316. Der Farrnsamen.

Westfalia, 1830. Redeker, Westfälische Sagen, Nr. 46.


Der Farrnsamen hat die wunderbare Eigenschaft, daß er unsichtbar macht. Er ist aber schwer zu finden, denn er reift nur in der Mittsommersnacht von zwölf bis eins. Und dann fällt er gleich ab und ist verschwunden. Einem Manne in Bergkirchen ging es einmal wunderlich damit. Er suchte gerade in dieser Nacht sein verlorenes Füllen und kam da durch eine Wiese, in welcher gerade Farrnsamen reifte, und so fiel ihm dieser in die Schuhe. Des Morgens kehrte er wieder nach Hause zurück, trat in die Stube und setzte sich. Es kam ihm seltsam vor, daß Frau und Hausgenoßen ihn gar nicht beachteten. Da sprach er: »Das Fohlen habe ich nicht gefunden.« Alle, die in der Stube waren, erschraken sichtlich. Sie hörten die Stimme des Mannes und sahen doch niemand. Da rief ihn die Frau bei Namen und meinte, er müße sich wol versteckt haben. Er aber stand auf, stellte sich mitten in die Stube und sagte: »Was rufest du, ich stehe ja hier nahe vor dir.« Da wurde der Schreck noch größer, denn man hatte aufstehen und gehen gehört und sah doch nichts. Der Mann aber merkte nun, daß er unsichtbar sei. Und zugleich fiel ihm ein, er möchte wol Farrnsamen in den Schuhen haben, denn es drückte ihn, als wenn [276] Sand darin wäre. Er zog sie ab und stäubte sie aus. Und wie er das that, stand er sichtbar da vor aller Augen.


Vgl. Grimm, Mythologie, S. 1160; Märkische Sagen, Nr. 191, 330; Shakspeare, K. Henry IV., Th. 1, Act 2, Sc. 1: »We have the receipt of fern seed, we walk invisible.« In Bechstein's Deutschem Sagenbuch (Nr. 753) wird dieselbe Erzählung nach Berka an der Werra verlegt; die Faßung ist oft wörtlich die Redeker'sche oder vielmehr die Grimm's Mythologie (S. 1160) entnommene. – Pröhle, Unterharzsagen, Nr. 327, verleiht die Johannisblume gleiche Gabe. Nach Meier, Schwäbische Sagen, Nr. 267, bringt der Teufel den Farrnsamen in der Christnacht zwischen 11 und 12 Uhr, er verleiht die Kraft, so viel zu arbeiten, wie sonst 20-30 Mann. In Tirol glaubt man, daß die Farrn in der Johannisnacht blühen und in der Mitternachtstunde ihren Samen abwerfen; V. Zingerle in Wolf, Zeitschrift, I, 238, 330. Farrnwurzel an Johann gegraben und an freier Luft getrocknet, daß kein Sonnenstrahl auf sie falle, sichert jedweden Ort, wo sie aufgehängt wird, vor dem Wetterstreich; ihr Name ist Johanneswurz; Leoprechting, S. 101. Andere unsichtbar machende Dinge bespricht Liebrecht zu Gervasius von Tilbury, S. 101.

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