Der Literaturverein

Auch in unserer Stadt mußte ein Literaturverein gegründet werden. Es war sozusagen ein Bedürfnis vorhanden. Bedürfnisse sind dazu da, um befriedigt zu werden. Viehzüchter Schlampke hielt in der vorbereitenden Versammlung eine Rede, in der er in eindringlicher Weise auf die Notwendigkeit einer literarischen Bildung hinwies. Nur mit Hilfe von Goethe kann unserm Volke sein derzeitiger Viehbestand erhalten bleiben. Lautes Bravo lohnte seine löblichen und sachgemäßen Ausführungen. Parkettbodenlegemeister Robbe schloß sich den interessanten Darlegungen des geschätzten Vorredners voll und ganz an. Er erlaubte sich nur, in kurzen, markigen Worten auf die Beziehungen zwischen Bohnerwichse, die er in den vortrefflichen Qualitäten A, B, C, zu 30, 50, 70 Pf. die Büchse, stets frisch auf Lager halte, und der einschlägigen schöngeistigen Literatur, insonders der sogenannten lyrischen [65] und gereimten Poesie hinzuweisen. Er schloß mit einem kleinen selbstverfertigten Verschen:


Es lebe hoch die Literatur –
Jedoch mit Bohnerwichse nur!

welches beifällig aufgenommen wurde. Darauf schritt man einstimmig zur Gründungsversammlung und zur Festlegung der Statuten. Zum Ersten Vorsitzenden wurde Strumpfstricker Schaulke, zum Vizepräsidenten Oberlehrer Dr. Hartwurst, zum Kassierer Ortsarmer Brötchen gewählt. Ziel des gerichtsamtlich eingetragenen Vereines »Literaria« war die Kenntnis der höheren Literatur a) unter seinen Mitgliedern, b) unter dem Volke zu fördern und zu verbreiten. Dieses sollte geschehen durch Abonnement auf eine Lesemappe bei Buchhändler Kletzke, dem geschätzten Mitglied des Vereins, durch Vortragsabende, Autorenabende und sonstige festliche Veranstaltungen. Am 4. Mai fand unter großem Gepränge die Fahnenweihe der »Literaria« statt, die ein Umzug durch die Stadt eröffnete.[66] Das Posaunenkorps der Stadtkapelle marschierte schallend an der Spitze. Ihm folgte im Frack und blauer Radfahrermütze, einen Band Schiller der großen illustrierten Ausgabe unterm Arm, Präsident Schaulke. Rechts von ihm schritt Dr. Hartwurst, das Bild Hindenburgs, des Dichters der großen Zeit, welcher mit Eisen schrieb, in Postkartenformat unter Glas und Rahmen. Links von Schaulke wankte mit einer Sparbüchse in Form eines Tintenfasses raschelnd, der Kassierer, Ortsarmer Brötchen. Hinter dem Vorstande bewegte sich eine Schar von weißgekleideten Ehrengreisinnen, keine unter siebenzig Jahren, ehrwürdig mit den kahlen Köpfen wackelnd, manch eine mit Goethe noch persönlich bekannt. Dann rauschte die – Fahne! Viehzüchter Schlampke schwenkte sie nervig. Sie war von Sattler Säulchen, dem geschätzten Mitgliede des Vereins, gegen den Erlaß des Jahresbeitrages von 1,50 M. gestiftet worden: ein ehemaliger Bettvorleger, von Fräulein Säulchen mit innigen Versen [67] unserer großen Dichter geschmückt. Hinter der Fahne aber (man telegraphiere nach Berlin, drahte nach Newyork, schreie es in alle Winde: sie sollen es tragen bis Appenzell und Yokohama) rollte ein Kinderwagen aus schwarz-weiß-rotem Korb, geschoben von Frau Präsident Schaulke in platzender Seidentoilette. In dem Wagen lag, sorglich in warme Kissen gebettet, die Füße bis an den rosigen Bauch heraufgezogen, die Händchen ans Gesicht gepreßt, die Augen geschlossen – Kaspar Schmetterling, der große, allgemein bekannte, gerühmte und geachtete, bisher ungeborene vaterländische Dichter. Er war im achten Monat. Weinerlich klang seine Stimme in die von den Häusern zurückprallenden Posaunenstöße der Stadtkapelle. Auf seiner weichen, weißen Stirne sonnte sich ein roter Marienkäfer.

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