15
»Ist dir schlecht?« Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Sie sah auf. War sie gestorben und im Himmel erwacht? Wirklichkeit konnte dies nicht sein. Ein Mann in einem falben Wollkleide, das um die Mitte durch einen Strick zusammengerafft war, stand vor ihr. Seine Füße waren nackt. Und wie sich, müd vor Schwäche, ihr Blick nach seinem Haupt erhob, lächelte sie.
Das war ja Christus, und sie war wohl tot.
»Warum lächelst du?«
Sein mildes Gesicht mit dem in der Mitte glatt gescheitelten, über die Schulter wallenden Haar, neigte sich zu ihr.
»Fühlst du dich wohler?«
»Christus« stammelte sie, und schloß die Augen.
Er hob sie in seinen Armen empor. »Ich bin nicht Christus. Ich bin ein armer Mensch, der in des Herrn Fußtapfen geht, nichts weiter. Aber – kann ich [171] dir wirklich nicht irgendwie helfen? Willst du nicht mit hereinkommen? wir haben hier im Hause einen Saal, da kannst du dich ein wenig erholen, komm!«
Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu erwidern, die Augen auf ihn wie auf ein Wunder gebannt. An seiner Hand betrat sie den Saal. Etliche vereinzelte Gasflammen brannten noch. Es standen viele Stühle umher. Vorn auf einem Podium befand sich ein Tisch. An diesem Tisch saß ein Mensch tief über ein Blatt Papier gebückt und schrieb.
»Angelus, hier ist ein Kind, das ich halb bewußtlos vorm Thore fand; bring ihm ein Glas frisches Wasser; willst du?«
Der Schreibende sah auf die Beiden und erhob sich rasch. »Ja Meister Johannes«. Er sprang elastisch vom Podium herab und eilte hinaus.
Er war genau gekleidet wie der, den er: Meister Johannes genannt hatte. Johanne erholte sich allmählich von ihrer Ohnmacht und sah sich mit wachsendem Staunen um.
»Mein Gott, wo bin ich denn? Das ist ja wie im Traum«.
»Du bist im Saale der Gesellschaft der Wahrheitssucher. Du kennst doch aus Zeitungen und vielleicht vom Hörensagen unsern Verband. Sieh dich nicht so erschreckt um«.
[172] »Willst du trinken« fragte der wiedergekehrte junge Mensch, indem er ein Glas Wasser an ihre Lippen hob.
»Danke, nein«. – Sie bog den Kopf zurück.
»Dann setz dich wenigstens und ruhe ein bischen aus«. Meister Johannes zog sie auf einen der hölzernen Sessel nieder.
Angelus stellte sich vor sie und sah mit zwei großen leuchtenden Augen in ihr Gesicht. Er glich einem zehnjährigen Kinde an Wuchs, und die langen blonden Haare gaben ihm ein mädchenhaftes Aussehen. »Sie weiß nicht, was ihr geschehen ist« sagte er lächelnd zu dem Aelteren, dessen Augen wohlgefällig an dem blassen Antlitz des Mädchens hingen. »Wir erscheinen dir wohl sonderbar« setzte er freundlich hinzu. »Bist du uns noch nie auf der Straße begegnet?«
»Nein, ich habe noch keinen von Ihnen jemals gesehen«.
»Du, die Wahrheitssucher kennen das ›Sie‹ nicht. Zu uns mußt du schon ›Du‹ sagen«.
»Ich habe nie von Ihnen gehört« flüsterte Johanne scheu und ließ ihre Blicke von einem zum andern gleiten.
»Wir haben die Unglücklichen sehr lieb« sagte der Aeltere mit einer wunderbar wohllautenden Stimme, »und bemühen uns, ihnen Glück zu geben, wo wir können. Als ich dich vorhin draußen zusammengesunken fand, dachte ich, es sei dir ein Unglück geschehen, [173] aber es scheint, du warst nur müde und hast dich wieder erholt. Wohnst du weit?«
»In der Theresienstraße«.
»Kannst du allein zu deinen Eltern kehren, oder sollen wir sie benachrichtigen lassen?«
»Meine Eltern?« Johanne, durch alle Aufregungen der jüngsten Zeit schwach geworden, fühlte Thränen in ihre Augen steigen. »Ich hab keine Eltern, ich besuche hier blos eine Schule und bin fremd in der Stadt«.
Die beiden Männer warfen einander einen Blick zu.
»Aber doch Verwandte« meinte Johannes.
»Nein, Niemand. Ich will auch wieder fort«. Ihre Stimme brach. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Wein Dich aus« sagte der junge Angelus und nahm ihre Hand in die seine. »Hier darfst Dus. Du bist unter Brüdern. Hat Dir jemand ein Leid zugefügt?«
Sie konnte nicht sprechen.
»Du hast wohl eine große Enttäuschung erlitten« meinte Johannes mild.
»Mehr« stotterte sie, »Ruchlosigkeit, Gemeinheit, Niedertracht allenthalben«.
Seine Mienen wurden ernst. »Wie, so jung, sprichst du schon so. Das muß eine harte Schule gewesen sein, durch die du deinen Weg nahmst«.
Sie entgegnete nichts; ihr Kopf sank auf die Brust.[174] Eine Weile herrschte Schweigen; dann fragte Johannes: »Bist du fromm?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchts aber sein; o wie sehr möcht ichs sein. Ich habe ja niemand –«
»Aber dich selbst doch«.
»Auch nicht. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich – es ist das Beste, zu sterben«. Ihre Verzweiflung erwachte aufs neue. Sie erhob sich und wollte fort. Johannes hielt sie zurück.
»Du kleines, thörichtes Kind. Jetzt, wo dir Gott Menschen zeigt, die die Macht haben, dir dein Leid zu nehmen, willst du sterben. Weißt du was? Wir bringen dich nach Hause, du schläfst dich aus und morgen kommst du auf mein Bureau. Da wollen wir beraten, was mit dir angefangen werden soll. Lösch hier aus, Angelus und schließe gut ab. In einer Stunde bin ich zu Hause«.
Der junge Mensch verneigte sich schweigend. Dann bot er Johanne die Hand.
»Guten Muts, Schwester«.
»Hast du Lust zu gehen?« wandte sich Meister Johannes an Johanne. Sie nickte.
»Dann komm«. Sie traten hinaus.
