[215] Erstes Buch
1.
Der teutsche Mann, dessen Geschichte ich, aus mir selbst aufgelegter Pflicht, zu schreiben unternommen habe, ist durch seine ihm eigne Denkungsart und besondre Stimmung des Herzens ebenso merkwürdig als durch sein Schicksal. Für mich war er eine Erscheinung in der moralischen Welt, einem Luftzeichen ähnlich, das durch seinen strahlenden Ausfluß die Augen so lange ergötzt, als es sich noch am fernen Horizont bildet; zieht es aber im düstern Dunstkreise den Bogen des Himmels herauf, so fliehet der Haufen vor der ihm zweideutigen Erscheinung, und nur der Kundige freut sich, wenn auch unter kleinem Schauder, eine nicht alltägliche Wirkung der Natur gesehen zu haben. Unter diesem Bilde stelle ich euch Ernst von Falkenburg als Jüngling und Mann dar. Als er in blühender Jugend die Bahn des tätigen Lebens betrat, zog er die Blicke der Menschen auf sich; als er aber die Mitte derselben kaum erreicht hatte und Bosheit und Wahnsinn seinen Glanz verdunkelten, ward er eben diesen Menschen ein Gegenstand des Schreckens, des Abscheus. Was er dem Kundigen werden wird, hängt von dieser Geschichte ab. Hier, wo nur Wahrheit spricht, wo nur sie Zweck ist, zieht sich der Schriftsteller zurück.
Von ihr allein geleitet, soll und muß ich dartun, warum, wie und wodurch Ernst von Falkenburg aus dem mildesten, freundlichsten und edelsten Jüngling ein Mann geworden ist, den man in den Gegenden seines Aufenthalts nur zu nennen braucht, um die Herzen erkalten oder ergrimmen zu sehen; den man nie nennt, ohne daß eben die Lippen, welche einst nie ermüdeten ihn lobzupreisen, den Spruch des Hasses und der Verwerfung über ihn aussprechen.
Ich muß der Welt zeigen, warum ihn seine Lästrer verkennen, und es soll aus seiner Geschichte hervorgehen, daß keiner der ihn so schnöde und schonungslos Richtenden je nur das erhabene Gefühl geahndet hat, das sein Führer im Leben war, welches [215] ihn nun auf einen Punkt des moralischen Daseins geführt hat, worauf ich ihn zwar mit ängstlichem Schauder, aber mit dem Schauder, den Bewunderung erzeugt, stehen sehe. Seine Lästrer sollen einsehen, daß er sich selbst nie untreu ward, daß er sich noch jetzt treu ist und daß sie in dem Verdammungsspruch über ihn nur sich, ihrem Wahne und ihrem gesamten Wesen, Denken und Tun das Urteil sprechen. Doch diejenigen, mit welchen er nie etwas gemein hatte als die Erde, die sein Fuß nur betrat, sie, deren Weg von dem seinen so weit entfernt liegt als die Heerstraße, die der Karrnführer im nassen Herbste durchackert, von der Sonnenbahn, auf welcher der Gott des Lichts seinen fliegenden, feurigen Wagen lenkt, werde ich ihm schwerlich zuführen. Auch kümmert mich ihr Urteil ebenso wenig als den Mann, von dem ich zu euch rede, und ich halte mich für belohnt genug, wenn ich für ihn die Teilnahme, das Mitleiden, die richtige Erkenntnis seines Zustands einiger Edlen unseres Volks gewinne. Mit ihnen war er immer verwandt und ist es jetzt noch, da er, getragen von dem Gefühl, wodurch er ihnen gleicht, über der Brandstätte seines herrlichen jugendlichen Gebäudes emporgehalten schwebt und sein düstrer männlicher Geist über die Leiche des Jünglings stille klagt, der unter dem dampfenden Moder in Asche zerfiel. Nie konnte er ganz fallen, weil er fühlte, was er als Jüngling war, was ihn als Jüngling beglückte, weil er über den Schauplatz von seinem einsamen Schlosse hinsieht, auf welchem seine schönen blühenden Jugendträume, seine edlen Entwürfe und die versprechenden Keime uneigennütziger Tugenden entstanden, sich bildeten und entwickelten.
In diesen muß ich euch führen; denn der Schauplatz der Jugend hat auf Menschen der Art, wie der Mann ist, dessen Seele ich euch nun zu enthüllen beginne, nicht mindern Einfluß als die Felsenklippen in der Einöde, zwischen welchen der Adler nistet, und der Myrtenbusch im geselligen Rosengarten, auf welchem die Nachtigall den jungen Sänger der Liebe erzieht, auf die Brut des Königs der Luft und die Brut des Sängers der zärtlichen Gefühle.
[216] 2.
Nicht weit von den Ufern des *** Flusses lag auf einer Anhöhe das Schloß der Herren von Falkenburg, seit Jahrhunderten im Besitze dieses edlen Geschlechts. Ein biedrer, treuer teutscher Sinn hatte mit dem alten, festen Felsenschlosse in diesem Geschlechte fortgeerbt und wurde vermutlich dadurch so unverfälscht erhalten, daß sie den größten Teil ihres Lebens hier zubrachten. Ein dichter Eichenwald, der unsern Urvätern, den alten Germaniern, Schatten verliehen zu haben schien, empfing den Knaben in seinem kühlen feierlichen Dunkel. Felsen, mit der Erde geboren, lockten ihn auf ihre Höhe, daß er von ihren Spitzen die Anmut, den Reichtum, die Herrlichkeit und Macht, womit die Natur die Gegend so schön und erhaben geschmückt hatte, in einem Überblicke genösse. Eine Höhle in dem nahen Gebirge, zu deren düsterem, weitklaffenden Schlunde man durch Felsenkrümmungen mühsam gelangte, in deren Mitte die Natur ein kühnes wunderbares Werk gebildet hatte, indem sie einen großen Raum zu einem Riesensaale wölbte und die ganze Masse des Gebirges auf ungeheure wild und regellos geformte und geordnete Säulen stellte, die verschlungen in labyrinthischen Gängen endlich zu einem Abgrunde führten, welcher sich, der Sage nach, weit unter dem Flusse weg verlor, lud die Seele des Jünglings zum Nachsinnen über die dunkeln Geheimnisse der Ober- und Unterwelt und ihre mächtigen, unfaßlichen Kräfte ein. Fleiß und Kunst hatten die wilden Striche der Gegend mit Wiesen, Feldern und anmutigen Gärten durchschnitten. Betriebsame, gesunde und ruhige Bewohner belebten diesen großen und lieblichen Schauplatz und prägten dem heranwachsenden Jünglinge früh ein reines, sanftes, durch die glückliche Beschränktheit einfaches und leicht zu fassendes Bild des menschlichen Lebens in das zarte Herz.
Glückliche Bewohner dieses Bezirks! Ihr kanntet keine Klagen über die Menschheit und ihr Elend, da ihr ihre Torheiten, ihre Laster, ihren Wahn, die Quellen dieses Elends, nicht ahndetet. Euer froher Sinn, eure Genügsamkeit, eure Geduld und eure [217] Hoffnungen, bei dem unabänderlichen Leiden, das uns die Notwendigkeit aufgebürdet hat, um ihre geheimen Zwecke zu befördern, bewahrten selbst die Bewohner des Schlosses vor dem Mißbehagen, dem Mißmut, dem grämlichen Nachsinnen, nicht selten dem einzigen Gewinn des verfeinerten Teils der Bewohner der Erde. Ja selbst der Städter, der Welt- und der Hofmann vergaßen, wenn eure reine Luft sie anwehte, der große Schauplatz eures Wirkens sie in Erstaunen setzte und eure gesunden Kinder sie anlächelten, was sie Bittres in der Welt erfahren, was sie sich durch Wahn und rastloses Jagen nach Glück zugezogen und was sie der leicht- und tiefsinnige Philosoph über das Menschengeschlecht und seine Bestimmung gelehrt hatte. So ist das Leben auf dieser unsrer Mutter, der Erde, nur denen kein Rätsel, die sie im Schweiße ihres Angesichts bebauen.
Hier nun erblickte Ernst von Falkenburg das Licht der Welt, hier empfing seine Seele die ersten lebendigen und kräftigen Eindrücke der Natur und nahm für immer die Farbe der Gegenstände an, die ihn umgaben. Unter solchen Menschen keimten die ersten, einfachen, reinen, moralischen Gefühle und Gesinnungen in seinem Herzen auf. Sein Vater, der im *** Dienste beim Anfange des Siebenjährigen Kriegs so schwer verwundet ward, daß er jahrelang darnieder lag, erwählte nach seiner Wiedergenesung den ruhigern Reichsdienst, um wenigstens etwas für eine Verfassung zu tun, die er aus Vaterlandsliebe schätzte und als unmittelbarer Reichsritter, als Herr solcher Untertanen zu schützen alle Ursach hatte. Seinem Ernst gesellte er einen Jüngling zu, den ihm sein Jugendfreund und Dienstgefährte nach der blutigen Schlacht bei Zorndorf als Erbschaft hinterlassen hatte; und er erfüllte dessen Pflicht mit so vieler Treue und Zärtlichkeit, daß er das Glück genoß, Vater zweier hoffnungsvoller Söhne zu sein.
Diesen beiden Jünglingen gab er Hadem, den Feldprediger seines ehemaligen Regiments, zum Führer, den er wegen einiger nicht gewöhnlichen Taten nie vergessen konnte und den er für ebenso bescheiden, klug und rechtschaffen als unterrichtet hielt. Er machte ihm Bedingungen, wie sie der teutsche Adel selten[218] macht, und nahm ihn auf, wie der teutsche Adel selten Männer aufnimmt, denen sie so viel anvertrauen.
Hadem trat zu seinen Zöglingen mit Offenheit und Vertrauen und ward von ihnen in eben dem Geiste aufgenommen, mit welchem er sich ihnen nahte. Er faßte dadurch ein gutes Vorurteil für seinen Beruf und entdeckte bald mehr als er erwartete.
3.
Hadem ward früh gewahr, daß Ernstens Dasein und Wirken mehr in seinem Innern ruhte, sich mehr gegen dieses richtete als nach außen und um sich her. Er bemerkte schon in den ersten Tagen, daß er ohne Aufwand und Geräusche höher und tiefer empfand und dachte als Ferdinand von *** mit dem lebendigsten Ausguß und Gebrause einer feurigen Einbildungskraft; mit einem Worte, er sah, daß sich die Welt in der Seele Ernstens abspiegelte und Ferdinands Seele in der Welt. Er hielt diese Entdeckung für so wichtig, daß er seine Erziehung darauf bauen zu müssen glaubte. Fragen und Proben überzeugten ihn in kurzer Zeit, daß in Ernsten vermöge seiner moralischen Kraft der Stoff zu einem Manne verborgen läge, der einstens wohl das Wagestück mit seinen Sinnen, der Welt und dem Schicksale bestehen könnte; daß Ferdinand, mehr auf den Flügeln einer warmen Phantasie getragen, zwar kühnere Dinge unternehmen möchte, das Maß seiner moralischen Kraft aber sehr schwer mit der Leichtigkeit und Kühnheit seines Wollens und Begehrens in ein richtiges Verhältnis treten würde. Nach diesen Beobachtungen fürchtete er nur für den letztern. Er strebte nun, die moralische Kraft in Ernsten zu entwickeln, ihn durch dieselbe über alle Ereignisse des Schicksals zu erheben und in Ferdinand die Einbildungskraft mehr in Einverständnis mit der seinigen zu bringen, ihn so fest daran zu knüpfen, daß er bei den feurigen Aufwallungen der Begierden und den ersten Schlägen des Schicksals nicht erläge, jenen nicht auf Kosten seines bessern Werts nachgäbe oder vor diesen, um denselben hohen Preis, sich zu bergen suchte.
[219] In diesem Sinne unternahm Hadem die Bildung der Jünglinge; und da er mehr entwickelte als lehrte und nichts lehrte, was nicht mit seinem Hauptzwecke in Verbindung stand, so bildete sich der Geist aus der moralischen Kraft des Herzens, und jede neue Kenntnis und Anschauung dienten nur dazu, diese zu verstärken, zu erheben und zu veredeln. Durch den milden und schimmernden Glanz guter und großer Taten des Altertums und der neuern Zeit führte er sie mit der Erlernung der Sprachen zur Kenntnis der Welt und der Geschichte. Ferdinands lebhafte Einbildungskraft folgte der Bahn der Helden. Er erkämpfte ihre Siege mit ihnen, zog mit ihnen die Augen der Menschen auf sich, genoß ihres Ruhms, sprang an das Ziel, pflückte mit ihnen den Lorbeer, und, trunken von dem Siegesgeschrei, verblendet von dem Glanze der Taten, übersprang sein feuriger Geist die Mühe und Aufopferungen, die sie erforderten, übersah er die Mittel und die Folgen dieser täuschenden Taten für ihre Urheber, ihr Glück und das Glück ihrer Zeitgenossen. Nur auf dem Siegeswagen erblickte er die Helden der Vorwelt, und ihr schimmernder Glanz verbarg ihm sowohl ihr wahres Bild, als das Bild der echten Menschengröße.
