[80] Sommermittagsspuk

Es ereignete sich, so wurde mir erzählt, in einem fremden, fernen Lande, in einer Hauptstadt: Ich war dort unserer Botschaft als Legationssekretär beigegeben. Wie es meine amtliche Stellung mit sich brachte, verkehrte ich fast ausschließlich in der Gesellschaft. Die »Gesellschaft« ist in allen Ländern sich gleich. Sie besteht, selbstverständlich mit mancher Ausnahme, aus herzensrohen, kühldenkenden Menschen, deren Gesprächsstoffe, deren leeres Leben zu bekannt sind, als daß ich es weiter zu erörtern brauche. Doch auch brauche ich anderseits nicht hinzuzufügen, daß ich in der »Gesellschaft«, wie in jedem Stande auf Erden, Kluge und Dumme, vornehm und niedrig Denkende gefunden habe. Wie dem sei: immer fast habe ich bei diesen in ihrer Lebensstellung bevorzugten, vielfach reichen oder wohlhabenden Menschen, wie ich schon erwähnte, Herzensrohheit bemerkt, jenes sich, wenn auch oft klug verdeckte, stark erhaben Dünken über ihre nicht auf gleicher Rangstufe oder in gleichen Vermögensumständen stehenden Mitbrüder und Mitschwestern.

Es war an einem glühend heißen Sommertage. Bedauerlicherweise kann ich nur den Vergleich aufstellen: als wenn wir ihn auf Lichtbildern tropischer Städte sehen, mit [81] jenem grellsten Sonnenlichte, mit den zahlreichen, alle Fenster beschattenden Marquisen. Trotz der ungemeinen Hitze zeigte sich das lebhafteste Leben in den Straßen. Irgend Einer, irgend etwas wurde erwartet: Eine Prozession, ein Schnelläufer, siegreich zurückkehrende Truppen, ein deutscher Professor mit seinen Werken unter'm Arm, ein gefangener Aschanti-Häuptling, ein Verbrecher auf seinem letzten Gange, ein ausländischer König, eine deutsche Schützengilde mit ihren Fahnen und Saufhörnern und Biercantaten. Was weiß ich. Genug, Alles war Erwartung.


Ich stand im Fenster einer, wenn ich es in unsere Sprache übersetzen will, Konditorei. Zuckerbäckerei klänge viel besser; aber der Ausdruck paßt hier nicht. Die Konditorei war um die Mittagszeit der unbeabsichtigte Sammelplatz der »Gesellschaft«. Die Damen aßen Eis, die Herren Pasteten. Ich unterhielt mich mit einer sehr lustigen, bildhübschen spanischen Herzogin. Sie erzählte mir unter klingendem Gelächter, daß sie einmal mit Verwandten von Hamburg nach Kiel in einem Wagen gereist wäre, um die Buchenwälder Ostholsteins, von denen sie viel Rühmens gehört, zu sehen. Unterwegs wäre, genau wie das in Romanen beliebt wird, ein Rad gebrochen. Ein Gutsbesitzer habe sie gastfreundlich aufgenommen. Als sie mit diesem im Laufe des Gespräches auch die spanische Litteratur berührt, ihm von Calderon gesprochen habe, hätte sie vom Gutsbesitzer nur die Worte Wauwau vernommen, überhaupt immer nur Wauwau, selbst dann, als sie auf die deutsche Schönwissenschaft gekommen sei und ihm besonders seinen großen Landsmann Theodor Storm erwähnt habe. Vollkommen sei ihr schließlich dieser Gutsbesitzer wie der dumme Galomir in Grillparzers »Weh' dem, der lügt« vorgekommen. Neulich habe sie sich dieses Gutsbesitzers erinnern müssen, als sie in der Zeitung gelesen: »Berlin. [82] Auf der Mastviehausstellung hat die Provinz Schleswig-Holstein einen großen Erfolg erzielt. Es fielen ihr in den Abteilungen für Rindvieh und Schweine zwei Ehrenpreise, fünf erste Preise und sechs zweite Preise zu.« Ja, Wauwauwau ...

