Erster Abschnitt
Sebaldus hatte seine Mobilien größtenteils verkauft und das daraus gelösete wenige Geld Marianen zur nötigen Einrichtung mitgegeben. Er hatte sich in den Zustand jenes Philosophen versetzt, daß er alles das Seinige bei sich tragen konnte. Nunmehr bestand er darauf, auf irgendeine Art und wo möglich außer der Stadt, in der seine Feinde wohnten, selbst seinen Unterhalt zu verdienen.
Nach einiger Überlegung nahm ihn Hieronymus mit sich, als er nach Leipzig zur Messe reisete, wo er ihm bald bei einigen großen Buchdruckereien die Stelle eines Korrektors verschaffte. Sebaldus mietete eine kleine Dachstube im sechsten Stockwerke und war, obwohl bei dürftigem Auskommen, überaus vergnügt mit seinem Zustande, weil er nur ein Drittel des Tages mit Korrekturen zu tun hatte und die übrige Zeit auf seine apokalyptische Erklärung wenden konnte, die ihm wie ein alter Freund in seinen Widerwärtigkeiten nur noch lieber geworden war.
Ob übrigens Sebaldus zuerst den Herrn Doktor Ernesti oder den Herrn Doktor Crusius besucht habe, wissen wir nicht. Vielleicht hat er bedacht, daß ein armer Korrektor nicht so leicht zu einem vertraulichen Umgange mit solchen Männern gelange und daß es unnütz sei, einen Gelehrten auf eine halbe Viertelstunde zu besuchen, um sein Gesicht zu begaffen, und ist also gar zu Hause geblieben. Ob er jemals Professor Gellerts moralischen Vorlesungen beigewohnt oder jemals mit Magister [70] Froriep über die symbolischen Bücher oder über die Nunnation der arabischen Nennwörter disputiert habe, läßt sich auch so genau nicht sagen. Ob er in der Nikolaikirche des in Leipzig und dessen sämtlichen Vorstädten berühmten Magisters Matthesius salbungsvolle Predigten wider die Schaubühne mit angehört oder ob er zu ebender Zeit, da sie gehalten wurden, im Kuchengarten des ebenso weit berühmten Händels 5 von Butter triefende Maulschellen und Wetzsteine verzehrt habe, darüber sind gar keine Nachrichten vorhanden.
Es haben sehr ernsthafte Gelehrte behauptet, daß die Wahrheit das Wesen der Geschichte sei. Wir sind weit entfernt, Männern, welche scharf demonstrierte Theorien der Geschichte zusammensetzen können, zu widersprechen; nur unterstehen wir uns, zu mutmaßen, ob man gleich in der Geschichte lauter wahre Begebenheiten erzählen soll, so könne doch der größte Teil derselben füglich unerzählt bleiben. Es sind fünfzigtausend Bände voll Wahrheit über die Geschichte Deutschlands zusammengetragen worden, so daß der schon ein Geschichtskundiger heißt, der nur den fünfzigsten Teil dieser Wahrheiten gelesen hat. Dieser Überfluß von Wahrheit hat manchen braven Deutschen zu dem angenehmen Lügner Voltaire geführet, der uns ein halbes Jahrhundert in wenigen Blättern übersehen läßt, aber dafür auch oft unverantwortlicherweise eine Hildegardis hinsetzt, [71] wo eine Mathilda stehen sollte, oder die Jahrzahl fünfzig angibt, wo die Jahrzahl sechzig sollte angegeben werden. Der Unterschied zwischen unsern deutschen wahrhaften Geschichtschreibern und den oft lügenhaften Franzosen sowie auch die Erklärung der Ursachen, warum Häberlin und Senkenberg ihren bloßen Auszug der deutschen Geschichte ungleich korpulenter haben werden lassen als Voltaire seine ganze allgemeine Weltgeschichte, bestehen darin: Der gelehrte Deutsche verschweigt dem Leser nichts, was er gewiß weiß, und das ist denn sehr viel, aber er bedenkt oft nicht, was der Leser zu wissen verlange, welches gemeiniglich sehr wenig ist. Hingegen der Franzose, der nur wenig weiß, tut sich auch aufs Wissen nichts zugute, sondern erzählt nur das, was seine Leser etwa zu wissen verlangen könnten, macht sich aber auch kein Bedenken, es ihnen zuweilen mit einer kleinen Brühe von Erdichtung schmackhafter zu machen.
Wir, die wir diese Beispiele vor uns sehen, spiegeln uns an denselben. Wir wissen von Sebaldus' Aufenthalte in Leipzig sehr viele Umstände, welche wir nicht gleich den deutschen Geschichtschreibern samt und sonders erzählen, sondern sie vielmehr mit einiger Verleugnung unterdrücken wollen, weil wir nach reifer Überlegung gefunden haben, unsere Leser würden weder Nutzen noch Vergnügen daraus schöpfen können. Hingegen soll die Wahrheit auch das Wesen dieser Geschichte bleiben, und wir werden daher keineswegs gleich dem leidigen Voltaire Umstände verstellen oder erdichten, um unsere Erzählung interessanter zu machen. Damit man aber nicht etwa glaube, wir wüßten nichts, wenn wir nichts sagen, so wollen wir, um das Gegenteil zu zeigen, aus der großen Menge der vor uns liegenden Nachrichten einige bei Sebaldus' Aufenthalte in Leipzig vorgefallene Abendgespräche mitteilen.
