3. Valerius an Hippolyt.
Gott weiß, ob Du jemals diese Zeilen erhältst, Gott weiß, ob Du sie lesen kannst! Ich kritzle sie mit einem Bleistifte auf kleine Papierstückchen, die ich durch den Zufall mitunter bekomme und die zum Teile ganz schmutzig sind – ich bin im Gefängnisse, und daß ich endlich soviel erreicht habe, heimlich des Tages einige Zeilen aufzuschreiben, ist ein überschwenglicher Vorteil. Lange Wochen, lange Monde sind ohne ihn vorübergezogen, langsam, langsam, ach wie bleiche, ausgehungerte Wesen, Freund, wie habe ich gelitten, wie leide ich! Was hätte ich darum gegeben, tags nur einen kleinen Gedanken aufschreiben zu dürfen, der sich aus der Gedankenqual, die sich unerlöst, furienartig in dem Verstoßenen herumzauset, allen übrigen vordrängt. Wenn man nichts loswerden kann aus dem Inneren, dann steht sich Geist und Gedächtnis ab wie Wasser, das nicht bewegt wird, [39] entweder das Gesetz und die Ordnung hören auf, und der regellose Wahnsinn erlöst, oder man verfällt in eine dumpfe Schwäche, welche der kleinsten Geistesoperation nicht mehr gewachsen ist. –
Das Blatt war zu Ende, und ich habe lange kein neues ergattern können; heute war an einem Eierkuchen, den ich zum Mittagessen erhielt, ein Stückchen Papier angebacken, das benutze ich trotz seiner Fettigkeit. Ich fühle es, wie aus weiter Ferne, es wäre mir viel wohltätiger, wenn ich Dir in einer gewissen Ordnung erzählte, aber die Kraft dazu gebricht; in gezwungenem Nichtstun, in dem ewigen machtlosen Denken, auf welches ich angewiesen war, ist all solche Strenge der Darstellung verloren gegangen, ich tappe und greife bald hierhin, greife bald dahin. Niemals kann ich schildern, was ich gelitten und leide: diese schweren Innerlichkeiten sehen so unbedeutend aus, wenn ich sie mit einem Worte bekleide, jedes Wort ist schon zu kurz, zu frivol dafür, sie sind viel zarter als Worte; vielleicht könnte sie nur Musik wiedergeben, jedenfalls wird nur Liebe sie ahnen und verstehen. Und dann: die Bezeichnung verschwindet mir unter den Händen, weil mein Gedächtnis die Spannkraft verliert und die Einförmigkeit doch immer wieder neue Nuancen des Schmerzes entwickelt, und man nun bestrebt ist, dies alles zusammenzudrängen; könnte man's, die ganze Menschheit müßte von einem elektrischen Schlage des Wehs betroffen werden; es gibt unbeschreiblich Leid in der Welt, das Gefängnis ist ein solches. Ach, das Papier ist aus, ich sehe kaum, was ich geschrieben, und die Freude war so kurz!
Es ist doch schon ein Zweck, für den ich jetzt lebe, seit ich das kleine, kleine, ach so vortreffliche Stückchen Bleistift gefunden in einer kleinen Uhrtasche der Beinkleider, die ich [40] niemals benutzt oder beachtet hatte. Es ist doch ein Geschäft, wenn auch nur von zehn Minuten. Denke Dir das Entsetzliche, wenn ich früh erwache, das kleine, düstere Gemach wiedersehe, das ich im Schlafe vergessen habe und mit Entsetzen wieder daran erinnert werde, daß mein Leben beendigt ist auf eine so trostlose Art! Wir haben geklagt, wenn's keinen Reiz gab; ach Freund, was ist's erst, wenn's gar kein Geschäft gibt! Sobald ich aufgestanden bin, mich angekleidet und mein kärglich Frühstück verzehrt habe, dann bin ich fertig, nun liegt der lange, öde Tag vor mir, grau wie die Unterwelt der Alten; ich habe kein Buch, ich höre nichts, ich sehe nichts, es ist mir keine Tätigkeit übrig, als in dem kleinen Raume herumzugehen, die Gedanken schweifen zu lassen, bis sie schwindlig werden gleich meinem Kopfe, ruckweis kommen und gehen, atemlos am Ende die Dienste versagen. Gegen zwölf, oft lange vor zwölf bringt der Wärter das Mittagbrot; das ist doch eine Unterbrechung, die magere Speise ist doch ein Gegebenes, woran der Gedanke sich wieder aufrichtet, ich möchte langsam darüber wenigstens eine halbe Stunde hinziehen, wenn auch die eigentliche Mahlzeit in zehn Minuten verzehrt sein kann, aber der Wärter gestattet eine solche Ausdehnung nicht, er hat noch dreißig andere zu füttern und Geschirr und Besteck müssen gleich wieder fort, damit ich keinen Mißbrauch damit treibe. Die Türe rasselt zu, es ist zwölf, sieben Stunden breiten sich vor mir aus, sie wollen durchgebracht sein, dann kommt ebenso flüchtig das bißchen Abendessen; dann sind neue Gedanken zu suchen für den Abend, ehe der Schlaf zu finden ist, welcher dem Gefangenen ohne Bewegung und Luft so träge sich nähert, so unmutig! Und das ist nur ein Tag und so reiht sich ausdruckslos einer an den andern, bis man eben verrückt wird von den unbeschäftigten Gedanken oder starr sich wie das Tier der Wüste in den Winkel hockt.
[41] Könnt' ich Dir nur folgerecht erzählen, das würde mir nützlich sein; es drängt und bäumt sich von Gedanken alles so durcheinander, daß ich nicht weiß, wonach ich greifen soll, und ich zittere, daß man meinen Bleistift oder die beschriebenen Papierstückchen entdeckt und ich wieder in die alte Wüste geworfen werde. Wenn die Wache auf dem Korridore einen unregelmäßigen Schritt macht, so fahre ich zusammen, ich denke, man sieht es meiner Tasche an, daß verbotenes Papier darin steckt, und es treibt mich ein halber Wahnsinn, dem Wärter zu sagen, wenn er mich ansieht, unaufgefordert zu sagen: »Denken Sie nicht etwa, daß ich hier rechts in der Tasche Papierstückchen und einen Bleistift habe!« – So nerven- und geistesschwach wird man; man weiß es noch eine Zeitlang, man sieht sich bei lebendigem Leibe sterben. Ich denke an alle die heruntergekommenen Leute meiner Bekanntschaft, es fiel eins nach dem andern von ihnen ab, der Besitz, der Umgang, die Kleidung, sie wollten doch noch auf Augenblicke leben, sie tranken oder sie stahlen gar und taten noch Schlimmeres und endeten kläglich, und die Welt höhnte darüber und verdammte sie rücksichtslos. Ich tat es nie, und jetzt im Elende fühle ich, wie nahe beieinander die guten und die schlechten Taten ruhen, so nahe wie die glücklichen und unglücklichen Geschicke; ein kleiner Mangel führt zum nächsten großen, man greift nach der nächsten Rettung, Geist und Nerve wird schwach und verwirrt, Wahl hört völlig auf, der Zufall weiß, was daraus werden mag, und die Menschen verurteilen! – Ach, mein Raum ist wieder aus, ich bin wieder wer weiß wohin geraten. –
Mit peinlicher Mühe habe ich mir tagelang vorgesagt, was ich damals noch dazu schreiben wollte, als der Papierfetzen zu Ende war, und ich habe lange keinen erreichen können; solch ein halb übrig bleibender Gedanke quält und martert, er will entweichen, weil er nur ein Halbes ist, mein [42] Gedächtnis wird ohnedies täglich schwächer. Es war dies: in einiger Entfernung von meinem Kerker höre ich zuweilen Ketten rasseln, ich denke, es mag ein Bösewicht sein, und ich fühl's an meiner Schwäche, daß ich ja auch gar nicht sicher bin, ein solcher zu werden. O, was ist der Mensch! – Und zu einem Erzählen komme ich immer nicht, und mein Klagen darüber füllt den spärlichen Papierraum nutzlos. Nun, ich will meine gefangenen Ideen noch spezieller einzufangen suchen für die Darstellung, diese notwendige Ordnung wird mir doch ein Geschäft sein und als solches, ach, wie willkommen! Heute habe ich nur ein Papierstreifchen, das ums Licht gewickelt war, und muß schließen.
Triumph! Der Wärter hat mir ein altes, schlechtes Buch geliehen, darin ist vom Okulieren der Bäume, von Vertreibung der Hühnerwurzeln, vom Gelbmachen der Butter und solchen Dingen die Rede; aber es ist etwas Lesbares, etwas außer mir, was zu Hilfe kommt, ich habe einen Trost, eine Hoffnung, wenn mir die Gedanken ausgehen; ich klettere dann hinauf zu dem kleinen Fensterchen, welches durch Eisenstäbe und eine Blechblende von der Außenwelt abscheidet und nur ein schmales Stückchen Himmel oben hereinläßt, dort lese ich über das Buttermachen, und lese jede Zeile zweimal, dreimal, um recht lange Zeit über dem Buche hinzubringen. Wie berauschend scheint mir der Traum, solch ein Gartenknecht werden zu können, der graben und hacken darf in Gottes freier Natur, und wie wollt' ich mich bei der Wirtin beliebt machen mit den geheimnisvollen Kenntnissen, die ich aus der vergilbten Scharteke erlerne! Und nun der große Gewinn: hinten und vorne in dem Buche sind zwei eingebundene schmutzige Papierblätter, die werde ich stehlen, und aus der Mitte werde ich manches lose Druckblatt herausziehen, um über den Druck hinwegzuschreiben; wenn es sich später schwer lesen läßt, so habe ich ein neues Geschäft des [43] Entzifferns, ich bin jetzt sehr reich, lieber Himmel! Eher darf ich's aber nicht tun, als bis ich das Buch zurückgegeben und nach mehreren Tagen erkannt habe, daß der Wärter nichts vermißt. Es kommen also wieder einige schlimme Fasttage.
