III.
Sehr geehrter Herr Redakteur!
Dieser Brief soll ein Neujahrsbrief sein, denn sobald Weihnacht vorüber ist, gehen wir dem neuen Jahre entgegen, und zwar dem bürgerlichen Neujahr – – – auch in der Kunst!
Ich sagte in meiner vorigen Zuschrift, daß nur derjenige Künstler in die Tiefe des Weihnachtsgedankens eingedrungen sei, der in sich seiner Seele Himmelfahrt erlebte. Er kann aus diesem Himmel sodann getrost, ohne befürchten zu müssen, ihn zu verlieren, von Zeit zu Zeit zur Erde niedersteigen, um sich an dem großen Werke zu beteiligen, welches durch die Engelsbotschaft »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden!« sowohl verkündet, als auch begonnen worden ist. Das herrliche Werk des neuen, großen, bürgerlichen Jahres! Des ewig beginnenden und niemals endenden Jahres, dessen praktische Aufgabe es ist, die innere Erlösung nach außen wirken zu lassen.
So tritt die Kunst, nämlich die wahre, die hohe, die »himmlische« Kunst, aus dem Heiligtume des inneren Menschen in die alltägliche, äußere Welt hinaus, um Beide als fest zusammengehörig, als harmonische Einheit darzustellen, Gott, dem Herrn, zur Ehre und den Menschen zum wachsenden Frieden. Denn es muß festgehalten werden, daß die Kunst, gleich der wahren Religion und der wahren Wissenschaft, keine andere Aufgabe hat, als diese eine, doppelte: Gott zu dienen und die Dissonanzen des Erdenlebens in Wohlklang aufzulösen. Einen Gott hat die Religion; einen Gott hat die Wissenschaft; einen Gott hat jeder Mensch, mag er ihn nennen, wie er will, und alle diese Namen bedeuten im Grunde genommen nur den Einen, den Einzigen, den Ewigen. Diesen Haupt- und Grundgedanken aller menschlichen Entwicklung hat die Kunst, was sie auch schaffe, nach außen darzustellen, und indem sie das tut, führt sie durch die Erkenntnis des göttlich Einen zum Frieden zwischen uns Allen. Als gläubiger Christ drücke ich das durch die Worte aus: Für die Kunst geht das bürgerliche Jahr mit dem kirchlichen Hand in Hand. Andersdenkende mögen das anders bezeichnen, aber bei aller Verschiedenheit der Ausdrucksweise wird der Sinn immer derselbe sein, daß die Befreiung des innern Menschen nach der sozialen Erlösung des ganzen Geschlechtes strebt.
Kein Neujahr ohne ein Sylvester, kein klares Vorwärtsschauen ohne die vorangegangene Abrechnung mit dem Rückwärtsliegenden. Wir haben, indem wir Weihnacht feierten, diesen Abschluß hinter uns gelegt und treten durch das weit geöffnete Tor des ersten Mondes, um ihn und die Kunst zu fragen, was er von ihr verlangt und was sie ihm zu geben vermag. Die[9] Antwort lautet, offen gestanden, nicht sehr befriedigend, aber, Gott sei Dank, dafür doch hoffnungsreich. »Zu Gottes Ehre« wird wenig genug gefordert und auch nicht übermäßig viel geleistet, nämlich für den Gott, den ich als Christ mir denke. Und »um den Frieden« steht es ebenso. Man ist Künstler weniger zu Gottes als vielmehr zur eigenen Ehre. Es gibt heutigen Tages auch in der Kunst so viele »andere Götter«, daß jener Einzige und Wahre, Wirkliche hinter der Menge der vorgeschobenen Namen fast ganz verschwindet. Und man hat mit dem Kampf, mit dem Streit so viel zu tun, daß man gar nicht dazu kommt, an den Frieden zu denken. Die gegenwärtige Kunst verwendet den besten Teil ihrer Kraft auf die Darstellung »interessanter« Konflikte; das ist aufregend, das ist aktuell, das ist lohnend, und vor allen Dingen, das ist leicht. An die Beantwortung dieser Lebens-oder Menschheitsfragen aber wagen sich nur wenige, denn sie ist schwer und fordert Selbstverleugnung. Wohin wir schauen und hören, erklingt der unbefriedigende Nonakkord in allen seinen Umkehrungen; wer aber hat die richtige Erkenntnis und den Mut, zur festen Tonica hinüber zu leiten, die uns den Frieden, die Ruhe und das Vertrauen bringt, zum Komponisten der großen göttlichen Symphonie?
