Vierzigste Erzählung.
Ein Edelmann bringt in Unwissenheit des Verwandschaftsverhältnisses seinen Schwager um.
Dieser Herr, der Vater Rolandinens, hatte mehrere Schwestern, von denen einige reich verheirathet, andere im Kloster waren, und eine, welche unverheirathet in seinem Hause lebte, war unvergleichlich viel schöner als die übrigen; diese liebte ihr Bruder so sehr, daß er sie Frau und Kindern vorzog. Sie wurde viel von großen Freiern [283] umworben; aber aus Scheu vor der Trennung und aus Liebe zu seinem Gelde wollte er nie etwas davon hören. Daher verbrachte sie einen großen Theil ihrer Jugend ledig und lebte sehr ehrbar in dem Hause ihres Bruders; in dessen Hause befand sich auch ein schöner junger Edelmann, von Kindheit an daselbst erzogen, der mit jedem Jahr an Schönheit und Tugend zunahm, so daß er seinen Wohlthäter ganz unbemerklich regierte; wenn er etwas von seiner Schwester wollte, ließ er es ihr immer durch den jungen Ritter sagen und gab ihm so viel Freiheit und Vertraulichkeit, indem er ihn früh und spät zu ihr schickte, daß durch den langen Umgang sich eine große Freundschaft zwischen ihnen entspann. Da aber der Ritter fürchtete, seinen Herrn zu beleidigen, und das Fräulein, ihre Ehre zu schädigen, drückten sie ihre Freundschaft nicht anders als in Worten aus, bis eines Tages ihr Bruder ihr sagte, er wünschte, er könnte es mit Geld erkaufen, daß der junge Ritter ihr gleich an Rang wäre, denn er hätte niemand lieber zum Schwager gehabt als ihn. Das wiederholte er ihr so oft, daß sie sich mit dem jungen Edelmann darüber besprach, und sie glaubten, wenn sie sich verheiratheten, würde man ihnen leicht verzeihen. Und Amor, der immer glaubt, was ihm paßt, gab ihnen zu verstehn, daß es nur zu ihrem Besten ausschlagen könne; darauf beschlossen sie also ihre Heirath und führten sie auch aus, ohne daß jemand etwas davon wußte, ausgenommen ein Priester und einige Frauen. Nachdem sie einige Jahre in dem Glück gelebt hatten, welches Gatte und Gattin mit einander haben können, als eines der schönsten Paare der Christenheit und in vollkommenster und größter Freundschaft, wollte Fortuna, welche diesen beiden Menschen ihr Glück neidete, es nicht länger leiden, sondern schickte ihnen einen Feind, der diesem Fräulein auflauerte und ihr großes Glück herausbekam, ohne allerdings von der Heirath etwas zu wissen. Er ging zu dem Bruder und hinterbrachte ihm, daß der Edelmann, dem er so sehr vertraue, sehr oft in das Zimmer seiner Schwester gehe und zwar zu einer für Männer ungebührlichen Stunde. Anfangs glaubte er es nicht, da er vollkommenes Vertrauen zu seiner Schwester und dem Edelmann hatte. Der andere aber setzte wie einer, dem viel an der Ehre des Hauses liegt, seine Nachforschungen fort und stellte einen Aufpasser in ihre Nähe, bis die [284] Armen, die nichts Schlimmes ahnten, wirklich einmal überrascht wurden. Eines Abends nämlich wurde ihrem Bruder gemeldet, daß der junge Edelmann bei seiner Schwester sei; eiligst ging er hin und fand die beiden Liebenden zusammen in einem Bette liegend. Vor Zorn konnte er kein Wort sprechen, zog sein Schwert und rannte auf den Edelmann los, um ihn zu tödten. Der war aber sehr gewandt und flüchtete sich im Hemde, und da er durch die Thür nicht entkommen konnte, sprang er zum Fenster hinaus in den Garten. Die arme Frau warf sich vor ihrem Bruder auf die Kniee und sagte ihm: »Erhalte das Leben meines Gemahls, denn ich habe ihn geheirathet, und wenn hierin eine Mißachtung Deiner Person liegt, so strafe nur mich allein, denn was geschehen ist, ist auf meinen Wunsch geschehen.« Außer sich vor Zorn antwortete ihr Bruder nur: »Und wenn er hundertmal Dein Mann wäre, so werde ich ihn doch strafen, wie einen treulosen Diener, der mich hintergangen hat.