Es ist gelungen, und nun will ich erzählen, aber nur vom Momente der Gefangenschaft an; das Vorhergehende hat seine großen Umrisse mit der äußeren Welt gemein, das vergesse ich nicht, aber die kleinen Schattierungen zwischen vier Wänden entgehen mir; sie möchte ich festhalten. Ich fühle es, je länger diese Einförmigkeit dauert, desto ausdrucksloser wird sie mir, ich gewöhne mich und verliere in der Auffassung das Unterscheidende. Ach, und ein Ende ist nicht abzusehen, in der jetzigen Form kann es jahrelang dauern, braucht gar nicht aufzuhören. O! kein Mensch hört und sieht diesen Seufzer, erfährt's, welch ein entsetzlicher Schmerzesabgrund dahinter liegt. Also: durch viele Höfe und Gänge, mehrere Treppen aufwärts, ward ich in ein kleines Gemach geführt, die Tür ward hinter mir zugeschlossen, ich bemerkte noch anfangs nichts, ich ward noch von den wahrhaft lebendigen Gedanken der letzten Verhältnisse bewegt, ich ging stundenlang im Zimmerchen umher, bis ich müde war. Da bot sich zum Ruhen ein kleines schwarzes Kanapee, das zwar zu kurz war, um sich darauf auszustrecken, das doch aber durch sein Dasein harte Kerkergedanken nicht aufkommen ließ; gegenüber stand ein roter, ordinärer Tisch, ein Bett und zwei dito Stühle fanden sich vor, auch ein kleiner Tisch mit Waschbecken und dergleichen. Ich rümpfte ein wenig die Nase, daß mein Gemach schmal und lang statt viereckig sei, daß man aufs Sofa steigen müsse, um zu dem vergitterten Fenster zu kommen und in den Hof hinabzusehen. Indessen, die Eindrücke waren sehr flüchtig; zu Anfange denkt man auch, das werde nicht lange dauern, man ist noch zerstreuend mit der letzten Außenwelt beschäftigt. [44] Die Gefängnisentbehrungen traten mir auch noch milde vor die Augen; im Felde hatte ich mir das leidige Tabakrauchen wieder angewöhnt, man gab mir Feuerzeug und Pfeife, ich hatte eine volle Börse in der Tasche, es wurde nicht danach gefragt, kurz: es war nichts grell aufstörendes Gefängliches da. Am andern Tage ward ich verhört; der Inquirent war ein sehr artiger Mann, welcher sich teilnehmend nach den kleinen Lebensbedürfnissen erkundigte, mir seine Bibliothek anbot und die lebhafte Hoffnung bestätigte, daß mein Arrest wohl nicht lange dauern würde. Die aufgeregte Zeit mache größere Strenge und Sorgfalt nötig, man wisse, daß ich revolutionäre Grundsätze gehegt und mich dafür bewaffnet habe, um mich der polnischen Revolution anzuschließen. Das leugnete ich nicht, setzte aber hinzu, daß die polnische Sache einmal für eine historisch rechtmäßige gelte, und daß ich ferner nirgends eine heilsamere Lehre gefunden hätte, als just in Warschau. Auf das erste entgegnete er höflich: »Sie sind ein wissenschaftlich gebildeter Mann und werden leicht einsehen, daß der bestehende Staat nicht auf alle historische Rückforderung eingehen kann, ohne stete Unruhe und die beliebigste Rechtsänderung zu gestatten; Sie wissen, wie die Geschichte vorrückt und sich gestaltet, niemals alten Besitz respektierend: wo kämen wir hin, wenn alle solche Rekriminationen gestattet würden, wenn z.B. der Elsaß von Deutschland zurückbegehrt, die römisch-deutsche Kaisergewalt von Österreich angesprochen würde? Daß Sie zweitens das Mißliche der Revolution kennen gelernt, glaube ich wohl, aber Sie sehen ein, daß solche Versicherung jetzt, wo Sie im Gefängnisse deshalb sind, nicht von großem Belange ist. Sie haben mit Ihren Freunden durch Wort und Schrift die Revolution direkt propagiert, Sie haben selbst an der einen mit den Waffen in der Hand teilgenommen, welche gegen die gesetzlich bestehenden Traktate Europas gerichtet war; das werden Sie zugestehen, und Sie müssen sich's nun gefallen [45] lassen, daß man sich Ihrer Person versichert, daß man die Gleichgesinnten von Ihnen zu erfahren sucht, von Ihrer bekannten Lebenstätigkeit auf unbekannte schließt und deren mächtig zu werden trachtet.« So kam's in Gang, was man eine Untersuchung nennt; wie human dieser Mann gegen mich war, habe ich später mit großer Betrübnis eingesehen, mit Betrübnis darüber, daß ich ihn nicht behielt. Den zweiten Tag war mir schon unruhiger im Gefängnisse zumute. Die erste Illusion, daß es in ein paar Stunden vorüber sein könne, war vorüber; mit der Gegenwart fiel nun auch die unsichere Zukunft lastend auf mich, mein eigenes Interesse erschien mir so bedroht, daß mir die Interessen der Bücher, welche mir der gütige Inquirent geliehen hatte, fremd und künstlich gemacht vorkamen, ich hatte keine Ruhe zur Lektüre. Ich erinnere mich, daß mir eine einzige Stelle von vielem Gelesenen einen Eindruck machte, die stand in »Deppings Erinnerungen aus Paris«; er schildert einen glücklichen Menschen und sagt: zum Zeichen, daß er wirklich Glück hatte, wurde er auch von einem tüchtigen Unglücke betroffen. Diese Stelle war mir ein wirklicher Trost; die Dichter, welche er mir mitschickte, wollten wenig helfen, merkwürdigerweise auch Shakespeare nicht: seine Dinge fielen alle in eine tobendere, willkürlicher wechselnde Zeit, als daß eine Vergleichung gepaßt hätte, seine Gedanken überstürzen sich in ihrem Reichtume so, daß sie mir deshalb weniger wahr und notwendig vorkommen. Er schüttet sie, dachte ich, aus einem Füllhorn des Genies, unüberlegt, ungepflegt und ungeprüft, er weiß selbst nicht, ob sie immer wahr sind. Und es tröstet nur, was der Tröstende selbst glaubt, und wenn wir sehen, daß sich das Wort des Schreibenden wirklich bewährt hat. Deshalb vielleicht war mir Goethe allein von Erquickung: da war nichts Überspanntes, Übertriebenes, nur das Zuverlässige war einfach gesagt, das Verlangen an die Welt war immer gemessen – diese Lektüre allein gab [46] mir Ruhe. – Und was glaubte ich damals zu leiden, wenn ich nichts anzufangen wußte, als zu lesen, einmal ans Fenster zu klettern, in den leeren Hof hinabzusehen, wo eintönig die Schildwache auf und nieder schritt, und dann wieder zu lesen! Man wird so wüst davon, man schlingt am Ende ohne Unterscheidung alles hinunter, nichts ist mehr frisch, nichts lockt, – ach, und wie sehnsüchtig hab' ich später jene Zeit wieder herbeigewünscht! Gefängnisse, welche dem meinigen gegenüber, hatten Blechkasten vor den Fensterchen und sahen wie trostlos erblindet aus; wenn ich mitunter hinter ihnen sprechen, gar lachen hörte, so berührte es mich immer unheimlich. Mein freundlicher Wärter erwiderte mir auf Befragen achselzuckend, dort säßen schwere Verbrecher. Ich schauerte, es überlief mich mit Grausen, so durch ein Verbrechen vom Tageslichte abgeschlossen zu sein. Lieber Gott, jetzt sitze ich schon seit vielen Monaten hinter solcher Blende, und doch bin ich noch derselbe, nur schwächer, doch lebe ich auch weiter, und das moralische Moment dieser Dämmerung kümmert mich nicht mehr; der Mensch lernt alles, auch die Verbrechermaske tragen, und am Ende hält er sie für sein wirkliches Gesicht. Ich vergesse es jetzt schon manchmal völlig, daß ich kein Verbrecher bin, ich muß mich selbst daran erinnern, daß es nur höhere, wechselnde Staatsrücksichten sind, welche mich in den Zustand gebracht, daß ich nur selbst in dem Verhältnisse dergestalt sinke; nach längerer Zeit werde ich in moralischem Bewußtsein ganz in diesen Kerker gehören. Wir sind nichts selbst, wir sind halb oder ganz unsere Verhältnisse. Ich rufe mir's jetzt zurück, was es mir damals für verwundende Eindrücke gab, wenn abends um zehn Uhr an die Tür geklopft und bemerkt wurde, das Licht sei auszulöschen; jetzt fällt es mir nicht mehr auf, wenn die Wache schreit »Licht aus!«; in jenem ersten Interimsgefängnisse saßen Vagabunden und solch leichtes Gesindel in meiner Nähe, das sich durch leichtsinnige, rohe Äußerungen, durch[47] gemeinen Spektakel oft auffällig machte, zuweilen wurde des Abends ein Besoffener oder solch ein Straßenheld eingebracht, er tobte wie ein Tier, und ich hörte wohl, daß man ihn hier im abgelegenen Korridor nicht eben zart zum Eintritte nötigte; nun fluchte der Kerl die halbe Nacht und wütete gegen die Tür, bis er zusammenfiel – ja, damals kam ich mir sehr entwürdigt vor; jetzt hielte ich es bereits für eine Abwechslung, eine Erholung gegen dies tote, bleierne Einerlei, das mich umgibt, das nur zuweilen vom Rasseln jener Kette unterbrochen wird. Damals, wo ich wüst vom Lesen war und nur nach Abwechslung verlangte, wo ich wie ein Gefängnisdilettant mich betrug, ward mir auch von vornherein eine Freistunde bewilligt, um auf einem kleinen verschlossenen Hofe herumzugehen, und ich törichter Mensch nahm gar kein Interesse daran; es war heißer Sommer, wenig Schatten im Hofe, und eine Stunde lang dort auf und ab zu gehen schien mir sehr langweilig, ich dünkte mir ein wildes Tier, dessen Käfigdeckel aufgeschoben wird und das vor Leuten hin und her rennt. Einige Arbeitstuben der Behörde nämlich und mehrere Gefängnisse sahen in den Hof, ordinäre Gefangene spotteten über mich, daß ich im Hut und mit Handschuhen herum ging; wenn ich gar eben ein frisches Hemd hatte, dessen Manschetten sichtbar waren, so mußte die Wache oft dem Spotte Ruhe gebieten. Das kränkte mich tief, und ich ließ die Stunde oft vorübergehen – jetzt bin ich so abgestumpft, daß ich alles täte einer Freistunde willen: so schmachte ich nach frischer Luft, so dürste ich danach. Ich ginge mit meinem langen Barte und meinem wahrscheinlich verbleichten Antlitze auf einer Galerie umher, möchte zuschauen, wer da wollte. In jenem kleinen Hofe sah ich einen langen Beamten stets an einem Pulte stehen und schreiben und ich bildete mir steif und fest ein, der schriebe meine Sache, und er müßte nun bald meinen Freibrief schreiben; es war mir stets auffallend, daß der Mann nicht mit größerem Anteile auf [48] mich heruntersah. Gott weiß, was der lange Wann geschrieben hat, aber er hätte etwas viel Besseres schreiben können. Überhaupt, ach, wieviel Anknüpfung und Romantik gab's da drüben in dem Gefängnisse! Jetzt empfinde ich es erst in dieser Öde und Entbehrnis, wie man erst sieht, daß man Blut hat, wenn man's verliert. Auf den kleinen Hof ging auch ein Flurfenster, wo Fremde zuweilen erschienen, wahrscheinlich solche, die etwas petitionieren wollten. Da fand sich denn wohl auch eine Dame ein, mitunter auch eine schöne in seidenem Gewande, mit einem Schleier. Ach du lieber Himmel, könnt' ich doch in meinem Leben noch einmal eine schöne Dame mit seidenem Gewande und Schleier sehen! Vom kläglichen Bedürfnisse zum Auskommen, vom Auskommen zur Wohlhäbigkeit, von dieser zum Luxus, zum gefälligen Reize, wie weite Strecken liegen zwischen alledem, und diese ganze, große Strecke liegt zwischen mir und der Welt! Ich liege hier im Staube, Schmutz, in der kümmerlichen Ernährung und strecke Hand und Wunsch aus nach einem seidenen Gewande, wie der Bettler nach einem Goldstücke. Bin ich derselbe, dem eine Fürstin in den Armen gelegen, der Prachtgewänder zerrissen hat? Ein Fetzen davon könnte mir jetzt einen glücklichen Tag machen. Oft habe ich solche Gelüste verhöhnt, weil sie die Harmonie eines Zustandes, und auch der unterste hat eine, weil sie diesen Einklang zerstörten, weil sie krankhaft seien. O, wie grausam war ich in solchen Worten, die tote Regel ist eben die Prosa, der Tod; – könnt' ich meine Hand jetzt nur einen Augenblick auf einen Seidenstoff legen, um an dem feinen, glatten Stoffe zu empfinden, es gibt noch Reiz und Schönheit in der Welt!
Der Papiervorrat war zu Ende, und es ist wieder eine lange Pause eingetreten; durch rüstiges Darben habe ich mir einige Kreuzer abgespart an der Rechnung, welche der Wärter [49] führt, und mir ein Stückchen Kuchen kaufen lassen, weil bei mir zu Hause Kuchen etwas Sonntägliches, Feiertägliches ist und ich gern einmal solch einen Eindruck des Besonderen, des Festlichen haben möchte. Nebenher – nun, es ist gelungen, und ich will mir den Platz nicht verringern durch Erzählung der kleinen Intrige: der Kuchen war in Papier eingeschlagen, das ich jetzt benütze. Du glaubst nicht, wieviel ich Schmerz habe bei Beschreibung jener ersten Gefängniszeit, weil sie mir jetzt so bunt und reich vorkommt gegen die jetzige, weil ich mich danach zurücksehne, wie nach einem Eldorado. So gibt es auch unter den Bettlern Reichtum und Armut, und über den glücklicheren Genossen geht des Darbenden Wunsch nicht hinaus; ich bin so weit gedrückt, daß ich das Berauschende einer totalen Freiheit gar nicht mehr hoffe, nur nach jenem Zustande schmachte, wo keine Blende vor dem Fenster ist, wo ich rauchen, lesen, am Ende gar schreiben durfte, schreiben mit ordentlicher Tinte, wirklichen Federn und auf ganz reines, weißes Papier; wo ich des Tages eine kleine Stunde in den Hof kam und mitunter einen anderen Menschen sah als den Wärter. Denke, welch ein Reichtum war folgendes: In jenem Gefängnisse wurden auch die leichtsinnigen Mädchen der Straßenromantik eingesperrt, welche in ihrer gesetzlichen Gesetzlosigkeit etwas versehen und sich hatten aufgreifen lassen; diese leichten Kinder, welche zu Zwanzigen in einem großen Gemache kampierten, wo allerlei anderes Weibsbild, das sich irgendwo im Netz der Vorschriften verirrt haben mochte, zusammentraf, sangen und tändelten in ihrem Käfig, wie es ihnen die Langeweile eingab und solange es der Schließer gestattete, dessen Verbot und Anrede allerdings unangenehm war. Zuweilen nun, wenn ich in die Freistunde geführt wurde und an diesem Terrain vorüberkam, stand die Tür offen, weil ausgefegt oder eine der Heldinnen abgerufen ward, die unter den stark aufmunternden Worten des Schließers ihre Toilette beendigte. [50] Ich hatte dann einen vollen Blick in dies Serail; sie lagen zum Teile, halb entkleidet wegen der Wärme, in allen Positionen umher, oder saßen, oder kauerten, oder versuchten es, in dem Gedränge zu promenieren, und schmachtender oder frecher wurde mir in Eile als einem jungen Mannsbilde allerlei Teilnahme ausgedrückt. Zuweilen gab es wirklich schöne Geschöpfe darunter, und der Schließer machte mir stets einen schlechten Eindruck, wenn er ohne allen Unterschied jegliche Äußerung grob zur Ruhe wies. Freilich war der Mann abgehärtet; ich sprach ihn zuweilen, und er sagte stets mit einem Fluche: das Pack taugt all' nichts, erst haben sie sich auf der Straße herumgetrieben, ach da tun sie unschuldig, wir lassen sie wieder laufen, dann kommen sie zum zweiten Male, nun ist's schon schlimmer, und so drei-, viermal fort, bis sie zum Zuchthause reif sind, und die Hübschesten sind immer die Ärgsten. – Es gab immer eine viertelstündige Unterhaltung, wenn sie auf den Hof gelassen wurden, den ich von meinem Fenster sah; laufen mochte keine, Frauenzimmer sind nicht für Bewegung; sie zankten sich um die Schattenplätzchen, auch die Häßlichste, dem Gefängnis tief Verlorene, mochte den Teint nicht aussetzen. Die Alten zerrten, die Jungen neckten, sehr viele hatten stets ein Töpfchen bei sich mit irgend welchem Eßkrame; aber mir erwuchs noch ein spezielleres Interesse daraus. Mein Wärter nämlich benutzte diese Garde, um mein Gemach täglich reinigen zu lassen, und mit munterem Geschmacke wählte er stets eine Handfeste fürs Grobe und eine Hübschere fürs Leichtere, das Bett zu machen, den Staub abzukehren. Das war den Mädchen auch eine Abwechslung, und sie kamen meist sehr heiter, erzählten auch meist in der Kürze dieser Viertelstunde ihre Lebensgeschichte. Ein bildschönes Mädchen kam öfters wieder, endlich Tag für Tag; der Wärter nahm ein gewiß herzliches Interesse an ihr und an ihrem Schicksale, er hatte sie gekannt, da sie noch als kleines Mädchen herumgelaufen [51] war, sagte, sie sei ein wirklich gutmütiges Geschöpf, und doch sei sie immer wieder auf leichtsinnigem Verkehr mit Männern betroffen worden. Sie nannte sich Luise und war sehr kümmerlich und spärlich gekleidet. Wenn sie beim Ausfegen manchmal die Tür herumschlug, so daß der Wärter auf der Türschwelle oder weiter zurück auf dem Korridor uns einige Augenblicke nicht sehen konnte, dann erhob sie ihre gutmütigen, schönen Augen so sanft und lockend gegen mich, und es lag ein so merkwürdiger Ausdruck darin, daß ich sie gern weitläufiger befragt hätte. Sorgloser Leichtsinn war so unverkennbar dabei, und doch so zutraulich und harmlos! Sie sagte mir auch, daß sie wohl diesmal ins Zuchthaus kommen würde, sprach aber dies für mich so entsetzliche Wort so leicht aus, wie wir einst vom Kaffeehause redeten. 's ist schlimm, meinte sie, und nickte dabei mit dem Kopfe. Wenn man ihr aber die Backe streichelte, so war das Lächeln gleich wieder da und sie flüsterte: »Vielleicht kann ich mich einmal des Abends zu Ihrer Tür heraufschleichen.« – »Aber mein Kind, meine Tür ist ja zugeschlossen.« – »So? Das ist freilich schlimm, aber vielleicht geht's doch; ach, da unten ist's langweilig!« – Längere Zeit, als zu dieser Mitteilung nötig war, dauerte unsere halbe Einsamkeit nicht; sie mußte wieder fort, ich ward wieder eingeschlossen, und ich konnte über die pikante Situation nachdenken, wie mit einer Zuchthauskandidatin getändelt werde. Sie kam jetzt jeden Morgen und flüsterte mir immer zu: Ich komme nächstens. So gab's doch eine ordentliche Romananknüpfung dort; wie duftig erscheint mir jetzt das unvorsichtige Mädchen! Eine gemeine Spitzbübin, die mir ihre Lebensgeschichte erzählen wollte, wäre mir jetzt sehr erwünscht, man hörte doch etwas, verkehrte mit einem Menschen. – Wirklich huschte es eines Abends um meine Türe her und klopfte leise, die kecke Luise war da; der Schließer unten hatte den Schlüssel nicht umgedreht und sie war heraufgeschlichen. Aber bei mir war [52] der Schlüssel zweimal umgedreht, das leichtsinnige Kind fragte, ob ich kein Mittel wüßte; die Wache kam unterdes vom anderen Ende des Korridors langsam aber sicher herzugeschritten und Luise mußte fort. Ich hab' sie nicht wieder gesehen; mit den guten, treuen Augen hat sie wahrscheinlich aufs Zuchthaus gemußt. Aber auch dort wird sie jetzt mitunter lachen und sich glücklicher fühlen als ich.