Wer? – – – Wer? Und immer nur: Wer? Es liegt in dieser nie sterbenden Frage ein sich immer neu erzeugendes Verlangen nach führenden Persönlichkeiten, nach Uebermenschen, nach Propheten, nach – sagen wir es deutlicher – nach Heilanden, nach Erlösern. Die Schar dieser Wartenden gleicht dem Volke Israel, welches sich noch heut nach dem verheißenen Messias sehnt, obgleich er längst schon dagewesen ist. Und er ist nicht fortgegangen; er ist geblieben. Er wohnt in unserem Herzen; er waltet in unserm Innern; er wirkt aus diesem Innern heraus nach außen. Seit wir Weihnacht in uns feierten, brauchen wir nicht mehr zu fragen, wer, wer und wer? Der Erlöser ist geboren; laßt ihn nur wachsen, walten und wirken! Für die Forschenden durch die Wissenschaft, für die Glaubenden durch die Religion, für die Schauenden durch die Kunst! Wer ernstlich sucht und forscht, der wird finden. Wer wahrhauft glaubt, wird schauen. So sind also beide, die Wissenschaft und die Religion, verbunden durch die Kunst, in der sie Alles, was sie finden und was sie sehen, der Menschheit offenbaren. Und diese Offenbarung ist längst schon in die Wege geleitet. Es ist falsch, auf einen neuen Messias, auf ein neues, vollständig anderes Kunstideal zu warten. Denn das Alte bleibt, nur wird es neu. Es entwickelt sich, in uns und in euch, in mir und in dir, in Allen und in Jedem, der eine Seele und eine Spur von Geist besitzt. Keiner von allen den großen Künstlern, auf welche die Menschheit stolz ist, und zwar mit Recht, ist ein Heiland gewesen, und keiner von allen, die noch kommen werden, wird ein Heiland sein. Sie sind die Spitzen der Berge, in denen die Masse des irdischen Geistes empor zum Himmel ragt, doch der diese Geister beseelt, der Heiland, der Erlöser, der lebt in jedem Einzelnen von uns und treibt ihn vorwärts, zur Entwicklung. Darum lege Keiner die Hände in den Schoß, um sich auf den kommenden Messias zu verlassen, sondern ein Jeder wisse, daß er ein Athemzug dieses Kommenden ist, dem Körper ebenso wichtig wie jeder andere auch.
Das sei der Hauptgedanke, den uns der erste Tag des neuen Jahres bringt: Das Hoffen auf den Heiland sei vorüber. Er ist gekommen. Er wohnt in uns und wirkt in uns, um durch unsere Kraft und durch unsere Arbeit auch an Andern das zu werden, was er uns geworden ist, nämlich der Erlöser. Ein jeder Mensch, besonders aber ein jeder Künstler, hat Heilandsarbeit zu verrichten. Das haben zwar Viele erkannt, doch umso weniger waren, die es befolgten. In neuerer Zeit aber beginnt es sich in der Menschheitsseele zu regen. Die Gebiete der Kunst bevölkern sich. Zwar nicht alle, die da kommen, sind wirkliche Künstler zu nennen, aber daß sie überhaupt kommen, ist für uns ein erfreuliches Zeichen. Man hört die Rufe: Die Kunst für die Schule! Die Kunst für das Volk! Die Kunst für Jedermann! Das ist zwar allzu stürmisch, doch man lasse sie gewähren. Der Sturm mildert sich ganz von selbst zum ruhig belebenden Hauch. Weihnachtsstimmung und Weihnachtslicht will den Januar des Außenlebens beseligen und erleuchten. Die Erlösungssehnsucht geht durchs weite Volk. Indem es zu erkennen beginnt, was die Kunst ihm werden soll und werden kann, beginnt die Kunst sofort auch schon, es ihm zu werden. Und das, das ist der Grund für mich, wie ich oben sagte, zwar nicht befriedigt, aber dennoch hoffnungsreich zu sein.