In tiefer Stille aber betrat Ernstens Geist jenes Land der reinen, erhabenen Tugend, das die Menschen idealisch nennen, weil sie, versunken im Schlamme des Eigennutzes und der niedrigen Begierden, das Gefühl bis zur Ahndung verloren haben, daß der Mensch sich nur als Bewohner dieses Landes von den Tieren unterscheidet, daß wir dieses unsichtbare Land nicht nur ahnden, daß wir uns bis in sein innerstes Heiligtum schwingen können. Wer es erreicht hat, ist über das Schicksal erhaben, ihn tragen für immer die Fittiche der hohen und echten Begeistrung der Dichtkunst, die nur aus jenem Lande die Farben und die Kraft zu ihren Darstellungen erhält. Es eröffnet sich den Geistern der Geweihten in dem Augenblicke, da die moralische Kraft ihres Herzens die Wolken durchdringt und dort ihr Dasein mit höhern Zwecken verknüpft. Die dieses Land betreten, werden von der Beherrscherin desselben mit hohen Gesinnungen, mit unüberwindlichen Waffen zum Kampfe ausgerüstet, und ihre [220] Taten, ihre Gedanken und ihre Empfindungen tragen das unnachahmliche Merkzeichen ihres wiedererrungenen Vaterlands an sich. So sind alle großen und edlen Menschen, die von dem Wege des Haufens abtraten und Gutes, Wahres, Edles denken, tun und laut sagen, die Bewohner jenes unsichtbaren Landes, das die Menge nicht ahndet und durch dessen Einfluß gleichwohl auch sie von diesen unter sich verwandten Geistern zu den Zwecken geführt werden, welche der erhabenste Geist dem Menschengeschlecht dort aufgestellt hat. Daher entspringt das Eigentümliche, Kräftige, Feste und Sichre jener Dichter, tätiger Menschen und Helden, und umsonst bemühen sich alle andern, die sich über die Erde, ihre Verhältnisse und die Vorteile, die sie gewährt, nicht erheben, den sichern Schwung, die feste Haltung in Wort und Tat nachzuschweben oder nachzuahmen; ihre Handlungen, wie ihre Darstellung, sind nur Abdrücke ihres eignen, um sich besorgten Selbsts. Ihre kalte, berechnende Vernunft, die über Tat und Darstellung wuchernd und künstelnd dasitzt, entfernt den Geist jener Geweihten. Ernst drang in die Mitte dieses Heiligtums und ward da zum Dichter für dieses Leben eingeweiht. Ungern setze ich zur Erläuterung dieses Worts hinzu, daß er seine Gefühle weder in Versen noch in Prosa der Welt mitgeteilt hat, daß er Dichter in einem Sinne war, den ich nicht nötig hätte anzudeuten, wenn Dichter dieser Art so gemein wären, als es diejenigen sind, die sich darum Dichter nennen, weil sie die Spiele ihres Witzes und ihrer Phantasie in wohlklingenden Versen zur Schau ausstellen. Die Spuren der Theorie der Dichtkunst, von welcher ich rede, findet man ebenso selten in geistigen Darstellungen als in Taten und Handlungen; denn ich rede von der hohen moralischen Kraft, die allein den Helden und den Dichter macht und ohne welche es zwar mancher durch Talente und glückliche Umstände scheinen, aber nie es wirklich in seinem Innern sein kann.
Gleich der Tochter Jupiters, mit Schild und Speer bewaffnet, sprang die Göttin, welcher sich Ernst im stillen weihte, plötzlich aus seinem Herzen: mit dem Speer, um die niedrigen Ungeheuer, die Feinde des Lichts und der Wahrheit, zu bekriegen, [221] mit dem Schild, um den Liebling gegen die Pfeile des Schicksals, gegen die Angriffe des Neides und der Bosheit zu decken. So schwebte sie vor ihm, so wandelte er, ein anderer Telemach, an der Seite der unsichtbaren, erhabenen Führerin: von ihr war Hadem ihm zugesellt. Selbst in reifern Jahren verließ ihn dieses über ihm schwebende jugendliche Bild nicht; und oft, wenn ihn alles verließ, wenn er in Gefahr war, sich selbst zu verlassen, trat es in seiner ganzen Klarheit aus den verdunkelten Wolken hervor.
Schon lange war Ernst in dieses idealische Land gedrungen, schon hatte er sich dort angepflanzt, es gleich den Gärten der Hesperiden ausgeschmückt und mit den Geistern bevölkert, deren Asche um ihn her zu lebendigen Wesen wurde, ehe Hadem bemerkte, daß der Jüngling das Irdische übersprungen, das Land seines Ursprungs erobert hätte und sich dort an der Tafel der Unsterblichen labte.
Ein besondrer Vorfall mußte ihm dieses entdecken. Oft gingen die Jünglinge durch den Eichenwald, in welchem ihre Phantasie die vergangenen Zeiten träumte, sie mit den jetzigen verband, wieder trennte und alle tätig im Geiste durchlebte, nach der Höhle im nahen Gebirge. In dem Riesensaale der Höhle überfiel sie das erhabene Erstaunen, der gedankenvolle geheime Schauder, der uns bei den mächtigen Gegenständen der Natur ergreift; und aus diesen Gefühlen erwachten in der Seele der Jünglinge das Nachsinnen und Ahnden über die Höhe, Tiefe, den Zweck, die Mittel alles Geschaffenen, der denkenden, der fühllos scheinenden Wesen, die diese Schöpfung beleben und darstellen.
Ferdinand nannte den Riesensaal den Tempel des Ruhms, weil ihn keine menschliche Kraft zerstören könnte, weil er so alt wäre als die Welt und so lange als sie dauern müßte. Ernst nannte ihn den stillen Tempel der Tugend, weil ihn Menschenhände nicht gebaut hätten. Ferdinand schuf die Säulen um sich her zu Denkmälern der von ihm bewunderten Helden und nannte sie nach ihnen. Ernst behielt sich, fern von den Denkmälern seines Gespielens, nur eine Blende in der Felsenwand des Bergs nahe bei [222] dem Abgrund vor, deren Mitte zu einer Stunde des Tags ein Lichtstrahl traf und erleuchtete.
Eines Tages drangen die Jünglinge weiter in dieses unterirdische Labyrinth als sie bisher noch gekommen waren. Ihre Schritte und abgebrochenen Worte hallten dumpf an den Felsen. Ohne Verabredung schien jeder von ihnen das schwere Rätsel der Natur in ihrem düstern, geheimnisvollen Schoße auflösen zu wollen. Hand in Hand wandten sie sich forschend aus einem Gang in den andern. Auf einmal standen sie beide vor dem ihnen bekannten Abgrund, der sich der Sage nach in einem Gange unter dem Fluß weg endet und nach einem Gebäude führt, von dem die Bewohner der Gegend viele wunderbare Geschichten zu erzählen wußten. Und eben dieses Wunderbare entflammte Ferdinands Phantasie; seine aufkeimende Ehrbegierde sah in diesem Dunkel seine erste Heldentat vergraben. Zuckend drückte er Ernstens Hand, und sein kühner Vorsatz sprang durch die Adern in Ernstens Herz über. Er erwiderte den Druck und zog ihn sanft zurück. Nun erst erglühte Ferdinands Einbildungskraft, und er rief in einem starken Tone:
»Ernst, ich will hinunter, das Geheimnis enthüllen und aus dieser Finsternis an das Licht bringen. Herkules stieg in den Schlund des Orkus, um den Höllenhund herauszuziehen – ich muß der erste sein, über dessen Haupte der Strom hinrollt!« Ernst bewies ihm das Verwegene und Unsinnige des Unternehmens, die Unmöglichkeit der Tat und der Rückkehr, die unvermeidliche Gefahr des Todes und reizte durch den Widerspruch Ferdinands stolze Kühnheit nur um so mehr. Schon machte er Anstalten, den Abgrund hinabzugleiten, als Ernst vor ihn trat und entschlossen zu ihm sagte:
»Du willst? Wohlan! so warte nur eine Sekunde. Den Weg der Gefahr muß man nicht so langsam kriechen, wie du tun willst, man muß ihn überspringen. Dieses will ich nun tun. Tritt zurück.«
Ernst war im Begriff den Sprung zu wagen, als ihn Ferdinand umfaßte, an sein Herz drückte, seine Wangen und Lippen küßte und, vor Freude bebend, rief:
[223] »Ernst! ich weiß, warum du es tun wolltest! Mich, der eine Tollheit begehen wollte, durch eine wahre Heldentat zu retten!« »Eine Heldentat?« erwiderte Ernst ruhig.
FERDINAND: Wäre sie es nicht, da der Tod, wie du selbst sagtest, bei der Tat unvermeidlich ist?
ERNST: Könnte sie es sonst sein? Aber daran dachte ich gar nicht. Würde ich dir nicht ohnedies gefolgt sein, wenn du die Tollheit, wie du es nun selbst nennst, begangen hättest? Sollte ich ohne dich zurückkehren? Freilich hätten vielleicht mein guter Vater und der gute Hadem nie erfahren, was aus uns geworden wäre. – Und, Ferdinand, sprang ich allein hinein, so hatte ich auch mehr Hoffnung als du, an das Licht zurückzukehren. – Dein Führer war ja nur die Ruhmbegierde, aber ich – ich trat unter den Schild einer Göttin, die mich nicht verlassen, die mich in diesen Schlund begleitet hätte.
FERDINAND: Und wer ist diese Göttin?
ERNST: Die Tugend, die, wie Hadem sagt, ruhig und prunklos einhergeht, die denen immer zur Seite steht, welche den Pfad nach ihrem erhabenen Tempel wandeln. Erinnerst du dich, wie uns Hadem vor einiger Zeit die Fabel von Minerva erklärte? Freilich nannte er es eine Fabel, aber er erklärte sie sehr schön. Auch ich deutete sie, und zwar nach meinem Sinne; und seit dieser Zeit schwebt diese Tochter Jupiters immer vor mir – und ich sah sie in dem tiefen Abgrund, wie ich sie in der lichten Höhe sehe.
FERDINAND: Was du sagst, begreife ich nicht ganz, aber ich bewundre dich jetzt mehr als Alexandern, der allein über die Mauern der feindlichen Stadt sprang. Du wolltest für mich Toren aus Liebe tun, was er um seines Ruhmes willen tat, und darum nenne ich die ihm geweihte Säule meines Tempels nach deinem Namen. Er sprang in die Stadt wie ich in den Abgrund, aber du! du!
Ferdinands ganzes Herz war in seinen Umarmungen; zum erstenmal nannten sich die Jünglinge Freunde und schworen an dem gefährlichen, dunkeln Abgrund, der ihnen wie ein Bild des Lebens vorschwebte, den Bund der Liebe, und jeder von ihnen verpfändete der Seele des andern sein Leben und Dasein.
[224] Hadem, der die Jünglinge nie aus den Augen verlor und ihnen oft, unbemerkt von ihnen, folgte, um die Früchte seines Unterrichts in ihren Reden, ihrem Tun und den freien Ergießungen ihres Herzens zu beobachten, hatte hinter einem Felsen die ganze Szene angehört. Als Ernst den gefährlichen Sprung zu wagen unternahm, wollte er schon hinzuspringen, als er aber gewahr wurde, daß Ferdinand ihm zuvorgekommen war, zog er sich leise zurück. Auf den Schrecken und den Schauder, die ihn bei dem Wagestück der Jünglinge überfielen, erfolgte Staunen und Bewundrung, und bei den letzten Worten Ernstens, die den Grund seines Entschlusses so klar enthüllten, erglühte sein Herz in sanfter Wonne. Er blickte gegen das Gewölbe der Höhle und lispelte leise:
»Braucht dieser mich noch, da du ihm zur Seite stehest?«
Die Jünglinge eilten aus der Höhle. Als Ferdinand an Alexanders Denkmal vorüberging, rief er: »Du heißest Ernst!«
Hadem folgte ihnen und erreichte sie in dem Eichenwald, Sie hatten sich unter dem größten Baum gelagert; noch glühten ihre Wangen sanft von der vergangenen Szene, und der Abendwind spielte in ihren Locken.
Hadem setzte sich nicht weit von ihnen auf eine Anhöhe, noch tief über das bewegt, was er vernommen hatte. Er sah die Jünglinge nah bei dem Abgrunde stehen. Plötzlich stellte sich ihm das menschliche Leben, in Rücksicht ihrer, unter diesem düstern Bilde vor, und unter diesem Gesichtspunkt fühlte er nun den ganzen Vorgang. Ferdinands Kühnheit, die ihn um des Wahns willen zu der Erforschung des Abgrunds trieb, erregte Sorge und Angst in seinem Busen. Selbst Ernstens Entschluß, der ihn in dem ersten Augenblick des Vorgangs dahinriß, erschien ihm nun unter düstrer erhabener Gestalt, und er konnte seine Gedanken lange von der Zukunft nicht ablenken, die sich ihm hier in weissagendem Gesichte enthüllt zu haben schien. Die Geschichte und seine Erfahrung hatten ihn gelehrt, was den Mann in der Welt erwartet, was das Schicksal von dem fordert, der sich der Göttin weiht, unter deren Schutze sich sein Zögling für so sicher hielt. Er kannte die Gefahr der Proben, die ihre [225] Verehrer zu bestehen haben, er wußte, daß man selten mit dem Geist und Herzen aus ihnen hervortritt, mit denen man sie beginnt. Der rastlose Kampf mit den Menschen, ihren Verfassungen, ihren wirbelnden Leidenschaften, ihrem Wahne und Eigennutze malte sich in wilder Gärung vor seinen Augen. Auf dem Schlachtfelde stand endlich der ermüdete Kämpfer zwischen nagenden Zweifeln, grämlichem Mißmut, der kalten Selbstigkeit, dem bittern Menschenhaß, und statt des Triumphgesangs hört er zischendes Hohngelächter und die frostigen, erstarrenden, giftigen Sarkasmen der Vernünftler. Sein Herz rief ihm zu, so könne sein Ernst nicht enden, aber ob er ihn gleich am Ziele der Laufbahn in sich selbst unbesiegt sah, so faßte er doch den festen Entschluß, seines Zöglings Begriffe über die Tugend in Rücksicht auf die Menschen und ihre Verhältnisse so zu berichtigen, daß sie nicht in schimärische Überspannung ausarteten: eine Stimmung der Seele, in welcher sich nur die Edelsten der Erde befinden können und die gewiß die glücklichste, beneidungswürdigste wäre und bliebe, wenn nur diejenigen, zu deren Bestem diese Stimmung immer wirkt, sie nicht auf Tod und Leben davon zu heilen suchten. Ernsten dachte er nun dahin zu leiten, daß ihm zwar die Höhe und Reinheit seines Geistes und Herzens verblieben, seine Begriffe aber sich so berichtigten, daß ihn die Widersprüche und Mißverhältnisse von außen mit seinem Gefühl weder irre machen, noch zerrütten möchten. Vorzüglich sollte er das, was ihn belebte, in den Menschen nicht mit der Kraft suchen, noch von ihnen erwarten, wie er es zu empfinden schien; und zu dieser gefährlichen Erkenntnis wollte er ihn durch Nachsicht und schonende milde Menschlichkeit führen. Ferdinands eitle Ruhmsucht hoffte er durch Ernstens milden Geist und seine eignen, absichtslos scheinenden Lehren zu läutern.
Nach diesen Betrachtungen nahte er sich den Jünglingen.
Das Abendrot glühte an dem Horizont, und der Eichenwald glänzte in seinem goldnen Feuer. Ferdinand stand heftig redend vor Ernsten, und dieser blickte ihn soeben mit sanfter Begeistrung an und sagte: »Ferdinand, ich habe es gefunden.«
[226]Hadem trat hinzu: »Was hat Ernst gefunden?«
FERDINAND: Den Stoff zu einem Heldengedicht über unsre Altväter, die Cherusker, Chatten und Sveven.
HADEM: Und wie kommt ihr darauf?
