An der Mittagstunde

Zwischen zwölf und ein Uhr stand die Schlacht. Auf einem Hügel, neben einem einsamen, brennenden Hause, aus dem die Bewohner geflohen, hielt der Oberbefehlshaber, die Hände kreuzweise übereinander auf dem Sattelknopf haltend, regungslos seit einer halben Stunde.

Der Stab stand gedeckt hinter dem Hause. Von allen Seiten, in rascher Aufeinanderfolge, kamen und ritten ab [147] auf triefenden Pferden Ajutanten, Ordonnanzoffiziere und Ordonnanzen, um zu melden. Den Letzteren war die Meldung schriftlich mit Blei gegeben. Der General schob die kleinen vierkantigen Zettel in die Satteltasche, ohne einen der hinter ihm haltenden Offiziere heranzuwinken. Noch immer hielt er regungslos; nur zuweilen den Krimstecher gebrauchend oder in die Karte blickend. Sein großer Dunkelbrauner kaute unaufhörlich den linken Trensenzügel, ab und zu mit dem Kopfe nickend. Eine Granate krepierte zwischen uns und riß einen Hauptmann vom Stabe in Stücke. Sein Pferd bäumte hoch auf, schlug mit den Vorderhufen in die Luft, und brach dann, gräßlich zerschmettert, zusammen. Wir waren alle unwillkürlich auf einen Augenblick auseinandergesprengt. Ein Offizier eilte zum General, um ihm den Tod des von ihm sehr hoch gehaltenen Hauptmanns zu melden. Der General blieb regungslos; nur klopfte er seinem, durch den furchtbaren Knall unruhig gewordenen Pferde den Hals, und ritt einmal eine liegende Acht.

Die Suite stand wieder auf demselben Fleck. Auf die entsetzlich verstümmelte Leiche breitete eine Stabsordonnanz ein vor dem brennenden Gebäude liegendes buntes Bettlaken. Um das Bettlaken herum waren hingeworfen eine Kaffemühle, ein Bauer mit einem Kanarienvogel, der piepte und lustig, selbst in der schiefen Lage, sein halb verstreutes Futter nahm. Vor dem Hause lagen ferner Bücher, Tassen, eine Frauenmütze, zerbrochene Vasen, Bilder, Kissen, eine Cigarrentasche mit einer Stickerei, ein Kamm, eine Zuckerdose und tausenderlei sonstige Hausgeräte und nützliche und nichtnützliche Gegenstände.

Verwundet war sonst keiner von uns. Die Granate mußte auf dem Sattelknopf des Pferdes des Hauptmanns zerplatzt sein. Ab und zu schwirrte eine verlorene Gewehrkugel mit pfeifendem Tone über unsere Köpfe. Eine schlug in den Gartenzaun ein. Klapp! klang es leicht. Wie ein Spechtschnabelhieb.

[148] Der General hielt regungslos. Sein ernstes, durchgeistigtes, feines Gesicht war blaß. Je mehr es in ihm arbeitete, je mehr beherrschte er sich äußerlich. Wir Offiziere blickten fortwährend durch unsere Gläser und tauschten Bemerkungen.

Verwundete hinkten bei uns vorüber oder wurden vorbeigetragen.

Der Tag war trüb und grau, doch die Übersicht nur zuweilen durch den sich schwer verziehenden Pulverdampf behindert. Wir konnten deutlich vor uns und rechts und links die gegenseitigen Schützenlinien und die Kolonnen, die, wenn sie ins Granatfeuer kamen, sich teilten, sehen.