[72] Neben der Dachstube des Sebaldus wohnte ein alter Magister, mit dem er bald bekannt und in kurzem vertraut wurde, weil es sich äußerte, daß derselbe, so wie er, an der Ewigkeit der Höllenstrafen zweifelte. Dieser Mann besaß gründliche Kenntnisse der alten Sprachen und alles dessen, was zur Philologie gehört. Er hatte die alten griechischen Philosophen fleißig gelesen und sie mit den Schriften neuerer Philosophen verglichen, wodurch er sich gute Einsichten in die Philosophie erwarb. Aber weil seinen Kenntnissen der Zuschnitt nach der Mode fehlte und weil er überaus schüchtern und ängstlich war, sobald er mit Menschen reden sollte, so hatte er sich nie getrauet, um ein Amt, selbst nicht um ein Schulamt anzuhalten; man würde es ihm vielleicht auch nicht gegeben haben. Er war daher als Korrektor bei verschiedenen Buchdruckereien grau geworden. Er kannte alle Vorfälle des Verleger- und Autorgewerbes. Denn gleichwie ein Lichtputzer in der Komödie zuweilen einen stummen Staatsminister oder einen Lakaien, der ein paar Worte redet, vorstellen muß, so war auch er, obgleich eigentlich nur ein Korrektor, dennoch von seinem Verleger oft zum Übersetzer, ja wohl gar zum Schreiber einer zuverlässigen Nachricht oder schrift-und vernunftmäßiger Gedanken gebraucht worden.
Einige Tage nach Sebaldus' Ankunft besuchte ihn der Magister, um den Abend bei einer sehr frugalen Abendmahlzeit zu verplaudern. Der Magister fragte, wie ihm Leipzig gefiele. Sebaldus, der nichts für merkwürdig hielt, was nicht einem Buche ähnlich sah, hatte auch in Leipzig nichts als die vielen Buchdruckereien und Buchläden bemerkt. Ihm war gar nicht in die Augen gefallen, ob die Einwohner den Rang oder die Bequemlichkeit liebten, ob sie gesellig oder steif wären, ob die Damen lieber geputzt als schön zu sein suchten, ob die Studenten [73] ein soldatisches oder ein gelehrtes, ein liederliches oder ein galantes Ansehen affektierten, ob die Jungemägde Niedlichkeit und Artigkeit für den ersten Zweck ihres Daseins hielten oder nicht. Ihm war nie in den Sinn gekommen, zu untersuchen, wie etwa die Bauart der Häuser den Zweck der Eigentümer, bei wenigem Platze ihre Wohnungen bequem zu machen, verraten möchte, welchen Beweis des ehemaligen Wohlstandes der Einwohner die vielen schönen Gärten und Gartenhäuser in den Vorstädten darböten und ob daselbst Reichtum und Kenntnis des Schönen mit gleichen Schritten fortgegangen sei. Er hatte sich auf den Straßen nie umgesehen, und es war ihm nie eingefallen, zu erörtern, ob das Homannische Haus oder die Waage schöner gebauet sei, ob am Erker des Romanusschen Hauses mit Rechte zwei übereinanderstehende Säulenordnungen auf einem Kragsteine ruhen oder ob im Großbosischen Garten die fleißige Kunst die schönsten Anlagen der Natur verderbt habe. Den Richterschen, damals den schönsten Garten in den Leipziger Vorstädten, hatte er ebensowenig als die reizende Aussicht aus demselben nach dem Zschocherschen Hölzchen gesehen. Er hatte nie daran gedacht, ins Rosenthal zu gehen, die schöne Gegend hinter Raschwitz war ihm nicht zu Gesichte gekommen, und von den Linkischen, Winklerischen und Richterischen Kabinetten hatte er nicht einmal reden hören. Weil die Ratsbibliothek und die Universitätsbibliothek, die einzigen Gegenstände seiner Neugierde, in der Messe nicht offen waren, so hatte er alle Tage seines Aufenthalts in Leipzig damit zugebracht, von Buchdruckerei zu Buchdruckerei und von Buchhandlung zu Buchhandlung zu wandern. Noch ganz voll von diesen Gegenständen, rief er aus:
»Wie sollte mir Leipzig nicht gefallen, der echte Sitz der Gelehrsamkeit, die wahre Stapelstadt gelehrter [74] Kenntnisse, welche aus Deutschland hier eingesammelt und von hier aus allen anderen deutschen Provinzen wieder mitgeteilet werden! Hier sieht man die unzählbaren Früchte der Nachtwachen einer großen Anzahl gelehrter Männer, welche, nachdem sie jahrelang ihren Geist durch Lektur mit allen nützlichen Kenntnissen bereichert und durch unermüdetes Nachdenken vervollkommnet haben, nun ihre Schriften der Welt mitteilen und sie dadurch zu erleuchten suchen. Wenn ich die hiesigen unermeßlichen Bücherniederlagen betrachte, wird mir die unausgesetzte Geschäftigkeit der Gelehrten recht ehrwürdig. Ich hätte nie gedacht, daß so viele Bücher in der Welt wären, als ich hier beisammen finde, noch weniger, daß jährlich einige hundert oder tausend hinzukommen.«
Magister: Und darüber freuen Sie sich? Ich nicht. Sie kommen mir vor wie ein hungriger Ankömmling an einer reichbesetzten Tafel, der den großen Vorrat von Speisen sieht und schon überschlägt, wie gut er sich mit diesen herrlich aussehenden Nahrungsmitteln füttern wolle. Ich bin einer von den Gästen, die schon oft an dieser Tafel saßen und schon oft hungrig aufstanden. Einige Speisen hatten einen sehr widrigen Hautgout, andere schmeckten angenehm, aber waren äußerst unverdaulich, andere waren nicht gar gekocht, andere verräuchert und andere bloße Schauessen. Endlich blieb ich zu Hause, aß mein Stück Käse und Brot und verwünschte alle Köche.
Sebaldus: Aber ist es nicht ein herrliches Schauspiel, eine so große Menge gelehrter Werke zusammen zu sehen, wodurch doch, durch jedes in seiner Art, die Menschen klüger, gelehrter, weiser, tugendhafter, kurz, besser werden?
Magister: Ein Schauspiel wie manches andere, von [75] dem uns die Einbildungskraft, ehe wir es sehen, die angenehmsten Vorstellungen macht. Wer wie Sie vom Lande, aus der Einsamkeit kommt, ist sehr geneigt, sich durch jeden ersten Glanz blenden zu lassen und alles für schöner anzusehen, als es ist. Mein lieber Freund, wenn die Gelehrten durch ihre Bücher sonst nichts zu erlangen suchten, als was Sie da sagen, so würden neun Zehnteile der Bücher nie geschrieben werden. Wie die Menschen klüger, weiser und besser werden sollen? Ich wette, daran haben vierzehn Fünfzehnteile der Schriftsteller, deren Werke die Messe zur Messe machen, gar nicht gedacht. Sie haben ganz andere Absichten zu erlangen und ganz andere Bedürfnisse zu befriedigen!