Ich lerne so klein schreiben und, wahrscheinlich auf Kosten meiner Augen, so undeutlich Geschriebenes lesen, daß ich gestern mit meinem Kuchenpapiere nicht fertig geworden bin. Das hat mir den besten Eindruck gegeben, dies Stückchen übrig bleibendes Papier hat mir die Möglichkeit eines Überflusses verschafft, eines Überflusses, und ich bin ordentlich zufrieden gewesen im Verhältnisse zu der sonstigen Zeit. So macht das Verhältnis alles in der Welt, so elastisch ist der Mensch. – Bei allen den Abwechslungen meines vorigen Gefängnisses fiel doch die Länge der Abgeschlossenheit immer schwerer auf mich, laß mich Dir's offen gestehen: manchmal glaubte ich erdrückt zu werden, so einsam, verlassen, unglücklich erschien ich mir, und die heißen, dichten Tränen brachen über mich herein. Ach, wie ein Kind habe ich geweint, manchmal stundenlang; ich werde es nie vergessen, wie ich den Kopf an die Wand lehnte und mich rücksichtslos dem schneidenden Weh hingab, von der Welt ausgeschlossen zu sein Tag um Tag, Nacht um Nacht! – Und wenn ich in einer gewissen Süßigkeit des ganz freigelassenen Schmerzes erschöpft war, da trat ein Vers von Goethe so oft mir auf die Lippen, ach so oft, und brachte immer wieder neue Tränen. Durchgefühlt, durchgeweint habe ich jedes Wort, jede kleinste, mögliche Bedeutung desselben; es war das Lied aus dem Wilhelm Meister, das der Harfner und Mignon zu Wilhelms Schmerze singen:
[53]Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide:
Allein und abgetrennt von aller Freude
Seh' ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach, wer mich liebt und kennt,
Ist in der Weite,
Es schwindet mir, es brennt
Mein Eingeweide –
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Eigentlich hätte ich das Lied wie Prosa, ohne Absatz schreiben sollen wegen des Papiermangels, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen; ein König kann in Lumpen gehn, aber nicht betteln. Leb wohl, leb besser, das Papier ist aus; empfinde nie bis ins Herz die so harmlos aussehenden Worte: »Allein und abgetrennt von aller Freude.« –
Habe wieder ein Lied gemacht,
Habe mich ausgeweint,
Denke nun an die stille Nacht,
Meinen einzigen Freund:
Wenn die Sonne hinunter ist,
Wird sie leichter, die Not –
Denke dann: Nicht mehr allein du bist,
Ringsum ist alles tot.
Was dich in der Ferne liebt,
Ist jetzt stille wie du,
Manches ist wohl um dich betrübt,
Hat eben Zeit dazu.
Törichte Leute schmähen die Freude; es gibt kein Leben ohne die Freude, alle Momente derselben sind allein unser Leben, alles andere ist dumpfe, tote Masse; selbst in der Traurigkeit, im Schmerze sind es allein die unerkannten kleinen Freudenpunkte, die ein Leben, ein Bewußtsein gestatten. Hier in meinem Elend ist's der Tagesschimmer, den [54] ich sehe, das körperliche Leben, das ich in dieser und jener Wendung oder Regung einmal empfinde, des Genüge »Du bekommst etwas zu essen« – oder »Du wirst dich bescheiden lernen«; diese Freudenatome halten auch mich am Leben. Zum Beispiele, daß ich wieder Papier habe, lauter kleine Stückchen, aber viel Stückchen. Ich kann wieder schreiben. – In jenem Weh der Abgeschlossenheit, das mir so tränenreich war im damaligen Gefängnisse, da saß ich denn eines Tages brütend und traurig, als ich zu meinem Inquirenten beschieden wurde. Ist's Freiheit? weiter dachte ich damals nicht, soviel Spielraum war damals noch gegeben – wie lange ist der fort! Und der Wärter war so gutmütig, auf die Möglichkeit einzugehen und zu sagen: »'s muß wohl noch nicht soweit sein.« – Der Inquirent empfing mich ernstfreundlich und deutete mit der Hand seitwärts auf den Hintergrund des Zimmers. Eine Dame stand da, Gesichter, Gedanken stürzten übereinander in meinem Herzen, ich fand's: es war Kamilla, die ich in solcher Situation zu begrüßen hatte. Welch ein Gemisch von Empfindungen! Das vortreffliche Mädchen hatte in Grünschloß erfahren, was mir begegnet sei, hatte sich ohne weiteres selbständig, allein aufgemacht, war hierher gekommen, zu allen Herren und Behörden gelaufen, um für mich zu wirken, um zu mir zu dringen! Und sie weinte jetzt nicht, sie fragte stark und eifrig, worin sie helfen und nützen könne. O wieviel Rührendes, Überschwengliches liegt im starken, liebenden Herzen eines Weibes! Daß ich nicht ängstlich treu sei, wußte sie aus meinem früheren Wesen und Leben, daß ich es ihr nicht geblieben, wußte sie nur zu gut; aber sie ist ein wirklich liebendes, ein echtes, unverfälschtes Weib, sie kam dennoch, da ich im Unglücke war; im Glücke hätte sie mich niemals gestört: O du gute, herzensreiche Kamilla! Konstantie wohnt näher und hätte mit der geringsten Anstrengung große Mittel für mich in Bewegung zu setzen vermocht – hierbei drängt [55] es mich, Dir meine Schicksale von dem Augenblicke an zu ergänzen, wo ich mit Joel in Krakau ankam, bis zu dem Augenblicke meiner Verhaftung. Ein Mensch, der unser Freund sein mußte, wenn er ein Herz besaß, wenigstens ein Freund in bezug auf die Russen, Slodczek, den wir vor den Toren Krakaus im Jammer fanden, den wir retteten und nährten, überantwortete uns dem Feinde, weil es ihm einen kleinen Vorteil brachte, weil er undankbar ist, wie es ein nicht seltener slawischer Zug mit sich bringt, weil er den Ausländer und den Juden keiner weiteren Rücksicht wert achtete. Zum Glück waren wir an reine Kosaken gekommen, und unser Weg ging nach dem südlichen Sibirien, weil er den Kosaken der wünschenswertere schien. Der Kosak ist gutmütig, und in den meisten Teilen Sibiriens verkehrt er gern, weil er es noch für ein Privatreich seiner Stämme ansieht; denn sie haben es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dem russischen Reiche unterworfen. Was soll ich Dir nun sagen, wo ich überall hingeraten bin? Wir sind eben Tag und Nacht geritten, und an einem frischen Morgen haben die Kosaken miteinander beratschlagt, das hat nur ein paar Minuten gedauert, und wir haben dann unsere ursprüngliche Richtung aufgegeben und uns nach Süden gewendet. Dann sind wir geritten, lange, lange über unendliche Ebenen, ich hatte vergessen, was Sonntag oder Montag sei, ich habe auch mit Joel kein Wort gesprochen, wir waren beide blasiert. Endlich in der Nacht war's, da Joel zu mir trat und mich seit undenklicher Zeit wieder einmal in deutscher Sprache anredete. »Laß uns heimkehren,« sprach er, »ich habe wieder Sehnsucht nach Menschen; die Kosaken kümmern sich nicht darum, ob wir bei ihnen sind, ob nicht, unsere Pferde finden den Rückweg.« – Wir brachen auf, als die Karawane schlief, wir ritten viele, viele Tage; als ich zum ersten Male wieder deutsch rings um mich sprechen hörte, da war der Frühling aufgeblüht und mit den Lauten und [56] Blumen des Vaterlandes wachte meine alte Welt wieder auf, die alten Träume und Wünsche kamen wieder, der Starrschlummer war gebrochen, ich streckte wieder die Arme aus nach dem Leben. Aber ich war allein; Joel war in Galizien geblieben, es blieb mir nichts übrig, als zu singen und zu hoffen. Ich war ohne Reisemittel, und an einem warmen Frühlingstage mußte ich die letzten Kräfte anstrengen, um ein Schloß zu erreichen, das im Schatten seiner hohen Bäume am wohlbekannten Strome lag. Ich wußte, daß es Konstantien gehörte, ich wußte, daß sie in der Frühlingszeit da zu wohnen pflegte, und meine Sehnsucht nach einem Herzen, das mich kannte, war so riesengroß geworden! Ich vergaß das schöne Weib und alles übrige Verhältnis, nur das Auge wollte ich sehen, die Stimme wollte ich hören eines Weibes, das mich kannte, das eine Teilnahme zeigen mochte für den ewigen Wanderer. Erschöpft, dürstend, hungernd, von allerlei Drang gepeinigt kam ich ans Schloßtor, wo der Portier sein Stübchen hat; ich fiel auf die Bank, ich fragte; die Fürstin sei da, war die Antwort, sie säße eben bei Tafel. Der Portier mußte mir Schreibzeug geben, ich gab vor, eine drängende Mitteilung müsse der Fürstin sogleich gemacht werden; ich schrieb ihr, mich einen Tag zu beherbergen, ich käme ermüdet von der russischen Grenze hier vorüber und sehnte mich, ein bekanntes Wesen zu sprechen, – der Portier, welcher den Brief selber aufs Schloß hinauftrug, blieb sehr lange, am Ende kam ein Wagen herabgeschossen, darin saß die Fürstin und William, ich kauerte erschöpft auf der kleinen Bank des Portiers, sie brausten an mir vorüber. Der alte Portier kam mit dem Bescheide nachgehinkt: das müßte seine vollkommene Richtigkeit gehabt haben, denn die Fürstin habe Hals über Kopf nach dem Wagen geschickt, und da fahre sie hin. – Der alte Mann schenkte mir ein Stück Schwarzbrot und einen Trunk, dann schleppte ich mich weiter, die herbe Wunde im Herzen.