Unterwegs fragte er sie allerlei aus. Ob sie schnell und fix im Schreiben sei, ob sie vorlesen könne. Sie erzählte aus ihrem Leben. Mit jeder Minute gewann sie mehr Ruhe in sich. Mehreremale blieb sie unterwegs [175] stehen. War es denn wirklich kein Traum? Aus der hellsten Verzweiflung heraus dieses Gefühl der Sicherheit, des Geborgenseins plötzlich.
Sie hatten einen überaus langen Weg zurückzulegen, und jetzt erst erkannte sie, wie weit sie vorhin in ihrer halben Bewußtlosigkeit gelaufen war. Sie sagte noch immer »Sie« zu ihm, bis er seine Hand energisch auf ihren Kopf legte, ihr fest in die Augen sah und bemerkte: »nun wirst du aber: Du sagen«.
Da wurde es ihr wundersam zu Mut und sie sagte: Du. Als sie bei ihrem Hause angelangt waren, kannte er bereits einen Teil ihres Kummers. Er sah sie gütig an, nannte ihr die Straße, in der er wohnte, und verabschiedete sich. Und sie schritt wieder die Treppe empor, die sie vorher nicht mehr zu betreten geglaubt hatte, und fühlte stillen Frieden in sich.
Am andern Tag um die angegebene Stunde fand sie sich bei ihm ein.
An seiner Thür stand auf einer Tafel: »Johannes, Vorstand des Vereins: Wahrheitssucher, Redakteur der Zeitschrift ›An der Schwelle des Jenseits‹, Mitglied des spiritistischen Vereins: ›Seele‹, Schriftsteller.« Er empfing sie in einem einfach aber behaglich eingerichteten Gemache, hinter einem mächtigen Schreibtisch sitzend. Angelus stand vor einem Schränkchen, mit Zählen von Geld beschäftigt. Er nickte ihr liebevoll zu.
[176] »Da bist du ja; setz dich, Johanne« sagte der Meister und wies auf einen Stuhl.
Sie errötete unter seinen forschenden Blicken, die ihr bis an die Seele gingen.
»Du bist sehr schön« sagte er. »Das sah ich gestern nicht. Mir dünkte, du wärest häßlich«.
Und da sie protestieren wollte, schüttelte er den Kopf. »Du mußt dir angewöhnen, die Wahrheit, ob süß, ob bitter, ruhig anzuhören; es ist kleinlich und unehrlich gegen sich selbst, wenn man aus falscher Scham gegen Thatsachen opponiert. Also, sag mir eins. Aber vorher: Du glaubst nun wohl nicht mehr zu träumen, oder mit Geistern zu thun zu haben. Wir sind höchst einfache, übrigens viel bekannte Menschenkinder, die sich ganz in der Wirklichkeit bewegen. Unser Ziel ist: die Schäden der Zeit zu verbessern. Wir wollen den Materialismus nicht bekriegen, sondern leidenschaftslos untersuchen und beweisen, daß er durchaus kein Gegner, sondern nur der ungeschickte Ausdruck für unsere eigene Weltanschauung ist«. Und da sie ihn etwas verständnislos ansah, fuhr er fort: »Um dir meine Worte durch ein Beispiel zu veranschaulichen: Wir geben den Menschen nicht unrecht, die da behaupten, mit dem Tode wäre alles aus. Das wäre es auch, wenn es einen Tod gäbe. Nun liegts auf unserem Wege, zu zeigen, daß es eben keinen giebt, sondern nur eine Formverschiebung. Ich habe absichtlich mir ein so [177] einfaches Beispiel gewählt, um dich heute nicht zu sehr anzustrengen. Du erhieltest mithin eine Ahnung unserer Bestrebungen. In diesem Sinne leiten wir eine Zeitschrift, haben Vereine gegründet und bemühen uns, Menschen für unsere Ziele zu gewinnen. Vor allem ziehen wir jeder Heuchelei, jeder falschen Scham, jeder Gewinnsucht zu Leibe. Wir wollen wie Christus einfach und schlicht unter unseres Gleichen verkehren, in denen wir nicht Fremde, sondern Brüder erblicken. Wir haben uns schon zahllose Freunde in allen Städten Europas erworben, geschweige in anderen Erdteilen, wo unsere Lehre seit Jahrtausenden Anhänger besitzt. Du siehst also, daß du es mit ganz realen Menschen zu thun hast. Andere unserer Eigenschaften wirst du später begreifen lernen. – Obwohl wir nun keinen Mangel an Händen haben, die jede Minute bereit sind, für uns thätig zu sein, so sind wir doch jeder Zeit willig, neue Kräfte für uns zu gewinnen. Wenn du also Lust hast, in unsere geistige Genossenschaft zu treten, wollen wir nicht scheuen, Opfer für dich zu bringen, die unsere geringe Macht nicht übersteigen«.
Er befragte sie über ihre Vermögensverhältnisse und ob ihr Vormund einverstanden wäre, wenn sie ein neues Leben begänne. »Wir wollen dich hier als unsere Sekretärin anstellen; du wirst tagsüber bei uns sein, mit uns essen und alle kleinen Sorgen und Freuden mit uns teilen. [178] Abends bist du frei und kannst nach Hause gehen. Miete dir hier in der Nähe ein Zimmerchen. Die Miete mußt du aus deinen eigenen Mitteln bezahlen. Geld kann ich dir nicht geben; auch Kleider mußt du dir selbst beschaffen. Uebrigens, wirst du auch vegetarische Kost vertragen können? Unser Essen schließt Fleisch und alkoholhaltige Getränke aus«.
»O, ich esse, was es giebt« sagte Johanne, »darauf hab ich nie geachtet«.
In diesem Augenblick kam der Postbote und brachte ein Packet Briefe. Meister Johannes hielt den Stoß lächelnd Johanne hin. »Siehe, sie zu öffnen, mir in Kurzem den Inhalt mitzuteilen und nach meinem Diktat zu beantworten, wird von nun an deine Beschäftigung sein«.
»Wenn ich es nur auch richtig mache«.
»Das wird dein guter Wille dich lehren. Auch wird dir Angelus in den ersten Tagen an die Hand gehen«.
»Gewiß« sagte vom Schrank her der junge Mensch.
»Also willst du?« Johannes hielt ihr die Rechte hin. Sie legte die ihre hinein.
Ein wunderbares Gefühl des Friedens überkam sie, als seine Finger die ihren einschlossen. Sie senkte die Augen vor seinem durchdringenden Blick.