« Mit diesen Worten trat er ans Fenster und rief laut hinaus, man solle jenen tödten. Seine Leute kamen diesem Befehl vor seinen und seiner Schwester Augen nach. Als diese das traurige Schauspiel sah, das sie mit allen Bitten nicht hatte verhindern können, sagte sie zu ihrem Bruder, wie eine, die alle Ruhe verloren hat: »Mein Bruder, ich habe weder Vater noch Mutter und bin in dem Alter, daß ich mich nach meinem Willen verheirathen kann. Ich habe den erwählt, von dem Ihr selbst oft genug gesagt habt, es sei nur Euer Wunsch, daß ich einen solchen heirathe; nun ich Eurem Rath folgend, das gethan habe, was ich nach dem Gesetz auch ohne Euch thun konnte, habt Ihr den Mann, den Ihr am meisten liebtet, umgebracht. Da dies so ist, und meine Bitten ihn nicht vom Tode retten konnten, flehe ich Euch im Namen Eurer Liebe zu mir an, mich jetzt zur Genossin seines Todes zu machen, wie ich es von seinem Leben und seinem Glück war. Hiermit werdet Ihr Eurem grausamen und ungerechten Zorn Genüge thun und gleichzeitig Leib und Seele derjenigen, die ohne ihn weder leben kann, noch will, die ersehnte Ruhe geben.« Der Bruder, obgleich er bis zur Sinnlosigkeit aufgebracht war, hätte doch so viel Mitleid mit seiner Schwester, daß er, ohne auf ihre Bitten zu achten, sie allein ließ. Als er sich nachher seine That überlegte [285] und hörte, daß er wirklich der Gatte seiner Schwester gewesen war, bereute er aufs Tiefste sein Verbrechen. Aus Furcht, daß seine Schwester Gerechtigkeit und Rache verlangen würde, ließ er inmitten des Waldes ein Schloß bauen, führte sie dorthin und verbot, daß irgend jemand mit ihr sprechen solle.
Nach einiger Zeit quälte ihn aber das Gewissen und er versuchte sie für eine neue Heirath zu gewinnen; doch antwortete sie, er habe ihr ein so böses Mahl bereitet, daß sie keine weiteren Speisen von ihm annehmen wolle, und daß sie weiter allein leben möchte, damit er nicht einen zweiten Mord an ihrem Gatten begehen könne. Sie könnte nicht glauben, daß er einem andern das vergeben würde, um dessenwillen er dem Mann, den sie über alles geliebt, so übel mitgespielt habe; wenn sie auch schwach und unfähig sei, sich zu rächen, so hoffte sie doch auf Den, der der wahre Richter sei und der kein Unrecht ungestraft ließe. In seiner Liebe allein wolle sie in ihrer Einsamkeit ihr Leben beschließen; also that sie auch. Bis an ihr Lebensende rührte sie sich nicht mehr aus dem Schloß heraus und lebte so streng und geduldig, daß sie nach dem Tode wie eine Heilige verehrt wurde. Nach ihrem Tode verfiel das Haus ihres Bruders so sehr, daß er von sechs Söhnen, die alle elend starben, nur einen einzigen übrig behielt; zuletzt fiel das ganze Erbe (wie Ihr in der anderen Erzählung vernommen habt) an seine Tochter Rolandine, welche in derselben Gefangenschaft lebte, welche ihrer Tante bereitet worden war.
Hiermit beendete Parlamente ihre Erzählung und fuhr fort: »Ich bitte Gott, meine Damen, daß Euch dies Beispiel so nützlich sei, daß keine von Euch Lust verspürt, sich zu ihrem Vergnügen zu verheirathen, ohne die Einwilligung Derer, denen man gehorchen soll; denn die Heirath ist ein so lange dauernder Stand, daß man ihn nicht leichtsinnig und ohne den Rath unserer besten Freunde und Verwandten erwählen soll. Und schließlich kann man es so gut machen, wie man will, man trägt doch mindestens ebensoviel Schmerzen wie Vergnügen davon.« »Nun wahrhaftig«, sprach Oisille, »wenn es keinen Gott und kein Gesetz gäbe, um die Thörinnen Weisheit zu lehren, so wäre dieses Beispiel genügend, um ihnen so viel Ehrfurcht vor ihren Verwandten beizubringen, daß sie[286] sich nicht ohne ihre Einwilligung verheirathen.« »Dennoch aber, Madame«, sprach Nomerfide, »ist die, welche einen einzigen Tag im Jahre glücklich war, niemals mehr ganz unglücklich zu nennen. Diese hier konnte ihren Geliebten lange sehen und sprechen und dann noch die Freuden der Ehe genießen, ohne damit ihr Gewissen zu beschweren. Dieses Vergnügen scheint mir doch noch größer zu sein als der Kummer, welcher darauf folgte.« »So wollt Ihr also sagen«, sprach Saffredant, »daß die Frauen die Freuden der Liebe größer schätzen, als den Gram, ihren Gatten vor ihren Augen getödtet zu sehen?