[57] Bald darauf begann die Gefangenschaft, kam Kamilla. Aber blaß war das arme Mädchen sehr geworden – ach, wie durchdrungen war ich damals, ihr diese rührende Anhänglichkeit mit aller Liebe zu danken, die nur in meinem Herzen gedeihen könne. In der Einsamkeit meines Gefängnisses malte ich mir es aus, wie sie zufrieden und glücklich sein würde, wenn wir eine kleine häusliche Existenz nebeneinander führten; die Welt müsse freilich aufgegeben sein, aber Kamilla sei zufrieden mit einem Idyll. Um diese Zeit trat eine Katastrophe ein, und alles wurde anders; ich wartete täglich auf meine Befreiung; eines Tages, als der Wärter mein Mittagessen brachte, fiel mir sein stilles, zurückhaltendes Benehmen auf; ich fragte, er schwieg, ich fragte dringender. – »Erschrecken Sie nur nicht,« sagte er endlich, »Sie kommen von uns weg, und die Untersuchung wird größer und strenger.« – Wer die Fassung im Augenblicke verliert, ist sehr schwach oder wenig gebildet, die Kultur ist ja eine Fassung, ich glaube, damals tröstete ich den Wärter und aß mein Mittagbrot. Als er abgeräumt und zugeschlossen hatte, als ich wieder so recht gefänglich allein war, da stürzte der Jammer wie ein Sturzregen über mich. Mit jener Nachricht war nicht nur alle Aussicht auf Freiheit vernichtet, sondern ich wußte nun auch zuverlässig, daß ich mindestens ein halbes Jahr Gefängnis noch vor mir hatte. O du, zur schönsten Reise Gegürteter, lasse dich ins Bett drücken mit der Gewißheit, viele Monate darin leiden zu müssen, vielleicht nicht mehr aufzustehen. Es war ein schwerer Nachmittag und Abend, bis alle Hoffnungsmöglichkeit in mir erwürgt, zum Schweigen gebracht war. Wer sich ergeben kann, leidet weniger, ich konnt' es nicht, und kann es in meiner Jämmerlichkeit heute noch nicht; nun kamen die Gedanken an Flucht, welche die Unruhe auf ihren Schultern tragen und eine erhitzte Hoffnung hinter sich herschleppen. – Mein damaliges Gefängnis lag dergestalt in der Mitte aller fesselnden Anstalten, [58] daß ein Durchbruch unmöglich schien. An die Freistunde auf dem Hofe klammerte sich alles: dieser Hof lag am Flusse und war von diesem nur durch ein großes Tor getrennt; das wurde zuweilen des Nachmittags geöffnet, und einer oder der andere Beamte setzte sich in den Kahn, welcher an der Treppe lag, um zu angeln, oder er schloß gar den Kahn los, um fortzurudern – der Glückliche, er wußte nicht, wie er beneidet wurde. Je näher die Gefangenschaft mit der freien Welt in Berührung kommt, desto schmerzhaft prickelnder wird sie, die Vergleichung hebt oder schwächt alle Eindrücke. Die Sonne schien warm, ich schwimme mit Leichtigkeit, jenseits des Flusses lockte die offene Straße, ein kühner Entschluß konnte mich retten; die bestürzte Wache, die neben mir stand, wäre nicht so schnell zum Laden ihrer Muskete gekommen, daß ich nicht die auf größere Entfernung große Unsicherheit des Schusses hätte riskieren können – wer mag die Situation beschreiben! Die Situation, wo ein Entschluß in schnelle Tat übergehen soll, in eine Tat, die so mißlich war. Was sollte geschehen, wenn ich drüben pudelnaß ans Land kroch, am hellen, lichten Tage, in der fremden Stadt, die mitten im Lande liegt! Und doch war's so lockend. Es hob sich der Fuß, es pochte das Herz! Wie schwer ist solch ein Aufbruch, wenn man besonnen bleibt, und nicht von einer Leidenschaft gestachelt wird – das Tor ward zugeschlagen, und nun dachte ich: Du hättest es doch wagen sollen! – Die Zeit war von peinigender Unruhe, da ich auf den neuen Gefängniszustand, auf das neue Verfahren wartete, sie war ganz überflüssig, förderte gar nicht zum Ende, war ein unnützes Interregnum und doch ein Gefängnis. Sie dauerte wohl eine Woche, ich lechzte nach der Veränderung, nach dem neuen Gefängnisse, das Unbekannte schmeichelt mit tausend Möglichkeiten; auch für die Flucht hoffte ich neuen besseren Anhalt; so kam der letzte Abend und mit ihm ein schweres Gewitter. Solange [59] ich gefangen war, hatte die Sonne geschienen, und dadurch war meine Unruhe, meine Pein nur befördert worden: je lockender die Welt aussieht, desto schwerer ist das Gefängnis. Jetzt, unter dem gießenden Regen, den krachenden Donnerschlägen, den zuckenden Blitzen mußte jedermann im Zimmer bleiben, ich hatte wieder eine gleiche Gemeinschaft mit der Welt, das war beruhigend. Und welch ein Genuß für meinen Privataberglauben war das Unwetter! Solche ungewöhnliche Erscheinung mußte einen großen Wechsel in meinem Leben ankündigen; wer im Unglück nicht abergläubisch wird, der ist sehr stark, oder sehr fühllos, oder sehr arm an Phantasie. Jedes kleine Möbel, jedes Buch hatte mir eine Bedeutung, wenn es so oder so postiert war, jede wiederkehrende Beschäftigung, das Aufziehen der Uhr, ob der rechte oder der linke Strumpf zuerst ausgezogen wurde, ob ich das Licht so oder so anzündete oder auslöschte, das hatte alles seine Bedeutung, seinen Einfluß auf Europa und rückwirkend auf mich. Wenn man nichts zu tun hat, als zu hoffen, da wird jeder Gegenstand tätig. Und besonders, wenn alles so einförmig wiederkehrt, so unverrückt bleibt. Jetzt tobte ein wild Gewitter, jetzt mußte alles anders werden! Ach, ja wohl!
Wenn ich wieder hinunterkomm',
Da sind die Blumen verschwunden,
Da hat wohl auch dein liebes Aug'
Sich neuen Weg erfunden.
Es ist so lang', so lange her,
Daß man mich hält gefangen,
Und da dein Herz eine Blume ist,
Ist's ihm wie jenen ergangen.
Sollt' ich die Welt je wiedersehen,
Dein Aug' je wieder erblicken,
Ach Gott, ich will den Blumen und dir
Verzeihung blicken und nicken.
[60] Es ward anders. Sonntag des Nachmittags nahm ich Abschied von meinem Gefängnisse, und so wie man, wie gesagt, auch unter den Dürftigen Reiche und Arme findet, so hoffte auch ich von einer Veränderung des Orts und der Verhältnisse. Ich setzte mich zu meinem Inquirenten in den Wagen; auf meiner Seite war er zugeschlossen, zur andern hinaus aber sah ich die Straßen und die Spaziergänger, welche sonntäglich geputzt dahineilten zu ihrer Lust und Erholung. Das schneidet tief ins Herz: Bist du schlechter als diese Masse gewöhnlicher Leute? Sie dürfen Sonne und Freiheit kosten, und du siehst seit langer Zeit beides zum ersten Male wieder, und nur von weitem, und nur, um für lange Zeit davon Abschied zu nehmen, vielleicht für immer. – Der Abend dieses Tages fand mich in einem sehr kleinen und fast ganz dunklen Gefängnisse, der Verzweiflung Vorbote; die Trostlosigkeit lag mit mir auf dem harten Lager: das Geld, die Bücher, der Tabak, alles war mir abgenommen worden, ich hatte nichts zur Beschäftigung als die vier kahlen Wände, einen fichtenen Tisch, einen fichtenen Schemel, ein blechern Handbecken, das im Staube des Fußbodens stand. Der Wärter, ein großer, vierschrötiger Mensch mit kahlem Kopfe war kurz, fremd und grob. Es war das Äußerste, was mir begegnen konnte, daß ich nach dem früheren Gefängnisse zurückverlangte wie nach einem Paradiese; ich weiß kaum, mit welchen Kräften ich die ersten Wochen dieses Zustandes überlebt habe: denke Dir das kleine, düstere Loch, in den Winkel von zwei Gebäuden versteckt, durch einen Blechkasten verdunkelt, und mich ohne den geringsten Anhalt darin, herumtappend den langen Tag und Abend, ohne Gedanken, ohne Hoffnung. Die Untersuchung war mir jetzt mit dem grauen Gesichte einer Unendlichkeit angekündigt, der Zustand konnte so lange dauern, als mein Leben – o die Menschen, die Menschen! dachte ich wohl manchmal da, wenn ich aus der Dumpfheit aufwachte, die Menschen treiben miteinander [61] das Unverantwortliche. Umsonst aller Wunsch! Meine Existenz war ans Gefängnis verloren, und zwar ans todeinsame, dunkle, trostlose. Was Rechtes, Genaues weiß ich eigentlich nicht mehr von jener ersten Zeit meiner jetzigen Gefangenschaft, ich erinnere mich nur, daß ich oft aus einer Starrheit und Taubheit erwachte, mich an der Mauer lehnend fand und zusammenschauerte, daß eine mir ganz fremde Gesellschaft in meinem Kopfe zu wohnen schien und Dinge trieb, von denen mein eigentliches Ich gar nichts wußte. Ich dachte mit Schauer an die Wahnsinnigen, die furchtsam in sich selbst zusammenkriechen. Meine Nerven wurden nachgerade, auch sehr zupassend erschüttert: der eintönige Schildwachentritt auf der Flur, das regelmäßige Ablösen nach je zwei Stunden, besonders zur Nachtzeit, zerrüttete mich ganz. Mein Bett stand nämlich an einer Mauer, die den Gang bilden half, durch welchen die Wachmannschaft vorüber trottete; war ich nachts eingeschlafen, um die wüste Existenz zu vergessen, so fuhr ich immer nach je zwei Stunden hoch auf, wenn die Schritte tief an mein Ohr traten, oder gar die Waffen klirrten und polterten. Gott bewahre meinen ärgsten Feind vor solchem Zustande, war das Wort meiner Mutter; ich hatte einst von einem Gefangenen gehört, der alle Stunden auf den Anruf der Wache antworten mußte; es war ihm das Nervensystem dadurch so zerstört worden, daß er sich nicht mehr tief genug unter die Erde retten konnte, um keine Nähe, kein Geräusch zu empfinden. In einem Gemache, das dreißig Fuß hoch, mit einem Erdwalle bedeckt war, überfielen ihn Zuckungen und Krämpfe, wenn jemand über den Wall schritt. Der Mann quälte mich sehr; ich fuhr zusammen vor den eigenen Bewegungen meines Armes oder Beines. Es war recht schlimm; und daß solch Leben endlos vor mir lag, ach und liegt, dies mochte wohl das schlimmste sein; es scheidet sich schmerzhaft von Leben und Jugend, und wenn man obenein nicht zu der Entsagung kommt, [62] wenn man nicht scheiden will, so leidet man sehr, sehr. – Ich habe damals oft an das gedankenlos viel gebrauchte Bild des Prometheus gedacht, und die Herzenskenntnis der Griechen bewundert; der gewaltige Mensch ist in erschreckende Einsamkeit an den Felsen geschmiedet, er, der die Menschen zusammenband gegen die Götter, ist einsam, starrt ins Unendliche, Leere, und an der Leber nagt ihm der Geier, gegen den er keine Abwehr, keine Waffe besitzt; jawohl, an der Leber nagt der einsame Kerker, er wühlt und bohrt, und der stöhnende Seufzer ist eine Erleichterung.
Es sind wieder viele, viele Tage vergangen, ohne daß ich Dir schreiben konnte; die Mittel, Papier zu erlangen, waren alle versiegt, jetzt ist wieder ein Fetzen, wenn auch grau und schmutzig, in meiner Hand. Ich sage nichts mehr über jene erste Zeit des hiesigen Kerkers, ich weiß nichts mehr, ich habe nicht geweint und nicht geklagt, Tränen gibt es nur, wenn wir die Hilfe des Leids in der Nähe glauben, wenn das Leid in unsere Vorstellung und Fähigkeit des Schmerzes paßt, wenn das Leid uns natürlich bleibt. Ich litt damals dergestalt, daß ich nicht daran gedacht habe, es fehlten mir Bücher und Schreibmaterial, und sie könnten mir wohltätig sein, Gott mag es wissen, wie doch die langen Tage und Nächte an mir vorübergezogen sind – sie sind's doch; dessen erinnere ich mich, daß ich zuweilen den Schemel auf den Tisch gestellt habe, um zu dem versetzten kleinen Fenster hinaufzukommen, um durch die schmale Lücke, welche oben offen blieb, den Streifen blauen Himmels zu sehen, nach dem ich dürstete, wie ein Wüstenreisender nach einer Wolke dürsten mag. Dort oben am Fensterchen fand ich die Worte Dantes mit Bleistift angeschrieben, welche die Devise aller Gefängnisse geworden und in allen zu finden sind, die Worte: »Lasset draußen die Hoffnung, die ihr hier eintretet.« – [63] Laßt draußen die Hoffnung, das hat lange, lange in meinem Kopfe als einziger, ungedachter Gedanke herumgeklappert; wie lange hab' ich von dieser eintönigen Hoffnungslosigkeit gelebt! – Eines Morgens ward's besser, ich bekam ein anderes Gefängnis, mein jetziges, es liegt nicht an jenem Durchgange, wo die Wachposten vorübertrampeln, das versetzte Fensterchen ist etwas tiefer, und ich sehe durch die Blendenöffnung oben die Spitzen eines Baumes – Vorteile, die mir einen glücklichen Tag bereiteten. Alles übrige blieb beim alten, dennoch schien mir der Fortschritt riesengroß; für das Elend ist alles Glück wohlfeil. Aber es dauerte nicht lang: Jetzt kam die schmerzhafteste Sehnsucht nach Beschäftigung, nach einem Anhalt der regellos schweifenden, sich zu Tode hetzenden Gedanken. Ich warf mich aufs Bett, drückte den Kopf in die Kissen, aber die Gedanken werden davon nicht berührt, sie fangen ihren wüsten Tumult wieder an, sie schreien nach Stoff, ich sprang wieder auf und lief umher, ich versuchte es, ob nicht ein altes Lied in der eingetrockneten Kehle raste, krächzend begann ich, denn die Stimme rostet in diesem Mangel aller Übung völlig. »Ruhe da!« schrie die Wache unter dem Fenster, die Wache auf dem Korridor – ich hielt mich für verloren. Aber wahrscheinlich hatten mich just die Wachen gerettet, der Zorn wachte auf und er fand leicht seinen Stoff, so wurde der Heißhunger nach Gedanken für den gefährlichen Augenblick beschwichtigt. – Ihr wißt es gar nicht da draußen, was Ihr habt, wenn Ihr Euch über Mangel oder Langeweile beschwert; Eure Tür ist offen, Eure Fenster sind's ebenfalls, Ihr seht Menschen, Ihr seht Tiere, wenn Eure Gedanken gähnen, was wißt Ihr von Leid! Wenn Euer Leben stocken will, denkt an das schreckliche Nichts eines Gefängnisses!