»Jetzt gehst du wohl nach Hause, dich mit deiner Wirtin zu verständigen«.
Es war zwei Tage vor Mitte Februar.
[179] »Ich habe nie etwas über Kündigung mit ihr ausgemacht. Aber ich glaube, sie läßt mich ziehen«.
»Solltest du dich mit ihr nicht verständigen können, so komme ich selbst hin« meinte er ruhig. »Von morgen ab kannst du bei uns sein«.
Ein dankbarer Blick aus ihren Augen traf ihn. Er neigte leicht den Kopf und wandte sich seinen Briefen zu. Sie wartete noch eine Sekunde, dann fühlte sie, daß sie entlassen war.
Mit beflügelten Schritten eilte sie nach Hause. Es war ein weiter Weg, denn Meister Johannes' Wohnung, sowie der Saal, in den er sie gestern geführt hatte, lagen im Arbeiterviertel der Stadt. Hier, mitten unter den Leuten des vierten Standes, den »Kleinen«, hatte er sich niedergelassen.
Johanne war ganz überwältigt von dem Neuen, das ihr entgegentrat. Religion, Tugend, Weisheit schienen sich zu diesen Menschen geflüchtet zu haben. Die ganze Bibel schien neu aufzuleben in den reinen, schlichten Gestalten des Meisters und seines Jüngers. Wie alt wohl Johannes sein mochte? dreizig, vierzig, mehr? Johanne konnte sich nicht erinnern, in ihrem Leben einen so edlen Kopf gesehen zu haben. Auch Angelus gefiel ihr; doch sah er zu mädchenhaft aus, während der Aeltere den Stempel gereifter Männlichkeit in seinen bewußten Zügen trug.
[180] Sie erklärte Frau Wewerka in kühlen Worten, als Sekretärin des Vereins der »Wahrheitssucher« angestellt zu sein und fortziehen zu wollen. »Mit meinem Vormund habe ich mich schon auseinandergesetzt« fügte sie hinzu. Sie hatte ihm ein Kärtchen ziemlich dunklen Inhalts gesendet.
»Ich will meinen Mann holen« sagte Frau Wewerka. Johanne zuckte die Schultern.
»Wie Sie wollen; aber die Stellung habe ich angenommen, also da ist nichts zu ändern. Sie können sich ja dort erkundigen. Meister Johannes wird Ihnen gerne Auskunft geben«.
»O, ich kenne den Verein, die Zeitschrift und ihren Redakteur. Wer kennt ihn nicht? Er bemüht sich ja angelegentlich, aufzufallen. Er hat unter der Aristokratie viele Anhänger, namentlich Damen. Na, wenns Ihnen Spatz macht, versuchen Sies. Ich will Sie nicht zurückhalten«.
Trotzdem erschien Herr Wewerka. Er machte ein sehr verdutztes Gesicht zu Johannes Eröffnung.
»Hüten Sie sich vor diesen Wölfen im Schafspelz –« Er wollte eine Rede beginnen. Johanne unterbrach ihn ungeduldig. Er solle doch schweigen von den Wölfen im Schafspelz. Mehr Niedrigkeit und Gemeinheit, als sie von anderer Seite in diesen dreiviertel Jahren kennen gelernt habe, gäbe es sicher nicht auf der Welt. Deshalb [181] ginge sie ja auch. Sie ertrüge es nicht länger in dieser Atmosphäre. Wewerka lächelte ironisch zu seiner Frau hinüber. »Der Meister mit den langen Haaren und den hübschen nackten Füßen hats ihr angethan. Da nützt kein Abreden. Gehen Sie zu, Fräulein Johanne, treiben Sie ein wenig Spiritismus, lassen Sie sich die Geister interessanter Toter zitieren und fühlen Sie sich als Uebermensch. Schad nix und ist lehrreich. Vielleicht kommen Sie wieder einmal zu uns zurück«.
Sie lächelte herb und empfahl sich. Bis Ende März war ihre Pension vorausbezahlt; also konnte sie gehen, wohin ihr beliebte.
Sie suchte in der Nähe der Kasernenstraße, in der Johannes wohnte, ein Stübchen, fand ein ihr passendes im vierten Stock bei einer alten Blumenmacherin, und ließ sofort ihre Habseligkeiten hinüberschaffen.
Als in der neuen, winzigen Wohnung ihre Sachen ausgepackt waren, fiel sie auf die Kniee und dankte Gott, daß er sie aus dieser Atmosphäre der Gemeinheit geführt hatte. Wewerkas Urteil über Johannes fiel ihr ein. Aber das war ja natürlich. Die Schmutzigen hassen die Reinen. Und er war rein, das stand in den edlen Zügen seines Gesichtes geschrieben. Sie erzählte ihm am nächsten Tag alles, was ihre früheren Hauswirte über ihn gesagt hatten. Er nickte.
»Das weiß ich ja längst. Ein Teil der Menschen[182] sieht in mir einen Betrüger, weil sie es nicht fassen, daß man für andere Zwecke, als sein eigenes Wohlergehen, arbeiten kann. Andere vergöttern mich wieder und nennen mich einen Auserlesenen, was mich fast noch mehr ärgert. Ich will nicht überschätzt werden. Ich liebe die Menschen, deshalb möchte ich ihnen Gutes thun, sie so glücklich wie möglich wissen. Glücklich wird man nur, wenn man sich selbst kennt. Ich lehre sie das, und auch lehre ich sie, ihre Grenzen zu erweitern. Wir sind viel mächtiger, als die meisten von uns glauben«.
Sie legte Hut und Jäckchen ab und ließ sich am Schreibtisch nieder. Er diktierte ihr einige Briefe, die sie zu seiner Zufriedenheit nachschrieb. Um die Mittagsstunde erschien eine ältere Frau und meldete, daß das Essen angerichtet sei.
»Hast du auch für Paulus gedeckt?« fragte Johannes. Er kommt geradeswegs vom Bahnhof hierher«.
»Glaubst du, schon mittags?«
»Er schriebs«.
»Dann will ich noch ein Couvert für ihn auflegen. Angelus wartet schon, er ist eben aus der Stadt gekommen«.
Johannes führte seine neue Sekretärin in ein geräumiges, höchst einfach möbliertes Gemach nebenan. Auf einem mit weißer Wachsleinwand bezogenen Tische standen etliche Schüsseln. Eine enthielt gekochtes Gemüse, [183] eine andere eine Mehlspeise, die Johanne unbekannt war. Angelus erhob sich und verneigte sich schweigend vor den Beiden. Johannes legte dem jungen Mädchen, das sich schüchtern benahm, eine tüchtige Portion Gemüse und Mehlspeise auf ihren Teller.