« »Das meinte ich nicht«, sagte Nomerfide, »denn dann spräche ich meinen Erfahrungen von den Frauen entgegen; aber ich glaube, daß eine so ungewöhnliche Freude wie die, den über alles geliebten Mann zu heirathen, größer ist als der Kummer, ihn durch den Tod zu verlieren, was doch der gewöhnliche Lauf der Dinge ist.« »Ja«, sagte Guebron, »ein natürlicher Tod wäre das; aber dieser hier war zu grausam; ich wundere mich, daß er wagte, eine solche Grausamkeit auszuüben, da er doch nicht ihr Vater oder Gatte, sondern nur ihr Bruder war, und da sie in dem Alter war, wo das Gesetz den Mädchen erlaubt, sich nach ihrem Gefallen zu verheirathen.« »Ich finde das nicht so sonderbar«, meinte Hircan, »denn er tödtete nicht seine Schwester, welche er so sehr liebte und über die er keine Macht hatte, sondern er strafte diesen Edelmann, welchen er wie einen Sohn gehalten und wie einen Bruder geliebt hatte, und welcher, nachdem er in seinen Diensten Reichthum und Ehren erlangt hatte, sich noch die Schwester erheirathete, wozu er kein Recht hatte.« »Übrigens«, sagte Nomerfide, »ist es etwas sehr Ungewöhnliches, daß eine Frau aus so großem Haufe einen dienenden Ritter heirathet. Wenn sein Tod seltsam war, so war auch die vorhergehende Freude neu und um so größer, als sie zum Gegner die Meinung aller braven Männer, und zum Freunde nur die Zufriedenheit eines lieberfüllten Herzens nebst der Seelenruhe hatte, denn Gott ist über solches nie zornig. Was seinen Tod anbetrifft, den Ihr grausam nennt, so meine ich, daß, wenn es noth thut, der kürzeste der beste ist, denn einmal muß es doch gestorben sein. Ich schätze die glücklich, welche sich nicht lange in den Vorstädten des Todes aufhalten, sondern aus [287] der Seligkeit, die wir hier auf Erden finden, eilig in die wahre einziehen, welche ewig ist.« »Was nennt Ihr Vorstädte des Todes?« fragte Simontault. »Diejenigen, welche viel Trübsal erleiden mußten, die, welche lange krank waren und durch außerordentliche körperliche und geistige Schmerzen dahin gelangt sind, den Tod zu verachten und ihn herbeizuwünschen, von diesen sage ich, daß sie die Vorstädte des Todes passiren müssen; die werden Euch auch die Gasthöfe darin nennen können, in denen sie mehr gejammert als geruht haben. Diese Dame mußte ihren Gatten durch den Tod verlieren, und durch den Zorn ihres Bruders wurde es ihr erspart, ihn lange krank und leidend zu sehen, und da sie alle Gedanken, welche sie früher ihm gewidmet hatte, jetzt dem Erlöser gab, konnte sie sich sehr glücklich schätzen.« »Und legt Ihr gar keinen Werth«, fragte Longarine, »auf die Schande und die Gefangenschaft, die sie ertragen mußte?« »Ich finde«, antwortete Nomerfide, »daß die Person, welche eine vollkommene Liebe mit Gottes Geboten vereint, keine Schande und Unehre kennt, außer, wenn sie die Vollkommenheit ihrer Liebe verringert oder aufgiebt; denn der Ruhm, wahr zu lieben, kennt keine Schande. Was die Gefangenschaft ihres Körpers anbetrifft, so glaube ich, daß sie dieselbe in der Freiheit ihres Herzens, welches an Gott und ihrem Gatten hing, nicht fühlte, sondern ihre Einsamkeit als Freiheit empfand; denn wenn man nicht sehen kann, was man liebt, so giebt es keine größere Freude, als beständig daran zu denken, und ein Gefängniß ist niemals eng, so lange man nach Belieben darin denken kann.« »Nichts wahrer, als was Nomerfide sagt!« rief Simontault, »aber der, welcher an dieser Trennung durch seine Wuth schuld war, mußte sich für sehr unglücklich halten, denn er beleidigte damit Gott, Ehre und Liebe.« »Wahrlich«, sprach Guebron, »ich bin erstaunt über die vielen Arten von Frauenliebe, und ich glaube, daß die, welche mehr lieben, auch tugendhafter sind, und daß die, welche weniger lieben, sich nur tugendhaft stellen, ohne es zu sein.« »Es ist wahr«, sprach Parlamente, »daß ein gegen Gott und Menschen rechtschaffenes Herz stärker liebt, als ein lasterhaftes, und nicht zu fürchten braucht, daß man bis in seine tiefsten Gründe schaut.