[64] Hat denn nicht der menschliche Geist Kraft genug in sich, ohne Anknüpfung und äußere Mittel zu bestehen? Ist der meine so besonders schwach? Allerdings produziert mein Geist unablässig, aber weil das Geschaffene auf keine Weise nach außen hin Erscheinung und Gestalt empfangen kann, verwirrt sich alles in mir und wird zur Last; der Geistesarme mag in solchem Falle sogar besser daran sein. Einen kleinen Trost finde ich darin, die traurigen Eindrücke in ein paar Verse zu gestalten, die also gewonnene Form befreit gewissermaßen, und der also geordnete Zustand erhält wieder etwas von dem Adel in Beziehung auf übrige Welt, wie man ihn bei solcher Erniedrigung am meisten braucht. Mehr als zwei oder drei behalte ich freilich nicht, und ich möchte Dir gern einige ältere herschreiben, um neue machen zu können, wenn Verse nur nicht soviel Platz wegnähmen. Und ich kann mich nicht entschließen, sie als Prosa ohne Absatz herzuschreiben, es scheint mir dies eine grobe Beleidigung der Schönheit zu sein, eine Figur in schmutzigem Schlafrocke auf dem Balle. Und wie rührend ist mir dies Bestreben, Dir all das aufzuschreiben, da es wohl nie vor Deine Augen gebracht wird! Diese Unendlichkeit meines Gefängnisses ist eben der Tod selber; in jetziger Weise kann es ein Leben lang fortgehen; wie beneidenswert scheint mir derjenige, welcher zu zwanzig Jahr Kerker verurteilt ist, er kann doch berechnen, ob ihm wahrscheinlicherweise noch ein paar Jahre für die freie Luft und die Menschen übrig bleiben: jeder Tag fördert ihn doch! O kommt, Verse!
Wie gehen die Stunden langsam hin,
Ich glaube, der Tag steht still,
Mein müder, abgehetzter Sinn
Weiß nicht mehr, was er will –
Hat alles zehnmal schon durchirrt,
Was jemals er erlebt,
Was nur vorüber ihm geschwirrt,
Was er gehofft, erstrebt –
[65]Er weiß nichts mehr, und dumpf und tot
Liegt alles vor ihm da –
Mein Gott, erbarm dich dieser Not,
Der Wahnsinn tritt mir nah!
Die Glocken läuten draußen,
Die Leute beten zu Gott –
Und den Sturmwind hör' ich brausen,
O Glocken und Sturm, weckt Gott –
Weckt Gott, daß er mir helfe,
Ich bin ja auch sein Kind –
Es heulen die Glocken wie Wölfe,
Ans Fenster schlägt höhnend der Wind.
Mit dem Sonnenschein mag es draußen ein Ende haben, Regen und Wind schlagen an meine Blechblende, es wird Herbst sein – das beruhigt mich in etwas, nur die Hypochondristen gehen jetzt draußen spazieren. Aber es ist Sonntag, hat mir der Wärter gesagt, und der Schmutz und das Unsonntägliche ist rings um mich her in alter trauriger Gestalt.
Heut ist Sonntag in der Welt,
Es putzen sich alle Leute,
Ein jeder hofft für Glück und Geld
Heut irgend eine Freude.
Hab' drum mein bestes Hemd erwählt,
Wollt' auch gern Sonntag haben –
Du sieche Brust, so arg gequält,
Sollst dich am Hemde laben.
Wenn sie auch Dir nicht nahe liegt, denn Du bist ein gottloser Mensch, aber andern Leuten ist die Frage natürlich: Warum suchst du keinen Trost bei Gott, warum flüchtest du nicht, von aller Welt verlassen, in den Schoß der Religion? Darauf muß ich gestehen, daß ich nach der allgemeinen Ausbildung jetziger Jugend alles auf die Festigung meines [66] Charakters verwendet, alle höheren Bezüge da hinein gewoben habe, und daß es mir nichts hilft, ein Außenliegendes zu suchen. Ist es mir nicht gelungen, was die Menschen Gottheit und Religion nennen, in meine innersten Fasern aufzunehmen, dann bin ich wirklich verlassen, wenn die Welt mich verläßt. Also ist es mir aber niemals geworden, meinen inneren Halt haben nicht Leid noch Entbehrung erschüttert, und insoweit hat mir der jetzt ziemlich allgemeine Zustand, welchen die Theologie beklagt, Probe gehalten. Ist er ein falscher, so wünsche ich denen Glück, welche imstande sind, einen anderen mit sich in Einklang zu bringen; ich glaube es gern, daß der Traditionsgläubige festeren Anhalt nach dieser Seite hin finden mag, aber ich fürchte, die übrigen selbsteigenen Stützen des Charakters, die selbstgezimmerten, sind ihm schwächer und unkräftiger. Ich bin zu trocken vernünftig, um einem Dogma anzugehören, das mir nicht auf dem Wege meines Gedankens zukommt, und fühle mich zu sehr in poetische Ahnungen hineingedrängt, um mir das Unsichtbare vordefinieren oder wegdefinieren zu lassen. So glaub' ich an die Kraft und Macht des Gebetes, aber wenn es ein Unglück ist, so habe ich es, die Kraft und Macht des Gebetes nur darin zu finden, daß es mir selber Kraft und Macht gewährt. Soll ich Dir's nun offen gestehen, daß es mir wie kläglich und jämmerlich vorkam, just im tiefen Elende das Gebet so aufzusuchen, wie es mir niemals nahegetreten, niemals für mein Ich natürlich gewesen war; diese Verleugnung meiner selbst mochte ich nicht. Der innerste Gedanke eines nicht verwahrlosten Menschen ist für mich ein Göttliches; dagegen zu lügen ist mir ein Frevel, eine Sünde, wie es die Terminologie nennt – das Glück vielleicht bekehrte mich zu etwas Herkömmlichem, das meinem Wesen sonst fremd ist, das Unglück nimmer. Der geheimste, beste Stolz ist gar oft der Lebensodem einer moralischen Existenz, man muß ihn respektieren, selbst beim Bösewichte. [67] Ich konnte Gott bitten, daß er mir das Betteln erlasse, weil ein solch Verhältnis zu ihm nie das meine gewesen, aber ich konnte nicht bitten, daß er eingreifen möge in mein traurig Schicksal; solches ruckweise Regieren der Welt mag für viele ein segensreicher Trost sein; wehe dem, der ihn leichtsinnig den Menschen rauben wollte, für mich ist er ein Fremdes. Ich habe mit Gott gesprochen, aber mein Individuum ist dabei für mich selbst unverloren geblieben. Sagt man, ich habe keine Demut, und sei deshalb noch weit ab von dem, was das Dogma heische, so hat man vollkommen recht. Aber es ist eben mein Glaube, daß ich nichts in mich aufnehmen kann, was meiner besten Innerlichkeit nicht zupassen will, und daß ich nicht imstande bin, ja es für frevelhaft halte, gegen mich selbst zu lügen.
Und nach alledem wirst Du mir doch glauben, daß es meine besten Stunden in diesem Elende sind, wenn ich einen antwortreichen Verkehr mit der Gottheit finde, wie ich mir sie denke durch Welt und Geschichte regierend. Eben wenn sie antwortet aus mir heraus, dann hab ich meines Erachtens das richtige Verhältnis zu ihr gefunden. Warum soll sie der eine nicht im brennenden Busche sehen, der andere im Säuseln der Lüfte hören, der dritte im Todesschweigen der Wüste oder des Kerkers!
Wenn Du diese schmutzigen Blätter je sehen solltest, wie würdest Du lächeln, daß ich nach Deiner Meinung echt deutsch das letzte Stückchen Papier für metaphysische Redensarten verbrauchte. Ich hatte eben einen gesammelteren Tag gehabt und über Gott gedacht, und über die Art und Weise, in welcher die Menschen sich auf der Erde untereinander eingerichtet, und daß sie soviel einzelne ausstoßen müssen durch Gefängnis und Tod. Nebenher hab' ich mir eine kleine Beschäftigung erfunden; täglich wird mir eine Flasche ordinären Bieres verabreicht, an welcher der Kork mit Bindfaden [68] festgehalten wird. Diese kleinen Stückchen sammle ich mir, flechte ich zusammen, und fasere sie dann am Ende auf, um eine Art Lunte zu erschaffen. Mit dieser stehe ich dann stundenlang an der heißen Ofenröhre – denn es ist kälter geworden und wird geheizt – und warte, ob sie sich nicht entzünden werde. Der Ofen nämlich wird draußen gefeuert, man hat mir aber eine Pfeife und ein Restchen Tabak wie der gegeben für den Fall, daß ich endlich eine Freistunde bekäme, und weil auf dem Hofe geraucht werden darf; Feuerzeuge sind in den Gefängnissen nicht gestattet, und Rauchen ist streng untersagt, Pfeife und Lorgnette, die mir gelassen ist, sehen mich also ganz ironisch an, und die Lunte will sich nicht entzünden; das Streben danach ist mir aber doch eine Beschäftigung.
Jetzt ist noch neuer Schmerz von außen hinzugekommen – um Gottes willen macht draußen nicht noch Forderungen an mich, die Wände sind dick, die Schlösser und Gitter fest, werft nicht noch Skorpionen in meine Einsamkeit, ich kann niemand helfen, ich gebiete bloß über acht Schritte Raum. Als mein alter Vater Sonntags von der Kanzel gekommen ist, da sind Pfarrkinder zu ihm getreten und haben gefragt, ob es denn wahr sei, ein Reisender habe es erzählt, daß der älteste Pfarrsohn ein Verbrecher geworden sei. Tritt uns erst die Beschränktheit nahe mit allen Rechten der unkundigen Teilnahme, des unerfahrenen Vorwurfs, dann wird die Lähmung vollständig. Der Vater jammert und fragt, und ich kann ihm nicht helfen, ja ich kann ihm nicht antworten, denn es fehlt mir Papier und Feder, und zur Tortur hat man diesen Brief und ein Billett Kamillas hereingelassen, seit Monden das erste Verbindungszeichen mit der Welt, und ein so trauriges wie ein Grabesflor – verhängt ihr mir auch noch die Welt draußen mit weinerlichen Wolken, die Welt, nach der ich schmachte? Wo soll ich hin mit [69] meinen Wünschen! Unglückliche Kamilla! Sie hat nach Grünschloß keine Nachricht gegeben, wo sie hin sei, sie hat Himmel und Erde aufgeboten in der fremden Stadt, um zu mir zu dringen, mir zu helfen, jetzt liegt sie erschöpft darnieder, niemand hilft ihr – und ich kann nichts tun, als an die vier Wände laufen.
Hinter jenen Eisenstäben
Liegt das weite, offne Feld,
Liegt die Freude, liegt das Leben,
Gottes große, schöne Welt –
Tränen, Tränen, ach ihr brechet
Jene harten Stäbe nicht –
Ferne Sonnenstrahlen, sprechet
Von der schönen Welt mir nicht!
Denn es schmerzt mich so unsäglich,
Daß das Herz mir stille steht –
Und so kommt die Welt mir täglich,
Bis die Sonne untergeht.
Es ist Abend geworden und wieder Tag und wieder Abend und wieder Tag, der Geier hat sich dick gefressen an meinem Eingeweide, jetzt ist es wieder ganz still; ein Lied ist mir geblieben aus der schlaflosen Nacht mit einem garstigen Gefängnisschlusse:
Hier gehen in goldenen Sälen
Die Menschen hin und her,
Sie haben nur zu wählen,
Was das Vergnüglichste wär'.
Hier weint ein blasser Vater
In dunkler Abendnot,
Es fehlt ihm Trost und Rater,
Die Kinder schreien nach Brot.