»Du mußt zugreifen, mein Kind; es giebt nur noch Obst«.
»Die Gräfin grüßt dich, Meister, sie wird dir ihre Tochter mit den gewünschten Abzügen schicken« sagte Angelus, während er tüchtig einhieb.
Plötzlich hörte man draußen sprechen, die Thür öffnete sich und ein neuer Ankömmling trat herein.
»Paulus!« rief Angelus.
Der Eingetretene verneigte sich vor Johannes, schüttelte Angelus die Hand und sah auf Johanne.
»Unsere neue Sekretärin« bemerkte der Meister. Paulus reichte ihr die Hand über den Tisch. »Sei gegrüßt«. Dann ließ er sich nieder und nahm Speise auf seinen Teller.
»Alles gut abgelaufen?«
»Jawohl Meister. Zwanzig neue Vereinsmitglieder hab ich dir geworben, darunter zwei von bekanntem Namen. Auch unserer Zeitschrift gewann ich etliche Freunde. Ich will dir später mehr erzählen«.
»Und wie stehts mit den Schulden, die du einkassieren solltest?«
[184] »Ich bringe nur ein Drittel des erhofften Betrages«.
»Die Menschen haben nie Geld zu Dingen übrig, deren Ernte in der Zukunft liegt« versetzte der Meister.
»Sie müßten noch mehr gepackt werden« sagte Paulus.
»Oder ganz fallengelassen werden« ergänzte Angelus, »was dasselbe ist, denn dann müssen sie sich mit erneuter Kraft aufraffen«.
Sie sprachen über einige Personen, die Johanne unbekannt waren. Währenddessen fand sie Muße, Paulus zu betrachten.
Er trug dieselbe Tracht wie seine Genossen. Auch sein Haar floß lang über die Schultern. Aber seinem Gesicht fehlte der Ausdruck der Milde, der den Mienen der beiden Andern eigen war. Vielleicht lag es auch daran, daß Augen und Haar tiefschwarz waren. Das hervorspringende hagere Kinn, die Nase mit ihrem Höcker deutete auf viel Willenskraft und Selbstbewußtsein. An ihm war nichts Demütiges, Christushaftes, außer seiner Tracht. Aber trotzdem fühlte sich Johanne, sofort als er eintrat, unter seinem Banne.
Die Wirtschafterin brachte warmes gekochtes Obst herbei. Sie aßen davon, dann lehnte sich Johannes einen Augenblick zurück.
»Wißt ihr das Neueste? Die Polizei hat mir untersagt, meinen Vortrag am Sonnabend zu halten. Es wäre Anarchismus, was ich predigte«.
[185] »Du!« Paulus schüttelte den Kopf, »du Anarchismus? Du predigst doch nur Gehorsam gegen das Gesetz«.
»Was eigentlich so viel wie Krieg dem Gesetz bedeutet« meinte Angelus. »Denn wenn Einer dieses wörtlich erfüllte –«
»Du fassest das zu kirchlich auf« bemerkte der Meister. »Wenn ich sage: bezahlt eure Steuer, weil es die Satzung eures Staates gebietet, will ich doch nicht Aufruhr stiften«.
»Wenn du sagst: ihr müßt sie bezahlen, und es mangeln ihnen hierfür die Mittel, so treibst du sie dazu, sich diese auf vielleicht unerlaubte Weise anzueignen«.
»Ich werde von einer Persönlichkeit zur andern gehen, ich weiß ja ungefähr, wer alles in meinen Vortrag gekommen wäre, und ihnen mündlich mitteilen, was ich auf dem Herzen habe«.
Die beiden jungen Leute warfen sich einen bedeutsamen Blick zu.
»Soll ich vielleicht die Fürstin Leiningen aufsuchen? Sie möge sich für dich einsetzen, daß man dich hinfür frei schalten und walten läßt. Sie verkehrt bei Hofe«.
»Was fällt dir ein, Paulus?« Der Meister lächelte, »jemehr Hetze gegen mich, umso besser. Unsere Brüder Buddha, Christus und Mohammed wurden alle verfolgt, mit Steinen beworfen, lächerlich gemacht. Was wäre [186] ein Reformator ohne Verfolgung, Haß, Mißgunst seiner Zeitgenossen? Man darf sich nie gegen drohende Mißgeschicke auflehnen und sie abzulenken trachten, das weißt du doch«.
Paulus errötete leicht. »Ich betrachte, was dir droht, nicht als große Prüfung, sondern nur als kleines Hindernis, das du kräftig überwinden wirst«.
»Was dasselbe bedeutet« rief Angelus. »Die kleinen Nadelstiche des Lebens sind für den Helden unerträglicher als Schwertstreiche«.
Johannes erhob sich, mit ihm die Andern.
»Ich ziehe mich für eine Stunde zurück, Johanne« sagte er zu dem jungen Mädchen. »Angelus soll dir Bücher im Bureau zeigen, in denen du indessen lesen kannst«.
Johanne ging mit den beiden jungen Leuten ins Arbeitszimmer. Angelus stieg auf einen Tritt und suchte unter den Büchern des Regals.
»Wann kamst du hierher?« fragte Paulus, sich an den Tisch lehnend und Johanne fixierend. Sie erzählte ihm, wie der Meister sie fand.
»Und gefällt es dir bei uns?« fragte er.
»Unendlich«. Sie senkte die Blicke. »Es ist eine ungeahnte Welt für mich«.
»Bloß mußt du dir abgewöhnen, zu erröten und die Blicke niederzuschlagen. Wir sind hier reine, freie[187] Menschen, die nichts vor einander zu verbergen haben. Wer hier die Thür hinter sich geschlossen hat, hört auf, Mann oder Weib zu sein, er ist bloß Mensch«.
»Mir ist das neu« meinte sie.
»Hier hast du ein Buch« sagte Angelus niedersteigend und reichte ihr einen Band.
»Glaubst du auch, daß ich das verstehe?« fragte sie schüchtern.
»Du kannst uns ja fragen, wenn dir etwas unklar ist«.
»Wie alt bist du?« fragte Paulus, der älter als Angelus aussah.
»Beinahe zwanzig«.
»Hm« machte er, sah sie von oben bis unten an und verließ das Zimmer.