ERNST: Der Strom, die Abendröte, die Vergangenheit, Homer, der Eichenwald – die Schatten unsrer Vorfahren traten herein, wir träumten sie lebend, mit den Römern im Kampfe um ihre Tugenden.
HADEM: Wie das? Ernst, wie das?
ERNST: Dies ist eben der Sinn des Heldengedichts, das wir dachten oder träumten, als Sie kamen. Der Teutsche kriegt mit den ihn angreifenden Römern um seine Tugenden, seine Sitten, seine Freiheit. Hermann ist der Held. Der Kampf wird nun geführt zwischen den unverdorbenen Söhnen der Natur und den durch Glück, Kunst und Üppigkeit ausgearteten Römern. Spott, List, Betrug, Biederkeit, Aufrichtigkeit und Treue stehen gegeneinander auf. Es ist der Krieg der edlen, einfachen Natur mit der Ausartung der Kultur. Die römisch-griechischen Götter schweben über dem Schauplatz im Kampfe für ihr Volk mit den Göttern unsrer Väter, die Sie uns bekanntgemacht haben. –
HADEM: Gut, recht gut, aber ich fürchte für die Götter des Nordens.
ERNST: Fürchten Sie nichts, Hadem; jedem der griechisch-römischen Götter haben wir einen kühnern und mächtigern entgegenzustellen.
HADEM: Und doch fehlt eine Göttin, die leicht den Ausschlag zum Vorteil der Götter des griechisch-römischen Himmels geben könnte.
ERNST: Und diese?
HADEM: Wer anders als Minerva, die erhabene Tochter Jupiters, die Göttin der Weisheit und Klugheit.
ERNST: Oh, auch sie war unter den Göttern des Nordens, unsre Väter kannten sie recht gut und unter einem viel reinern und kräftigern Bilde.
HADEM: Sagen Sie doch! Unter welchem?
ERNST: Unter dem Bilde der männlichen Tugend, um deren [227] Besitz sie eben mit den Römern stritten, von denen sie sich die griechisch-römische Göttin nicht aufdringen lassen wollten, weil die Klugheit derselben ihrem geraden, aufrichtigen Sinne zuwider war, weil Klugheit so gern in List ausartet, sich so leicht in List gefällt. Unsre Väter dachten sich ihre Götter wie sie selbst waren: ohne alle List, Betrug und Feinheit. Und siegten sie nicht unter dem Schilde ihrer Göttin über die Zöglinge der Kunst? Ja, eben diese Göttin müßte die Muse des Heldengedichts sein, den Dichter begeistern und die Helden so beleben, daß sie sich selbst in ihnen kräftig darstellte.
Hadem sagte lächelnd: »Ernst, Sie sprechen ja selbst wie ein Dichter.«
Ernst erwiderte: »Macht dieses, was ich empfinde, den Menschen zum Dichter, Hadem, so soll mein ganzes Leben unter ihrer Leitung ein Heldengedicht werden; denn auch ich will unter dem Schilde dieser erhabenen Göttin stehen. Die Tugend der Helden blüht nicht allein auf dem Schlachtfelde, dieses haben unsre Vorfahren gezeigt.«
HADEM: Wozu auch immer Heldentugend? Warum ein so großes, ein so schallendes Wort?
ERNST: Nicht wahr? Denn ist nicht Ausübung der Pflicht, wenn ein Sieg über uns, unsre Leidenschaften, unsern Eigennutz vorausgeht, eine Heldentat? Lehrten Sie uns dieses nicht?
HADEM: Freilich, wenn wir sie ohne Rücksicht auf uns selbst, mit Gefahr für uns, zum Besten andrer ausüben. Ich wünschte nur dem schönen, guten Gefühl ein bescheidneres Beiwort. Ich kenne zum Beispiel einen Mann, der sich keiner Heldentugend und Heldentat bewußt ist, sich wenigstens keinen Helden nennt und gleichwohl, nach meiner Meinung, ein reinerer Held ist als euer Mazedonier.
FERDINAND: Als Alexander? Oh, lassen Sie uns geschwind seine Taten hören!
HADEM: Taten? Ich sagte ja, er weiß nichts von Taten. – Ich rede nur von dem Kammerrat Kalkheim. Lachen Sie immer, Ferdinand; Sie werden dessenungeachtet sehen, daß dieses Mannes Geschichte, in dem Herzen einer großen Anzahl von Mensehen [228] im stillen gefühlt, einen Wert hat, um den ihn wohl mancher große Held beim letzten Überblick seiner Taten beneiden möchte.
Dieser Kalkheim hatte früh einen großen Teil seines Vermögens zu einer Reise angewendet, um die Entdeckungen zur Verbesserung der Landwirtschaft praktisch ausüben zu sehen. Mit diesem Zwecke, den er sich zur künftigen Bestimmung machte, allein beschäftigt, versagte er sich allen andern Genuß, den sonst junge Leute auf Reisen suchen. Als ihm bei seiner Rückkehr ins Vaterland der Fürst diese Stelle anvertraute, machte er viele Versuche der gesehenen Neuerungen auf seinem eignen Lande nach; er hoffte, die Aufmerksamkeit andrer dadurch zu reizen. Aber die Vorliebe oder das Vorurteil für das Alte schien unüberwindlich, und ob er es gleich über sich nahm, den aus seinen Versuchen entstehenden Schaden zu ersetzen, so konnte er doch nur mit großer Mühe einige Landleute dahin bringen, sie nachzuahmen. So erreichte er seinen Zweck nur nach und nach, nur unter Streit, Kampf und Mühe. Durch den nähern Umgang mit den Landleuten lernte er so viel Elend und Armut kennen und sah die Quellen davon so genau ein, daß er sich bald mit der fürstlichen Kammer in eine Fehde einließ; aber da er hier nichts ausrichten konnte und doch helfen wollte, so war er in kurzem dahin gebracht, von seinem beträchtlichen Vermögen nichts mehr übrig zu behalten als ein kleines Haus und ein kleines Gärtchen, in welchem er Gesäme zieht. Seinen Sold teilt er mit den Dürftigen. Der Verlust seines Vermögens zog den Verlust der Freundschaft eines Mannes nach sich, der ihm ohne alle Schonung seine versprochene Tochter, in welcher der Kammerrat den Lohn für alles hoffte, versagte. Dieses verwundete sein Herz, und doch ist er glücklich; denn er sieht seine Taten auf den Feldern der einst Armen blühen, und die ganze Gegend unter seiner Aufsicht gleicht einem von ihm gebauten Paradiese, in welchem ihn der reinste Segen und Dank von den Lippen und Augen der Bewohner empfängt, wenn er es betritt.
ERNST: Hadem, lassen Sie uns diesen Mann, diesen Glücklichen in seinem Paradiese besuchen.
[229] FERDINAND: Wäre der Mazedonier ein Kammerrat gewesen, er hätte dies auch getan; denn Gold achtete er nicht.
ERNST: Ich fürchte, Ferdinand, um die Herrschaft über dieses Paradies hätte er es im Kampf zerstört.
FERDINAND: Um es schöner wieder aufzubauen.
ERNST: Führen Sie uns zu ihm, Hadem?
HADEM: Gern und bald. Ihr Herr Vater will ohnedies, daß wir uns in der Residenz bei Ihrem Oheim aufhalten sollen, während er nach den Bädern reist.
4.
In der Residenz *** wohnte nun Hadem mit seinen Zöglingen in dem Hause des Präsidenten von ***, Ernstens mütterlichem Oheim. Hier fanden sie alle die feine Höflichkeit und allen den kalten Anstand, wodurch sich die Vornehmen von dem Volke unterscheiden und womit sie ihre Genüsse zu veredeln glauben. Hadem hatte die Jünglinge hierzu weder vorbereitet, noch ihnen Regeln des Betragens vorgeschrieben; er wollte auch hier ruhiger Beobachter sein und bleiben. Ernst schien ihm in den ersten Tagen einer Pflanze zu gleichen, die, durch Versetzung, in dem einheimischen Boden ihre Lebenskraft gelassen hat; aber Hadems Gegenwart wurde auch ihm bald, was dieser der erste Morgentau und die wiederkehrende Sonne sind. Er drang sich hier noch fester, noch inniger an ihn, und in ihren Blicken drückte sich ohne weitere Erklärung ein Verständnis über alles Neue und Besondre aus. Bald ging auch Ernst so sicher und fest einher wie in seinem Eichenwalde. Ferdinand ward in kurzem der Liebling des ganzen Hauses. Die neuen Gegenstände belebten seine Einbildungskraft, reizten seine Ehrbegierde, seinen Stolz, seine Eitelkeit: und durch die Aufregung dieser Empfindungen wurden ihm die Verhältnisse der Menschen untereinander so deutlich, daß er, gleichsam aus natürlichem Triebe, ohne weiteres Nachsinnen und weiteren Vorsatz, jedem gab, was er zu wünschen schien; denn es war das, was er selbst von ihm erwartete. Dem Oheim, der die Jünglinge von seinem Schwager auf einige [230] Zeit gefordert hatte, um zu sehen, was sie versprächen, gefiel zwar Ernstens festes Betragen, weil er es dem Bewußtsein zuschrieb, das der junge Mensch von seinem Range und seiner künftigen Rolle in der Welt empfände; aber ihm gefiel auch das Lob, das jeder dem muntern, artigen und gewandten Ferdinand erteilte.
Er sprach hierüber mit Hadem, doch bevor ihm dieser seine Gedanken sagen konnte, fiel er ihm ins Wort:
»Verstehen Sie nur! Ich will darum gar nicht, daß Ernst eigentlich so wie dieser arme Ferdinand werden soll. Ernst soll fühlen, was er ist, was aus ihm wird, was ihn erwartet. Ferdinand ist ein armer Waise, der sein Glück machen muß; und ein solcher Mensch kann nie artig genug sein. Was ich eigentlich wollte, wäre, daß Ernst zuzeiten zeigte, auch er könnte es sein, wenn es ihm so gefiele. Dadurch, lieber Herr Hadem, unterscheidet sich der Mann von Stande, dessen Glück und Ansehen gewiß ist, von dem, der beides noch suchen muß: der eine tut alles, weil es ihm so gefällt, und der andere, weil er muß. Hätte Ferdinand zu hoffen, was mein Neffe zu hoffen hat, so sagte ich, er tut zu viel; und nun sage ich, er kann nicht genug tun.
Und sehen Sie doch nur! Die Natur hat das, was ich sage, selbst in den beiden jungen Leuten angedeutet. Bemerken Sie nur den schönen, schlanken, kühnen Wuchs Ferdinands! seine feurigen schwarzen Augen! seine anlockende Gesichtsfarbe! sein Feuer, seine Lebhaftigkeit, sein einschmeichelndes, immer zuvorkommendes, lächelndes Wesen! Da steht der Abenteurer, der Wagehals, ganz ausgerüstet zum Kampfe mit der Glücksgöttin. Es wird ihm nicht fehlen, glauben Sie mir. Und nun mein Neffe – man kann eigentlich nicht sagen, daß er schön sei; aber er ist mehr als schön, er hat etwas Feierliches, etwas Eignes, ihn von allen Unterscheidendes an sich, etwas, das mehr auf die Seele als auf die Augen wirkt – und da liegt ja der Unterschied, den ich bemerkte. Ferdinand wird den Weibern gefallen, und das kann ihm nützlich sein; Ernst verständigen Männern – und den Weibern, wenn er will!«
Hadem schwieg nach diesen ihm unerwarteten Äußerungen, und [231] der Präsident legte ihm sein Schweigen als Bescheidenheit aus, in seinen Augen das Hauptverdienst an Leuten ohne Stand.
Hadem ließ Ernsten gehen und nutzte jede sich darbietende Gelegenheit, Ferdinands gereizte Eitelkeit zu mäßigen.
In dem Hause des Präsidenten versammelten sich der Hof und die Angesehensten der Stadt. Seine zwei Töchter und sein Sohn empfingen von ihrer Seite die Fräulein und jungen Herren mit ihren Gouvernanten und Gouverneuren und übten sich in ihren Zimmern in den Rollen, die in dem großen Gesellschaftssaale gespielt wurden. Natürlich mußte Hadem mit seinen Zöglingen dieser Versammlung beiwohnen. Ernst hörte und sah zwar, aber er schien nur zu träumen bei dem, was er hörte und sah; Ferdinand hingegen war hier ganz in seinem Elemente.
Zum erstenmal hörten sie jetzt von Romanen und wunderbaren Begebenheiten reden; und als die junge Gesellschaft ihre Unwissenheit in einer so wichtigen Sache entdeckte, erstaunte man, bedauerte und ließ es sich sehr angelegen sein, sie mit dieser nötigen Kenntnis zu bereichern. Hadem sah die Unmöglichkeit ein, seine Zöglinge vor einem Übel zu bewahren, das alle Stände unsers Zeitalters ergriffen hat. Man gab den Jünglingen die Romane des Tages. Ferdinand verschlang sie; Ernst, dem ein Wunderbares andrer und höherer Art vorschwebte, konnte das Wesen, Leben, Handeln und Denken der Menschen in denselben gar nicht begreifen und würde von aller weiteren Neugierde auf immer geheilt worden sein, wenn ihm die Tochter des Präsidenten nicht einen gegeben hätte, der sein Herz zerriß, ausdehnte und seine Seele folterte, spannte, erhob, niederdrückte und zermalmte. Wer kennt nicht die feurigste, vollendetste Darstellung des heutigen Genius?
Auch Ferdinand las diesen Roman, und seine Einbildungskraft entbrannte so gewaltig, daß er von diesem Augenblick nichts Größeres, Erhabneres und Nachahmungswürdigeres kannte als die Lage dieses jungen Helden, sein pathetisches Ende, das er als ein Opfer hoher Tugend für ein Geschlecht ansah, für welches man nach seiner jetzigen Stimmung nichts weniger tun könnte. Alles, was sonst so tief, stark und schön Gedachtes [232] und Gefühltes über Menschen, Schicksal und Natur darin lag und was einen so mächtigen Eindruck auf Ernsten machte, entwischte ihm.