Auf der Straße stand alles dichtgedrängt wie eine Mauer. Einige versuchten nach vorne zu drängen, vergebens. Auf dem freigelassenen Hauptwege ging's seinen Gang wie immer. Die Schloßwache mit einem allerliebsten dunkelgebräunten Lieutenant, der, zu uns hinaufblickend, den Degen senkte, stampfte mit schallendem Spiele vorüber. Voran der sich bei allen Weibern der Welt für unüberwindlich haltende Tambour-Major. Die linke Hand fest in die Seite stemmend, warf er mit der rechten den blitzenden Stock wie ein Gaukler in die Luft. Schusterjungen, wie überall, begleiteten im Taktschritte die Musik.

Droschken fuhren langsam durch. Die Kutscher wandten sich oft zu den darinsitzenden Fremden, die unfehlbar ein rotes Buch in Händen und ein Opernglas umgehangen hatten. Sie machten da und dort mit der Peitsche auf ein Denkmal, auf einen hervorragenden Bau aufmerksam.

Einmal kam ein schöngezeichneter, schlanker Hühnerhund, der seinen Herrn verloren hatte, angelaufen. Er blieb vor uns stehen, bog den Kopf in den Nacken und heulte. Es that mir sehr wohl, daß unten das »Volk« nicht darüber lachte. Ich konnte es herausfühlen, daß es Mitleid hatte mit dem bedauernswerten Tiere.

Am Ende der breiten, durch Plätze unterbrochenen Zeile sah ich, gleichsam wie einen flüssigen Bogen, den gewaltigen Strahl der Pflasterbesprengung einen Abschluß machen.

Plötzlich hatte ich durch einen Umstand einen merkwürdigen Gedankengang. Dieser Gedankengang währte nur eine Sekunde:

[83] Unten zog ein etwa sechzehnjähriges Mädchen einen Karren vorüber. Sie hatte den Quergriff der Deichsel mit den Händen gefaßt. Sie bog sich nach vorne. Die Arme strafften sich. Durch die zurückgedrängten Schultern kam die herbe Fülle ihrer Frühlingsbrust zum Ausdruck. Um den gelbbraunen Hals lag lose ein feuerrotes Tuch. Unter dem schwarzen Haare, das ihr etwas zerzaust in die Stirne fiel, sahen feurige, wilde, dunkle Augen begehrlich zu uns hinauf. Und da kam mir jener Gedankengang, der blitzschnell wieder verflog:


Ihr alle, die ihr jetzt im Laden um mich seid, was seid ihr doch gegen jenes kräftige, junge Ding unten. Welches dumme, alberne Gewäsch ist euer Gespräch. Wie herzlos sind eure Ansichten über alle die, von denen ihr der sichersten Überzeugung seid, daß sie tief unter euch stehen. Was kennt ihr denn von der Schönheit! Was habt ihr denn für Freude an der Schönheit!