»Du liest ja nicht« bemerkte Angelus nach einer Weile. Er saß auf einem Hocker und schnitt ein dickes Buch auf. Johanne lehnte am Schreibtisch und sah sinnend vor sich hin.
»Nein, ich kann nicht. Ich muß immerfort an das Neue denken, das ich seit vorgestern kennen gelernt habe. Ich begreifs ja eigentlich noch immer nicht ... Was will Meister Johannes?«
»Die Welt verbessern« erwiderte Angelus lakonisch.
»Aber wie denn?«
»Indem er allen Menschen lehrt, sich wie Brüder[188] untereinander zu begegnen, Leid und Sorge, Freude und Reichtum unter einander zu teilen«.
»Göttlich« rief das junge Mädchen begeistert. »Aber wie kam er nur darauf?«
»Das liegt in der Zeit, liebe Schwester. An allen Ecken kannst du Religionsumformer, Weltverbesserer und Propheten der neuen Epoche aufstehen sehen. Bloß: die einen sind die falschen Führer, unserer ist der echte«.
»Wann kam es über ihn?« fragte sie leise.
»Wann? Er war einmal sehr krank und lag monatelang im Spital. Er war früher Musiker und verdiente durch Unterricht seinen Lebensunterhalt. Ein Gelenkrheumatismus lähmte seine Hände. Als er aus dem Spital kam, hatte er keinen Heller, keinen Bissen Brot. Es blieb ihm nichts übrig, als an die Thüren seiner Freunde und Bekannten, später auch Fremder zu pochen. Da lernte er tief in die Menschenherzen blicken. Er sah die Härte, die Selbstliebe, die Vergötterung des Mammons, die da wohnten. Alle die häßlichen Eigenschaften der Menschen enthüllten sich ihm nackt, denn wer verstellt sich vor einem Bettler? Sein edles Herz litt sehr unter diesen Erfahrungen. Mehr über die Andern, als über seine eigene Not grämte er sich.
Wie diesen Menschen helfen, emporhelfen, ging ihm im Kopfe herum. Er sprach an allen Pforten, an die er bittend klopfte, ein paar tiefe, aus der Seele kommende [189] Mahnworte. Manche Leute hörten auf ihn, manche ließen ihn stehen und schlugen ihm die Thür vor der Nase zu, manche verlachten, ja mißhandelten ihn. Aber einige lauschten ihm, luden ihn ein, näherzutreten und gaben ihm willig Gehör. Er erwarb sich Freunde, Gönner, Anhänger. Man gab ihm so viel, daß er viele seiner herrlichen Ansichten in kurzen Schriften niederlegen, drucken und veröffentlichen lassen konnte. Er redete auch dann und wann in besonders dazu gemieteten Lokalen, die von Zuhörern dicht besetzt waren. Eine edle Frau, die sich sehr für seine Ansichten begeisterte, gab ihm die Mittel, eine Zeitschrift zu gründen. Man abonnierte darauf, viele, weil er und seine Lehre plötzlich Mode geworden war, andere, weil sie die tiefen Wahrheiten derselben ergriffen. Eines Tages schossen die Begüterten seiner Anhänger eine Summe zusammen, die es ihm ermöglichte, diese Wohnung hier zu mieten und sich ganz seinen reformatorischen Bestrebungen hinzugeben. Ich stand eben vor dem Abiturientenexamen, es ist zwei Jahre her, als ich seine Lehre verkünden hörte und von ihr so gepackt wurde, daß ich sofort hierherkam und mich ihm mit Leib und Seele hingab. Auch Paulus, der Sohn reicher Eltern, verzichtete auf alle Vorteile und die Liebe seiner Familie, und folgte ihm. Er hat in allen Kreisen warme Anhänger; man nennt ihn einen neuen Messias, er aber will nur Johannes sein. Er lehrt die Liebe, [190] die Lauterkeit, die Gemeinsamkeit in allem. Er ist überaus gütig, und behält nichts von den Geldern, die für ihn fortwährend einlaufen, für sich. Alles verwendet er zu wohlthätigen Zwecken, so z.B. erhält er uns beide, mich und Paulus«.
In diesem Augenblick trat der, von dem sie sprachen, herein. Johanne, noch überwältigt von dem eben Vernommenen, ergriff seine Hand und zog sie an ihre Lippen. Er fuhr liebkosend über ihre Wange.
»Willst du nun arbeiten, Kind?«
Sie setzte sich an den Schreibtisch und er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt auf und nieder. Er diktierte ihr etliche Briefe. Er nannte alle Leute: du. Einige der Antworten waren an hochgestellte Persönlichkeiten gerichtet. Eine Prinzessin hatte angefragt, ob es etwas Uebles zu bedeuten habe, daß ihr Theeglas zersprungen sei. Ein junger Kaufmann glaubte den Geist seines Vaters gesehen zu haben und erlaubte sich an den Meister die Frage, wie er sich in Zukunft bei ähnlichen Erscheinungen zu verhalten habe. Zwei Schulmädchen beschworen Johannes, sie als Jüngerinnen anzunehmen. Ein Herr bat um die Adresse des Tuchlagers, von dem der Meister den Stoff zu seiner Kutte bezöge. Mehreremale kräuselten sich Johannens Lippen zu einem Lächeln während der Diktate. Johannes zürnte ihr nicht darob.
»Es giebt seltsame Gesellen, aber die ewige Liebe[191] nimmt alle auf. Ihr gilt der Kern, nicht die Form. Dieses alles ist gutes Material, verwendbar für mich«.
Er spricht wie ein Gott, der Schöpfungen in der Hand hält, dachte das junge Mädchen. Und er ist auch eine Art Gott. – Später kam Paulus herein. Er setzte sich neben Angelus, der über ein Bündel Rechnungen vertieft war.
»Soll ich dir helfen?«
»Nein, ich danke dir«.
Paulus langte einen Stoß Zeitschriften herab. Er blätterte sie flüchtig durch und machte hie und da eine Bemerkung mit dem Blaustift in sein Notizbuch. So arbeiteten sie einträchtig neben einander. Plötzlich klopfte es, und eine junge, elegante Dame trat ein.
»Ich grüße euch«. Ihre Hände drückten die der Freunde.
»Meine neue Sekretärin« stellte der Meister Johanne vor.
»Ich hoffe, du wirst dich hier sehr glücklich fühlen« sagte die Dame zu dem jungen Mädchen. Dann ließ sie sich nieder und zog ein Päckchen Blätter heraus.