Natürlich ward nun dieses der Hauptgegenstand der ersten Unterhaltung in dem jugendlichen Kreise. Ferdinand malte seine Gefühle mit den stärksten und lebhaftesten Farben und fand in den jungen Fräulein um sich her, die sich als den Gegenstand seiner Begeistrung und seines Heldenmuts ansahen, sehr aufmerksame und gespannte Zuhörerinnen. Begeistert rief er, indem er seine feurigen schwarzen Augen gegen Amalien, die dreizehnjährige Tochter des Ministers ***, eins der reizendsten Geschöpfe, wendete: »Oh, es muß ein süßer, erhabener Tod sein, für seine Geliebte zu sterben! Ich wünsche mir ihn!«
Keine der Zuhörerinnen widersprach, und nur einige Junker, die schon weiter in der Erfahrung gekommen waren, lächelten. Amalie errötete sanft, und die Tochter des Präsidenten fragte Ernsten, in dessen Augen sie ein ihr fremdes Gefühl zu bemerken glaubte, was er davon dächte. Er antwortete gelassen, indem sein Blick auf eben diese reizende Amalie fiel: »Ich schlage des Mannes Bestimmung höher an.«
Alles schwieg, und Amaliens Wangen färbten sich höher. Ein Blick schoß unter ihren langen Augenwimpern auf Ernsten hervor, dann sah sie gegen den Boden.
Hadem trat nun näher und sprach:
»Ich höre Ihnen wirklich mit Verwunderung zu und kann gar nicht begreifen, wie junge Leute, die weder den Wert des Lebens noch die Bestimmung des Menschen kennen, sich anmaßen, über Dinge zu reden, die ihnen ebenso fremd als dunkel sein sollten. Da es aber nun einmal so ist, so will ich Ihnen doch sagen, was mein Zögling unter den Worten gedacht hat, die Ihnen so sonderbar vorzukommen scheinen. Er meint, der Mann habe höhere und bedeutendere Pflichten, als für ein Mädchen zu seufzen oder zu sterben; und ich hoffe, er soll auch dann noch so denken, wenn er erfährt, was dies ist, von dem Sie so früh vor der Zeit reden. Jetzt weiß er es gewiß nicht; aber sollte er es einmal empfinden, so bin ich gewiß, er würde für die Person, für die [233] er es empfände, noch weit größre Übel ertragen, als das ist, welches man sich unter dem Tode denkt; und doch würde er leben und eben durch sein Leben beweisen, wie würdig er ihrer sei. Die Liebe, um das Wort nur zu nennen, das Sie so leicht aussprechen, soll den Mann erhöhen, nicht niederwerfen; und derjenige, welcher darum stirbt, weil ihm das Schicksal den Gegenstand seiner Leidenschaft vorenthält, ist ein Kranker, der vermutlich an der Versagung jedes andern heißen Wunsches gestorben wäre: denn er wollte über seine Kräfte. Des jungen Menschen Schicksal, das dieses Buch so meisterhaft darstellt, lag ebenso sehr in seiner ihm eignen Denkungsart, der düstern, forschenden Stimmung seiner Seele, seinen Begriffen über die Natur und die Verhältnisse der Menschen gegeneinander als in seiner leidenschaftlichen Lage; ja sie gaben eigentlich seiner leidenschaftlichen Lage die auszeichnende Farbe und mußten endlich die Katastrophe hervorbringen, die schon so früh in ihm vorbereitet war, gegen die er auch so wenig kämpfet, daß er ihr vielmehr langsamen Schritts und mit einer Art innern Genusses entgegengeht. Er gleicht einem seltnen, lieblichen, interessanten Kinde, das einen düster erhabenen dichterischen Traum schwärmt, bevor seine Vernunft ganz erwacht ist. Ich bewundre das Buch als dichterische Darstellung der Wirkung dieser gefährlichen Leidenschaft gewiß mehr als Sie; aber ich bewundre nicht den Helden, den es uns darstellt. Ich könnte ihn zuzeiten sogar hassen, weil er den Mut unsrer Jünglinge erschlafft und die Köpfe unsrer Mädchen so verwirrt, daß sie beide das zu einem übertriebenen, romantischen Spiele machen, was doch die Natur und die Gesellschaft zum wichtigsten und ernsthaftesten Geschäfte des Lebens gemacht haben. Die Männer sind in der Welt, um Beweise ihres Verstandes und Mutes zu geben; und die Weiber, wenn ihr Verstand und ihr Herz nicht durch Romane verdorben sind, achten nur die Männer, welche dieses tun. So war es bei den Völkern, die wir noch jetzt bewundern, die wir nur so lange zu bewundern Ursache finden, als dieses dauerte. Welche seelenkranke, erbärmliche und niedergedrückte Männer müssen die nicht sein, die in solchen Spielen der Phantasie Ersatz für [234] Tätigkeit und Mut finden können, die ihre Weiber und Töchter schon bis dahin gebracht zu haben scheinen, daß sie ihnen solche Erschlaffung, Weichlichkeit und Feigheit für die einzigen Heldentugenden anrechnen, deren sie noch fähig sind! Glauben Sie darum ja nicht, daß ich dieses dem Dichter zuschreibe. Er denkt weder der Toren noch der Schwachen, noch weniger will er ihnen Bilder zur Nachahmung in seinem Helden aufstellen. Ihn ergreift die Liebe zu einem Gegenstand, die Begeistrung übt ihre Gewalt an ihm aus. Sein entflammter Genius tut dasselbe an euch, indem er euch durch Angst, Staunen, Furcht, Grausen und alle menschliche Gefühle in seinen magischen Kreis bannet, in welchem eine Gottheit ihn gefesselt hält und aus dem er selbst nicht eher treten kann, als bis ihn seine mächtige Beherrscherin entläßt.
Ich sehe wohl, daß ich Ihnen lästig falle; mein Rock mag es entschuldigen. Eigentlich spreche ich hier nur um eines einzigen willen, und dieser versteht mich. Um Ihnen übrigens den Unterschied zwischen meinen beiden Zöglingen zu zeigen, will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, dann mögen Sie selbst urteilen, wer von ihnen im Fall der Not für Freundin und Freund mehr zu tun fähig wäre.«
Er erzählte hierauf den Vorfall in der Höhle, beschrieb den furchtbaren Abgrund, seine Angst, den Ausgang des Vorfalls und endigte mit den Worten:
»Wer war nun hier der mutigste? Er, der in die Höhle gleiten wollte, um der erste zu sein, der uns sagen könnte, ob die einfältigen Märchen des Volks gegründet wären; oder der, welcher, um den törichten Freund zu retten, hineinzuspringen drohte, hineingesprungen wäre?«
Keiner der Gesellschaft schien das Edle des Zuges zu fühlen, den ihnen Hadem von Ernsten mitteilte, und aller Augen, außer Amaliens Augen, wendeten sich jetzt nach Ferdinand. Sein Vorsatz schien ihnen größer, kühner, obgleich seine eigne jetzige Beschämung so laut gegen ihn sprach. Hadem bemerkte hier die gewöhnliche Wirkung des Romanenlesens auf die alltäglichen Menschen, das alle einfache, natürliche Gefühle in ihnen verzerrt [235] und verdunkelt und an deren Stelle einen erkünstelten Kitzel der Phantasie und der Eitelkeit setzt.
Ernst schien in diesem Augenblick ein Verbrechen begangen zu haben. Er atmete kaum, und nur die sichtbare Verwirrung seines Freundes erweckte ihn aus seiner Betäubung. Er eilte auf ihn zu; die glühenden Wangen der Jünglinge berührten sich, und einige Tränen, von verschiednem Gefühl erzeugt, drängten sich zwischen ihre Küsse.
Amalie allein sah gerührt dieser Umarmung zu. Sie sah immer auf Ernsten, aber nun verweilte ihr begeisterter Blick länger auf Ferdinand. Dieser bemerkte es und drängte sich zu ihr, von ihrem Blicke angezogen. Noch ganz von dem vorigen Gefühle belebt, das jetzt unter dem Rosenschimmer der Scham, von Beleidigung der jugendlichen Eitelkeit hervorgebracht, sanfter auf seinen Wangen und in seinen Augen glühte, stand er schweigend vor ihr. Sie sah ihn lächelad an und sagte:
»Sein Sie froh, daß die Fräulein in der Residenz zu mitleidig oder zu klug sind, Sie bei dem Worte zu nehmen, das Sie so rasch ausgesprochen haben. Wir würden sonst bald über Ihre Leiche weinen müssen, und das wäre doch zu früh.« Ferdinand erwiderte, und ein Flammenblick begleitete seine Worte:
»Für eine einzige Träne aus solchen Augen wollte ich es schon wagen.«
Und noch kühner setzte er hinzu:
»Spotten Sie nur; aber hüten Sie sich, diesem Fenster hinauszuwinken; denn ginge auch der Sprung durch die Erde, ich folgte dem Winke doch.«
Nun zog sich Amalie sanft von ihm weg, faßte eine Gespielin unter dem Arme und ging an das Klavier im Nebenzimmer.
5.
Beim Niederlegen sagte Hadem zu seinen Zöglingen:
»Morgen besuchen wir den Kammerrat Kalkheim; aber ihr müßt früh aufstehen, damit wir durch seine blühenden Felder wandeln, [236] bevor die Sonne den Morgentau ganz aufgetrocknet hat. Die Lerche erhebt sich dann mit schmetterndem Gesange.«
Sie brachen früh auf, und nach einigen Stunden sagte Hadem zu den Jünglingen:
»Hier fangen die Felder an, die unter des Kammerrats Aufsicht und Leitung bebauet werden. Vergleicht sie mit denen, an welchen wir vorübergegangen sind. Bemerkt doch, wie viel höher und voller die Ähren stehen, wie auf diesem überall blühenden und grünenden Schauplatze kein Fleckchen unbenutzt geblieben ist. Das ganze Land gleicht einem einzigen großen Garten: so unschädlich und geschickt für Äcker und Wiesen sind die Fruchtbäume angelegt. Ehemals entbehrten die Einwohner der Gegend diesen frischen und erquickenden Genuß, und nun danken alle diese Bäume dem Kammerrat ihr Dasein und füllen reichlich die Behälter der Hausmütter. Die Kinder empfangen die süßen, gesunden Früchte aus den Händen der Mutter und genießen sie unter dem Andenken ihres Wohltäters. Von jenem Hügel werden wir das Dorf schon sehen, in welchem der Glückliche wohnt, dessen wohltätiger Geist diesen einst rauhen und unfruchtbaren Strich Erde so schön und blühend geschmückt hat. Es soll heute das Ziel unsrer Wanderung sein; den Rückweg nehmen wir durch eine andre Gegend, denn seine Verwaltung erstreckt sich über mehrere Dörfer und Felder.«
Ferdinand hatte viel zu fragen. Hadem mischte in seine Antworten seine Gesinnungen über das Glück der Beschränktheit und Einfalt, um dem Geiste des reizbaren Jünglings die Richtung zu geben, die er ihm wünschte.
Als sie an das reine, wohlgebauete Dorf kamen, führte Hadem sie gerade nach dem Hause des Kammerrats. Sie traten hinein, und Hadem bemerkte schon in dem Vorhause eine ihn befremdende Veränderung. Er öffnete die Tür des Zimmers, worin sonst Kalkheim wohnte, und fand hier alles verändert. Die Wände, die er bei seinen ehemaligen Besuchen mit den verschiednen Werkzeugen des Ackerbaues bemalt sah, waren blendend weiß übertüncht. Die Schränkchen an diesen Wänden, in welchen der Kammerrat in Flaschen oder unter Glase alle nötigen [237] Gesäme in systematischer Ordnung aufbehielt, waren abgebrochen; das Bücherbrett im Winkel, alle Gerätschaften waren verschwunden, und das ganze Zimmer strotzte von langen Tischen und leeren Bänken. Hadem glaubte sich in dem Hause geirrt zu haben und wollte schon umkehren, als ihm aus dem Winkel eine traurige Stimme zurief:
»Nur immer zu, meine Herren!«
Hadem fragte nun nach dem Kammerrat, und der Mann sagte noch klagender:
»Ach, daß Gott erbarme! Er wohnt schon lange nicht mehr hier; aber ich armer, zugrunde gerichteter Mann – ein Gastwirt ohne Gäste – wohne hier in einem Wirtshause, das Ihr zum erstenmal als Gast betretet!«
HADEM: Ein Wirtshaus?
WIRT: Ja, ja! ein Wirtshaus, so schön als nur eins im Lande sein kann und so unbesucht als eins in dem großen Teutschland. Haben Sie denn das Schild nicht gesehen, das so prächtig vergoldet über die Straße hinüberhängt? Pracht von außen, Herr, und Elend im Innern. Gras wächst vor meiner Türe, daß der Hirt die Kühe nicht vorüberbringen kann, wenn er hinaustreibt. Haben Sie das nicht bemerkt?
Hadem trat an das Fenster und las die Aufschrift »Zum Verschwender« mit großen goldnen Buchstaben. Das Schild selbst war mit einem anspielenden Gemälde geziert, das den Geist verriet, der es angegeben hatte. Und nun erfuhr Hadem: der Kammerrat sei von der Kammer abgesetzt worden, man habe das Haus um einiger Schulden willen verkauft und zu einem Wirtshause gemacht. »Aber«, setzte der Wirt hinzu, »es ist ein Kauf, der mich zum Bettler macht. Kein Bauer des Dorfs und der Gegend hat noch den Fuß über meine Schwelle gesetzt. Mit Vergnügen sieht jeder das Gras vor meiner Türe wachsen und sagt laut: ich müßte in diesem Hause entweder verhungern oder toll werden. Der Kammerrat, der mich bedauert, ist noch der einzige, der mich zuzeiten besucht; aber selbst sein Beispiel vermag nichts über die Halsstarrigen, die nie an meinem Hause vorübergehen, ohne einen Fluch in ihren Bart zu murmeln. Und [238] mich recht elend zu machen, spricht keiner ein Wort mit mir, keiner dankt meinem Gruße, in der Kirche muß ich allein sitzen, und selbst die kleinen Kinder laufen schreiend weg, wenn ich sie anreden will. Ich war bei dem Pfarrer, auch der schweigt und seufzt und scheint unzufrieden mit der Kammer.«
FERDINAND: Und warum setzte denn die Kammer ihn ab? Was hatte er Böses getan?
WIRT: Böses? Junger Herr, darüber wäre vieles zu reden! Die Kammer muß es ja wohl wissen. – Ich klage und jammre nun auch umsonst bei ihr. –
»Und wo ist denn der Kammerrat?« fragte Hadem besorgt.