Ich rief, mich vergessend, wo ich mich befand; nein, ich will's sagen: mit vollstem, köstlichen Bewußtsein, der Karrenzieherin in ihrer Landessprache zu: »Halt, Mädchen.« Sofort ließ sie das Gefährt stehen. Ich merkte an ihrem Gesicht, daß sie sehr erschrocken gewesen sein mußte. Sie mochte wähnen, daß sie eine polizeiliche Vorschrift nicht inne gehalten habe. »Komm heraus«, rief ich ihr dann zu. Und sie kam; willig ließ die Menschenmauer, so gut es ging, sie durch. Nun stand sie unter uns. Sie hatte den kleinen Finger der Rechten in den Mund geschoben wie ein Kind. Alles um sie schwieg; alle sahen sie an; die Herren klemmten ihre Scherben ein; die Damen nahmen ihre langgestielten Gläser vor die Augen. Ich half dem Mädel sofort aus der Verlegenheit, indem ich freundlich mit ihr sprach. Ich sagte ihr, sie solle sich unter den Kuchen auswählen, was sie wolle. Und da ihr das schwer zu werden [84] schien, sagte ich, den Ton unerhörten Hochmutes annehmend, zu einer der Bedienenden, die spöttisch und erstaunt die Kleine und mich beobachteten; »Packen Sie das und das und das ein.« Ein teuflischer Hochmut faßte mich, ich hatte in dem Augenblick eine unsägliche, jubelnde Freude: Ich nahm das Geschöpfchen bei der Hand und führte sie einem Platze zu, wo ein mir widerwärtiger geckenhafter alter Freiherr saß. »Sie erlauben, Baron!« Und das Einglas fallen lassend, erhob sich dieser Herr, wie, um einer Königin zu weichen. Und das Mädchen setzte sich. Ich brachte ihr dann Gebäck und einen kühlen Trunk. Sie aß und trank, uns ab und zu scheu musternd. Noch immer schwieg Alles. Nur die leise Stimme einer uralten, aufgedonnerten Gräfin hörte ich: »C'est une extravagance; c'est intolérable, indigne, incroyable.« Ich wandte mich ihr ruhig zu. Sie erblich.


»So, Marianina, nun geh' wieder zu Deinem Wägelchen«, sagte ich liebevoll zu ihr. Dann wieder mich herrisch zu einer Kellnerin wendend: »Tragen Sie die Düten dem Mädchen in ihren Karren.« Sie gehorchte augenblicklich.


Nun waren wir wieder »unter uns«. Ich that, als wenn nichts geschehen sei; und die übrigen waren klug genug, mit keinem Worte, mit keiner Miene mich an meine »Extravagance« zu erinnern.


Da ertönte ein unermeßliches Gelächter von weitem her: Ah nun kommt das Erwartete ... Und immer mehr näherte sich dies Gelächter, immer lauter, brausender setzte es sich zu uns fort. Nun hörte ich Rufe: Evviva, evviva! Il poeta prussiano! Und da kam er an, der Unglückselige, der »teutsche Tichter«. Alle Köpfe beugten sich vor, alle Hälse streckten sich. Das Pflaster der Straße war nun ganz leer. Und da kam er langsam an, der deutsche Dichter! Sein Vaterland [85] hatte ihn, als den gänzlich Überflüssigen (»voll und ganz«, wie das infamste deutsche Zeitungsgeschmierwort meiner Zeit heißt) mit Fußtritten und unter Spott und wüstem Hohngelächter über die Alpen gesandt. »Wie bin ich satt von meinem Vaterlande«, hat Platen, der edle Dichtergraf, einst gesagt in ähnlicher Lage.

Ja, da kam er nun, und ging langsam, gesenkten Hauptes bei uns vorüber. Und in das stürmische Gelächter fiel auch ich ein.

Ein langer, dürrer Mensch war's. Seine zähe Natur hatte, unglaublich, die ihm von seinem Volke streng befohlene Hungerkur ausgehalten. Auf seinem Barett saß eine Gänsefeder. An seinem verschossenen Sammetwamms hing am Gürtel, wie ein Dolch, eine Tintenkugel. Seine Haare »wallten« (ohne dies Wort giebt es kein deutsches Gedicht) ihm strähnenartig um das magere Gesicht in den Nacken. Sein Volk hatte ihm beim Stoßen über die Alpen die Hände vorne gefesselt. Auf seinem Rücken hatte es ein Spottbild aufgeklebt: Auf einem grellgemalten Vollmond saß ein Vögelchen, das wahrscheinlich die berühmte deutsche Dichternachtigall vorstellen sollte.

Und Alles lachte, lachte, lachte, und ich lachte, unbändig roh, aber es war zu erschütternd komisch, mit. Und dann entschwand unsern Augen der langsam gehende, finster vor sich hinblickende »deutsche Dichter«. Er war heimatslos geworden.

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