»Gefallen sie dir?« Es waren Lichtdrucke nach einer Photographie des Meisters, die sie selbst ausgeführt hatte. Johannes betrachtete sie interessiert.
»Ich finde sie sehr ähnlich, nur hast du mir eine gar zu pathetische Pose gegeben«.
[192] »Du darfst eine annehmen« entgegnete das Fräulein kurz«.
»Zeig« bat Paulus, und zog Johannes eins der Blätter aus der Hand.
Angelus sah ihm mit glänzenden Augen über die Schulter und reichte das Blatt dann Johanne hinüber. Es stellte Johannes in seiner gewöhnlichen Kleidung dar, die eine Hand wie segnend erhoben, die andere auf die Brust gelegt.
»Gefällt es dir?« fragte die junge Dame, den Kopf nach Johanne wendend.
»Sehr«.
»Dann behalte es«. In ihrer Stimme lag ein herrischer Tonfall.
»Ich habe vorläufig dreitausend Stück bestellt. Man wird sie, da du selbst Sonnabend nicht reden darfst und Professor Preuer statt deiner den Vortrag hält, an der Thür des Saales verteilen. Das wird mehr wirken, als wenn du persönlich erschienst, denn Jeder wird fragen: warum spricht er heute nicht? Und die Antwort darauf wird der Richter derer sein, die es dir untersagten«.
»Seid gegrüßt«.
Ein junger Mann von kolossalen Körperformen trat herein.
»Comtesse, auch hier?«
[193] Er schüttelte Allen die Hände und warf einen fragenden Blick auf Johanne, die ihm als Mitglied des Hauses vorgestellt wurde.
»Ach, endlich die Bilder«. Er machte der Gräfin einige schmeichelhafte Bemerkungen.
»Warum kamst du so lange nicht?« fragte sie ihn vorwurfsvoll.
»Ich konnte nicht«. Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht. »Luise weicht nicht von meiner Schwelle«.
»Schwacher« rief Paulus mit seiner tiefen Stimme.
»Starker« sagte Angelus, »was ja dasselbe bedeutet, denn ein Schwacher ist immer stark in seiner Schwäche«.
Johannes schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du ihr denn einmal eindringlich ins Gewissen geredet?«
»Ach, Meister«, der junge Mann machte eine vielsagende Handbewegung, »ich bat, ich drohte, ich –«
»So versuchs doch auf übersinnlichem Wege« rief Paulus finster.
»Noch nicht« meinte Johannes, »das ist das Letzte, zu dem man greifen soll. Wo ist sie jetzt?«
»Bei mir natürlich«.
»Geh doch hinauf, Meister« bemerkte die Comtesse, »fasse du sie. Dir kann nichts mißlingen«.
Johannes sann etliche Sekunden nach, dann sagte er: »Wenn ihr es wünscht, will ichs thun«.
»Du bist gnädig« rief der junge Mann dankbar. [194] »Es ist wahrhaftig die höchste Zeit. Seit fast einem Monat komme ich zu keiner Selbstbesinnung mehr, nicht zum Lesen eines innerlichen Buches. Sie liegt mir immerfort in den Ohren, wie sie zur Vollendung gelange und ihren begehrlichen, unruhigen Leib zum Schweigen bringe. Sie behauptet, alle innerlichen Uebungen machen sie noch aufgeregter –«
»Weil sie sie falsch anwendet« versetzte Johannes.
»Warum jagtest du sie nicht gleich das erste Mal fort?« fragte Paulus streng.
»Darf das ein Bruder Christi?«
»Das darf er, Jakob, wenn er erkennt, daß es keine Prüfung, sondern eine Versuchung ist«.
»Was dasselbe bedeutet« ließ sich des kleinen Angelus Stimme vernehmen. »Prüfungen bestehen nicht immer in Leiden, Versuchungen nicht immer in Peris, die einen verleiten wollen«.
»Nein, eine Peri ist Luise nicht«.
Die Comtesse errötete leicht unter dem zurechtweisenden Blick von Johannes.
»Wißt ihr, wenn es euch angenehm ist, nehmen wir jetzt unser kleines Abendmahl und ich gehe dann mit dir, Jakob, nach deiner Wohnung. – Du, Johanne«, wandte sich der Meister an das junge Mädchen, »bist nach dem Essen für heute entlassen«.
[195] Sie verneigte sich, wie sie es von den Andern gesehen hatte.
Auf ein Klingelzeichen von Johannes erschien die Wirtschafterin.
»Ich bitte, Laura, bereite sofort unsere Mahlzeit, wir wollen hernach noch thätig sein«.
Die Wirtschafterin verschwand hurtig.
Johanne wunderte sich insgeheim, daß die beiden Neuangekommenen weltliche Gewänder trugen und nicht gekleidet waren wie ihr Meister. Bald bat die Haushälterin zu Tische.
Man begab sich ins Speisezimmer. Johanne kam neben Paulus zu sitzen. Sie bebte, so oft er sie ansah und ihr eine Schüssel reichte. Sein kurzangebundenes Wesen, seine dunklen Augen machten ihr bange vor ihm.
»Du ißt ja nichts« sagte er zu ihr, »dir mundet wohl unsere vegetarische Kost nicht, wie?«
»O sehr gut, ich habe nur noch keinen großen Appetit, ich war in letzter Zeit nicht ganz wohl«. Sie wußte kaum, was sie stotterte.
»Und jetzt bist du zufrieden?«
»Ich hoffe es zu werden«.
»Das ist gut gesprochen, blicke nur nie in die Vergangenheit, immer vorwärts«.
»Paulus« rief die Comtesse herüber, »sage doch Landgreen, er soll nicht so dumme Artikel schreiben.
[196] Er schlägt in der ›Innern Stimme‹ vor, alle Anhänger von Johannes sollten sich gleich kleiden, damit man sie an ihrem Aeußern erkenne, wie die Soldaten an den Aufschlägen ihres Regiments. Es ist doch ein Unterschied, ob man Apostel oder nur Jünger ist. Ihr müßt gekleidet gehen wie euer Meister, wir, die Jünger, ziehen uns je nach unserm Geschmack an, nicht?«
Ihr Nachbar, der Dicke, nickte zustimmend.
»Schlägt er irgend eine bestimmte Farbe vor?« fragte Paulus.
»Schwarz schlägt er vor, wenn es noch wenigstens weiß wäre«.