Hier wandeln Liebesleute
In dunkler Straße hin,
Sie kichern vor lauter Freude,
Vor fröhlichem Lebenssinn.
[70]Hier sitzt in trüber Kammer
Der Gefangne mit seiner Qual,
Mit seinem einsamen Jammer,
Mit der schwarzen Gedanken Zahl.
Und ob dem allem schweben
Himmel und Sterne still –
Dies ist das Menschenleben,
Es kommt, wie's eben will.
Wißt Ihr, was Resignation heißt? Ihr versagt Euch eine Freude, ja Ihr entsagt manchem Notwendigem, aber Ihr lebt weiter. Ich kann dem trostlosen Vater, der verlassenen Geliebten mit keinem Worte beistehen, und ich bin endlich auch ruhig geworden, ich schlafe wieder ein, ich esse meine bescheidene Kost, was man sagt, ich bin resigniert. Sind's doch Gedanken, neue Eindrücke gewesen, die ein paar Tage erfüllt haben, ist doch solch stechender Schmerz auch ein Gewinn neben Öde und Langeweile! Ach, Hippolyt, ich habe es oft mit Redensarten bekleidet, ich hielt's für unrecht, das nackte, schonungslose Wort zu wählen, aber muß es nicht einmal gesagt sein, wenn es denn doch vorhanden ist? Wenn der Körper verschleimt und verstopft wird, und man hat selbst Freiheit vor die Türe zu gehen, was ist's mit dem Leben? Wenn die Welt aus den Fugen reißt, und nichts allgemein Geglaubtes und Geachtetes übrig bleibt, was lohnt's zu leben? Bewahrst Du dabei Nerven wie straffe Stricke, wohl Dir, Du kannst mit Hilfe der körperlichen Elastizität hie und da einen Reiz gewinnen, die Verworrenheit zu einem pikanten Anblicke ineinander dichten, am kleinen Zustande Dich laben; aber wenn auch der Körper blasiert wird, was dann? Was ist der Ruhm? Eine Nahrung kindischer Eitelkeit; was ist die Teilnahme, welche Dir werden mag in Freundschaft oder Liebe? Ein Zufälliges, weil Du just mit Leuten in Berührung kommst, die das mögen, was Du scheinbar besitzest, und was Dir über Nacht eine Laune, [71] eine Krankheit rauben kann! Was ist die Menschenentwicklung, für welche Du dich erhitzest? Ein so langsam und mannigfach Werdendes, daß Du Dich in Ewigkeit seiner nicht bemächtigen kannst, wo Du mit allen Schlüssen und Folgerungen am scheinbaren Endpunkte Dich getäuscht, Dich in den Händen einer ewig unerklärten Macht siehst? Was ist Poesie? Eine Spielerei Deines Herzens, solange Dein Herz Kraft hat zu erfinden, zu kombinieren, zu empfangen und zu genießen, und wenn Dir die Kraft ausgeht, ist sie nichts. Elastische Fähigkeit und Kraft ist alles, von ihnen wird alles bedingt; wenn sie Dir fehlen, kommt zu Deinem größten Reichtume die Blasiertheit, ein künstlich Wort, das wir aufgenommen haben, um den garstigen Ausdruck »Stumpfheit« zu umgehen. Ich möchte die Augen schließen können, und lange, lange schlafen. Klägliche, schwächliche Geschöpfe, die ihren Zorn gegen den Gefängnisherrn richten; der ist eben auch eingefügt in den großen Zusammenhang, welcher immer der einzelnen spotten muß, welcher von unzulänglichen Menschen erfunden ist. Wenn man den Gefängniswärter hassen wollte, dann würden sie schnell zur Hand sein mit weisem Tadel und meinen: Der Mann kann nicht dafür. Geht doch zwei, drei, vier Schritte weiter, wer kann dafür? Der Mensch im großen, das heißt der Mensch im kleinen; ich habe Lust, ihn völlig aufzugeben, und in Nacht und Öde zu versinken. – So klug war wohl Prometheus auch, aber er konnte nicht sterben. Das Leben allein ist schwer, und der Tod ist unmöglich. Wenn ich nur schlafen könnte!
Graue, graue Tage sind vorübergeschlichen, vorübergekrochen; ein kleines Geschöpf hat sich meiner erbarmt, ein Mäuschen, und nun bin ich nicht mehr allein. Ich kann eigentlich diese kleinen Tiere nicht leiden, aber in der Wüste hören die feinen Unterschiede auf, ist das kleine Ding doch ein lebendig Wesen, das unabhängig von mir seine Bewegungen [72] macht, und durch diese Selbständigkeit in meine Öde und Leere Abwechselung, ich möchte sagten objektive Abwechselung bringt. Wenn ich so ruhig auf meinem Schmerzenslager liege, dann wagt sie sich immer weiter vor, um die kleinen Brotkrumen zu suchen, die ich zerstreut habe. Fehlen diese, so knubbert sie an meinen Stiefeln, als wüßte sie, daß ich keine Stiefeln mehr brauche; gläsern ist das kleine Auge, aber die Bewegungen des Körperchens deuten auf Wohlbefinden und Behaglichkeit – soll ich das Tier beneiden? Pfui, wie schwach! Wer aus dem Kreise seiner Existenz heraus will, hat seine Existenz schon verloren. Aber ein Sperling setzt sich zuweilen auf die Spitze des Blechkastens, er gewährt keine Unterhaltung, da er nicht lange bleibt, aber er gewährt mir Freude und bringt mir die Märchenwelt. In diese hüll' ich mich wie in weiche endlose Gewänder, mit denen man auch Augen und Ohren verschließt, um in eine ganz fremde Welt zu sinken; Traum und Glaube sind so gefällige Träger, wenn unser Geist keine Hilfe hat, ich reite sanft auf dem Rücken des Vogels Rok, hoch über die südlichen Wüsten, Gebirge und Wasser dahin, nachts zwischen den Sternen umher, bald links grüßend, bald rechts. Auf den Sternen nämlich wohnen verteilt alle die Menschen, die mir jemals wert gewesen sind, sie reichen mir die Hand beim Vorüberfliegen, und wünschen mir glückliche Reise – ach, es wäre dem Herrgott doch eine Kleinigkeit, was im Märchen möglich ist, in Wahrheit möglich zu machen, und wie neu und interessant wäre die Welt, was gäb's für Kombinationen, und die Dichter herrschten, denn die Phantasie herrschte. Vielleicht ist die nächste Zukunft die Märchenzukunft. Wenn ich jetzt stürbe, müßt' ich sie finden. Dann ist kein Gefängnis mehr möglich, als Fliege, als Sperling flög' ich davon. Wo bin ich? So wechselt's im Menschenherzen, und das stete Erwachen in diesem schmutzigen Loche ist so unnennbar schmerzhaft! Manchmal, wenn mich ein [73] fester Schlaf und Traum beglückt, wache ich rüstig auf, und erkenne dann mit Entsetzen wieder, wo ich bin – Traum und Märchen, sie könnten vor Blasiertheit und vor Kerker retten, kommt, kommt!
Steigt herunter auf goldenen Wolken!
Es laufen Gedanken in mir herum,
Darunter auch jenes Wort,
Der Welten tiefes Mysterium,
Hasch' ich, so fliegt es fort!
Ich lausch' oft ganze Stunden lang,
Ob es ein Geist mir nennt,
Ich höre nur verworrnen Klang:
»All Wissen hat bald ein End'!«
Und sprech' ich laut, was ich empfand,
Was mir durchs Herze zieht,
So wird daraus solch bunter Tand,
Ein klein armselig Lied.
Unglaubliches ist geschehen, und die Veränderung ist groß; von den alten, längst gelesenen Büchern, die ich im ersten Gefängnisse hatte, sind mir einige verabreicht worden. Für Lektüre helfen sie nun zwar nichts, aber ich schreibe jetzt alle weißen Plätzchen voll, welche die Ränder des Gedruckten bilden, und die Titel- und Schlußblätter bieten hoffnungsreichen Raum. Die Freude war groß, und es ereignete sich noch Größeres. Als ich heut morgen noch im Bette lag, um den Vormittag kürzer zu machen, höre ich hinter der Wand neben mir Geräusch und Stimmen. Ich unterscheide, daß ein Gefangener neben mir eingebracht wird, ich sehe die Hoffnung deutlich zu mir herantreten, daß eine Verbindung, vielleicht gar ein Gespräch möglich zu machen ist, der Verkehr mit einem Menschen tritt mir nahe, ich bin außer mir. Um nichts zu übereilen, ließ ich mehrere Stunden vergehen. Alles ist still und tot wie sonst, ich klopfe leise[74] an die Wand, und erschrecke selbst vor diesem signalartigen Geräusche – alles bleibt still; ich fasse mir ein Herz, und da die Wache auf dem Korridor gerade abwärts schreitet, klopfe ich stärker – alles bleibt still, leise, ganz leise, wie aus weiter Ferne hör' ich Erwiderung des Klopfens. Vorsichtig, langsam gesteigert setzen wir die Versuche fort, bis wir den Winkel, in welchem mein Bett steht, als den leichtest schallenden aufgefunden. Ich wage es sogar, die heiser gewordene Stimme da hineinzuschicken, aber die Wache verhindert große Höhe und Stärke, wir müssen oft lange still sein, aber in den Bemühungen hab' ich allen Jammer vergessen, mein Kerker hat einen belebten Winkel, alles andere existiert im Augenblicke nicht mehr für mich, es ist gegen Abend, ich habe den Tag gewonnen, und ich weiß bereits den Namen meines Nachbars, und daß er schon drei Monate sitzt; mehr freilich war noch nicht zu verstehen, und ich weiß nicht, wieviel ihm von meiner Mitteilung deutlich geworden ist, aber ich bin selig, und wenn wir nicht mehr haben können als das Klopfen, es verbürgt doch eine Menschennähe, die Todeseinsamkeit ist vorüber.
Es hat lange an Papierlappen gefehlt, dafür hat sich mit meinem Nachbar eine Unterhaltung eingerichtet, wobei zwar manches Wort verloren geht, die aber doch Anknüpfung an ein wirkliches Leben ist. Gott, was ist's für Trost um eine Menschenstimme, um ein Gespräch nach solchem Grabesschweigen! Wer nie gefangen saß, der weiß es nicht zu schätzen, was Menschennähe sagen will. Ich liege jetzt den größten Teil des Tages auf meinem Bett, das Gesicht nach unten kehrend, weil ich in dieser Stellung, so unbequem sie auf die Länge ist, meinen Nachbar am besten verstehen kann. Der Glückliche hat drei Bücher, den Faust, Dr. Katzenbergers Badereise und die Gerichtsordnung seiner Heimat; er hat die [75] Sachen schon fünfmal durchgelesen, und beginnt jetzt den sechsten Kursus, aber es ist doch ein Anhalt an gegebene Dinge, und der ist von so großem Werte, wie es jener Punkt war, den Archimedes außerhalb der Erde und seiner Umgebung suchte, um den Erdball in eine andere Bewegung zu setzen. Er liest mir vor, und obwohl die Wand manches verschlingt, und in je zwei Minuten eine Pause eintreten muß, wenn die Wache vorüberschreitet, so genieß' ich doch manches davon. Freilich müssen wir sehr aufpassen, daß nicht einer der Wärter oder Aufseher nahen kann, ohne daß wir's bemerken, denn sonst hat unsere Herrlichkeit schnell ein Ende. Wir sind aber schon so eingeübt, wie ein paar Wilde, die durch die stillen Urwälder flüchten und auf große Entfernung hin den Tritt eines Hirsches oder Panthers, einer Rothaut oder eines Weißen unter scheiden. Wir haben auch ihren Signalruf angenommen, und wer von uns zuerst etwas nahen hört, oder die Möglichkeit einer Gefahr wittert, der ruft »Hugh!« und der andere schweigt sogleich. Beneide mich um die Romantik, welche in meine Öde gekommen ist, aber stähle mir auch die Nerven dafür.
Kannst Du ein Bett zurechtmachen? Unterrichte Dich ja beim nächsten Kammermädchen, es sollte mich sehr wundern, wenn Du, ein wirklich egoistischer Feind des Menschenvereins, dem Gefängnisse entgingest, und dort ist solche Kenntnis nötig. Anfangs kam ich mir wie ein zu Weibern des Harems erniedrigter Bettelsardanapal vor, wenn ich abends vor dem zerwühlten Lager stand und meine eigenen Hände gebrauchen sollte – das gibt sich mit der Zeit; zwischen diesen vier traurigen Wänden schwindet alle Illusion und gemachte Ehre, das Notwendige verhöhnt und drängt so lange das Herkömmliche, bis man nur noch das nächste Bedürfnis hört. Ich bin noch weiter gediehen: es wird selten und oberflächlich ausgekehrt, abgestäubt gar nicht, so was ist Luxusartikel, und der Wärter, dem dreißig Gefangene obliegen, hat dafür[76] auch wirklich keine Zeit; der Schmutz ist also arg, und das bleibt ein lähmender Schmerz für mich; für Wäsche kann ich nur wenig vom schmalen Kostgelde, das der Wärter auslegt, absparen, was bleibt mir also übrig, als bisweilen mein graues Blechhandbecken herzunehmen und Taschen- oder Handtücher zu waschen? Und der Weltverbesserer bedürfte des Unterrichts von einem alten Weibe! Das Leben hat alle Taschen voll Ironie! Jetzt, da wir's einander erzählen, mein Nachbar und ich, wird es spaßhaft: wenn ein zweiter derselben Notwendigkeit folgen muß, dann wird sie dadurch auf der Stelle legitim, und sie kann als ein gerechtfertigtes Objekt zu allem ausgebeutet werden. Soll ich Dir nun das Schlimmste gestehen: in den vierzehn Tagen hat sich unser Gespräch und unsere Bekanntschaft schon sehr abgenutzt, wir sind schon mitunter auf dem Trocknen. Er hat mehr Aussicht, einmal wieder loszukommen, als ich; aber ihn kümmert dafür eine andere Sorge, aus der ich ihm ein Lied gemacht habe.