WIRT: Dem geht es recht gut! Jetzt wohnt er bei dem Schulzen. Er ändert seine Wohnung von Woche zu Woche, und ist er bei den Wohlhabenden eines Dorfes herum, so zieht er auf das nächste, und so immer fort. Da ist es denn ein Lärmen, Singen und Schreien, wenn der Sonnabend kommt! Da führen ihn Mütter, Kinder und die Alten mit Hund und allem was lebt so freudig und mit solcher Ehrfurcht in die neue Wohnung ein, als wäre ein Engel vom Himmel gestiegen, um das Haus reich, glücklich und alles darin gesund zu machen. Hadem eilte nun mit seinen Zöglingen nach dem Hause des Schulzen. Die Hausfrau war in der Küche beschäftigt, und als man sie nach dem Kammerrat fragte, öffnete sie freundlich die Türe. Den Kammerrat fanden sie an dem Bette eines kranken Knaben sitzen, mit der rechten Hand einen Fliegenwedel und mit der linken ein großes Pflanzenbuch auf dem Arme haltend. Als er die Eintretenden gewahr wurde und Hadem erkannte, bewillkommte er ihn, ohne aufzustehen und ohne sich anders zu entschuldigen, als daß er mit einem Blick auf den kranken Knaben hinzeigte.
Hadem stellte ihm seine Zöglinge vor, drückte ihm die Hand, zog einen Schemel näher und setzte sich bei dem Bette nieder. Der Kammerrat stellte nun sein Kräuterbuch zwischen seine Füße und bewegte leise den Wedel über dem Angesicht des Kindes.
Hadem erkundigte sich, was dem Kinde fehle, das er so freundlich besorge, und der Kammerrat antwortete: [239] »Ein böser Bube hat ihm einen Stoß gegeben, der üble Folgen haben könnte, wenn das Kind nicht so artig und geduldig litte, was wir zu seiner Heilung tun. Ich suche nun noch kräftigere Kräuter zu Bähungen aus – denn, unter uns gesagt, ich lege mich seit einiger Zeit auf die Kräuter- und Heilkunde, um doch dem guten Volke durch etwas nützlich sein zu können. Sie müssen mich aber ja nicht verraten, Herr Hadem, und auch Ihre junge Herren nicht. Erführen es die Apotheker und der Landphysikus, so würden sie gewiß schreien, ich schade ihnen.«
HADEM: Sollten sie?
KAMMERRAT: Ich habe es ja erfahren, daß man nicht behutsam genug gegen Leute sein kann, die der Eigennutz zu einem Körper verbindet. Ich war es nicht genug, Herr Hadem; wenigstens sagen sie so. Aber was soll ich tun? Wie Sie sehen, werde ich den Fehler wohl behalten.
Hadem drückte ihm noch wärmer die Hand, und Ernst trat näher.
HADEM: Wir sind in Ihrem Hause gewesen, lieber Kammerrat.
KAMMERRAT lächelnd: Und haben mich dort nicht gefunden, weil es mein Haus nicht mehr ist. Aber doch haben Sie mein Porträt auf dem großen Schilde gesehen. Wenigstens soll es mich vorstellen, getroffen oder nicht.
HADEM: Sie?
KAMMERRAT: Sagen Sie, ist es nicht eine Torheit von der Kammer, dem armen Manne mit aller der Vergoldung und närrischen Pracht so viele Kosten zu verursachen? Wenn die Kammer sich einen Spaß machen wollte, so hätte sie doch ökonomischer dabei verfahren müssen. Dafür heißt sie die Kammer, und das hätte sie auch hier nicht vergessen sollen.
HADEM: Was wir da sahen, lieber Kammerrat, ist nichts anders als ein dauerndes Denkmal Ihrer Tugend und durch seine Bosheit ein noch schändlicherer Beweis von dem Unsinn und der Undankbarkeit der Kammer. Ich ahnde, woher es kommen mag, und Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir sagten, wie es möglich war, wie das geschehen konnte, was ich von dem jetzigen Bewohner Ihres Hauses erfahren habe.
[240] KAMMERRAT: Der arme Mann dauert mich; ich mußte die unschuldige Ursache zu seinem Elende sein.
HADEM: Wollten Sie uns erzählen –
KAMMERRAT: Ich rede so ungern davon.
HADEM: Nun, so kurz, als es die Bosheit verdient; wir lernen dann von Ihnen sie zu vergessen.
KAMMERRAT: Nur auf diese Bedingung. Nun, lieber alter Freund, die Kammer sagt, der Kammerrat Kalkheim sei ein Narr; und daran mag wohl etwas sein. Aber das weiß die Kammer nicht, daß ich immer ein sehr glücklicher Narr war und es noch bin. Ich habe für die Bewohner der hiesigen Gegend allerlei getan, und die Leute wußten mir es Dank. Sie werden wohl gesehen haben, wie es mit ihren Feldern, Häusern, Scheunen und Ställen steht; das nun machte mir so viele Freude, daß ich gar nicht daran denken konnte, es mache andern Leuten Kummer. Auch dachte ich so wenig daran, was es mir etwa kostete, daß ich mir gar nicht einfallen ließ, die fürstliche Kammer, die doch dabei gewann, würde mir es verargen. Aber sie sagen, ich sei nicht klug, verdürbe die hiesigen Bauern, die unter andrer Leute Aufsicht ständen, und machte sie unzufrieden, weil die, unter deren Aufsicht sie ständen, gescheitere Männer wären und man sie nicht darum als Kammerräte über die Bauern gesetzt hätte, um solche Narren wie ich zu sein. Sie sagen, ein Strich Landes müsse nach eben der Regel behandelt werden wie der andere und der Kammerrat, welcher von dieser Regel abweiche, schade denen, die bei dieser Regel blieben. Ja, ein solcher Kammerrat schade am Ende dem Fürsten selbst; denn der Fürst könne doch unmöglich so verfahren wie der Kammerrat, der von der Regel abweiche, wenn er Fürst bleiben wolle. Man müsse sich wohl hüten, sagen sie, die Ansprüche der Bauern über die Gebühr zu reizen, weil es sonst kein Ende damit nehme, und das Allerklügste wie das Beste sei, alles bei dem alten zu lassen. Dies kann nun so wahr als klug sein; mir tut es nur leid, daß es so ist. Und sehen Sie nur, wie sich alles sonderbar fügen und schicken muß. Vor einiger Zeit brannten in einem der benachbarten Dörfer einige Häuser mit Habe, Fahrt und der eingeführten Ernte [241] ab. Das Elend war groß, und ich wußte, wie langsam alles bei der Kammer vermöge dieser Regel geht. Ich wich also, mit gutem Gewissen, meinte ich, ein wenig von dieser Regel ab, nahm von meinem Eignen, was ich zusammenbringen konnte, und lieh das Fehlende aus der fürstlichen Kasse; denn sehen Sie nur, zehn Monate hatte ich schon von meinem Gehalt verdient, zwei Monate hatten bis zur Zahlung noch zu laufen. So borgte ich demnach nur, was ich schon abverdient hatte. Wie dieses die Kammer erfahren hat, das weiß ich nicht. Man kam auf einmal, untersuchte die Kasse vor der gewöhnlichen Zeit, und als man sie eröffnete, sagte ich den Herren, was und warum ich es getan. Man erschrak gewaltig, bedauerte höchlich den besondern Vorfall, wollte gehörigen Orts melden, und ich erhielt nicht lange hierauf meinen Abschied wegen des gefährlichen Beispiels, das ich gegeben. Der Abschied enthielt noch allerlei sonderbare Vorwürfe, Vorwürfe, Herr Hadem, die ich gar nicht vermuten konnte. Aber man erfährt allerlei in dieser Welt, wenn man nicht so klug ist wie die Herren. Es meldeten sich noch einige Schuldner, und so verkaufte man geschwind mein Haus mit dem Gärtchen und machte den Mann, der jetzt darin wohnt, zum Bettler. Ich kann ihm nicht helfen, so viele Mühe ich mir auch gebe; denn die Bauern sind so eigensinnig, so aufgebracht – und, denken Sie, der arme Mann kann nicht einmal das Gärtchen nutzen – was soll er mit den Kräutern und Gesäme machen, das ich dort gepflanzt habe, das Ihnen so viel Freude machte! Alles fault, lieber Herr Hadem!
Einen Augenblick, ich muß doch der guten Schulzin sagen, daß sie etwas mehr zum Mittag anrichte, die jungen Herren werden Hunger haben. Der Schulze wird nun bald nach Hause kommen. Denken Sie nur, der eigensinnige Mann wollte den Branntwein zu den Umschlägen nicht bei dem Wirte »Zum Verschwender« kaufen, so sehr es auch not tat; er lief lieber nach dem Städtchen. – Er gab Hadem den Fliegenwedel und ging hinaus.
Hadem setzte sich vor das Bett und blickte nach seinen Zöglingen. Ferdinand bat um den Fliegenwedel. Ernst sah unverwandt nach der Türe, und als der Kammerrat wieder hereintrat, [242] ging er ihm entgegen, begleitete ihn bis zu seinem Schemel und setzte ihn zurecht, als Hadem aufstand. Der Kammerrat sagte: »Alles ist bestellt. Mir ist es sehr lieb, Herr Hadem, daß ich einmal der häuslichen Sorgen los bin. Ich konnte nie mit dem Gesinde zurecht kommen, weil ich das Zanken nicht verstehe; und recht zu zanken ist eine größre Kunst, als Sie wohl glauben. Man muß nach dem Sinne eines jeden zu zanken wissen, wenn es wirken soll. Nun habe ich mehr Häuser als unser guter Fürst und nicht die geringste Sorge dabei. Darum sage ich eben: wenn die Kammer recht hat, daß ich ein Narr bin, so bin ich ein sehr glücklicher Narr!«
Ernst ergriff seine Hand: »O Gott! laß mich es so werden!«
Hadem sah Ernsten gerührt an. Ferdinand bewegte den Fliegenwedel stärker. Der Kammerrat lächelte und sagte zu Ferdinand: »Sie machten es recht gut, wenn es ein wenig langsamer ginge. Ich will indessen die Kräuter dort pflücken!« Ernst half ihm, und Hadem unterhielt sich mit dem Kinde, das ihm erzählte, was es von dem Kammerrat gelernt habe.
Der Schulze kam nach Hause. Man setzte sich zu Tische, und die Zeit verflog unter Gesprächen über das Leben des Landmanns. Der Kammerrat legte zuzeiten die Umschläge auf, und Hadems Zöglinge gingen ihm zur Seite, wohin er sich wendete. Er begleitete die Rückkehrenden: der Abschied ward wie von Freunden genommen, und Ernst pflückte beim Heimwandeln in den blühenden Feldern einen Kranz von Feldblumen und Ähren, den er sehr fest und sorgfältig zusammenfügte und dann am Arme trug. Er bestimmte ihn im Geiste zur Zierde seiner gewählten Blende in der Höhle; da sollte er als ein Denkmal des Mannes hangen, der dieses Paradies geschaffen hatte und dessen Tugend und Güte so rein waren.
6.
Beim Abendtische erzählten die Jünglinge dem Oheim, wie angenehm sie diesen Tag auf dem Lande zugebracht hätten. Der Oheim ließ sich erzählen und sah während der Erzählung verdrießlich [243] auf Hadem. Als aber Ernst über den Undank und die Ungerechtigkeit klagte, die man gegen den Kammerrat ausgeübt, und von diesem Manne in dem Gefühle sprach, in welchem er ihn ansah, endlich gar seinen Oheim dringend bat, sich für ihn zu verwenden, sagte der Präsident in einem rauhern Tone, als er bisher noch getan hatte:
»Herr Hadem, wissen Sie wohl, daß ich Präsident dieser Kammer bin? daß ich des Toren Abschied unterschrieben habe? daß ihm widerfahren ist, was er mehr als verdient hat? Soll mein Neffe etwa von Ihnen lernen, sein Oheim sei ein ungerechter Mann? Und was soll das heißen, daß Sie die jungen Leute zu einem Toren führen, dessen Beispiel, Narrheit und Spiegelfechterei so verderbend als ansteckend für sie sind? Zu einem Phantasten, der die fürstliche Kasse mit der Rechten bestiehlt, um mit der Linken, wie Hans Eulenspiegel, Almosen zu spenden! Ich mag mich jetzt nicht weiter über diese Sache herauslassen und sage Ihnen nur so viel, daß dieses nicht die Leute sind, zu denen ein Hofmeister die ihm anvertraueten jungen Edelleute führen muß, da sich in der Residenz und vorzüglich in meinem Hause bessere, anständigere und nützlichere Bekanntschaften für sie machen lassen.«
Hadem antwortete kalt und trocken:
»Den Schaden, Eure Exzellenz, der durch diesen Besuch diesen jungen Edelleuten widerfahren sein mag, habe ich gegen Herrn von Falkenburg zu verantworten.«
»Sie vergessen, mein Herr, daß ich nun seine Stelle vertrete!« sagte der Präsident mit Unwillen.
Hadem erwiderte: »Das weitere nach der Tafel, Herr Präsident!« Ernst trat bittend zu seinem Oheim, ergriff sanft seine Hand und küßte sie. »Sie irren sich, lieber Oheim; dieser Besuch ist uns sehr nützlich gewesen. – Verzeihen Sie mir meine Zudringlichkeit; und sollten Sie mir dieselbe auch nicht verzeihen, so muß ich doch noch einmal für den Kammerrat bitten, dem so viel Unrecht geschehen ist. Gewiß hat man Ihnen in Ansehung seiner nicht die Wahrheit gesagt; er hat Feinde, der gute Mann. – Hören Sie die Wahrheit von mir!«
[244] PRÄSIDENT: Ich weiß sie recht gut, lieber Neffe, die Wahrheit, und weiß auch, daß dieser Tor keinen größern Feind hat als sich selbst. Vernimm nun mein letztes Wort über diesen mir jetzt noch gehässigern Punkt. Laß dir dasselbe als ein Edelmann, der einst tätig in der Welt auftreten muß, von einem erfahrnen Geschäftsmann gesagt und unvergeßlich sein. Jeder Staat, er sei groß oder klein, besteht durch ein Ding, an das alles gefesselt ist und gefesselt bleiben muß, das alles durch feste, unabänderliche Ordnung in Abhängigkeit von sich hält. Dieses Ding, Ernst, heißt System, und nach ihm muß sich ein jeder von uns bequemen, er sei und heiße wie er wolle. Es ist unser aller gewaltiger Herr und Herrscher. Der Fürst selbst muß sich ihm unterwerfen und gleicht dadurch dem Gott der alten Fabel, der zwar alles beherrscht, aber von dem ewigen Schicksal, vor ihm selbst geboren, abhängt. Sieh, ich kann auch in Bildern reden und beweise dir nun, daß ich die Bücher gelesen habe, die dich zu erhitzen scheinen. Er blickte nach Hadem und fuhr fort. Jeder kühne Vernünftler nun oder jeder heiße Schwärmer, der durch anmaßende Zurechtweisungen, unregelmäßige Eingriffe den festen Gang dieses kalten, unbiegsamen, notwendigen Wesens, das alles zermalmet, was sich ihm entgegenstellt, und das die Menschen zu ihrer eignen Erhaltung als Herrscher über sich erschaffen mußten, zu stören wagt, zerstößt sein leeres oder feuriges Gehirn an diesem in Erz gepanzerten Riesen. Ich habe bemerkt, daß die Metapher deine Lieblingsfigur geworden ist; so wirst du mich ja um so leichter verstehen.