»Was ganz dasselbe wie schwarz bedeutet, weil beide eigentlich keine Farben sind« rief Angelus. »Ich bin ganz mit Landgreens Vorschlag einverstanden. Unsere Freunde sollen auch äußerlich erkennbar sein. Man kann sich nicht genug deutlich betonen«.
Eine kleine Pause trat ein.
Dann sagte Johannes, indem er die zurückgeschobenen Teller der Gäste bemerkte: »Nun, meine Lieben, wie wärs, wenn wir uns erheben? Ihr seid ja alle fertig«.
Man stand auf. Johanne verneigte sich vor dem Meister.
»Ich kann also gehen?«
»Bis morgen« sagte er, ihr gütig die Hand reichend. Die Andern nickten ihr freundlich zu.
[197] »Wir gehen ja alle, lauf uns nicht davon« scherzte Angelus und trat neben ihr aus der Thür.
Sie ging nach Hause, zündete ihr Lämpchen an – in diesem Stadtteil gabs keine elektrische Beleuchtung – und versank in Gedanken. Dieser Johannes! Christus in eigener Person. Welche Liebe und Güte, welche Milde in jedem seiner Worte, in jeder seiner Bewegungen. Er hatte sie nur aus Barmherzigkeit zu seiner Sekretärin gemacht, denn heute am ersten Tag war es ihr schon klargeworden, daß er, was er mühsam ihr diktierte, viel besser und schneller hätte selbst schreiben können. Es geschah nur aus Barmherzigkeit. Er teilte sein Brot mit ihr; mehr konnte er nicht teilen, denn er besaß ja nichts. Wie Christus. O daß es alsodoch solche Menschen auf Erden gab! Nun würde sie das Leben wieder zu freuen, zu interessieren beginnen. Die trüben Erfahrungen, die sie gemacht hatte, das zweifeln am Dasein alles Guten, ertrank in diesem rauschenden Glücksgefühl. Ein Weib muß an etwas glauben. Ist es nicht Gott, so ist es ein Mann, den es liebt. Johanne besaß wenig Talent zur Religion; die Liebe war ihr fremd, sie war bisher fast verschmachtet vor innerer Einsamkeit. Früher hatte sie, wie alle jungen Mädchen, Idealvorstellungen in der Seele getragen. Sie betete die Dichter an, die ihr als Priester des Guten und Schönen erschienen, sie liebte eine Stadt, die ihr als der Nährboden hoher, herrlicher Ideen [198] geschildert war. Das waren Träume eines jungen Mädchens, das noch nie über seine Scholle gekommen war.
Die Wirklichkeit zeigte ihr in den angebeteten Künstlern eine Menschensorte, die, falschen Juwelen gleich, nur durch die Spiegelscheiben der Entfernung wirkte; die Wirklichkeit zeigte ihr die Stadt ihrer Träume als eine Brutstätte widrigsten Strebertums, einen Zusammenfluß aller dunklen, zweifelhaften Existenzen des Reiches. Sie war in sich fassungslos zusammengebrochen, denn was giebts Bittereres für einen jungen Menschen, als Verehrtes verachten zu müssen, zu erkennen, daß es nichts der Anbetung Wertes giebt?
Nun jubelte es in ihr auf. Sie hatte geirrt. Ja, es gab noch gute, reine Menschen, Wahrheitssucher, Christus Aehnliche. O, man durfte wieder lieben, verehren, sich ohne Argwohn hingeben. Man konnte tiefe Atemzüge thun, ohne fürchten zu müssen, giftige Miasmen in sich zu trinken. Dies junge Mädchen, fast ungebildet, voll irriger Begriffe, ohne Lebensform, besaß brennenden Abscheu vor allem Niedrigen, Entsetzen vor jeder Gemeinheit, leidenschaftliche Liebe zu allem Hohen, Reinen, Guten. Vielleicht hatte das viele Lesen in früherer Zeit manchen guten, schönen Keim in ihr erweckt, vielleicht die Einsamkeit ihre Seele so staubfrei und nach Reinheit lüstern gemacht. Ungesund veranlagten Naturen bekommt beides, das Lesen und die Einsamkeit schlecht. Ihr wurde [199] es zum Heile. Das bischen Liebe zur Romantik schadete nicht. Es kleidet junge Leute besser, als die verabscheuungswürdige Blasiertheit, das feiste Sattthun Eines, dessen Magen noch garnicht für starke Kost aufnahmefähig ist.
Die nächste Zeit, die Johanne in der Mitte dieser seltsamen Gesellschaft verlebte, glich mehr oder minder dem ersten Tag. Johannes diktierte ihr, Paulus warf bei Tisch dann und wann Bemerkungen hin, die Angelus in seiner gewohnten Weise parierte. Fremde erschienen und erwiesen dem Meister Ehren. Eines Tages erhielt sie auch von ihrem Vormund einige Zeilen. Sie möge zusehen, wie sie vorwärtskäme, nur solle sie Gottes und der Ehrlichkeit nie vergessen. Nach ihren früheren Bekannten verspürte sie nicht die geringste Sehnsucht. Im Gegenteil. Sie verließ nie ihren Stadtteil, um nur keinem von ihnen zu begegnen.
Paulus sollte in der nächsten Zeit wieder für einige Zeit verreisen. Er mußte dann und wann fort, um seinem Meister Anhänger zu gewinnen und die Gewonnenen zur Treue zu ermahnen. Am Nachmittag vor seiner Abreise hatte Johannes einige wichtige Gänge. Die Polizei verfolgte ihn in der jüngsten Zeit fortwährend und überwachte jeden seiner Schritte. So sehr fördernd und dienend dies auch in mancher Beziehung für ihn war, in anderer belästigte es ihn doch.
So zum Beispiel weigerte man sich, Paulus, der[200] nach Rußland reisen sollte, einen Paß auszustellen, bevor er den Zweck seiner Reise angab. »Thät ichs, ihr würdet mich ja doch nicht verstehen« sagte er stolz, und entfernte sich aus dem Bureau. Der Meister begab sich nun selbst dahin.
Johanne war mit dem Abschreiben eines Manuskriptes für ihn beschäftigt. Plötzlich fühlte sie eine brennende Glut ihren Nacken heraufziehen. Sie wandte sich um und begegnete Paulus' Blicken, die fest auf ihr ruhten.
»Wie hast du mich erschreckt« stammelte sie.
»Sonst nichts, nur erschreckt?«
Er trat ganz nahe zu ihr, ohne die Augen von ihr zu lassen.