Auf drei Infanterie-Bataillone westlich von uns richtete sich plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit. Sie zogen neben einander in einer engen Mulde, wie ratlos, hin und her, ohne sich entwickeln zu können. Wie uns schien, marschierten sie in aufgeschlossener Kolonne nach der Mitte; Kompagnie-Kolonnen zu formieren, hinderten die steilen Wände des Einschnitts. Ein Füllhorn von Granaten schüttete sich über sie aus. Auch der General bemerkte es. Er wandte den Kopf zu uns und rief meinen Namen. Ich war mit beinahe einem einzigen Sprunge von der Stelle an seiner Seite: »Excellenz?« »Sehen Sie die kleine Kuppe halbrechts vor uns?« Er deutete, den Krimstecher in der Hand behaltend, auf diese. »Es steht dort ein einzelner Baum; sehen Sie ihn?« »Zu Befehl, Excellenz.« Ich hatte zu thun, mein lebhaft drängendes Pferd zu beruhigen. »Reiten Sie zur 97. leichten Batterie; sie soll unverzüglich dort Stellung nehmen und feuern. Haben wir uns verstanden?« »Zu Befehl, Excellenz.« »Reiten Sie selbst mit der Batterie auf den Hügel und klären Sie dem Batterie-Chef die Situation auf.« »Zu Befehl, Excellenz.« ...und ich war schon unterwegs zu der nur wenige Minuten hinter uns haltenden, vom Oberbefehlshaber zu seiner speciellen Verfügung gestellten Batterie. Es war ein schauderhafter Weg. Gräben und Wälle mußten [149] übersprungen werden. Bald schwamm, bald kletterte mein kleiner Husarengaul, den ich für meinen alten Trakehner Hengst, dem denn doch endlich der Pust ausgegangen war, vertauscht hatte. Vorwärts, vorwärts! Was sind Gräben, noch so breite, was überhaupt Hindernisse im Gefecht. Endlich sah ich die Batterie. Ich winkte schon aus der Ferne mit dem Taschentuch. Der Batterie-Chef verstand es. Er gab Befehle; ich merkte es an der wimmelnden Bewegung, die an den Geschützen entstand. Dann raste er auf mich zu, den Trompeter an der Seite. Wir trafen uns; sein Gesicht glühte, als ich ihm den Befehl zum Vorrücken überbrachte. Der Trompeter war schon in Carriere zur Batterie unterwegs, um vom Hauptmann dem ältesten Offizier die Ordre zu übermitteln, die Batterie »Zu Einem« so rasch wie möglich vorzuführen. Der Hauptmann und ich setzten uns dann in Trab, doch so, daß wir mit der Batterie, die zahlreiche Terrainschwierigkeiten zu überwinden hatte, Fühlung behielten. Ich kannte den Weg aus den Frühstunden. Wir mußten durch eine enge, kurze, schluchtartige Vertiefung, die just so breit war, daß nur ein Geschütz dem andern folgen konnte. In Zügen hier zu fahren, verbot die Enge. Links dieser schmalen Einsenkung war, auch nachdem das felsige Terrain hinter uns lag, durch Sumpf und nasse Wiesen ein Vorgehen von Kavallerie und Artillerie unmöglich; rechts hätten wir große Umwege machen müssen und dadurch viel Zeit verloren. Die Bataillone, die Bataillone! lagen mir im Sinn; dutzendweise wurden dort die Leute gemäht. Hatte unsere Batterie erst Stellung genommen, dann mußte sich die französische Artillerie gegen diese wenden.

Der Hügel war lang genug, um weite Räume zwischen den einzelnen Geschützen zu erlauben. Die Verluste wurden geringer. Wo ist Schlucht, die Schlucht! um uns sah es wild und wüst aus. Aber vorwärts, vorwärts! Der Hauptmann und ich, nachdem der Batterie ein Zeichen gegeben war, zu folgen, jagten vor, um rasch durchzupreschen [150] und die günstigste Stellung für die Batterie auf dem Hügel vor deren Eintieffen auszusuchen.

Um Gott! rief der keineswegs zartbesaitete Hauptmann, als wir einbogen: Bei Gott! da durch zu kommen, ist ja unmöglich. Das liegt ja Alles voll von Verwundeten.

Ein grausenhafter Aublick bot sich uns: Auf einan der geschichtet lagen in der Schlucht Tote und Verwundete, wenn auch in geringer Zahl. Die Letzteren hatten unsere Batterie heranrasseln hören und waren mit größester Anstrengung an die Seiten gekrochen, um dem Rädertode zu entgehen. Es mußte hier vor wenigen Stunden ein verzweifelter Kampf stattgefunden haben.