Sebaldus: Welche könnten die sein? Ein Gelehrter hat freilich viele Absichten und Bedürfnisse als Mensch mit anderen Menschen gemein. Was könnte er aber als Gelehrter für ein anderes Bedürfnis haben, als seinen Geist durch alle nützliche Kenntnisse aufzuklären, und, wenn er erleuchteter ist als andere, was folget natürlicher drauf als die Absicht, anderen seine Kenntnisse mitzuteilen, das heißt ein Schriftsteller zu werden?
Magister: Die Folge scheint so natürlich! Gleichwohl muß sie nicht notwendig sein, denn gewiß sehr viele Schriftsteller haben nicht untersucht, ob ihr Geist aufgeklärt genug sei, noch weniger, ob er aufgeklärter sei als der Geist anderer Leute, und gleichwohl sind sie Schriftsteller in bester Form und, wenn Zeitungslob und Eigenlob etwas gilt, große berühmte Schriftsteller. Hingegen haben wir beide, Sie, mein Freund, und ich, von Jugend auf gearbeitet, unsere Kenntnisse zu erweitern und vollkommner zu machen, und ich darf sagen, wir wissen auch, daß wir manche Sachen besser einsehen als manche andere Leute, und gleichwohl dürften wir beide vielleicht nie Schriftsteller werden.
[76] Sebaldus: Ich weiß nicht, was Sie zu tun willens sind. Ich aber, ich muß es mit einiger Schüchternheit gestehen – ich arbeite schon seit vielen Jahren an einem Kommentare über die Apokalypse.
Magister: Über die Apokalypse? Da sind Sie bei mir mehr als jemand im Verdachte, daß nicht allein die von Ihnen vorher angeführten schönen Absichten, sondern einige kleine Nebenabsichten Sie zum Schriftsteller machen?
Sebaldus: Ich bin mir keiner Nebenabsichten bewußt. Welche könnte ich auch haben?
Magister: Ich weiß nicht. Vielleicht ein wenig Ruhmsucht. Sie wollen der Welt gern etwas Neues und Scharfsinniges sagen, denn etwas dem menschlichen Geschlechte Nützliches werden Sie doch schwerlich sagen können. Die Apokalypse ist eine dickschalige Zitrone, woraus so viele hundert Kommentatoren den wenigen Saft schon längst ausgepreßt haben.
Sebaldus: Wenn sie keinen Saft in sich hat, so könnte sie doch vielleicht noch Öl enthalten. Glauben Sie nicht, es würde dem menschlichen Geschlechte wichtig sein, wenn ich zeigte, daß alles, was man bisher über dies seit vielen Jahrhunderten vielen Menschen so wichtig scheinende Buch geschrieben hat, alberne Fratzen sind, voller Unsinn, auf Kosten des gesunden Menschenverstandes, der Religion und der Geschichte gesagt? Wäre es nicht ein Verdienst, soviel Lügen um ihr Ansehen zu bringen, wenn ich auch nur wenig Wahrheit an die Stelle setzen könnte? Und gleichwohl, ohne ruhmredig zu sein, versichere ich, die erfüllten historischen Weissagungen aus der Geschichte anzuzeigen und von einigen wenigen noch unerfüllten solche Mutmaßungen an die Hand zu geben, die selbst Königen und Fürsten nicht gleichgültig sein dürften. Dennoch schätze ich diese meine historische [77] Entdeckungen sehr gering gegen diejenigen, die etwas beitragen können, den moralischen Zustand des Menschen zu verbessern. Wie, wenn ich nun aus diesem Buche von dem künftigen Zustande der Auserwählten die sichersten Schlüsse ziehen, wenn ich – hier funkelten dem ehrlichen Sebaldus die Augen – aus demselben die Lehre, die Sie wie ich verabscheuen, die Ewigkeit der Höllenstrafen, gänzlich widerlegen und deutlich zeigen könnte, wie in Gottes Haushaltung alle Bestrafung auf Besserung abzielen muß und wird – könnte dies dem menschlichen Geschlechte gleichgültig sein?
Magister: Mein Freund, Sie haben wirklich eine gute Anlage zum Schriftsteller. Sie kommen in Feuer, wenn Sie von Ihrem Buche reden. Doch es scheint mir, indem Sie beweisen wollen, daß die Ruhmsucht nicht der Bewegungsgrund Ihres Schreibens ist, so rühmen Sie sich so sehr, als man sich rühmen kann.
Sebaldus: Den Ruhm, der aus einer wohlgelungenen Ausführung eines nützlichen Unternehmens entspringt, verachte ich gar nicht. Er ist jedem rechtschaffenen Manne angenehm und kann mit der Begierde, der Welt zu nützen, sehr wohl bestehen; und so wird es vermutlich auch wohl mit den Nebenabsichten sein, die Sie andern Schriftstellern schuld geben.
Magister: Nicht völlig ebenso. Die meisten Schriftsteller schreiben, um bekannt zu werden, ein Amt zu erschreiben, einem Patron ein Buch zu dedizieren, einen Freund zu erheben oder einen Feind zu erniedrigen. Ob die Welt von ihren Büchern Nutzen oder Schaden habe, kümmert sie wenig, wenn sie nur ihren Privatendzweck erreichen.
Sebaldus: Den können sie aber nicht erreichen, wenn sie nicht zugleich etwas Nützliches schreiben. Denn es kann doch niemand so unverschämt sein, ein Buch herauszugeben, [78] um etwas Bekanntes oder Langweiliges oder Nichtsbedeutendes zu sagen.
