2.
Es gab unter seinen Freunden einige Dummköpfe, die den Wechsel in seinen Ansichten nicht begreifen konnten.
Die Klügeren begriffen sehr wohl, daß gerade Leute, denen die Erde nichts mehr zu wünschen übrig läßt, voll Inbrunst die Arme nach etwas ausstrecken, das das »Pathos der ewigen Distanz« an sich trägt. Beispiel: Ignaz von Loyola, Karl der Fünfte, in der neuesten Zeit Tolstoj, mehrere Prinzen und Prinzessinnen von bekannten Namen.
Wenn ein Saulus aber zum Anhänger Gottes wird, geschieht das mit demselben Fanatismus, mit dem er früher Lucifer opferte.
So gab sich auch Geo nicht mit ruhiger Gelassenheit, sondern mit Begeisterung seiner neuen Entdeckung hin, daß in Gott nicht nur die ausfüllendste Arbeit, sondern auch die seligste Erschöpfung sei. Er baute nun eine chinesische Mauer kalter Abwehr um sich, ließ kaum jemand Zutritt in seine Wohnung und vergrub sich in einen Berg von religiösen Schriften. Er hatte anfänglich den Glauben als Versuchsstation benützen wollen und konnte nun, wie der Pilger in der Sage vom Magnetberge, von diesem Boden nicht mehr [89] loskommen. Das Nächstliegende war nun, daß Geo mit den Geistlichen seiner Heimatstadt in Verbindung trat, um bei ihnen praktisch in die Schule zu gehen, bevor er eine Universität aufsuchte, um vielleicht Theologie zu studieren. Er vertraute sich einem der bekanntesten und berühmtesten Priester seiner Stadt an. Der Geistliche lächelte über den flammenden Eifer des jungen Bekehrten und ermahnte ihn zur Mäßigung. Er solle sich nicht zu viel mit »himmlischen Angelegenheiten« befassen. Die Religion hätte auch eine praktische Seite. Geo runzelte die Brauen.Dr. Canelius meinte, er müsse nach Berlin zu einem wichtigen Kongreß. Wenn er wiederkehre, wolle er Weidmann auf verschiedene Irrwege aufmerksam machen, auf die er sich zu verlieren im Begriff stände.
Geo fragte interessiert nach den Dingen, die auf dem Kongreß behandelt würden. Sie wären meist politischer Natur, meinte Dr. Canelius. Ob ein Priester sich auch mit Politik befassen müsse? Die scharfgeschnittenen, geistreichen Züge des Geistlichen durchhuschte ein Lächeln. Gewiß und erst recht. Die Kirche wäre nur dadurch mächtig geworden, daß sie auch die weltliche Herrschaft an sich genommen hätte, wo sie konnte.
Und Dr. Canelius verbreitete sich in kluger, geistvoller Rede über die Pflichten des Priesters im neunzehnten Jahrhundert. Keine Schwärmerei wolle man[90] von ihm, sondern ein kluges Vermitteln des Reiches Gottes mit der Welt. Geo wurde immer stiller unter der Wucht jener glänzenden Argumente. Endlich verbeugte er sich und schritt hinaus. Er hätte am liebsten geweint wie der Junge, dem man erklärt hat, daß nicht das Jesuskind, sondern der Dienstmann den Christbaum gebracht hat. Was kümmert Gott der Streit der Parteien? Er stand hell und groß wie eine stille Sonne am Firmament des Lebens, daß jeder ihn erkennen und lieben konnte. Mußte man wirklich schlau und klug zu Werke gehen, um ihm Seelen zu gewinnen? Geo fühlte einen bittern Geschmack auf der Zunge. Konzessionen machen, das Ewige gleichsam wie ein leckeres Gericht den Leuten entgegenbringen, damit sie versuchen wies schmeckt? Nein. »Halb und Halb« ist gut für die Destille des Lebens, aber wenn es sich um ein offenes Bekenntnis des Geistes handelt?
Weidmann ließ seine Koffer packen, umarmte seinen Vater und reiste ab, gradeswegs in ein einsames Bergthal, Montafone genannt, zwischen dem Bodensee und Tirol. Dort wollte er nachdenken, fernab von der klugen, berechnenden Welt. Er mietete sich in ein einsames Bergwirtshaus ein. Der Herbst war schon angebrochen, und die paar Sommergäste hatten sich davon gemacht. Auf den Häuptern der wild zerklüfteten, in die Wolken ragenden Berge lag Schnee. Scharfe Winde brausten [91] hinab in die Thäler und erweckten eine Ahnung von dem neun Monate währenden Winter.
Eines Spätnachmittags, als Geo in Gedanken versunken neben einem wild hinstürmenden Bergbache hinschritt, hörte er den süßen Klang eines Glöckchens. Er lauschte erstaunt, wandte sich spähend um und sah endlich einen jungen Geistlichen, von einem ältern Manne begleitet, daherkommen. Die Hände des Priesters drückten einen bedeckten Kelch fest an die Brust. Sein hageres Gesicht war von tiefer Blässe überhaucht; nur die Augen leuchteten. Geo, von einem mächtigen Impulse getrieben, folgte dem seltsamen Paar.