Hadem saß da, als führen verzehrende Blitze aus dem Munde des Redenden. Er sah durch einige Atemzüge des gereizten kalten Mannes sein ganzes Gebäude erschüttert, die Blüten seiner Hoffnung von einer giftigen Luft in dem Augenblick angehaucht, da sie eben aus der Knospe dringen wollte.
Ernst stand da, als habe sein Oheim durch einen Zauberspruch die Sonne verfinstert und ihn mitten in den Kreis scheußlicher, der Finsternis entsprungener Gespenster gestellt.
Hadem wollte reden. Der Präsident hob die Tafel auf und trat mit ihm in ein Seitenzimmer. Er sprach:
[245] »Es scheint nicht, Herr Hadem, daß Ihnen das sehr gefalle, was ich soeben notgedrungen sagen mußte. Ich glaube es gerne; denn ihr Herren, die ihr auf eurer Studierstube die Menschen und ihr Wesen nur aus Büchern kennenlernt, tragt gar zu gern eure abgezogenen Begriffe in die Welt über, in welcher ihr immer Fremdlinge seid und bleibt. Ich dachte wohl, daß Sie so etwas diesem Ähnliches vorbringen würden; darum endigte ich das Gespräch im Speisesaal. Glauben Sie mir, Herr Hadem, nichts ist jungen Leuten von lebhaften Gefühlen nachteiliger, als wenn man ihre Erwartungen von den Menschen und ihrem Wert über die Grenzen der Wirklichkeit treibt. Denn entweder sieht der junge Mann ein, daß man ihm zu viel gesagt hat, und wirft plötzlich alles als Lüge weg, wird ein schlechter Kerl; oder, hat er Kraft und Stolz, so wird er am Ende ein mißmutiger, melancholischer Tropf, sich und andern zur Last. Darum frage ich Sie nun als ein Mann, der beides haßt: was denken Sie eigentlich in meinem Neffen zu erziehen?«
HADEM: Und so antworte ich Ihnen als ein Mann, der auch beides haßt. – Wenn es mir glückt, wie ich zu hoffen Grund habe, wenn Äußerungen, wie ich soeben vor der Zeit vernehmen mußte, mich nicht in meinen schönen Hoffnungen betriegen ...
Der Präsident ward finster-ernsthaft.
Hadem fuhr fort: »Warum sollt ich Ihnen nicht sagen, daß Bemerkungen, Bilder über die Gesellschaft, der wir einst beitreten sollen, so fürchterlich und ohne alle Vorbereitung aufgestellt, wie Sie es eben taten, nur dann von uns ertragen und richtig beurteilt werden können, wenn unser Herz schon so weit ausgebildet, schon seiner so mächtig geworden und mit der Vernunft in eine so richtige Übereinstimmung gebracht ist, daß es unsre eigennützigen Leidenschaften, unsre selbstigen Triebe und Begierden, die aus dergleichen auf sogenannte Erfahrung gegründeten Sätzen entspringen, meistern kann? Leicht nimmt der Mensch die Stelle des Ganzen ein und sieht es gerne für einen Gegenstand an, mit dem der am besten auskommt, der ihn am klügsten zu seinem Vorteil zu benutzen weiß. Ich denke Ernsten und seinen Freund so hoch zu stellen, daß sie nie im Schlamm [246] des Eigennutzes versinken können; und darum müssen die Flügel, die sie über diesem Pfuhl emporhalten sollen, aus ihrem eignen Herzen wachsen. Hier haben Sie meine Antwort auf Ihre Frage und den ganzen Sinn meines Erziehungsplans.«
PRÄSIDENT: Und nochmals frage ich: was wollen Sie in meinem Neffen erziehen?
HADEM: Einen Menschen.
PRÄSIDENT: Einen Menschen!
HADEM: Und zwar in dem Sinne, weil Sie doch die Bedeutung von mir hören wollen, daß er es nicht für sich allein sei, daß er es für jeden sei, es für sich selbst, in jeder Lage des Lebens, er sei glücklich oder unglücklich, reich oder arm, verbleibe; daß er jeden Schlag des Schicksals, der Bosheit der Menschen ertragen lerne und keinem unterliege, daß er keinen größern Sieg kenne als den Sieg über sich und seine eigennützigen Leidenschaften, über das Böse und Unrecht anderer. Einen Menschen hoffe ich in ihm zu erziehen, der eine stille, gute Tat der größten und rauschendsten vorziehe und der den Menschen so durch sich und sein Wirken achten lerne, daß er ihn in keinem, auch in dem Geringsten nicht, verachte, der fest glauben lerne und nie vergesse, daß es nur Leute der Art sind, wozu ich ihn bilden möchte und wozu er so vielversprechende Anlagen hat, die das gepanzerte Gespenst, das Sie so fürchterlich schreckend auftreten ließen, noch so im Zaume halten, daß es die Menschen, die es, wie Sie selbst sagen, nur um ihrer Erhaltung willen geschaffen haben, nicht unter seinem ehernen Fuße zermalmen kann.
PRÄSIDENT: Ein Stoiker könnte nicht erhabener sprechen! Setzen Sie das Horazische »Er ist König!« hinzu, und das Bild des Weisen ist vollendet. Freilich sind dieses gewaltige Machtwörter, Herr Hadem; aber ihr zauberischer Glanz verdunkelt sich gar schnell vor dem Zwitterlichte, das uns in diesem Sumpfe, wie es Ihnen das menschliche Leben zu nennen beliebt, noch immer leuchtet. Wir stecken nun einmal darin und müssen es sogar leiden, daß es uns Leute Ihrer Art von ihrer glänzenden Höhe zurufen. Indessen ist leider auch meinem Neffen ein Platz in diesem Sumpfe angewiesen, und er muß einmal darnach erzogen [247] werden, daß er darin nicht versinke. Darum, Herr Hadem, einen Edelmann und keinen Menschen – Sie verstehen ja, was ich sagen will.
HADEM: Und so, Ew. Exzellenz, daß jede Antwort überflüssig wäre.
Der Präsident wendete ihm verdrießlich den Rücken zu.
7.
Ernst ging wie im Traum auf das Zimmer. Sein innrer Sinn schwankte, und das hohe Gebilde seiner Seele, in jugendlicher Begeistrung errungen, schien hinter fernen dunklen Wolken außer seinem Gesichtskreise zu schweben. Der Sinn der Worte, die der Präsident gesagt hatte, bildete sich in ein furchtbares, drohendes Wesen um ihn aus; und schon jetzt würde es sich ihm in dieser Spannung enthüllt haben, wenn der Mann, der die Veranlassung dazu gab, nicht aus dem ihn umschattenden Dunkel hervorgetreten wäre. Seine reine, einfache Tugend warf einen sanften Lichtstrahl auf den Kranz, den er heute gepflückt hatte und der jetzt über seinem Hauptküssen hing. Die Wolken, die seine Göttin verhüllten, wurden wieder lichter.
»Ferdinand!« rief er nach langem Schweigen; »du hast gehört, daß ich meinen Oheim umsonst für den Kammerrat gebeten habe. Der arme, gute Kammerrat! Wie konnte der Oheim mir eine so billige, so kleine, so gerechte Sache abschlagen!«
FERDINAND: Wenn ich deinen Oheim recht verstanden habe, so hat er dir sie eben darum abgeschlagen, weil sie gerecht ist und er unrecht hat. Auch dünkt es mich nach seinen Reden, daß es eben nicht die kleinste und leichtste Sache in der Welt ist, gerecht zu sein. Und um so besser, Ernst! Es ist mir recht lieb, daß es sich so verhält. Um so mehr können die, welche den Mut haben, gerecht zu sein, Lob und Ruhm in der Welt erwerben. Wie, wenn wir nun dem guten Kammerrat trotz dem Oheim zu helfen suchten, helfen könnten!
ERNST: Trotz dem Oheim? Und wie?
FERDINAND: Ich möchte gar zu gerne das ganze Fürstentum [248] in einen solchen Garten verwandelt sehen, den Hadem mit allem Rechte ein Paradies nennt. Und wenn ich mich so mitten hineinsetzen könnte, als sein Schöpfer –
ERNST: Dich? Was träumst du nun wieder von der Zukunft! Ich dachte, du wüßtest ein Mittel, dem Kammerrat zu helfen, ihm sein Haus, seinen Garten, seine Stelle wieder zu verschaffen!
FERDINAND: Dies ist es eben, was mich beschäftigt; und darum, Ernst, muß etwas Kühnes unternommen werden, etwas, das kein Mensch von uns erwartet, so etwas, das deinen klugen Oheim selbst in Erstaunen setzt.
ERNST: Und was?
FERDINAND: Es wird in der ganzen Stadt, am Hofe selbst Aufsehen machen, darauf verlasse dich. Ich dachte es mir schon heute, als ich an dem Bette des kranken Knaben stand, die Fliegen wegjagte und den guten Mann so reden und handeln hörte und sah.
ERNST: Schon da dachtest du es? Nun, so muß es gewiß ein guter Einfall sein, da du ihn in diesem Augenblicke gehabt hast. Ich dachte an weiter nichts als wie glücklich er wäre, wie er gar nichts zu bedürfen schiene. Aber nun, Ferdinand, da ich meinen Oheim so von ihm reden hörte, denke ich ganz anders, und jetzt denke ich auch, daß ihn die Menschen brauchen, daß ihn die brauchen, die an das Wesen, von welchem mein Oheim so ängstlich für mich sprach, gefesselt sind. Er nannte das kalte, ungeheure Ding System; und mich überläuft ein frostiger Schauder, wenn ich das Wort ihm nachspreche. Ach, ich sehe es wohl, eben dieses furchtbare Wesen hat den guten Kammerrat zermalmet; und herrscht wirklich ein solches Ungeheuer überall, so fürcht ich, Ferdinand, es wird auch mich zermalmen.
FERDINAND: Das würde es gewiß, wenn wir uns vor ihm fürchteten, aber das wollen wir nicht. Wir fürchten uns ja nicht vor andern Gespenstern, sondern lachen über den Wahn, der sie erzeugt. Und mit diesem da, das der Oheim so schrecklich malt, möchte ich am liebsten kämpfen.
ERNST: Auch ich könnte es; aber was hast du ersonnen?
FERDINAND: Geradezu an den Fürsten zu schreiben, der, wie [249] alle sagen, so gut ist, und ihm die ganze Geschichte des Kammerrats zu erzählen. Ich wette, er gibt ihm alles zurück, und dann kann der Kammerrat noch mehr Gärten in des Fürsten Lande pflanzen.
ERNST ging auf und ab: Und mein Oheim?
FERDINAND: Deinen Oheim hat die Kammer betrogen; wie hätte sonst er, ein so kluger Mann, etwas zum Nachteil der Kammer und des Fürsten tun können? Hätte er es aber gekonnt, Ernst, so muß einer aus eurer Familie wieder gutmachen, was der andere schlecht gemacht hat, und so die Ehre der Familie retten. Mein Timoleon schonte seines Bruders nicht, als dieser anfing, ungerecht zu sein.
ERNST: Ferdinand, ich will hoffen, mein Oheim hatte keinen Teil daran.
FERDINAND: Und wenn nun? Wir zeigen ihm doch, daß wir uns vor seinem Gespenste so wenig fürchten als Hadem, den dessen Hervorrufen nur deshalb zu bekümmern schien, weil er ganz anders von der Sache denkt. Und sagt uns Hadem nicht immer, daß man bei guten, gerechten Unternehmungen weder auf sich noch andre Rücksicht nehmen müsse? Sollte ich nun etwas unternehmen, so würde ich eher Hadem als deinen Oheim um Rat fragen; denn mich dünkt, dein Oheim weiß recht gut, was sein Gespenst ihm nützt, kümmert sich aber nicht sehr viel darum, was es andern schadet.
ERNST: So laß uns Hadem um Rat fragen.
FERDINAND: Auf keine Weise. Ich teile den Ruhm der ersten guten Tat, die wir unternehmen wollen, nur mit dir, mit keinem andern, selbst mit Hadem nicht. Nur dir bin ich dieses und alles schuldig, von der Höhle her. Ernst, es muß eine Jugendtat sein – und soll sie ihn recht freuen, die Tat, soll er sie als eine Wirkung seiner uns gegebenen Lehren betrachten, so muß sie ohne seine Leitung geschehen. Leicht könnte es ihm auch bei deinem Oheim, der ihn eben nicht zu lieben scheint, Verdruß machen, und da es etwas für die Gerechtigkeit Gewagtes ist, so müssen wir alle Gefahr allein bestehen.
In Ernstens Seele arbeitete die Vorstellung des Unternehmens [250] mächtig. Schon entwarf er im Geiste, was er dem Fürsten schreiben wollte. Er wendete sich zu Ferdinand:
»Aber wie dem Fürsten den Brief zustellen?«
FERDINAND: Nichts ist leichter. Erinnerst du dich der dunkeln Laube am hellen Teiche, der grünen Insel gegenüber, wo wir ihn jeden Morgen von fern mit einem Buche allein sitzen sehen? Wir legen den Brief auf die Bank und verschwinden. Er kommt, findet, liest; und der Kammerrat erhält, was wir ihm wünschen.
Die Jünglinge kleideten sich aus. Hadem kam; er fand sie ruhig, sah in Ernstens Augen den Duft der schönen Begeistrung und schmeichelte sich mit der Hoffnung, daß die Reden des Oheims ohne gefährliche Wirkung an ihm vorübergegangen wären.
Im Traume arbeitete der Gedanke in Ernstens Seele fort. Er erwachte sehr früh und rief Ferdinand. Da dieser von dem gestrigen Vorhaben nichts erwähnte und ganz ruhig im Bette blieb, so sprang Ernst auf, kleidete sich schnell an und schrieb dem Fürsten die Geschichte des Kammerrats in eben dem schönen und einfachen Gefühle, wie sein junges Herz sie gestern empfunden hatte. Er endigte mit den Worten: »Ich fürchte durch eine Bitte für den Kammerrat einen so guten Fürsten zu beleidigen, da jede Bitte einen Zweifel an seiner Güte und Gerechtigkeit voraussetzt.« Ehe Hadem und Ferdinand aufstanden, war Ernst schon in dem fürstlichen Garten gewesen und hatte sein Schreiben an Ort und Stelle gebracht. Auf den Schwingen der ersten guten Tat flog er nach Hause und lispelte die Zeitung davon in das Ohr des noch schlafenden Ferdinands.