Die Aufgabe des neuen Jahres ist zunächst, das erwachende Streben in die richtigen Wege zu leiten. Es ist auch hier, [10] und vor allen Dingen hier, auf die Doppelaufgabe der Kunst zu verweisen: Gott zur Ehre und dem Menschen zum Frieden, zum Heile: Wer könnte es wohl auf sein Gewissen nehmen, das jugendlich heilige Erwachen der Gegenwart für jene »anderen Götter« anszubeuten, die doch nur Götzen sind, sie mögen heißen, wie sie wollen! Dieses Erwachen soll und muß vielmehr zum frommen Händefalten führen, ganz unwillkürlich und naturgemäß, wie in der seligen Kinderzeit, in der sich des Morgens das Auge nur öffnet, indem der Mund mit Gott dem Vater spricht: Für die Seele des Volkes und für die Seele des Kindes sei das Kunstwerk rein, erhebend und heilig wie ein Gebet! Diese Heiligkeit hat sich nicht nur in der Ausführung, sondern vor allen Dingen in der Wahl des Gegenstandes auszusprechen. Unter »heilig« ist aber hier in diesem Falle keineswegs nur »fromm« gemeint, sondern alles, was die Seele erhebt und nicht nach unten zieht. Und heilig sollte das Kunstwerk nicht nur sein, sondern auch bleiben, auch für das Alter, für für die ganze Lebenszeit! Es ist richtig, daß es eine »Kunst des Häßlichen« und sogar eine »Kunst des Bösen« gibt, aber daß die Kunst das Häßliche will, ist absolut unmöglich!
Zwar hat es gerade in der Gegenwart den Anschein, als ob in gewissen Kreisen das Unschöne, das Unlautere, das Perverse bevorzugt werde, und da sei dann schleunigst konstatiert, daß die Ursachen und die Zwecke dieses allerdings vorhandenen Zuges im Künstler selbst liegen, nicht aber in der Kunst. Die wahre Kunst ist stets gesund und keusch, niemals gebrechlich oder gar pervers! Auch steigt sie weder zu pathologischen Untersuchungen noch zu geschäftlichen Spekulationen herab. Was in dieser und ähnlicher Beziehung unter ihrem Namen geschieht, das ist auf die Rechnung jener Afterkunst zu setzen, der sie ebenso fern steht, wie eine wirkliche Königin der Beherrscherin eines Tingeltangels. So oft ich von Kunst spreche, ist sie, die Hohe, die Reine, die unerreicht Edle gemeint, nicht aber jene abstoßende, lüsterne Dirne, die es zuweilen fertig bringt, sogar an wirklichen Kunststätten Eingang zu finden. Gibt sie, die Hohe, doch selbst ihren Lieblingen nur höchst selten die Erlaubnis, nur rein Irdisches auch nur rein irdisch darzustellen, ohne es in Schönheit einzutauchen und dadurch wenigstens beachtenswert zu machen! Denn wo das geschieht, da entstehen Kontraste, die nicht aufzulösen sind, und Mißstimmungen, die nur zum Kampfe, nicht aber zum Frieden führen. Die Kunst aber, die ich meine und an deren Macht ich glaube, wirft keine Frage auf, die sie nicht [11] beantworten kann, und wenn sie uns zum Kampf die Lende gürtet, steckt sie uns keine hölzerne, sondern den echten, scharfen Stahl des Sieges in die Scheide. Sie scheut den Zwiespalt nicht; sie fordert ihn sogar, weil er es ist, der jede Kraft bewegt und darum Leben und Gesundheit spendet, doch führt sie ihn, mag es im kleinsten oder im erhabensten ihrer Werke sein, zur Auflösung, zur Versöhnung, zum Wohlgefallen und zum – – – Frieden.
Es scheint zwar schwer zu sein, dieses unbedingte und unwiderstehliche Streben der wahren Kunst nach Konsonierung aller vorhandenen Dissonanzen nachzuweisen. Selbst Künstler allerersten Ranges haben sich hierzu im Vorurteil befunden und ihre Größe gerade entgegengesetzt in der Darstellung des hilflos schreienden Unterganges ihrer Helden gesucht. Wir werden aber im weiteren Verlaufe unserer Briefe erfahren, daß dieser Nachweis leichter ist, als es scheint. Freilich dürfen wir bei diesen Betrachtungen über die Kunst nicht an der Oberfläche und in unserer persönlichen Atmosphäre bleiben, sondern wir müssen tiefer steigen und wir müssen weiter schauen, als man gewöhnlich tut. Dann werden sich uns Schätze zeigen und Ausblicke öffnen, die uns, und zwar nicht nur in künstlerischer Beziehung, bereichern, befriedigen und beglücken. Gott segne das neue Jahr!
Radebeul-Dresden, den 7. Dez. 1906.
Karl May.
[12]