Magister: Das sollte freilich nicht sein! Wie will es aber ein armer Schriftsteller machen, wenn er nichts Neues, Interessantes und Wichtiges zu sagen hat und doch ein Buch schreiben soll. Meinen Sie nicht, daß ein wichtiges und nützliches Buch viel Geschicklichkeit erfordere, daß man sehr viel mehr wissen müsse, als was man sagt, daß man vorher alles nachlesen müsse, was andere bekannte Schriftsteller über diese Materie geschrieben haben, daß man sich aber doch nicht müsse merken lassen, wieviel man gelesen habe, daß man seine ganze Materie wohl überlegen und anordnen müsse und daß zu allem diesem sehr viel Zeit und Arbeit gehöre?
Sebaldus: Allerdings!
Magister: Meinen Sie aber, daß derjenige, der bekannt werden, ein Amt erschreiben, seinem Patron ein Buch dedizieren, seinen Freund erheben oder seinen Feind erniedrigen will, allemal Geschicklichkeit haben werde oder viel Zeit und Arbeit werde anwenden können?
Sebaldus: Nein! Wenn aber dies nicht ist, so muß er auch gar kein Buch schreiben, denn den wahren Hauptzweck des Schriftstellens unwichtigen Nebenzwecken aufzuopfern ist eines wahren Gelehrten ganz unwürdig.
Magister: Ja freilich, eines Gelehrten! Aber ein Schriftsteller kann es im Laufe seines Gewerbes nicht so genau nehmen.
Sebaldus: Ich weiß nicht, wie Sie sprechen. Ein Buchdrucker oder ein Buchhändler mag ein Gewerbe mit Büchern haben, aber ein Schriftsteller ist ein Gelehrter. Der will der Welt nützliche Kenntnisse mitteilen, der will Wahrheit und Weisheit befördern.
Magister: Ihre Einbildungskraft, mein liebster Freund, fliegt noch ziemlich hoch; lassen Sie sich herunter und [79] kommen Sie der Erde näher. Der größte Haufen der Schriftsteller von Profession treibt ein Gewerbe so wie die Tapetenmaler oder die Kunstpfeifer und sieht die wenigen wahren Gelehrten fast ebenso für zudringliche, unzünftige Pfuscher an als jene Handwerker einen Mengs oder Bach. Durch solches Gewerbe und nicht aus Begierde, das menschliche Geschlecht zu erleuchten, entsteht die unsägliche Menge von Büchern, welche Sie so bewundern; denn Leipzig ist freilich seit mehr als hundert Jahren die Stapelstadt der Waren der gelehrten Handwerker.
Sebaldus: Sie haben ein sonderbares Vergnügen daran, Wörter zusammenzusetzen, deren Begriffe offenbar miteinander streiten. Gelehrsamkeit ein Handwerk? Bücherschreiben ein Gewerbe?
Magister: Allerdings, und zwar ein solches Gewerbe, worin jeder den Nutzen so sehr auf seine Seite zu ziehen sucht, als nur möglich ist. Der Autor will gern dem Verleger sowenig Bogen Manuskript als möglich für soviel Geld, als möglich ist, überliefern. Der Verleger will gern so viele Alphabete als möglich so wohlfeil als möglich einhandeln und so teuer als möglich verkaufen. Der Autor will gern sowenig Zeit, Mühe, Überlegung und Geschicklichkeit an sein Buch wenden und doch soviel Ruhm, Belohnung, Beförderung von der Welt einernten als möglich. Zu dem letzten sind leider nur allzuviel Mittel vorhanden!
Sebaldus: Sie sagen mir da so unerhörte Sachen, daß ich vor großem Erstaunen mich fast nicht getraue, ein Wort dagegen einzuwenden, und doch ist mir alles unbegreiflich. Was für Mittel können vorhanden sein, Ruhm und Belohnung durch ein Buch zu erlangen, worin man keine Talente zeigt und worauf man wenig Zeit gewendet hat? [80] Magister: Ei, sehr viele! Zum Beispiel ein Professor muß Amts wegen ein Kollegium lesen, dazu schreibt er ein besonderes Kompendium der ganzen Wissenschaft. Dies kostet wenig Zeit und Mühe, erfordert auch wenig Talente, und doch gibt's bei den Studenten das Ansehen, als hätte man die Sachen ergründet, und bei der Welt das Ansehen, als könne man ein Buch schreiben.
Sebaldus: Aber die Welt kann doch unmöglich ein bloßes Kompendium einer bekannten Wissenschaft für ein Buch ansehen?
Magister: Die deutsche Welt ist gutwillig, sie hat sich schon sehr viele Kompendienschreiber für Schriftsteller aufdringen lassen. Und es weiß mancher Lehrer noch wirtschaftlicher mit seinem Pfunde zu wuchern! Will das Kompendium nicht Ruhm genug bringen, so läßt man einen Teil des Diskurses oder der Amplifikation des Kompendiums unter einem Modetitel drucken, und dann ist man ein Schriftsteller in bester Form.
Sebaldus: Ja, aber doch sind, meines Erachtens, Studenten und Leser sehr unterschieden.
Magister: Ja freilich, darum werden auch die Stadthistörchen, die Anspielungen auf die Herren Kollegen, die Schwänke, womit die Benevolenz der Herren Kommilitonen kaptiviert werden soll, weggelassen, wenigstens von denen, die Kenntnis der Welt und Lebensart im Munde führen.
Sebaldus: Das ist ganz gut! Aber ich dächte doch, der ganze Ton müßte verändert werden. Ein Lehrer kann voraussetzen, daß er mehr Einsichten habe als seine Zuhörer; deswegen kann er ihnen manches sagen, was er nicht füglich den Lesern sagen darf, weil er vermuten muß, daß darunter viele sein möchten, die ebensoviel und mehr Einsichten haben als er.
[81] Magister: Sehr wenige Professoren denken so fein wie Sie! Ich kenne mehr als einen, der in seinen Schriften seine Leser völlig ebenso im Lehrertone anredet, als ob sie lauter junge Studenten wären.