Unmöglich! Hier war nicht durchzukommen. Aber die Bataillone, die Bataillone! Der Hauptmann und ich hielten einige Sekunden ratlos; die Batterie arbeitete mit keuchenden, dampfenden Pferden näher und näher heran.

Unmöglich! – Da raste auf nassem Pferde ein junger Generalstabsoffizier des Oberbefehlshabers auf uns zu. Um seine Stirn war ein weißes Tuch geknotet; auf den Haaren saß die Feldmütze irgend eines Musketiers. Er lenkte sein Pferd mit der Rechten; mit der linken Hand wischte er fort und fort das unter dem Tuche hervorquellende Blut aus den Augen. Er konnte kaum mehr sehen. Von Weitem schon schrie er mit ganz heiserer Stimme: »Die Batterie, die Batterie soll vor! Wo bleibt die Batterie? Excellenz ist ...« Ich schoß auf ihn zu, um ihn aufzufangen; er lag, fast ohnmächtig, auf der Mähne des nun nicht mehr von ihm geführten Pferdes; die Arme hingen schlaff um den Hals des Tiers. Ich hatte keine Zeit, Verwundeten zu helfen, und wär's mein Bruder gewesen. So rief ich einen im Graben sitzenden Leichtverwundeten, der da mit beschäftigt war, seine Hand zu verbinden, indem er das eine Ende des Tuches mit den Zähnen festhielt. Er legte mit mir den Hauptmann vom Generalstabe sanft nieder. Noch einmal sah ich in das blasse, blutüberströmte Gesicht; in halber Ohnmacht schon, [151] bebten noch die Lippen: Batbatbatbatbat ... Er wollte sagen: Batterie vor!.. O du treuer, o du lieber Mensch!

Kein Sekunde Zeit war zu verlieren. Ich flog zurück zum Hauptmann. Auch er war entschlossen nun. Also vorwärts!

Nicht umsehn! Nicht umsehn! schrie der Hauptmann. Wir zwei kletterten, so rasch es ging, voran. Nur einmal wandte ich den Kopf: – Bald hoch, in der Luft, bald niedrig kreisende, kreischende Räder, schräg und schief liegende Rohre und Achsen, sich unter dem Rade drehende Tote und Verwundete, der Kantschu in fortwährender Bewegung auf den Pferderücken, Wut, Verzweiflung, Fluchen, Singen, Schreien ...

Nun fuhr die Batterie auf dem Hügel auf, Haare, Gehirn, Blut, Eingeweide, Uniformstücke in den Speichen. In wundervoller Präcision fuhr sie auf. Abgeprotzt. Geladen. Richten. Und: »Erstes Geschütz – Feuer!« Der Qualm legte sich dicht vor die Laffeten, wir konnten die Wirkung nicht beobachten. Doch schon beim zweiten Schuß pfiff eine feindliche Granate über uns weg. Sie galt der Batterie. Die Bataillone waren degagiert. Ich ritt, mich vom Hauptmann verabschieden, zurück zum General, das Schreckensthal vermeidend. Als ich mich zurückgemeldet, sagte mir der Oberbefehlshaber ein gütiges Wort. Dann schloß ich mich wieder der Suite an.

Und regungslos hielt der General.

Hinter uns klang häufig das Kavallerie-Signal Trab. Wir konnten die Schwadronen nicht sehen. Aber es war mir, als hörte ich das Stapfen, Schnaufen, Klirren. Kommandorufe klangen an mein Ohr: Ha–hlt ... Ha–hlt ... und immer schwächer und schwächer werdend: Ha–hlt ... Ha–hlt. Alles das klang her, was die Bewegungen eines Reiterregiments so hoch poetisch macht; erst recht, wenn man »drin steckt.« Ich hörte das Alles deutlich, und doch war um uns ein einziger Donnerton. Dazwischen klangen schrill die Schüsse der Batterie, die ich eben herangeholt hatte.