»Aber, mein Gott« rief sie angstvoll und wollte aufspringen.
»Bleib sitzen, ich thue dir nichts« sagte er befehlend, »ich will nur ein Experiment mit dir machen«.
»Ach«.
»Es thut dir nicht weh, sei nur ruhig«. Seine Hände begannen Striche auf ihrer Stirn zu ziehen. »Nein, nicht die Augen schließen; sieh mich an. Denk an etwas recht Liebes, zum Beispiel an einen Tag deiner Kindheit. Hörst du? Aber setz dich bequemer; so«. Er drückte sie leicht in den Stuhl zurück und fuhr fort, seine Striche zu ziehn.
[201]»Nun?« fragte er nach einer Weile.
Sie schwieg. Er wiederholte mit einiger Ungeduld die Frage. Sie flüsterte etwas.
»Ich habe dich nicht verstanden« sagte er kurz. In ihrem Gesichte merkte man die Anspannung ihres Willens.
»Ich denke daran« hauchte sie.
»Nun was war da?« Seine Hände bewegten sich gleichmäßig über ihrer Stirne.
»Ich war in Kerners Obstgarten«.
»In Kerners Obstgarten, so, und was thatest du da?«
»Ich aß Aepfel«.
»Aepfel aßest du? viele?«
»O – die so unter den Bäumen herumlagen«.
»So, so. Rote, weiße?«
»Ich glaube« ... sie stotterte »es waren rote«.
»Aha. Und was thatest du dann?«
»Dann? Wir erhielten Butterbrod und sauere Milch«.
»Das war gut, wie?«
»O ja –«
»Besonders das Butterbrod, nicht? Aber zu dünn geschnitten, du hättest ein dickeres Stück vorgezogen«.
»M – ja, es war auch Salz darauf«.
»Aha«.
[202]Die Lider waren ihr zugesunken, ihr Atem ging gleichmäßig. Paulus neigte sich tiefer über sie. In seinen Blicken lag beobachtendes Abwarten. »Und du magst das Salz nicht sehr, nichtwahr?«
»Nein, besonders das grobkörnige nicht«.
»Aber das ist seltsam, da sitzt ja ein Hahn auf dem Baum, wie kommt denn der herauf? Sieh nur«.
»Ein – Hahn?« sie stockte, dann leiser: »ich sehe keinen«.
»Da da, sieh nur genau. Er hat rotgelbe Federn; jetzt schlägt er mit den Flügeln, er will noch höher flattern, nein, sieh nur«.
»Ich ... sehe nicht«.
»Aber freilich siehst du, da, schau nur gut hin; du mußt ja sehen, du bist doch nicht blind ... nun?« Seine Stimme klang ungeduldig.
»Ach, ... ja, jetzt ... jetzt sehe ich ...« kam es stotternd von ihren Lippen.
»Glaubst du, daß er höher flattert?«
»Nein, ich ... glaubs nicht«.
»Es könnte aber doch sein. O, da regt er schon die Flügel, eins, zwei, drei, nun ist er auf dem obern Ast«.
»Und er will noch höher«.
»Siehst du, er guckt hinauf; ja wenn er aber oben ist, muß er doch wieder herunter, der dumme Hahn; da [203] schau, wie er sich ratlos umsieht; ah jetzt ist er erschrocken, da unten steht die Katze, siehst du sie?«
»Nein –«
»Wie? Natürlich siehst du sie, schau nur hin«.
»Ja, ja, ich seh sie schon«.
»Sie ist grau mit einem weißen Fleck hinterm linken Ohr; glaubst du, daß sie ihm ein Leid anthut?«
»Nein, das ... nicht, er fliegt ja gut, aber sie klettert doch den Baum hinauf«.
»Oh, nun ist sie ihm nahe; schwups, er ist fort; wo denn?«
»Da am Rasen sitzt er«.
»Was ist das? Johanne im Schlaf?« Angelus war hereingetreten. Paulus flüsterte ihm etwas zu und strich Johannes Stirn weiter.
»Du, sie ist ja errötet, sie schläft nicht«.
»Das kann auch in der Hypnose vorkommen. Sie hat etwas gesehen, das sie erschreckt«.
»Johanne, schläfst du?« fragte Angelus.
Da zuckten ihre Mienen, sie seufzte tief und setzte sich, mühsam die Augen öffnend, auf.
»Ach ich bin so müde«.
»Siehst du, sie hat doch geschlafen« sagte Paulus. Angelus holte ihr ein Glas Wasser. Sie nahm ein Schlückchen, verzog aber den Mund.
»Weißt du, wo du warst?«
[204] »Nein«.
»Du hast uns von einem Obstgarten erzählt, in dem ein brauner Hahn auf einem Baum saß«.
»So?« sagte sie schüchtern und schlug die Augen nieder, »ich weiß nicht«.
»Nun, aufs nächste Mal. Sie ist ein gutes Medium, für uns wertvoll«. Er blickte Angelus an. »Nur muß sie eben noch tüchtig geübt werden. Nach einigen Versuchen wirds besser gehen, als das erste Mal«.
Bald darauf kam Johannes zurück.
Das junge Mädchen schrieb wieder weiter, während er mit Paulus im Eßzimmer weilte.
»Du solltest doch etwas Geistiges zu dir nehmen« hörte sie Paulus' Stimme sagen, »du siehst sehr angegriffen aus. Ein Glas Wein –«
»Lieber zusammenbrechen, als Wein oder Fleisch genießen. O Paulus, daß du mir noch immer ähnliches zumuten kannst«. Des Meisters Stimme klang vorwurfsvoll. Johanne fühlte ihr Herz hochschlagen vor Bewunderung für ihn. Noch matt von der Sitzung legte sie die Feder aus der Hand und lauschte seiner Stimme.
»Glaub mir, Paulus« entgegnete er auf einige Worte seines Schülers, »es ist nicht alles eins. Fleisch erweckt den Teufel in uns, Fleisch macht uns blutgierig, erregt unsere Sinne«. – »Einmal – keinmal« hörte sie sagen.
[205] »Sohn, kein einziges Mal; gerade dieses eine Mal könnte der Satan benützen –«
Angelus rückte geräuschvoll den Stuhl zurück und ging zu den Beiden.
Johanne wunderte sich insgeheim, daß der Meister so große Wichtigkeit auf etwas so Geringfügiges wie das Essen legte. –
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