Sebaldus: Das befremdet mich sehr. Ich wenigstens, wenn ich in dem Falle wäre, würde mir immer vorstellen, daß die erleuchtetsten Leute meiner Zeit meine Leser sein könnten und welche armselige Figur ich gegen sie machen müßte, wenn ich ihnen ganz bekannte Sachen vordozieren wollte, die sie viel besser wüßten! Überhaupt, dächte ich, ein Lehrer in einem Kollegium für junge Leute müsse sich nach dem Verständnisse des Geringsten unter seinen Zuhörern bequemen, hingegen ein Schriftsteller suche hauptsächlich den Verständigsten unter seinen Lesern zu gefallen, daher könne das beste Kollegium nicht leicht ein gutes Buch werden.
Magister: Ei, Sie machen sich die rechten Schwierigkeiten! Wissen Sie hiemit: Was gedruckt werden kann, kann ein Buch werden. Eine Dissertation, eine Prolusion, eine Oration, ein Programma, ein Oster-oder Pfingstanschlag, den ein Schulmann oder Professor amtshalber schreiben muß, ist ja wohl noch weniger ein Buch.
Sebaldus: Ich wenigstens halte die Verfertigung solcher Aufsätze für ein Opus operatum, wobei gewöhnlicherweise mehr die Hand als der Kopf in Bewegung gesetzt wird.
Magister: Oh, man kann ein Schriftsteller von vielen Bänden werden, ohne den Kopf sonderlich anzustrengen! Was denken Sie wohl zum Beispiel von einem Prediger, der seine gehaltene Predigten drucken läßt?
Sebaldus: Wenn meine Gemeinde die meinigen verlangte, würde ich sie sehr gern zu ihrem Gebrauche drucken lassen; denn warum sollte ich ihr nicht schriftlich [82] sagen, was ich ihr mündlich sagte? Aber auch nur bloß für sie sollten meine Predigten gedruckt werden. Ich habe mich in meinen Vorträgen immer besonders nach den Umständen meiner gewöhnlichen Zuhörer gerichtet. Nun würde ich immer denken, die Welt möchte sowenig nutzen können, was ich bloß meiner Gemeinde zu sagen hatte, als das, was ich als Vater meinen Kindern zu ihrem bessern Verhalten einschärfe.
Magister: Vielleicht würde doch die Welt das, was Sie so bescheiden ankündigen, mit mehrerm Nutzen lesen als die Predigten der Herren, welche die ganze Welt für ihre Diözese halten.
Sebaldus: Es kann sein, daß auch etwas Gemeinnütziges darin wäre, aber doch würde das Bändchen, das ich mir der Welt vorzulegen getraute, immer sehr klein sein.
Magister: Das Bändchen? Weder Johann Melchior Goeze noch Johann Andreas Cramer haben mit dem vierzehnten Bande aufgehört.
Sebaldus: Wie? Vierzehn Bände Predigten? Dazu gehört mehr Herz, als ich habe!
Magister: Freilich, Sie haben viel Bedenklichkeiten. Wenn Sie eine Dedikation an einen Patron zu machen hätten und Sie könnten kein Buch schreiben, so dächten Sie auch wohl nicht daran, das erste beste alte Buch wieder drucken zu lassen und es Ihrem Gönner zuzueignen?
Sebaldus: Ich dächte, der Patron würde mir wenig danken, wenn ich ihm anstatt etwas Neues nur etwas Aufgewärmtes vorsetzte.
Magister: Als wenn der Patron nicht zufrieden sein müßte, daß sein Namen vor dem Buche stehet, und als wenn er es auch noch würde lesen wollen! Genug, mancher Journalist wird Ihnen danken, daß Sie durch die [83] neue Herausgabe unserer Literatur einen so großen Dienst geleistet haben! Und Sie können als ein noch wichtigerer Mann erscheinen, wenn Sie dem Buche eine Vorrede vorsetzen, um es durch Ihren Namen der Welt anzupreisen.
Sebaldus: Wenn man aber nicht wirklich sehr berühmt ist, so gehört viel Scharlatanerie dazu, so eine vornehme Miene zu affektieren.
Magister: Ja, wenn Sie Ihren Namen selbst nicht für berühmt halten, so sind Sie auf gutem Wege, ihn nie berühmt zu machen. Ich merke wohl, Sie wollen inkognito arbeiten; damit ist Ihnen auch zu dienen. Da ist mehr als ein Buchhändler, der seinen Autoren aufträgt, was er für verkäuflich hält: Geschichte, Romanen, Mordgeschichten, zuverlässige Nachrichten von Dingen, die man nicht gesehen hat, Beweise von Dingen, die man nicht glaubt, Gedanken von Sachen, die man nicht versteht. Zu solchen Büchern bedarf der Verleger keine Autoren, die einen Namen haben, sondern solche, die nach der Elle arbeiten. Ich kenne einen, der in seinem Hause an einem langen Tische zehn bis zwölf Autoren sitzen hat und jedem sein Pensum fürs Tagelohn abzuarbeiten gibt. Ich leugne es nicht – denn warum sollte ich Armut für Schande halten? –, ich habe auch an diesem langen Tische gesessen. Aber ich merkte bald, daß ich zu diesem Gewerbe nichts taugte, denn ich kann zwar ohne Gedanken eine Korrektur lesen, aber nicht ohne Gedanken Bücher schreiben; und bei solchen Büchern ist immer der am angenehmsten, der am geschwindesten schreibt, auch wenn er am schlechtesten schriebe.
Sebaldus: Am schlechtesten? Da handelt ja der Verleger wider seinen eigenen Vorteil; denn was kann die Welt mit den schlechten Büchern machen! [84] Magister: Was geht den Verleger die Welt an? Er bringt sein Buch auf die Messe.
Sebaldus: Nun – und durch die Messe kommen die Bücher in die Welt.
Magister: Freilich, nur mit dem Unterschiede, daß sie vorher vertauscht werden und daß also der Verleger am besten daran ist, der die schlechtesten Bücher hat, weil er leicht etwas Bessers bekommt.
Sebaldus: Aber denn müssen doch einigen Buchhändlern die schlechtesten Bücher bleiben, und die bedaure ich.