Es war der erste Schritt, der erste Gedanke, den er Hadem verheimlichte, und dieser Schritt entschied über seine Denkungsart, die Stimmung seines Geistes und verdunkelte über den wichtigsten Punkt seines Lebens sein Gefühl so sehr, daß er dessen in spätern Zeiten nie mehr so mächtig werden konnte, wie er es in seiner schönen, blühenden Jugend im Busen trug.
[251] 8.
Der Präsident ward nach Hofe gerufen, und der Fürst gab ihm mit freundlicher Miene den Brief seines Neffen, Er las, beobachtete dabei diese Miene, gab den Brief lächelnd zurück und erzählte dann dem Fürsten in einem leichten Tone, was abends vorher zwischen ihm und seinem Neffen vorgefallen sei. Zugleich gab er dem Fürsten zu verstehen, er glaube, der Hofmeister verwirre dem jungen Menschen den Kopf, bat dann für den Jugendstreich um Vergebung und versicherte dem Fürsten, er wolle alles in der Stille in Ordnung bringen.
Der Fürst antwortete:
»Ich habe Ihrem Neffen gar nichts zu vergeben und bin so wenig gegen ihn aufgebracht, daß ich ihn vielmehr zu sehen wünsche. Der Brief ist schön, ruhig und bescheiden abgefaßt. Ich erinnere mich von langer Zeit her keines, der mir so viel Vergnügen gemacht hätte. Herz und Verstand sprechen hier, und meine Räte schreiben nie so. Der junge Mensch tat, was ich selbst so gern tue, er will einem nützlichen Manne helfen, und dazu wählte er den geradesten Weg. Diese Einfälle kommen unsern jungen Leuten jetzt ebenso selten wie den Alten, und darum muß man ihn so behandeln, daß man ihn nicht abschrecke. Leicht könnten wir hier das Gute zerrütten, das sich mit so vieler Güte, mit so unschuldigem Vertrauen zeigt. Sorgen Sie nur dafür, daß der Kammerrat wieder angestellt werde; denn ich glaube der Erzählung Ihres Neffen mehr als Ihren Räten. Diese verdrehten aus Liebe zur Ordnung einen Umstand, den der junge Mensch viel richtiger gefaßt hat.«
Der Präsident äußerte, es sei nie sein Wille gewesen, den würdigen Kammerrat in Untätigkeit zu lassen. Was geschehen sei, habe ihm selbst sehr leid getan; aber das Sonderbare der Umstände habe ihn dazu gezwungen. Der Posten, den er ihm jetzt bestimme, sei von der Art, daß der Kammerrat in demselben alle seine Eigenheiten ohne Nachteil für andere ausüben könne; nur bitte er Seine Durchlaucht, ihm noch einige Frist zu geben, damit sein Neffe nicht etwa glauben möge, er habe es durch die [252] Klage bewirkt. Er fürchte die Folgen davon nur für seinen Neffen, da die Welt seinem Benehmen wahrscheinlich eine andere Wendung geben werde, als es die wirklich gute Absicht des Jünglings verdiene. Auch wage er es, Seine Durchlaucht zu bitten, seinen Neffen jetzt nicht zu sehen, es könnte zu viel Aufsehen machen, vielleicht gar den Stolz des jungen Menschen reizen; und nichts sei gefährlicher für Jünglinge von der sonderbaren Geistesstimmung seines Neffen. »Gewiß«, setzte er hinzu, »wird niemand in der Residenz, da doch im Grunde die Klage seinen Oheim betrifft, so darüber denken wie Ew. Durchlaucht und ich. Soll ich nun den Jüngling dem Unwillen der Welt über eine Handlung aussetzen, für die er, wie Sie selbst zu sagen geruhen, Lob verdient?«
Der Fürst fand seine Vorstellung billig und weise. Er nahm den Brief aus den Händen des Präsidenten zurück und äußerte: »Sagen Sie Ihrem Neffen, daß ich diesen Brief als ein mir getanes Gelübde aufbewahren will, daß ich, wenn er ein Mann sein wird, nach diesem Briefe urteilen werde, ob er gehalten hat, was er hier verspricht, wozu er sich durch einen solchen Schritt als Jüngling verpflichtet. Sagen Sie ihm, daß ich auf ihn rechne – und Ihnen wünsche ich Glück zu einem solchen Neffen.«
9.
Der Präsident spottete in seinem Herzen über das Benehmen des Fürsten bei einer Sache, die ihm so widerlich und empörend vorkam. Gleichwohl war er mit der Wendung sehr zufrieden, die sie genommen hatte. Mit ganz andern Empfindungen kehrte er nach Hause zurück. Die Handlung seines Neffen malte sich mit den schwärzesten Farben vor seinen Augen. Er betrachtete sie als ein Verbrechen gegen seinen nächsten Verwandten und ihn selbst als einen gefährlichen Aufrührer gegen die Gerechtigkeit, die er nach Gesetze und Recht gegen einen schädlichen Toren ausgeübt zu haben glaubte. Die ganze Tat kam ihm durch diese Vorstellung so frech und unerhört vor, daß sein ganzer Haß auf den Neffen gefallen sein würde, wenn der stärkere Haß [253] gegen Hadem nicht in diesem Augenblick auf diesen, als den Urheber der ihm so widrigen Tat, gezeigt hätte. Hadem mißfiel ihm von dem ersten Augenblick an, da er ihn sah; er war nun froh, ihn schuldig zu finden, und seinen Neffen, den er als Sohn seiner Schwester und dadurch als einen zu seiner Familie Gehörigen zu lieben glaubte, entschuldigen zu können. Er ließ sogleich Hadem rufen und fragte ihn mit spöttelnder, verachtungsvoller Kälte:
»Herr Hadem, wollen Sie einen Don Quichotte in meinem Neffen auferziehen, der sich mit der Welt für die Dame Gerechtigkeit auf Leben und Tod herumschlage, um seine Tage endlich im Tollhause oder auf einem Dorfe zuzubringen wie der Held, um dessentwillen er den dummen Streich gemacht hat?«
HADEM: Ich verstehe Ew. Exzellenz nicht.
PRÄSIDENT: Verstellen Sie sich nur! Wenigstens soll es Ihnen hier an Zeit fehlen, auch diese Kunst meinen törichten Neffen zu lehren.
HADEM: Wie sollte ich zu dieser Kunst kommen? wie ihrer bedürfen? Präsidiere ich doch weder am Hofe noch in einem Departement! – Sie scheinen eine Klage gegen mich zu haben; warum bringen Sie diese nicht ebenso gerade und bieder vor als ich sie, wie Ew. Exzellenz wohl sehen, erwarte?
PRÄSIDENT: So hören Sie denn, biedrer, ehrlicher Mann! Ich habe soeben in den Händen des Fürsten einen Brief meines Neffen gesehen. In diesem Brief klagt mein Neffe über die Ungerechtigkeit, welche die Kammer, deren Präsident ich bin, wie Sie und er wissen, gegen den Narren von Kammerrat begangen haben soll. Herr Hadem, glaubte ich, daß mein Neffe diesen Brief aus eignem Antrieb geschrieben hätte, ich würde ihn zur Stelle aus dem Hause stoßen, in welchem er Blutsverwandtschaft und Gastrecht so schändlich beleidigt und gebrochen hat. Aber es ist Ihr Werk; meine gestrige vernünftige Vorstellung hat Sie beleidigt, und um sich zu rächen, haben Sie den jungen Phantasten gegen seinen nächsten Verwandten empört – haben ihn selbst dem Fürsten auf immer lächerlich gemacht. Ich denke doch, Sie wissen, was für Folgen dieses für ihn haben muß. Erfährt [254] es nun die Stadt, so muß er ein Gegenstand des allgemeinen Hasses und Absehens werden. Und noch einmal – bei Gott! – könnte ich glauben, die Bosheit käme von ihm her, ich würde ihn den Augenblick aus dem Hause jagen – ihn wegschleudern wie ein giftiges Ungeziefer – die ganze Verwandtschaft vor dem jungen Ungeheuer warnen, das schon so früh den Busen derer verwundet, mit denen es durch das Blut verwandt ist.
Kaum faßte Hadem den ganzen Sinn der Worte des Präsidenten, als er alle die Folgen dieses unüberlegten Schrittes für sich und seinen geliebten Zögling einsah. Er begriff die Tat, ihren reinen Bewegungsgrund in dem Herzen des Jünglings, und schmerzlich drangen die Worte des Präsidenten, er habe sich bei dem Fürsten lächerlich gemacht, er müsse ein Gegenstand des Abscheus werden, in seine Seele. Dieser Schmerz wurde aber bald durch ein noch peinlicheres Gefühl verdrängt. Wenn er erklärte und bewiese, daß er von dem ganzen Vorfall nichts wüßte, so würde der edle Jüngling, beladen mit dem Hasse seines Oheims, aller seiner Verwandten, vielleicht selbst seines Vaters, dastehen; und wie müßte dieser Haß auf sein fühlbares Herz, seinen hochgestimmten Geist wirken! wie ganz seine Denkungsart verkehren, vergiften und alles geträumte Glück vernichten! Sollte er ihn aus dem Hause seines Oheims stoßen lassen? sich mit ihm? wie ein mit ihm von seinem nächsten Verwandten Verstoßner und Verbannter zu dem Vater wandern?
In dieser Angst für den von ihm so unaussprechlich geliebten Jüngling sah er für ihn keine andere Rettung als die Schuld allein auf sich zu nehmen, alle Vorwürfe des Oheims, ohne Entschuldigung, ohne ihn weiter zu reizen, als verdient geduldig und bescheiden anzuhören. Er schwieg und sah ihn mit den Blicken eines Mannes an, der sich zum Besten eines andern vergißt, dessen Glück er seinem eignen vorzieht.
Der Präsident sah sein Schweigen als ein Geständnis an und sagte:
»Ihr schweigendes, demütiges Geständnis söhnt mich wieder mit meinem Neffen aus, und ich bin so erfreut darüber, daß ich Ihrem eignen Gewissen die Vorwürfe überlasse, die ich Ihnen zu [255] machen so sehr berechtigt wäre. Ich ziehe einen Schleier über das Geschehene, weil ich die ganze Geschichte zur Ehre meines Hauses, der Familie und zum Vorteil meines Neffen unterdrücken will. Sie können nur dadurch einen Teil des von Ihnen veranlaßten Übels wiedergutmachen, daß Sie mir hierin behülflich sind. Ernst soll von allem nichts erfahren, er soll nicht wissen, wie der Fürst über seine Torheit denkt. Den Grund davon werden Sie, hoffe ich, begreifen. Sie verlassen in einigen Stunden mein Haus; ich sorge dafür, daß alles zu Ihrer Abreise fertig ist. Sie versprechen mir jetzt, mit meinem Neffen nicht über das Geschehene zu reden und ihm zu verschweigen, daß Sie ihn verlassen, warum Sie ihn verlassen. Ich werde ihm dieses auf eine Art ankündigen, die ihn gewiß befriedigen wird. Und ferner geben Sie mir Ihr Wort, an meinen Neffen nicht zu schreiben; wir haben schon an dieser Probe genug.«
Der Gedanke an die plötzliche Trennung von seinem geliebten Zögling, die Furcht vor den Folgen dieser unvorbereiteten Trennung für denselben erschütterten Hadems männlichen Mut. Die Tränen brachen aus seinen Augen hervor, er wankte gegen einen Stuhl hin, um sich daran zu stützen.
Der Präsident, welcher seine Empfindungen falsch deutete, klopfte ihm leise auf die Schulter und sagte kalt:
»Ich wünsche von Herzen, daß dieses die letzte Torheit sei, die Sie zu beweinen haben mögen.«
Hadems Tränen erstarrten in seinen Augen, er sah den Mann mit einem Blick an, den dieser nicht ertragen konnte.
»Sie geben mir Ihr Wort?« fragte der Präsident abgewendet.
HADEM: Ja, ich gebe es Ihnen; es ist zugleich das letzte, das Sie von mir hören sollen. Vergessen Sie nur nicht, Herr Präsident, daß in dem Jüngling, den Sie einen Phantasten nennen, ein Mann keimt, für den Sie weder in Ihrem Herzen noch in Ihrem Geiste einen Maßstab haben. Hüten Sie sich deshalb, da nach Ihrer Art modeln und künsteln zu wollen, wo die Natur so kräftig und schön gebildet hat!
Er ging nach dem fürstlichen Garten, um sich zu sammeln. Unter dem tiefen Schmerz des Abschieds von dem liebenswürdigen [256] Jüngling, in welchem er alle seine schönen Träume von edler Menschheit nach und nach lebend aufblühen zu sehen hoffte, tröstete ihn jetzt nur der einzige Gedanke, daß er durch sein Benehmen die Härte des Schlages für ihn gemildert habe. Der gestrige Tag, die Veranlassung zu dem Besuche bei dem Kammerrat, der alle die Ereignisse erzeugt hatte, drangen auf ihn ein; er sah sich von allem als die Ursache an. Obgleich der Bewegungsgrund seiner Handlung und seiner Reden so rein war, so sah er doch jetzt mit trübem, traurigem Blicke zum Himmel auf, und seinen bebenden Lippen entfielen die Worte:
»Sieh das Schicksal eines von deinen edelsten Geschöpfen durch Zufälle herbeigeleitet, die ich veranlaßte, weil ich ganz andere Folgen davon erwartete! Gehört der unvermutete, für mich so peinliche Schlag zu meiner, zu des Jünglings Prüfung? Mußte ihn darum eine so rauhe Hand aus dem süßen Traume aufschrecken, aus welchem ich ihn ohne Erschütterung zu erwecken hoffte? Ich hatte sein Erwachen vorbereitet, und mitten in dieser Welt sollte er so leise und sanft erwachen, wie der Säugling an dem Busen der sorgfältig wachenden Mutter. Gleich ihm sollte er wissen, wohin er sein Haupt legen könnte. Ganz sollte er erst fühlen, wie und wozu du den Menschen gebildet hast, eh er erführe, was der Mensch aus sich gemacht hat! Ich kann es nun nicht mehr. Erhalte du ihm die Denkungsart, die ich so sorgfältig gewartet habe; entferne den finstern Eindruck dieser Ereignisse von seinem reinen Geiste und laß die Worte der Beschwörer von seinem guten Herzen abgleiten. Gib ihm einen guten Führer, der seine Seele nicht mit Tand, Wahn und Gaukeleien vergifte. Bewahre das Heiligtum seines Herzens, in welchem sich die Schöpfung, dein erhabenes Werk, so schön und treu abspiegelt. Laß mich ihn einst wiederfinden, wie du mir ihn gabst!«
Hadem kam spät nach Tische zurück. Seine Zöglinge, gespannt durch die Erwartung des Ausgangs von ihrem Unternehmen und beunruhigt über die ungewöhnliche, lange Abwesenheit ihres Lehrers, sprangen ihm entgegen, als sie ihn die Treppe heraufkommen hörten, und führten ihn in ihr Zimmer. Er trat bis in [257] die Mitte desselben, sah Ernsten mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit an und sagte:
»Lieber Ernst, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen in diesem Augenblick und viel früher sagen muß, als es mein Vorsatz war.