Es singen drei Gefangene:
Es zogen wohl drei Schwäne
Vom Süden nach dem Nord,
Sie suchten alte Freunde –
Die Freunde waren fort.
Es zogen wohl drei Schwäne
Vom Norden nach dem Süd,
Sie suchten die alten Ufer –
Die waren verwüstet, verblüht.
Sie hatten nicht mehr Heimat,
Nicht Freunde in der Welt –
Da haben an den Felsen
Sie sich die Köpfe zerschellt.
Und wenn wir einst befreiet,
So kennt uns niemand mehr,
Es bleibt uns nur zu sterben,
Die Welt ist wüst und leer.
[77]Der Sommer scheidet, kalter Wind
Fällt auf die Dächer nieder –
Des blauen Himmels Farben sind
In Grau verblichen wieder.
Als ich die Welt zum letzten sah,
Da war sie hell und milde,
Ich weiß nicht, was seitdem geschah,
Ich sah sie nur im Bilde.
Ich fühl' auch heut nur kalten Wind,
Seh' keine Blätter fallen –
Wenn ferne Lieben gestorben sind,
Hören wir Glocken hallen.
Du wunderst Dich vielleicht, daß ich über das, worin der Mittelpunkt meines Elendes ruht, über den Staat selbst, so wenig denke und zusammenstelle; ich wundere mich manchmal selbst darüber; aber es ist nicht anders. Was sollt' ich? Einen Staat konstruieren wie Sieyès, von dem man sagt, daß er immer mehrere Exemplare des Staates in den Taschen gehabt? Dies Definieren aus der Luft ist nicht meine Sache, und Du glaubst nicht, wie die Gedanken, zaumlos freigegeben wie die Pferde der Ukraine in den unabsehbaren Steppen, Du glaubst nicht, wie sie in der Irre müde werden. Man denkt im geschäftlichen Leben, wo des Tags kaum zwei einsame Stunden gewährt sind, viel mehr Darstellbares; unser Inneres braucht Abwechselung, Anregung ebensogut, um zu schaffen, wie der Körper, um sich kräftig zu entwickeln. Es gibt kein abgesondertes Innere als die Schwärmerei. Und soll ich toben, daß der Staat Gefängnisse braucht? Würden wir einen Staat erhalten ohne sie? Mein moralisches Gefühl, das, was man innerste Ehre nennen kann, verlangt jetzt gerade von mir die größte Milde, weil ich selbst hart betroffen bin und die Rache mir etwas Unehrenhaftes dünkt. Die Gefängnisse selbst anbelangend, würde ich eine unabhängige Kommission der Humanität im Staate errichten, [78] welche die Gefängnisse kontrollierte, und, unabhängig vom Gericht und von der Regierung, wenn auch mit Rücksicht auf den jedesmaligen speziellen Fall des Gefangenen, verfügte. Die Untersuchungsarreste sind der wunde Fleck; sie erheischen strengste Aufsicht und sollen doch noch nicht strafen, meist sind sie aber schmerzhafter als der Strafarrest; jedenfalls sind sie zu sehr über einen Leisten und dem mitbeteiligten Untersuchungsrichter zu sehr überlassen, der zur Erreichung seiner Zwecke seine Torturgrade dadurch in der Gewalt hat. Du siehst, das ist ein bloß Administratives und hat mit der Staatsspekulation im großen gar nichts zu schaffen, man hält sich eben immer an das Nächste, wenn man klug wird. Wäre ich das früher geworden, dann säße ich schwerlich im Loche. Alle Kenntnis und Förderung sonstiger Politik ist mir jetzt benommen, die Politik selbst also liegt tot in mir; ich möchte auch nie einen Staat aus dem Gefängnisse erfinden. Ist die politische Fluktuation der neuen Zeit ein Übel, so ist sie's eben darum, weil man den Staat erfinden will, statt ihn werden zu lassen, wachsen zu machen. Soll er echt sein, muß er sich historisch entwickeln wie der Mensch, wie die Pflanze. – Es ist wieder ein großes Ereignis dagewesen: man hat mir einige von den Büchern gegeben, die ich mitgebracht habe. Freilich hab' ich sie schon gelesen, aber es sind doch Bücher, ich werde doch überall wieder Mensch; hinter der Wand eine halbe Gesellschaft, auf dem Tische ein gedrucktes Buch! Welcher Fortschritt! Schlegels Philosophie der Geschichte ist dabei, ein Buch, welches zur Demütigung der Menschen geschrieben ist – wozu hätte mir Gott den Stolz und die kühne Kraft gegeben und damit soviel des Besten verwoben, wenn ich sie nur vernichten sollte? Ich fühl's, einen größeren Gott zu haben, dem mein Bewußtsein irgendwelcher Tüchtigkeit wohlgefällig ist. Auch in meiner Verlassenheit überhebe ich mich dieser kläglichen Ansicht des entmutigten Schlegel. Aber ich [79] finde in dem Buche Beschreibungen der indischen Einsiedler und Heiligen, welche mir von großer Beschäftigung sind, weil sie auch mit der äußersten Einsamkeit zusammenfallen. Was kann der Mensch, den ein fanatischer Glaube, treibt! Ich erschrecke davor; wie klein sind wir, denen die skeptische Kultur jeden solchen unerschütterliches Anhalt genommen; ein guter Fanatiker erobert ein Stück Gottheit und ein Stück Tier zugleich. Diese Leute stellen sich auf die Einsamkeit eines hohen Postamentes, mitten in die verzehrende indische Sonne hinein, strecken den Arm in die Höhe, bis er erstarrt, verwächst in dieser Richtung, sehen in die blendenden Sonnenstrahlen unverwandt, bis die Augen erblinden, und denken nur den Gottesgedanken, um ganz in die Gottheit zu versinken, was ihnen denn wohl am Ende gelingt, denn welcher Menschengeist versänke nicht am Ende dabei! So werden sie wirklich halbe Bildsäulen, die Vögel bauen Nester auf ihnen, die Wallfahrer beten im Anschauen dieser Heiligen! Und ich kann zehn Schritte umhergehen, kann liegen, kann sitzen, denken, was ich will: wie bequem hab' ich's neben dieser Menschenart, und doch sind's auch Menschen. Ich stelle mich jetzt manchmal eine Zeitlang unter meine Fensterblende, sehe in den Himmelsstreifen, strecke den Arm aus, denke einen Gedanken, bis ich wirblig werde und erschöpft zusammensinke. Dann empfinde ich, daß mein Los noch beneidenswert!
Welch ein kalter Strom hat sich wieder an meine Einsamkeit hergewälzt! Ich habe kaum Fassung, Dir zu schildern. Gestern kam der entschlossene, klirrende Schritt des Ordonnanzsoldaten neben unserem Wächter den Korridor entlang, und über jeden von uns legte sich das atemlose Beben, daß der Schritt vor seiner Zelle halten, seinen Namen rufen werde – das ist so schreckhaft! Denke Dir, wie sehr unsere Nerven schon zerstört sind: das Verhör allein kann uns [80] fördern, den traurigen Zustand ändern, wenn nicht in einen besseren verwandeln, denn im schlimmsten Falle ist Strafgefängnis eine Erholung gegen den Untersuchungsarrest – und doch fürchten wir alle das Verhör, wenigstens die Ankündigung desselben, das Klopfen, den Namensruf, das hastige Ankleiden, den Gang durch die dunklen Korridore. Wenn man den Tritt der Ordonnanz hört, da wünscht man stets, er möge vorübergehen, man denkt an den Henker, welcher ein Todesurteil bringt, und bebt. Nur Ungestörtheit, unbeachtetes Zusammenkauern in den traurigen Kerkerschmutz wünscht die furchtsame Seele – so wird die Furcht in Körper und Seele gebracht, wie man den Mut hineinbringen kann; ich habe jetzt eine deutliche Vorstellung von den Blödsinnigen, welche in den Winkel kriechen, sobald sich ihnen irgend etwas naht. Du glaubst nicht, wie sehr man, wie krampfhaft man die Erinnerung an einen stolzen Menschen, der man einst war, zusammenhalten, in sich hinein klammern muß, um nicht der kläglichste Wicht zu werden!
Der Sporenschritt des Ordonnanzsoldaten hielt still vor meiner Türe, mein Atem stockte und jagte; es ward geklopft, mein Name ward gerufen – wir schritten durch den Korridor. Die Ordonnanz ist ein bärtiger, freundlicher Mann, er sagte, ich sei sehr blaß geworden, und mein Bart sei lang, sehr lang – er hat mich seit mehreren Monaten nicht ins Verhör geholt. An der Tür flüsterte er mir zu: »Ich bringe Sie heut vor einen andern Richter.« Neuer Schreck. – Wer ist's? – »'s ist der Herr Oberrichter!«
An der langen grünen Tafel saß er, schwarz gekleidet, mit dem Rücken nach der Tür, durch welche ich eintrat, neben ihm der Protokollführer, sonst war niemand in dem großen Zimmer, es war ganz still; ohne umzublicken wies er mit der Hand auf einen Sessel; ich ging dahin, sah den Oberrichter und stand wie vom Schlage getroffen – es war Konstantin!
[81] Er sah mich nur zuweilen mit halbem Blicke an, und inquirierte vortrefflich: als einstiger Jakobiner kennt er alle Gedankengänge, Pläne und Zustände sehr gut; es war ein interessantes Verhör! Der Stil, die Ausdrücke, die Wendungen, welche wir früher gemeinschaftlich aufgesucht, geübt, wurden jetzt gegen mich benützt! Beim letzten Worte schellte er, und eh' ich noch meinen Namen unterzeichnet hatte, war die Ordonnanz wieder im Gemache, und ich ward abgeführt. – Wir haben sonst nicht ein Wort miteinander gesprochen. Aber alle Leidenschaft und mit ihr alle Stärke war mit diesem Eindrucke wieder in mich eingekehrt: heute hört' ich mit Begierde den Tritt der Ordonnanz, das Klopfen an meiner Tür, den Namensruf – o Zorn, du machst noch straffer und tüchtiger als die Liebe, darum sind die feindlichen Taten meisthin soviel gewaltiger.
Heute empfing er mich in einem Vorderzimmer, das auf einen offenen Teil der Stadt sieht; das Licht blendete mich, in der Ferne erblickte ich harmlos, freigehende Menschen, die Wintersonne in allem Glanze schien mir entgegen, ich hätte niedersinken mögen, bestürmt von dem plötzlichen Eindrucke, oder durch die Fensterscheibe springen im trunkenen Drange nach Freiheit.