Magister: Weswegen? Es ist ihnen ja unbenommen, Narren zu suchen, die aus dem schlechtesten Buche klug zu werden denken oder die es um Gottes willen lesen, wie mein alter Konrektor wollte, daß ich die schlechten Prediger hören sollte.
Sebaldus: Nun fängt mir an ein Licht aufzugehen! So könnte es ja wohl der Vorteil der Buchhändler erfordern, zuweilen schlechte Bücher zu verlegen?
Magister: Dies mag wohl sein; wenigstens scheint es nicht, als hätten sie nötig, sich sonderlich darum zu bekümmern, ob die Bücher gut sind oder nicht.
Sebaldus: Ja, wenn wahr ist, was Sie sagen, so würde ich freilich von der Menge der nützlichen Bücher, über deren Dasein ich mich gefreuet habe, alle abziehen müssen, welche die Konvenienz der Schriftsteller und die Laune der Buchhändler zur Welt bringt.
Magister: Und rechnen Sie immer auch den größten Teil der ungeheuer großen Anzahl von Büchern ab, womit Deutschland vermittelst unserer Übersetzungsmanufakturen überschwemmt wird.
Sebaldus: Habe ich recht gehört? Übersetzungsmanufakturen? Was soll denn das bedeuten?
Magister: Manufakturen, in welchen Übersetzungen gemacht werden, das ist ja deutlich.
[85] Sebaldus: Aber Übersetzungen sind ja keine Leinwand oder keine Strümpfe, daß sie auf einem Stuhle gewebt werden könnten.
Magister: Und doch werden sie beinahe ebenso verfertigt, nur daß man wie bei Strümpfen bloß die Hände dazu nötig hat und nicht wie bei der Leinwand auch die Füße. Auch versichere ich Sie, daß keine Lieferung von Hemden und Strümpfen für die Armee genauer bedungen wird und richtiger auf den Tag muß abgeliefert werden als eine Übersetzung aus dem Französischen, denn dies wird in diesen Manufakturen für die gemeinste, aber auch für die gangbarste Ware geachtet.
Sebaldus: Alles, was Sie sagen, scheint mir unerhört. Also gibt es unter den Übersetzungen und unter den Übersetzern auch wohl einen Rang oder Unterschied?
Magister: Allerdings! Ein Übersetzer aus dem Engländischen ist vornehmer als ein Übersetzer aus dem Französischen, weil er seltner ist. Ein Übersetzer aus dem Italienischen läßt sich schon bitten, ehe er zu arbeiten anfängt, und läßt sich nicht allemal den Tag vorschreiben, an dem er abliefern soll. Einen Übersetzer aus dem Spanischen findet man fast gar nicht, daher kömmt es, daß zuweilen Leute aus dieser Sprache übersetzen, die gar nichts davon verstehen. Übersetzer aus dem Lateinischen und Griechischen sind häufig, werden aber gar nicht gesucht, bieten sich daher mehrenteils selbst an. Außerdem gibt's auch Übersetzer, die zeitlebens gar nichts anders tun als übersetzen; Übersetzer, die ihre Übersetzungen in Nebenstunden zur Erholung machen wie Frauenzimmer die Knötchenarbeiten Marly und Filet. Vornehme Übersetzer, diese begleiten ihre Übersetzungen mit einer Vorrede und versichern die Welt, daß das Original sehr gut sei; gelehrte Übersetzer, diese verändern es, begleiten es mit Anmerkungen und versichern, [86] daß es sehr schlecht gewesen, daß sie es aber mit deutschem Fleiße erst vortrefflich gemacht hätten. Es gibt sogar Übersetzer, welche durch Übersetzungen Originalschriftsteller werden. Diese nehmen ein französisches oder engländisches Buch, lassen Anfang und Ende weg, ändern und verbessern das übrige nach Gutdünken, setzen ihren Namen keck auf den Titel und geben das Buch für eigene Arbeit aus. Endlich gibt es solche, die ihre Übersetzungen selbst machen, und solche, die sie von andern machen lassen.
Sebaldus: Sie vergessen, dünkt mich, noch einen wichtigen Unterschied: unter Übersetzern, welche der Sachen und beider Sprachen kundig, und solchen, welche beider unkundig sind. Ich wenigstens glaube einen großen Unterschied dieser Art bei den Übersetzern der Apokalypse bemerkt zu haben.
Magister: Vielleicht mag die Kenntnis der Sachen und Sprachen bei der Apokalypse einen merklichen Unterschied machen, aber bei unsern gewöhnlichen Übersetzungen aus dem Französischen und Engländischen wird so genau darauf nicht geachtet.
Sebaldus: Und doch, dächte ich, müßte besonders der Verleger seines eigenen Nutzens wegen acht darauf haben.
Magister: Keineswegs! Hieran denkt er gemeiniglich gar nicht oder sehr wenig. Hat er etwa drei Alphabete in Großoktav oder in Großquart zu Komplettierung seiner Messe noch nötig, so sucht er unter allen neuen, noch unübersetzten Büchern von drei Alphabeten dasjenige aus, dessen Titel ihm am besten gefällt. Ist sodann ein Arbeiter gefunden (welches eben nicht schwer ist), der noch drei Alphabete bis zur nächsten Messe übernehmen kann, so handeln sie über den armen Franzosen oder Engländer wie zwei Schlächter über einen [87] Ochsen oder Hammel nach dem Ansehen oder auch nach dem Gewichte. Wer am teuersten verkauft oder am wohlfeilsten eingekauft hat, glaubt, er habe den besten Handel gemacht. Nun schleppt der Übersetzer das Schlachtopfer nach Hause und tötet es entweder selbst oder läßt es durch den zweiten oder dritten Mann töten.
Sebaldus: Durch den zweiten oder dritten Mann? Wie ist das zu verstehen?