Auch das, Geliebten, was den Menschen allein gut, groß und erhaben macht, was seinen Ursprung von dem allein beweist, mit welchem er durch seinen unsterblichen Geist verbunden ist – auch die Tugend hat auf Erden und unter den Menschen ihr Maß und ihre Regel – auch sie verträgt, zum Besten derer, für die sie ausgeübt wird, wie zum Besten derer, die sie ausüben, keine Übertreibung. Das Herz –«
Er wollte seine Empfindungen und Gedanken weiterentwickeln, als der Präsident hereintrat:
»Sie haben mir nur halb Wort gehalten, Herr Hadem; aber da es das erste gescheite Wort ist, das Sie den jungen Leuten gesagt haben, so mag es darum sein. Das letzte ist es gewiß.«
HADEM: So lassen Sie mich denn in Ihrer Gegenwart den Abschiedskuß von meinen Zöglingen nehmen und verantworten Sie die Folgen vor dem, der diesen Geist so erschaffen hat, wie ich ihn kenne. Zu den Jünglingen. Die Notwendigkeit gebietet hier; lernen Sie von mir ihr Joch tragen.
Er drückte Ferdinanden und dann Ernsten an sein Herz. Ferdinand schrie laut und heftig. »Was ist das? Verlassen Sie uns?«
Ernst sah, mit der Aschfarbe des Todes bedeckt, auf Hadem, auf den Präsidenten und stammelte seinem Freunde nach: »Verlassen!«
Hadem bedeckte seine Augen und eilte davon.
PRÄSIDENT: Es tut mir leid, lieber Neffe; aber es kann nicht anders sein. Der verräterische, schändliche Brief, den er dem Fürsten geschrieben hat oder durch dich schreiben ließ, veranlaßt seine Entfernung. Er kann von Glück sagen, daß der Fürst mich rufen ließ und mir die Sache anvertraute; ohne meine Bitten und Vorstellungen wäre er für die Tat bestraft worden, wie er es verdiente.
ERNST: Er gestraft? Er den Brief geschrieben? Er hat ja nicht [258] das mindeste davon gewußt! Ich, ich habe den Brief erdacht und geschrieben, als er und Ferdinand noch schliefen, und ihn in dem Garten des Fürsten auf seine Ruhebank gelegt, ehe Hadem noch aufgestanden war.
PRÄSIDENT: Neffe, ich sage, er hat ihn geschrieben!
ERNST: Er hat ihn nicht geschrieben; er weiß kein Wort davon. Ist es eine Torheit, um so schlimmer für den Fürsten; aber ich allein beging sie.
Der Präsident stampfte zornig mit dem Fuße auf den Boden und rief:
»Neffe, bei meinem Gott! er muß den Brief geschrieben haben!«
ERNST: Kennen Sie Ihren Neffen als Lügner?
PRÄSIDENT: Er gestand es selbst.
Sobald Ernst diese Worte vernahm, sprang er nach der Türe. Der Präsident trat vor ihn:
»Umsonst, du siehst den Pedanten nicht wieder; er hat seinen Abschied, und ich kam, es dir anzukündigen.«
ERNST: Seinen Abschied? – Oheim! – seinen Abschied von mir? – Mit starrer Kälte. – Herr Oheim, geben Sie ihm seinen Abschied nicht – jetzt nicht – oh, nur jetzt nicht! –
PRÄSIDENT: Es ist nicht zu ändern. Aber warum nur jetzt nicht? Hast du ihn noch zu einem solchen Geschäfte nötig?
ERNST: O ja; ich habe ihn zu einem sehr wichtigen Geschäfte nötig. Tun Sie es nur jetzt nicht! – nur jetzt nicht! – Es wird Sie gewiß reuen – denn ich glaube, es wird mich sehr unglücklich machen – jetzt, in diesem Augenblick, wird es mich mehr als unglücklich machen!
Es lag etwas Erschütterndes, unbeschreiblich Rührendes in dem sanften ernsten Tone, den zitternden Bewegungen der Lippen, dem schüchternen Umherblicken der Augen und der ganzen Stellung des Jünglings. Er setzte selbst den Präsidenten in besorgtes Erstaunen. Ferdinands Tränen und Schluchzen nahmen mit jedem Blicke, jedem Worte von Ernsten zu. Er rief: »Ernst, wir sind verloren!«
PRÄSIDENT: Schweige du! – Sanft zu Ernsten. Und was ist es denn, das eben jetzt von so vieler Bedeutung für dich ist?
[259] ERNST: Oh, er hat mein Herz mitten entzwei geschnitten – er hat vor meine lichte Seele einen schwarzen Vorhang gezogen. Lassen Sie ihn schnell zurückkehren, daß er mein Herz wieder ergänze, meiner Seele wieder das Licht gebe, das er um sie her erschuf.
PRÄSIDENT: Du schwärmst und träumst gleich einem faselnden Phantasten.
ERNST: Ja, freilich träume ich jetzt; aber so zu träumen ist fürchterlich – so zu schlafen ist ängstlich. Lassen Sie Hadem schnell zurückkehren, daß er mich aufwecke! daß ich ja erwache, Oheim, daß ich ja nicht lange so träume! Oheim, er hat die erhabne Göttin gelästert, die mich leitet; und er soll, er muß mir sagen, warum er sie gelästert hat.
PRÄSIDENT: Welche Göttin?
ERNST: Kennen Sie denn diese Göttin nicht? Sie hörten ja, wie er sie lästerte! – Oheim, er hat auch Sie gelästert, alle Menschen; denn seine letzte Rede ist eine Satire, eine Schmähung auf das ganze Menschengeschlecht. Er sagte: die Tugend habe auf Erden ihr Maß und ihre Regel, vertrage keine Übertreibung. Sie, die ich mir denke als das ganze Menschengeschlecht in einem Kreise umfassend, der von dem Throne dessen ausgeht, der es erschaffen hat, sie, die es erhält, allein emporhebt über diese Erde, sie, diese Himmlische, Unendliche, müßte beschränkt und vorsichtig ausgeübt werden? – nach Maß? – nach Regeln? – Die Menschen vertrügen sie nicht in ihrer ganzen Kraft? – Und ihr ganzes volles Dasein in meiner Brust – was ist denn das? Und was ist sie, wenn sie allen Menschen nicht so natürlich und willkommen ist wie mir! Darf sie auf Erden nicht in ihrem vollen Glänze erscheinen, nur stückweise, nur behutsam, wie ein Gast an einer Tafel, den man nicht eingeladen hat? Oder ist das Wesen der Menschen auf Erden so eingerichtet, daß ihre Gegenwart sich nicht damit verträgt? Gründet sich das Wesen und Tun des Menschen nicht auf sie? O gewiß, Oheim, ist das gepanzerte Gespenst, von dem Sie gestern so abschreckend für mich sprachen, ihr Feind – Und wenn dieses ist – Oheim – wenn dieses ist – so sagen Sie mir geschwind: warum ist es so? warum sind [260] die Menschen da? warum bin ich da? – Sie schweigen! – Lassen Sie Hadem zurückkehren, daß er mich belehre, meinen Zweifel beruhige, meine Göttin versöhne! – Soll ich ihm durch das Fenster, über Berge, durch Flüsse folgen? – Fort! nach meinen Bergen, meinen Tälern, meinem Eichenwalde, in meine düstre Höhle! Dort werde ich ihn und meine Göttin wiederfinden, dort er schien sie mir, dort ist ihr ungestörter Aufenthalt.
Die Empfindungen, die Gedanken des Jünglings, mit dieser Kraft, dieser Begeistrung ausgesprochen, verwirrten den Präsidenten immer mehr, und die Bewundrung des Neuen, Unerwarteten fesselte einige Augenblicke seine Zunge. Er faßte sich, so viel er konnte:
»Jetzt erst beweisest du mir recht klar, wie notwendig die Entfernung dieses Mannes von dir ist. Beruhige dich! Du kannst den Sinn der einzigen wahren und klugen Worte, die er gesprochen hat, jetzt nicht begreifen; wenn du mehr bei dir bist, will ich ihn dir deutlich machen.«
ERNST: Versuchen Sie es ja nicht! Von ihm muß ich es hören. Er nur weiß, wo es mir not tut; er nur weiß, was ich bedarf. Wüßten Sie es, Sie würden ihn nicht entfernt haben.
PRÄSIDENT: Du wirst, du kannst ihn nicht wiedersehen. Willst du ihn dem Zorne des Fürsten aussetzen und ihn unglücklich machen? Nur in seiner Entfernung liegt seine Rettung.
ERNST: Oheim, Hadem fürchtet keinen Fürsten der Erde, und um meinetwillen trotzte er der ganzen Welt, so wie ich um seinetwillen die ganze Welt nicht fürchte. Ich liebe ihn – Oheim, o wenn Sie wüßten, wie ich ihn liebe! – Für ihn zu sterben, wäre das wenigste, was ich für ihn tun könnte. – Er tät es für mich – und er sollte mich aus Furcht vor Menschen verlassen? mich, seinen Schüler, dem er tausendmal sagte, daß er durch mich seinem Leben Wert zu geben hoffte? Lassen Sie ihn zurückkehren, Oheim! Ich beschwöre Sie bei Ihrem Leben! bei meines Vaters Leben! bei meiner Mutter in jenem Leben! bei der Tugend, die er mir entstellt hat! lassen Sie ihn zurückkehren! Mein Leben, alles, was ich bin, was ich werden soll, liegt auf dem Flügel dieses vorübereilenden Augenblicks! – Oh, nur diese Nacht! Nur eine [261] Stunde! Nur eine Viertelstunde, daß er den Gedanken ausführe, den Sie unterbrachen, daß er mein Herz heile, daß er mich wieder zu dem schaffe, der ich war!
PRÄSIDENT: Er selbst verläßt dich; er selbst sagt, nach diesem Streiche könne er nicht mehr in unserm Hause bleiben.
ERNST: Sagt er das? Er verläßt mich? verläßt mich willig? So muß es recht sein, was er tut, so fällt die ganze Schuld auf mich allein. So habe ich ihn vertrieben! durch eine Tat vertrieben, wobei ich von ihm nichts befürchten zu dürfen glaubte! So muß es sein; denn anders hätte Hadem mich nicht verlassen können. Er handelt auch hier gerecht; denn, sehen Sie, Oheim, an Hadem glaube ich, wie ich an meine Göttin glaube.
Er stand mitten in dem Zimmer, erhob seine Augen gegen die sich neigende Sonne, deren Strahlen durch einen dunkeln, vor dem Fenster stehenden Kastanienbaum gebrochen in das Zimmer fielen. Die Begeistrung schimmerte in seinen Augen; ein Licht, wie es von dem unsterblichen Geiste des Menschen ausgeht, wenn dessen ganze Kraft ihn durchdringt, umglänzte seine Stirne und schoß nun in Blitzen aus seinen Augen. Er rief:
»Nein! nie werde ich dir untreu werden, erhabene Göttin! Dir folge ich, von Hadems Lehren geleitet. So ferne du auch schwebst, so bist du mir doch nahe und sichtbar. Ich stehe unter deinem Schilde, ich gehöre dir an, und sollte mich auch das furchtbare Gespenst meines Oheims mit seiner gepanzerten Faust zerschmettern. Bin ich nicht unsterblich, unvergänglich wie du?« Sein Blick fiel auf den Blumen- und Ährenkranz, den jetzt die Abendsonne beleuchtete:
»Schon welkte deine Blüte in der Sonnenhitze; erst gestern pflückt ich sie frisch in den Feldern der Glücklichen als ein Denkmal der stillen Tugend. Und doch bist du es noch, und zerfielest du auch in Asche – du bleibst es doch!«
Er nahm den Kranz von der Wand, und seine Tränen benetzten ihn:
»Alles hat mich verlassen – denn er hat mich verlassen; und von dem Dasein meiner Göttin habe ich keinen andern Beweis als dich! So umwinde nun meine Schläfe und lispele meinem Geiste [262] und Herzen die Gedanken und Empfindungen zu, unter denen ich dich pflückte!«
Ferdinand fiel ihm um den Hals.
»Und ist dir Ferdinand nichts? Hat Hadem nicht auch mich verlassen?«
ERNST: Ja, und nun erst bist du eine Waise! Doch du sollst mich haben, und auch du sollst diesen Kranz tragen, und wir wollen durch ihn in eins verbunden sein.
Die Jünglinge umarmten sich, und ihre Seelen, ihre Tränen flossen ineinander.
Einen Augenblick legte Ernst Ferdinanden den Kranz auf das Haupt; dann hängte er ihn wieder an die Wand.
Der Präsident sah dem Schauspiele gerührt zu; aber der kalte Geist der Welterfahrung sagte ihm bald: »Die feurige Ergießung des Jünglings ist gut und heilsam; die Ruhe wird um so gewisser und schneller darauf erfolgen.«
Ernst bestärkte ihn in dieser Meinung, da er nun gefaßt zu ihm trat und sagte:
»Mein Vater wird bald kommen und Ihnen die Sorge für Ihren Neffen abnehmen. Bis dahin wird ihn der Geist Hadems führen. Dieses Zimmer verlasse ich nicht, bis zur Rückkehr meines Vaters. Ich traue nun der Welt nicht mehr; Ihre Worte und diese Ihre Tat dienen mir zur Warnung.«
Der Präsident versuchte ihm zu liebkosen; aber Ernst antwortete:
»Dieses ist die Stunde, in welcher Hadem mit uns die Taten der Männer der Vorwelt las. Er wird nicht kommen; aber wir werden denken, er sitze bei uns, und alles das tun, was wir in seiner Gegenwart zu tun pflegten.«
Er legte ein Buch auf Hadems Platz, stellte einen Stuhl für ihn hin, dann zwei andre für sich und Ferdinand und sagte zu diesem:
»Ferdinand, er ist mitten unter uns!«
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