« »Ich habe immer gehört«, sagte Simontault, »daß man die Männer nicht tadeln soll, [288] wenn sie den Frauen nachstellen; denn Gott hat in das Herz des Mannes Liebe und Kühnheit gelegt, um zu fordern, und in das der Frau Furcht und Keuschheit, um abzuweisen.« »Wenn der Mann dafür, daß er die ihm gegebenen Kräfte gebraucht, gestraft wird, so thut man ihm Unrecht«, sagte Longarine, »aber warum hat der Edelmann auch den Ritter so oft seiner Schwester gelobt! Ich finde, daß es entweder eine Narrheit oder eine Grausamkeit ist, wenn der, welcher einen Springbrunnen besitzt, die Güte seines Wassers Einem lobt, der vor Durst umkommt, indem er es vor sich sieht, und ihn dann tödtet, wenn er davon trinken will.« »Jawohl«, sagte Parlamente, »Feuer entzündet Feuer; er konnte seine süßen Reden mit seinen Degenstichen nicht wieder auslöschen.«
»Ich bin erstaunt«, sagte Saffredant, »warum man es schlecht findet, wenn ein so einfacher Edelmann, der keine anderen Mittel als seine Dienste und nicht einmal List dazu benutzte, eine Dame aus so großem Hause heirathet; Ihr wißt ja, daß die Gelehrten meinen, daß der geringste Mann der Welt immer noch mehr werth ist, als die vornehmste und tugendreichste Frau.« »Daher«, sprach Dagoucin, »erwägt man, um den öffentlichen Frieden zu erhalten, immer nur den Grad der Vornehmheit der Häuser, das Alter der Personen und die Gesetze, ohne der Liebe und Tugenden des Mannes zu achten, damit die Monarchie nicht untergraben wird. Und aus diesen Ursachen rührt es her, daß so viele Heirathen, unter solchen Erwägungen und nach dem Gefallen der Leute und der Verwandten geschlossen, so häufig die größten Verschiedenheiten in Herz, Gemüth und Anlagen zeigen, so daß sie statt der Wege, die zum Heil führen, die Vorstädte der Hölle betteten.« »Dennoch aber«, sagte Guebron, »giebt es genug, die sich aus Liebe geheirathet haben; ihre Herzen, Gemüther und Anlagen waren gleichartig, nicht so aber die Häuser und Verwandtschaften, und diese haben ihre Heirath ebenfalls bereut, denn solche großen unbedachten Freundschaften wenden sich oftmals in Eifersucht und Wuth um.« »Mir scheint«, sagte Parlamente, »weder das Eine noch das Andere lobenswerth, denn die Menschen sollen sich dem Willen Gottes unterwerfen und keinen Werth auf Ruhm, Geiz oder Wollust legen, sondern in tugendhafter Liebe und mit Einwilligung der Familie, im Stand der Ehe leben, wie er [289] Gott und die Natur uns vorschreiben. Wenn es auch kein Leben ohne Trübsal giebt, so habe ich doch solche Leute ohne Reue leben sehen; übrigens ist keiner aus dieser Gesellschaft so unglücklich, daß sich nicht die Verheiratheten unter uns zu jenen Paaren rechnen könnten.« Darauf schwuren Hircan. Guebron, Simontault und Saffredant alle, daß sie sich nur unter diesen Verhältnissen verheirathet und es niemals bereut hätten; ob das nun wahr oder nicht, diejenigen, welche es betraf, freuten sich so sehr darüber, daß sie nichts Angenehmeres mehr hören konnten, und erhoben sich, um Gott zu loben und zu danken, da es zugleich die Messezeit im Kloster war. Nach dem Gottesdienst gingen sie zum Abendessen und unterhielten sich dabei über ihre Ehen und die Schicksale, welche sie während ihrer Liebeszeit erlebt hatten, was den ganzen Abend über andauerte. Da aber Einer immer den Anderen unterbrach, konnte man diese Erzählungen nicht sammeln, obgleich sie ebenso unterhaltend waren wie die, welche sie sich auf der Wiese erzählten. Sie belustigten sich so gut dabei, daß die Schlafenszeit eher herankam, als sie dachten. Frau Oisille, welche merkte, wie spät es war, ging zuerst und gab damit das Zeichen zum Aufbruch; jeder ging sehr zufrieden fort, selbst die Verheiratheten, welche nicht schliefen, sondern einen Theil der Nacht dazu benützten, von ihren vergangenen Brautzeiten zu reden und sich ihrer gegenwärtigen Liebe zu erfreuen. So verging die Nacht sanft bis zum Morgen.