Der Rufer

Die Blumen im Alleghanytal,
sie duften so süß wie nie zumal,
vom fächelnden Odem der Nacht gewiegt.
Die Welt in den Armen des Schlummers liegt;
nur leise flüstern wie Liebesgruß
die träumenden Wasser im Fluß – im Fluß –
und Maienzauber webt weit und breit
und lächelnde, blühende Einsamkeit.
Da horch! – durch die schweigende Nacht ertönt
ein dumpfer Laut – und es hallt und dröhnt
wie Hufgeklapper und Roßgeschnauf . . .
Du schlummernde Erde, wach auf, wach auf!
Ein Reiter jagt aus der Ferne her –
und die Erde erwacht und atmet schwer, –
es löst sich die Knospe in jäher Hast
aus dem Blatt, das schützend sie umgefaßt,
und sie schaut empor – und das Rot wird fahl
der Rose im Alleghanytal.
Dumpf murrt der Fluß, und er raunt und klagt . . .
Zur Stadt hinunter der Reiter jagt,
die Funken sprühen, der Staub wallt auf, –
es blinken die Lichter von Johnstown auf.
Viel Kerzen schimmern im hohen Saal,
es greift der Zecher zum Goldpokal.
Aus flackernden Blicken die Freude glüht,
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von trunkenen Lippen die Rede sprüht . . .
Und auf der Schwelle zerlumpt, verstaubt,
mit wunden Füßen, mit wehem Haupt
ein Ausgestoßener Nachtruh hält, –
die Lippe lechzt, und die Wimper fällt . . .
Da hallt das Pflaster von Rosseshuf,
da schallt von der Straße der Warnungsruf;
er klingt zu den jubelnden Zechern empor,
er dringt an des schlafenden Bettlers Ohr:
»Hinauf, daß ihr Hügel und Felsen erreicht,
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
»Das Wasser? – Das Wasser! Du faselst, Tor!
Der Sekt soll steigen! Der Schaum empor!«
Und das Glas erklirrt, und der Pfropfen knallt –
ein fernes Brausen dumpf widerhallt.
»Das Wasser – das Wasser?« – In Traumesbann
nachlallt es der Arme – da rollt es heran
wie wogende Berge, das Flutengebraus –
und es wanken die Mauern, es stürzt das Haus.
Ein fahler Streifen im Osten tagt:
zur Stadt hinunter der Reiter jagt,
als säß ihm im Nacken der bleiche Tod . . .
Aufblitzen die Dächer im Morgenrot.
Durch die Lüfte erklingt es wie Lerchengesang.
Die Burschen ziehen den Rain entlang,
das Messer im Gurt und die Rose am Hut,
im Auge den blitzenden Jugendmut –
Und am schimmernden Tamarindenzweig,
da lehnt eine Dirne, vor Sehnsucht bleich;
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feuchtglänzenden Blickes späht sie hinaus:
»Er hat es versprochen und blieb mir aus?! –«
Da kommt's durch die Felder herübergebraust –
nur locker umschließt noch den Zügel die Faust,
wild flattert das Haar, jede Ader klopft –
dem Roß der Schaum von den Stangen tropft.
Und da er vorbeischießt im rasenden Lauf,
da gellt seine Stimme: »Hinauf! Hinauf!
Auf daß ihr die rettenden Hügel erreicht, –
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
Ein spöttisches Lachen vernimmt er noch:
»Das Wasser, Du Narr? – Ei, so zeig' es uns doch!«
Doch das Mädchen schaut auf mit erglühendem Blick:
»Das Wasser?! – Er kommt nicht! O, gnädig Geschick,
O rette ihn – rette –« Noch betet ihr Mund,
da zieht sie die sprudelnde Flut auf den Grund, –
da löschen die Wogen mit dumpfem Gebraus
die Flammen der Jugend, der Sehnsucht aus.
Der Tag bricht an, und das Wasser schäumt –
»Nun keine Sekunde, mein Roß, gesäumt!
Schon wirbeln die Fluten im dichten Tann,
dort atmen noch Menschen – bergan, bergan!«
Zwei Buhlen ruhen am Felsenhang –
die Nacht war schwül und die Nacht war lang
voll Liebeszauber, voll Maienlust . . .
sein Haupt sank müde auf ihre Brust.
Im Walde noch schluchzt die Nachtigall –
da klingt es von ferne, ein dumpfer Hall,
Und er naht im schimmernden Morgenlicht,
der Rufer, der Retter – sie hören's nicht.
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Sein Blick starrt gläsern, sein Haar ist ergraut;
doch wie er die schlummernden Liebsten erschaut,
da hemmt er noch einmal des Rosses Lauf,
und es schrillt eine Stimme! »Wacht auf, wacht auf!
Auf daß ihr die rettenden Hügel erreicht, –
das Wasser, das Wasser der Sündflut steigt!«
Das Weib schrickt auf aus des Mannes Arm,
doch er zieht sie nieder: »Sei ohne Harm,
mein Lieb, – der Himmel ist klar und blau,
und die Rosen blitzen im Morgentau,
die Rosen im Alleghanytal –«
Und er fährt in die Höhe, das Antlitz fahl,
das Haar gesträubt – und er lauscht – und lauscht: –
um die schützenden Felsen kommt es gerauscht
wie Sündflutwogen, wie Todesgraus –
und löscht die glühendste Liebe aus.
Und weiter, weiter in jäher Hast, –
aufstöhnt das Roß – doch er gibt nicht Rast.
Die Dörfer, die Städte versinken im Schwall,
schon wogen die Fluten von Wall zu Wall,
nun aufwärts, aufwärts den engen Pfad!
Da winkt von des Berges steilstem Grat,
die eigene Rettung – hinauf, Gesell,
die Felsen stehen, dein Roß ist schnell!
Und das Roß im Sterben zusammenbricht, –
zu Fuß denn weiter – er rastet nicht.
Wo eng an die schützenden Tannen geschmiegt
ein kleines verstecktes Häuschen liegt,
dort schlummern noch Menschen! – Der kalte Schweiß
perlt ihm von der Stirn, die Brust fliegt heiß,
und er schleppt sich bis vor des Hüttleins Tür,
– ein weinender Knabe tritt herfür.
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»Und bringst Du nicht heim mein Mütterlein?
Sie ging zur Stadt, und ich blieb allein –
sie ging zur Stadt, und sie weilt so lang,
Du fremder Mann, mir ist so bang!«–
»Die Mutter, mein Knabe«, – sein Blick starrt hohl, –
»die Mutter, die Mutter; ich sah sie wohl –
von jenem Berge dort winkt sie Dir,
sie ruft mein Knabe – hinauf zu ihr!«
Da lächelt das Kind und eilt hinan;
an der Tür noch lehnt der sterbende Mann,
noch einmal schlägt er die Augen auf:
»Mein wackerer Knabe, hinauf, hinauf!
Ein Schritt noch – ein Schritt – und das Ziel ist erreicht;
so hoch keine Woge der Sündflut steigt!
Gott schütze dich droben im sonnigen Licht,
gerettet, gerettet!« – Sein Auge bricht,
sein Haupt sinkt nieder zum feuchten Grund,
die Flut küßt schweigend den starren Mund.
Das blühende Alleghanytal
durchtobt der brausende Wogenschwall,
doch über den wirbelnden Wassern kreist
versöhnend der ewigen Liebe Geist!
[112]

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