Magister: Das ist eben das Manufakturmäßige bei der Sache. Sie müssen wissen, es gibt berühmte Leute, welche die Übersetzungen im großen entreprenieren, wie ein irländischer Lieferant das Pökelfleisch für ein Geschwader, und sie hernach wieder an ihre Unterübersetzer austeilen. Diese Leute erhalten von allen neuen übersetzbaren Büchern in Frankreich, Italien und England die erste Nachricht, wie ein Makler in Amsterdam Nachricht von Ankunft der ostindischen Schiffe in Texel hat. Alle übersetzungsbedürftige Buchhändler wenden sich an sie, und sie kennen wieder jeden ihrer Arbeiter, wozu er zu gebrauchen ist und wie hoch er im Preise stehet. Sie wenden den Fleißigen Arbeit zu, bestrafen die Säumigen mit Entziehung ihrer Protektion, merzen die Fehler der Übersetzungen aus oder bemänteln sie mit ihrem vornehmen Namen, denn mehrenteils sind Unternehmer dieser Art stark im Vorredenschreiben. Sie wissen auch genau, wieviel Fleiß an jede Art der Übersetzung zu wenden nötig ist und welche Mittel anzuwenden sind, damit ihre Übersetzungen allenthalben angepriesen und dem berühmten Manne öffentlich gedanket werde, der die deutsche gelehrte Welt damit hat beglücken wollen.
Sebaldus: Sie wissen, wieviel Fleiß an eine jede Art der Übersetzung zu wenden nötig ist? Gehört denn nicht einerlei Grad von Fleiß zu jeder Übersetzung, wenn sie in ihrer Art gut sein soll? [88] Magister: Keinesweges! Dies kann nach den Umständen sehr verschieden sein. Zum Beispiel zu theologischen Büchern tut gemeiniglich ein hochwürdiger Herr einem Buchhändler den Vorschlag, sie unter seinem Namen und mit seiner Vorrede übersetzen zu lassen; es versteht sich aber, daß er das Buch nicht selbst übersetzt, sondern er gibt es gegen zwei Dritteile der mit dem Verleger abgeredeten Bezahlung an einen seiner Arbeiter ab.
Dieser verdingt es gemeiniglich gegen drei Vierteile dessen, was ihm der hochwürdige Herr gönnen will, an einen dritten, der es zuweilen, wenn die Manufaktur stark gehet, an einen vierten gegen fünfzehn Sechzehnteile dessen, was er bekommt, abläßt. Dieser übersetzt es wirklich, so gut oder schlecht er kann. Bei dicken Beweisen, daß der Messias schon gekommen ist 6, bei biblischen Geschichten in zwölf Bänden, bei voluminösen Dogmatiken, bei Predigten, aus dem Französischen oder Engländischen übersetzt, kann dies ohne Bedenken gewagt werden; denn die Leser solcher Bücher merken nicht, ob irgendwo etwas falsch übersetzt sei; und die theologischen Kunstrichter sind nicht so schlimm, daß sie durch den Namen eines berühmten Vorredners oder durch ein höfliches Schreiben eines Bruders im Herrn nicht sollten zur Duldung und Schonung einer schlechten Übersetzung bewegt werden können. Die Ausgaben der [89] Übersetzungen historischer Werke, Reisebeschreibungen und dergleichen sind meistens das Werk der Buchhändler, die sich dazu einen wohlgebornen oder hochedelgebornen Herrn aussuchen, weil in diesem Fache die Übersetzungsunternehmer nicht so häufig sind als im theologischen Fache. Doch werden solche Übersetzungen gemeiniglich auch an Unterarbeiter ausgeteilt. 7 Diese müssen sich aber schon mehr in acht nehmen, daß sie wenigstens die eigenen Namen richtig übersetzen und die Jahrzahlen recht abschreiben, denn auf solche Sachen lauern unsere historische Rezensenten wie Falken. Dagegen ist auch nicht soviel daran gelegen, ob etwa die Vorstellungen der Begebenheiten und die eingestreuten Reflexionen etwas flüchtig und schielend übertragen wären; auf die Art werden sie der Schreibart einiger deutschen Geschichtschreiber desto ähnlicher, die in ihrer Freunde gelehrten Zeitungen und Journalen gewohnt sind, am lautesten gelobt zu werden! Aber neue Komödien und neue Romane muß meistens der selbst übersetzen, der als Übersetzer bekannt sein will, weil [90] diese Bücher allzu vielen Lesern in die Hände kommen; und hier sind die Kunstrichter gleich bei der Hand und lassen sich selten durch einen berühmten Namen vom Tadel abschrecken.
Sebaldus: Ich erstaune immer mehr über das, was Sie da sagen. Es ist mir, als ob Sie von einer andern Welt redeten. Sie können auch unmöglich Deutschland im Sinne haben!
Magister: Sie vielmehr kommen aus einer andern Welt, aus der schönen Welt der Imagination, wo jeder berühmte Mann viel Verdienste hat, wo jeder Schriftsteller zu Untersuchung der Wahrheit schreibt, wo die Vorreden wahre Nachrichten vom Buche enthalten, wo niemals ein Journalist den Verfasser anschwärzt, dem er nicht wohlwill, wo kein beleidigter Schriftsteller Kabalen macht, wo ein Lehrer der Tugend auch allemal tugendhaft und ein Lehrer der Weisheit weise ist. Mein lieber Freund, träumen Sie nicht ferner, so angenehm Sie auch träumen mögen; sehen Sie um sich herum, was in Deutschland vorgeht, und Sie werden finden, was ich Ihnen sage, ist keine Erdichtung.
Sebaldus: Nun, wenn auch jemand einmal so etwas unternähme, so kann doch das Publikum nicht lange in der Verblendung bleiben; und dann wird es mit der Manufaktur bald zu Ende gehen.
Magister: Unser Publikum ist sehr nachsehend, zumal bei dicken Büchern, das heißt bei denjenigen, welche die Übersetzer von Profession am liebsten wählen. Ich versichere Sie, daß wenigstens der dritte Teil der deutschen Bücher auf diese Art fabriziert wird. Denn ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß beinahe die Hälfte der neuen deutschen Bücher Übersetzungen sind, und ich sage gewiß zuwenig, wenn ich nur zwei Drittel der Übersetzungen als Manufakturarbeit ansehe.