Er war allein und ging im Zimmer umher. Folgendes war seine Rede:
»Es spricht heute nicht der Richter zu Ihnen, sondern der Jugendbekannte. Ich kenne Ihren Gedankengang und weiß, daß Sie sich in einem gewissen Stolze meiner überheben, da Sie der Unterdrückte vor mir stehen, welcher ich eben Gewalt und Macht über Sie habe; daß Sie den Anfängen meiner Lebensgeschichte nach, die ich mit Ihnen gemeinschaftlich erlebt habe, glauben, diese meine jetzige Stellung könnte mit einer Unwürdigkeit meines sittlichen Menschen zusammenhängen, weil sie mit dem Beginn meiner damaligen Lebensansichten auf den ersten Anblick nicht harmoniert. Um [82] einer solchen Folgerung zu widersprechen, welche Ihrem inneren Schicksale eine falsche Richtung geben und mich in eine falsche Position bringen könnte, will ich Ihnen mit zwei Worten meine Lebensentwicklung mitteilen. Warum ich dies auf so förmliche Weise und nicht im wiederangeschlagenen Tone unserer früher kordialen Bekanntschaft beginne, wird Ihnen erklärlich sein, wenn Sie bemerken, daß ich eben Persönliches aller Art der Form unterordne, wenn es sein muß, gewaltsam und schonungslos unterordne, daß ich eben in der Ansicht zu meinem jetzigen Punkte gekommen bin, die Form sei alles, sei die eigentliche Bildung, der losgelassene, seiner ganzen Innerlichkeit freigegebene Mensch sei ein ewiger Feind des Zusammenlebens. Als Jakobiner, als Vergötterer aller Revolution kam ich nach Paris und erkannte langsam, aber sicher, daß die Gesellschaft darin zugrunde gehen müsse, wenn jeder Regung des unbändigen Menschen Folge gegeben werde. Der erfindende Mensch, das Genie, ist wild und grausam, es entspricht dem reißenden Tiere, bei welchem sich ebenfalls die größte Potenz der Tierwelt, vorfindet, welches nur zum Nachteile seiner Umgebung lebt und überall auf den Tod verfolgt werden muß. Dagegen ist die Schranke erfunden, welche man Form nennt, und je eiserner diese ist, desto besser wirkt sie. Am äußersten Endpunkte der Revolution wird nichts gewonnen als ein anderer Herr, ein anderer Diener; wenn's hoch kommt, ein gelinderes Verhältnis zwischen diesen. Ein Verhältnis also wieder, eine Form wieder, die just durch ihre Entstehung bedroht ist. Hat man früher die Heiligkeit der Form zerreißen dürfen, warum nicht später auch? So wird die Auflösung geboren, und just der Wildheit ist das Tor geöffnet, weil sie im Erfinden am mächtigsten ist. Und halten Sie das gelindere Verhältnis für einen Gewinn? Es führt zu nichts als zur Überhebung des Niedrigeren: weil er seltener und weniger zu gehorchen, Leichteres zu leisten habe, ist ihm jede Lösung [83] und Nichtbeachtung um so näher gelegt. Erwarten Sie von der Masse die seine Sonderung des Erlaubten, weil Sie sein Verhältnis seiner gemacht? Dann müßte die Roheit von der Erde weichen, und doch ist sie ein Urelement derselben. Dieses Hinaufexperimentieren bringt entweder immerwährenden Wechsel, da jeder Mensch einen Schritt weiter verlangt, als er gestellt ist, oder es bringt die Blasiertheit. Warum? Die ganze Welt ist in großen Unterschieden begründet, sie sind erforderlich, damit wir einen Drang, ein Interesse haben; wenn diese aufhören, dann beginnt die Öde. Dies war mein Los in Paris, und es ist das, was ich mein Lebtag nicht mehr verwinden werde; denn mein Verstand hat sich zwar einen anderen Kreis, eine andere Existenz geschaffen, die in Schluß und Notwendigkeit fest begrenzt ist, aber mein Herz stammt aus der Geburt einer anderen Welt, weil meine Jugend revolutionär war, mein Herz ist verarmt, und wird nur durch künstliche Mittel aufrecht erhalten. Die Revolution hat mein Leben verschlungen; mein Automatenschatten, der ißt und trinkt, küßt und spricht, lauft allein noch weiter – mißverstehen Sie mich nicht: mein Herz hängt nicht etwa noch an der Revolution, o nein, ach ich beneide jeden Schwärmer, für ein schwunghaftes Leben ist sie unbezahlbar, die Schwärmerei, sie richte sich, auf was sie wolle. In den unnatürlichen Gegensätzen aber, wohinein ich geriet, ist alles drängende Leben in mir getötet worden; wenn ich phantasierte, so täte ich's in einem künstlichen Wahnsinn, dem ich mich selbst bewußtvoll in die Arme stürzte, und der sich meiner dann bemächtigte, stärker werdend als ich selbst. An Dämonen möchte ich mich schließen, um von einer stärkeren Macht geschwungen zu sein, aber mein kaltes Herz isoliert mich auch von diesen. So verödet gewann ich Julia, das schöne Mädchen, weil sie Gesetz und Maß in mir fand, was sich beides damals in seiner Geburt um so stärker herausdrängte, weil sie einen Schutz suchte vor der Wildheit Hippolyts. [84] Sie ward meine Frau und hat nie jemand anders geliebt, als ihn, den tobenden Hippolytos; das reizende Geschöpf war in die Form hinein verzogen, sie hatte das umgekehrte Unglück: ihre natürlichen starken Kräfte waren von Hause aus zusammengeschnürt und erstickt worden, sie hatte keinen Mut mehr zur dreisten. Kraft und Freude, an denen ein Teil zur wirklich elastischen Existenz nötig ist, sie konnte sich nur noch freuen, wo die Freude jedem anständigen Weibe erlaubt ist, und verlor so jede eigene persönliche Lust. Sie und Hippolyt hätten sich vielleicht ergänzt und ein gelungenes Paar gebildet; mit mir, dem gegen seine Anlagen formell Gewordenen mußte sie versteinern, mich mußte sie versteinern, da dasjenige, was sie in meine Arme führte, der Mord meines eigentlichen Lebens, der Mord ihres Lebens war. Ob ich sie geliebt? Später erst habe ich eingesehen, daß ich von da an, wo der große Lebenswechsel in mir eintrat, wo ich mein Herz auf Kosten der Bildung erwürgte, gar nicht mehr lieben konnte. Wir stellten uns so, weil es für solches Verhältnis in der Form ist, zärtlich zu sein, und weil die Sinne da noch zu Hilfe kommen; glücklicherweise wußten wir nichts von dieser Verstellung, das war unser einziges Glück, das uns je geblüht hat. Wir haben Kinder gezeugt und ein Haus gemacht und gelten für ein musterhaftes Paar – gegen die Welt haben wir in alle Wege recht, und dies ist das Opfer und der einzige Trost, an dem ich wie an einer Drahtschnur weitergehe; gegen uns selbst haben wir unrecht, und die Welt mit ihrer schwer zu fügenden Ordnung trägt die Schuld. Sie sehen, ich bin so sehr ein Opfer, wie Sie, ich habe mir ein größeres, ebenso trauriges Gefängnis bereitet, aber mit mir gedeiht der Staat, mit Ihnen verdirbt er. Könnte man mir diesen Glauben nehmen, so gäbe man mir den Tod. Das Gefängnis, groß und klein, ist für die Menschenerfindung, den Staat notwendig.
[85] Das Nächste, was mir zu entgegnen, wäre vielleicht dies: Sie haben Ihren Wechsel in Staatsansichten gewaltsam übereilt, Sie haben mit einem Male den geistigen Blutumlauf Ihres Herzens gewendet und dadurch den Keim des Todes in Ihr Herz gelegt. Wohl, es interessiert mich in meiner Blasiertheit einen Augenblick zu wissen, ob es bloß die Manier gewesen ist, die mich gestört hat; ich habe zu dem Ende Ihre Verhaftung bewirkt, und diese in die strengsten Grenzen eingedrängt, jetzt will ich sehen, was aus Ihren Meinungen geworden ist. In unserm damaligen Umgange lag der Fruchtknoten meines Lebens, der jetzt verdorrt ist; den kleinen Reiz, dessen ich noch fähig bin, gewährt mir von meinem ganzen Leben nur das Verhältnis zu jener Zeit. Sagen Sie mir, auf was für einem Standpunkte der Meinung sind Sie jetzt?«
Gott weiß, was ich ihm in meiner Entrüstung gesagt habe. Am ärgsten betroffen schien er von meiner Versicherung zu sein, daß ich kein eigentlicher Revolutionär mehr gewesen sei, als ich das Gefängnis betreten, daß ich niemals in eine Verzweiflung meiner Ansichten geraten, daß ich auch jetzt darin besonnen und ruhig sei. Ich habe ihn lange und habe ihn totenbleich gesprochen; als wir schieden, war es dunkel. Von dem wenigen, was er erwiderte, erinnere ich mich nur der öfters wiederkehrenden Worte: »Befreien kann ich Dich jetzt selbst nicht mehr, es ist ein eingeleitet Verfahren.«
Ermiß, welchen Sturm ich danach mehrere Tage lang in meinem engen Käfig durchgelebt habe. Wohin gerät der Mensch, wenn er das Heil nur immer in den äußersten Gegensätzen sucht!
Der Mangel an Papier hat alle Folgerung jener Szene, die reichlich in mir gärte, aufgehoben; jetzt bewegen mich schon wieder ganz andere Dinge. Es ist mir eine Freistunde, [86] freilich nur einen Tag um den andern bewilligt worden; o, das war ein Ereignis! Ich wurde in einen kleinen Hof geführt, der mit hohen Mauern umgeben ist, ein Aufseher schlug mir Feuer für die Pfeife. Wie habe ich den Mann beneidet um sein großes Stück Schwamm, von welchem er mir ein kleines Endchen anbrannte! Der Instinkt ließ mich alsbald ein klein, ganz klein Stückchen abreißen, um es für meinen dunklen Kerker zu sparen. Noch eine Wache ist außer dem Aufseher bei uns; an der andern Seite des Hofes geht ein zweiter Gefangener hin und her, er ist bärtig und bleich wie ich, aber er bläst aus seinem Stummel anscheinend besten Mutes Rauch in die Lüfte. Niemand darf ein Wort sprechen. Die Luft war dick und düster, es regnete und schneite; meine Gesellschafterin, die Maus, hat wirklich ein Loch in meine Stiefel genagt, das hat seine Übelstände, aber ich schlürfte doch diese kleine Gefängnisfreiheit mit vollen Zügen, es war wieder Welt, wieder Leben, was mir nahetrat. Gegen Ende der Stunde war ich auch schon mit meinem Gegenfüßler in Rapport getreten, allmählich hatten wir den Zwischenraum, der uns trennte, immer kleiner gemacht, die Wächter waren des Regens halber ins Schilderhaus gekrochen, er flüsterte mir etwas zu, was ich freilich nicht verstand, aber er lachte, und das war großer Trost. Kann doch also auch hier gelacht werden! Aus seinem ganzen Äußeren spricht eine Verhöhnung der Ketten, die hebt mich selber mit. Als der Regen plötzlich heftiger wurde, warf er mir schnell etwas an den Fuß, ich tat, als fiele mir die Pfeife an die Erde – so lügnerisch klug wird man in der Unterdrückung ohne weiteres, und hob es auf. Es war ein kleiner Stein, Beihilfe zum Feuerschlagen – bei der nächsten Begegnung sagte er deutlich »Hosenschnalle!« Wahrscheinlich soll sie die Stelle des Stahls vertreten, ich habe aber leider keine, und zuckte mit den Achseln, er zuckte auch und lachte. Jetzt plag' ich mich nun den ganzen Tag mit einer kleinen [87] Schnalle meines Tragebandes, um Feuer zu schlagen, aber das Steinchen hat wenig Feuer, die Schnalle wenig Stahl, ich schlage mir die Finger blutig, aber es ist doch eine Arbeit nach einem nächsten Ziele, ich habe doch große Fortschritte gemacht im Kerkerleben, und weiß doch jetzt, daß ich für eine Stunde des Tages existiere, für die Freistunde.
Ich habe heut gefragt, welcher Monat in der Welt ist, die Zeit ist lange von mir gewichen, und ein anderer Mensch kritzelt Dir diese Worte. Der plötzliche Eindruck frischer Luft nämlich war verheerend auf meinen Leib gestürzt, ich brach zusammen, als ich aus der zweiten Freistunde wieder in mein Gefängnis kam, die Besinnung entwich lange Zeit, der Wärter sagt, viele Wochen hab' ich im hitzigen Fieber gelegen. So teuer ist sonst die Zeit für ein Jugendleben, wie es das meinige noch sein könnte, mir entweicht sie finster und unbeachtet. Ich finde da in meiner Tasche auf kleinem schmutzigem Blatte folgende Verse, die sich darauf beziehen, sie lauten also:
Weiß wohl eure Richtertugend,
Was ihr mir genommen habt?
Ach, es ist ja meine Jugend.
Die ihr langsam hier begrabt.
Ohne Jugend ist das Leben
Wie ein Frühling ohne Grün,
Alles kann man wiedergeben,
Nur nicht Zeit und Jugendblühn.
Und ein jeder Tag macht älter,
Und ich leb' doch keinen Tag,
Und das Herz schlägt immer kälter –
Was euch Gott vergeben mag.
Ich sollte trauern, daß ich jetzt kaum noch die Bedeutung solcher Worte empfinde, unnütz trivial erscheint mir [88] jetzt alles, nicht Klage, nicht Zorn ist mehr in mir, ich bin stumpf, ganz stumpf! Was kümmert's mich, ob ich im Glanz oder Schmutz existiere, was kümmert's mich! Es ist ein Gesellschafter zu mir in den Kerker gegeben worden, aber das Loch ist nun so eng, daß der eine sitzen muß, wenn der andere herumgeht. Wir sprachen nun in den ersten zwei Tagen mehreres; mein Genosse, ein baumstarker Mensch, sitzt schon viel länger als ich und ist tief vergrollt, man könnte sich in der Abgeschiedenheit mit ihm fürchten vor seiner mitunter vorbrechenden Wildheit, wenn man sich noch mit Furcht und Hoffnung abgäbe. Gestern abend äußerte er, als wir schweigend auf unseren Betten lagen, etwas, wofür ich mich einen Augenblick interessiert habe, er sagte nämlich: »Wenn einer in diesen Kammern sein Licht unter das Bett stellte, und solchergestalt Feuer ausbräche, dann müßten wir alle in den schwer verschlossenen Zellen verbrennen wie wilde Tiere, und es müßte ein merkwürdiges Geheul geben. Zu etwa dreißig Türen, von denen jede doppelt und dreifach verschlossen ist, hat nur ein Mann die Schlüssel, von Rettung wäre also nicht sehr die Rede. Nun gibt es vier solcher Abteilungen, es könnte also ein tüchtiger Feuerschmaus von hundert Revolutionärs werden, und der Staat wäre einer großen Beunruhigung los.« – Mitunter sind wir auch grob lustig und lachen so laut, daß es die Wache verbietet. Ich glaube, der Mensch braucht solch einen Reiz, und wenn sich keiner bieten will, so wird er roh. Jetzt würde ich nicht mehr verwundert sein wie früher, wenn ich Verbrecher in Ketten lustig sah, die Natur hilft sich, und die Gemeinheit ist, auch eine Rettung. Wozu schreiben und Gedanken spinnen? Ich will nun endlich die Brücke abbrechen, die noch von mir zur Welt hinübergeht; mein kleiner Bleistift ist auch zu End' geschrieben – leb wohl auf ewig!