[152] Sie stand nicht weit von uns. Auf vier Meilen im Umkreise plapperte das Gewehrfeuer; es brodelte täuschend wie die Blasen in einem riesigen kochenden Kessel.

Ledige Pferde mit schleifenden Zügeln, zuweilen mit den Sätteln unter dem Bauche, jagten um uns herum. Langsam trottete ein Maulesel heran und begann, vor dem General still stehend, auf der Erde nach Gras zu suchen. Auf seinem Rücken waren zwei Tragstühle befestigt. In jedem von ihnen saß ein gestorbener Franzose. Festgeschnallt, saßen sie Rücken an Rücken, doch so, daß die Gesichter (die Köpfe hingen hintenüber) sich ansahen. Die Oberlippen waren zurückgezogen. Sie schienen sich anzulachen.

Und regungslos hielt der General.

Da kam vom rechten Flügel her, wohin er sich zur genaueren Berichterstattung begeben hatte, der Chef des Stabes an. Reiter und Pferd waren von unten bis oben mit Schmutz bespritzt. Der Oberst mußte in flottester Gangart geritten sein. Das Pferd dampfte; am Halse, unter den Deckenrändern, zwischen den Hinterbacken stand weißer Schaum; Die Flanken flogen; es schien auf der Hinterhand zusammenbrechen zu wollen.

Wir beobachteten den Oberst gespannt, als er neben dem General hielt. Es mußte gut stehen, das konnten wir merken. Während er noch mit dem Oberbefehlshaber sprach, bald auf der Karte suchend und findend, bald mit dem Finger in die Schlacht zeigend, sauste vom linken Flügel ein Meldender heran. Sein Pferd war durchaus fertig. Es konnte nicht mehr den Hügel hinan und brach am Fuße desselben mit seinem Reiter zusammen. Beide überkugelten sich. Aber sofort erhob sich aus dem Knäuel ein junger Jägeroffizier mit einem hübschen schwarzen Schnurrbärtchen, braunen gewellten Haaren, dunkelbraunen Augen und einem durch den Purzelbaum eingetriebenen Tschako. Er stürmte bei uns vorbei, uns lachend zurufend: Es geht gut, es geht gut! Auf seinem kurzen Wege zum General hatte er ein Paar [153] schneeweiße Handschuhe hervorgezogen, und war bemüht, diese noch an den Fingern zu haben, ehe er oben war. Aber nur der linke hatte seinen Platz erobert. Ebenso lächeln wie er bei uns vorbeigekommen, meldete er dem Oberbefehlshaber, der ihm freundlich die Hand reichte. Dann bestieg er ein ihm von einer Ordonnanz eingefangenes kleines Berberroß und ritt, das letzte Stück von einem kalten Huhn, das in unserm Besitz war, annehmend, lustig wieder von dannen, unterwegs kauend und mit der rechten Faust die Beulen seines abgenommenen, entstellten Tschakos in Ordnung zu bringen suchend. Es schien ihm Alles ungeheures Vergnügen zu machen. Grüß Dich Gott, alter Kerl, wenn Dir dies vor Augen kommen sollte. Zwar liest Du selten Gedichte (ich auch), aber es ist immerhin doch möglich.

Der General ritt zu uns hinter das rauchende Gebäude, dessen Dach und Sparren eben prasselnd zusammengebrochen waren, und fragte: Hat einer der Herren noch eine nicht letzte Cigarre? Sie wurde ihm präsentiert.

Dann bildeten wir einen Kreis um ihn. Der Oberbefehlshaber gab einigen von uns persönlich Befehle. Als wir abritten, um die »mit aller Macht auf die Stadt vorzugehn« Befehle zu überbringen, setzte er sich in kurzen Galopp, um, weiter vorwärts, einen neuen Beobachtungsposten einzunehmen. Eine Ordonnanz blieb bei der Brandstätte zurück: sie hatte den Auftrag, den Meldenden von dem neugewählten Aufstellungspunkt des Generals Mitteilung zu machen.

Der Zauber der Mittagstunde war gebrochen.

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