[91] Sebaldus: Gott behüte! Die Hälfte unserer neuen Bücher sind Übersetzungen! Was wird denn alles übersetzt?
Magister: Was? Bogen und Alphabete! Um den Inhalt bekümmert sich weder Verleger noch Übersetzer, zum höchsten der Leser, wenn er will und kann.
Sebaldus: Allein da wird denn auch der Leser gemeiniglich sehr unzufrieden sein.
Magister: Ach nicht doch! Die Leser der Übersetzungen sind gutwillige Seelen. Sie haben gegen alles, was schwarz auf weiß gedruckt ist, eine große Ehrerbietung. Und wenn sie auch etwas nicht recht verstehen, so nehmen sie die Schuld selbst auf sich und zählen Übersetzer und Verfasser los. Kein deutscher Leser wird das Unglück einer neuen Übersetzung machen, sowenig als noch ein deutsches Parterre jemals eine neue übersetzte Komödie ausgepfiffen hat. 8
Sebaldus: Aber wenn auch niemand es merket, so ist's doch einem Gelehrten unanständig, die Gelehrsamkeit bloß zu einem schimpflichen Gewerbe zu machen und die Fortpflanzung der Wahrheit und Tugend ganz aus den Augen zu setzen.
Magister: Seien Sie aus allzu großer Gerechtigkeit nicht ungerecht. Unser Vaterland kann von den Gelehrten nicht mehr fordern, als es um sie verdient. Wo ist das deutsche Land, wo ein deutscher Gelehrter als Gelehrter leben kann? Wo ist es möglich, ohne besonders [92] glückliche Umstände die Muße zu finden, die ein Schriftsteller braucht, wenn er in seiner Kunst groß werden will? 9 Unser bestes, wünschenswürdigstes Schicksal ist ein Amt, in dessen Erwartung wir verhungern müssen, wenn wir kein Erbteil zuzusetzen haben, und wobei wir, wenn wir es erhalten, vor vieler Amtsarbeit alle Gelehrsamkeit vergessen müssen. Die besten deutschen Schriftsteller haben zuweilen die Muße, die sie zu ihren vortrefflichsten eigenen Werken nötig hatten, durch Übersetzungen kümmerlich verdienen müssen. Es ist leider fast gar kein anderes Mittel da, um einen Gelehrten, der kein Amt hat und kein Amt bekommen kann, vor dem Hunger zu verwahren. – Verlangen Sie nicht mehr, als wir leisten können.
Sebaldus: Dies Bild der deutschen Literatur ist sehr traurig. Aber ich bleibe dennoch dabei: Entwickelung und Verbreitung der Wahrheit ist die Hauptpflicht eines Autors. Ich würde nie daran gedacht haben, einen Kommentar über die Apokalypse zu schreiben, wenn ich nicht geglaubt hätte, unbekannte, nützliche Wahrheiten entdeckt zu haben.
Magister: Die auch trotz Ihrem Kommentar unbekannt bleiben werden. Denn glauben Sie mir, Bengel ist im Besitze des apokalyptischen Reichs, woraus Sie ihn nicht vertreiben werden! Wir haben in Deutschland noch kein Beispiel, daß ein abgesetzter Dorfpfarrer gegen einen Prälaten recht behalten hätte.
[93] Sebaldus: Ich kann über das Schicksal meines Kommentars ruhig sein. Genug, wenn ich die Wahrheit sage, so wie ich sie erkenne und weil es Wahrheit ist, nicht aber deswegen, weil ich mit einem Buchhändler einen Kontrakt gemacht habe, ihm fünfzig Bogen zu liefern. Wohin soll es mit der deutschen Gelehrsamkeit kommen, wenn der größte Teil der Schriftsteller nicht die Beförderung der Gelehrsamkeit, sondern die Beförderung seines Ruhms und Nutzens sucht?
Magister: Und wohin soll es mit der deutschen Gelehrsamkeit kommen, wenn deutsche Gelehrsamkeit in unserm eigenen Vaterlande für schimpflich gehalten wird? Ist's nicht das sicherste Mittel zu darben, wenn man sich auf Kenntnisse legt, welche unsere Mitbürger erleuchten, aber nicht ihren Wollüsten dienen oder ihren Beutel füllen können? Bleibt ein einziges Mittel übrig, dem Gelehrten, der weder Kuppler noch Plusmacher sein will, in der Welt sein Auskommen zu geben? Wenn man uns recht belohnen will, schickt man uns auf eine Universität, wo wir unsere nötigen Einkünfte von dem Wohlwollen einer unwissenden und ungezähmten Jugend suchen müssen; oder man verstößt uns in ein Amt, wozu uns alles, was wir gelernt haben, unnütz ist und wo uns wegen der edlen Empfindsamkeit, welche durch die Wissenschaften in unsern Seelen entwickelt worden, die Ausübung unserer Pflicht oft weit beschwerlicher wird als einem fühllosen Diener der Absichten jedes Gewaltigen im Lande.
Sebaldus: Ich bin ganz außer mir über alles, was ich hören muß! So schlecht sieht es mit der Gelehrsamkeit in Deutschland aus? Wie soll es dann um Wahrheit und Tugend gut stehen, wenn die Herolde derselben, die Gelehrten, nur Eigennutz und Eigenlob suchen? Wie soll unser Vaterland durch die Wissenschaften erleuchtet [94] werden, wenn man sie zu einem niedrigen Gewerbe mißbraucht? Nein, dies ist mir ein unerträglicher Gedanken!
Magister: Geben Sie sich zufrieden! Was ist der deutschen Gelehrsamkeit damit geholfen, wenn ein paar arme Korrektoren eine unruhige Nacht haben! Wir wollen uns die Fehler unserer Literatur nicht verhehlen, aber wir wollen uns auch über das nicht abhärmen, was, ohne die Schuld unserer Gelehrten, nicht anders sein kann; es müßte sich denn in Deutschland mehr ändern, als sich so leicht ändern wird.
Hiermit gab der Magister dem Sebaldus die Hand und wünschte ihm, wohl zu schlafen.