, so gewinnt sie nichtsdestoweniger eine schwerwiegende Bedeutung durch den geistvollen Ernst, womit darin eine soziale Frage erörtert wird – die Frage: ob, unter den gänzlich veränderten Verhältnissen, welche die Neuzeit hergestellt hat, der Geburtsadel sich wird behaupten können. Ich tue wohl am besten, die Ansicht der Verfasserin mit den Worten wiederzugeben, welche sie der edelsten Gestalt ihrer Erzählung in den Mund legt. Wolfram, der, von seiner Überzeugung dazu bestimmt, sich seines Grafentitels begeben hat, äußert gegen seinen Sohn Leo:
»Solange das Feudalwesen sich in seiner Kraft behaupten konnte, hatte es ein Recht, sich zu behaupten. Diese Kraft büßte der Adel dadurch ein, daß er versäumte, sie auf edle und gemeinnützige Ziele zu richten. Er erfuhr die Konsequenz ewiger sittlicher [77] Gesetze, indem er mit dem Rechte zu bestehen auch die Möglichkeit zu bestehen verlor.«
Für den Fall, daß Leo einst aufgefordert werden sollte, den Rang und die Güter anzutreten, auf welche sein Vater verzichtet hat, läßt Wolfram ihm freie Wahl, nach seiner eigenen Erkenntnis zu handeln, nur Ganzheit im Wollen und Tun macht er ihm zur Pflicht: »Sei als Graf Tannberg kein Fabrikant, nenne dich nicht Graf Tannberg, wenn du ein Fabrikant bist. Das eine schließt das andere aus. Der ehrenwerteste Kaufmann verfolgt materielle, der Edelmann, im wahren Sinne, ideale Zwecke. In dem Augenblick, wo der letztere vergißt, daß in ihnen, und in ihnen allein, seine Kraft wurzelt, hat er sich als Edelmann aufgegeben.«
Ich habe dem Buch die eingehende Würdigung gezollt, die es, vermöge seines geistigen Gehalts und seines poetischen Reizes, beanspruchen darf. Meiner Empfindung, meinem Urteil nach gehört es zu jenen Büchern, die ihrem Verfasser in jedem Leser einen Freund erwerben.