Der Geistliche verschwand in der Hütte eines schwerkranken Bauern. Als er nach längerer Zeit wieder erschien, gesellte sich Geo zu ihm. Ihr Weg führte durch einen steil abfallenden Tannenwald in die Tiefe. Nach kurzer Zeit hatte der Priester ungefähr einen Blick in die Seele seines Begleiters erhalten. Er lud ihn ein, mit ihm zu kommen. Er bewohnte ein halbzerfallenes Häuschen neben einer kleinen, hölzernen Kirche. Der alte Meßner, der zugleich Totengräber auf dem nahen Kirchhof war, bediente ihn. Er bot Geo ein Glas Milch und steinhartes Schwarzbrot an, anderes hatte er nicht. Weidmann bebte vor Kälte in dem kleinen unwirtlichen Raum, der dem Geistlichen als Wohnstube diente. Er fragte Augustinus, wie er es hier ertrage [92] in dieser fürchterlichen Bergwüste, wo der Winter fast das ganze Jahr dauere. »Ich bin sehr glücklich« war die Antwort. »Woher nehmen Sie die Kraft?« Die Wangen des jungen Mannes röteten sich sanft.
»Die erhält man, wenn man sie braucht.«
Geo sah in das trübselige Talglicht, das Augustinus zu Ehren des Gastes angezündet hatte. Ein Schauer glitt ihm von der Stirn bis in die Fußspitzen hinab. Diese kahlen, ärmlichen Wände, durch die der Sturm pfiff, diese rohen, notdürftigsten Bauernmöbel, das Gesicht des Aufwärters, das selbst einem Totenkopf glich, die Beschäftigung des Geistlichen: bei Nacht und Nebel über unwirtsame Waldwege Sterbenden die letzte Zehrung zu bringen, beständig den Tod vor Augen haben durch den Anblick dieses fast immerwährenden eisigen Winters: alles dies ertragen zu können, setzte eine Art höheren Wesens voraus.
»Es ist ein Wunder« stammelte Geo und erfaßte die schlanken Hände des Priesters.
»Vielleicht ist es eines.«
»Warum eilen Sie nicht in die Welt hinaus und schreien es in aller Ohren: ›Brüder, es giebt Wunder. Mein Gott thut sie. Kommt zu mir, ich will ihn euch lehren.‹«
Augustinus schüttelte den Kopf. Was sollte mir[93] das? Was geht mich die Welt an? Nicht einmal der da draußen«, er wies nach der Küche, in der der Totengräber am Herde hantierte, »weiß, was in mir vorgeht.«
Geo gings wie ein Blitz durch den Kopf. Dieser hier, war er nicht der Gegensatz jenes andern »Vermittlers?« Jener diente Gott, mit einem Auge nach dem Himmel, mit dem andern nach der Erde schielend. Dieser hier hielt beide Augen nach dem Himmel gerichtet. Ihn kümmert die Welt nicht. Er geht nur zu Leuten, die sterben. Ihnen vielleicht enthüllt er ein oder das andere Geoffenbarte. Sie aber können es nimmer weiter verbreiten zum Nutzen der andern. –
»O, kommen Sie hinaus« rief Geo, »kommen Sie hinaus, erzählen Sie draußen von den starken Händen Ihres Gottes, von seinen Flammen, von seiner Gnade. Söhne dieses Gottes sind berufen, die Welt zu erobern.«
Der junge Geistliche lächelte mit geschlossenen Augen. »Lassen Sie mich hier. Der Herr kommt nur zu dem Einsamen; zöge ich hinaus, verlöre ich ihn.«
»Dann sind Sie ein Egoist; Sie wollen das Wunder für sich behalten. Sie wollen nicht schenken, Geiziger.«
»Schelten Sie mich!« Der Priester neigte demütig das Haupt. »Christus möge Ihnen verzeihen.«
[94] Geo ging fort.
Er ging durch den nächtlichen Wald. Der Herbstwind trocknete seine Thränen. Hoch oben durch dunkle Wolkenklüfte sah ein großer glänzender Stern.
Geo blickte zu ihm auf und wurde ruhiger. »Bin ich ein Narr? Was will ich eigentlich? Ich renne in der Welt umher, um Stufen zur Seligkeit zu entdecken. Die eine ist mir zu glatt, die andere zu rauh. Und – Flügel giebts nicht.« ...
Er verließ das Montafonethal und trieb sich etliche Monate planlos in der Welt umher. Dann ging er nach Paris.
Hier machte er die Bekanntschaft eines seltsamen Menschen. Er war nicht mehr jung, kahlköpfig, mit ein paar ganz wunderlichen Augen. Seine Nahrung bestand meist aus Pflanzenkost oder Reis. Er bewohnte ein kahles Hofzimmer, fühlte sich aber hier sehr zufrieden. Geo kam nicht dahinter, ob er vermögend oder arm war. Seine Ansprüche an das Leben waren die denkbar geringsten. Er wollte nach einigen Monaten weiter nach Deutschland reisen, das er noch nicht kannte. Er kam aus Indien, wo seine Eltern, einst dort eingewanderte Franzosen, sich niedergelassen hatten. Er beherrschte vierzehn Sprachen, kannte die ganze Weltlitteratur, war aber so bescheiden, daß Weidmann beschämt wurde über sein eigenes selbstbewußtes Auftreten.
[95] Sie hatten einander in der Bibliothek kennen gelernt, wo beide täglich einige Stunden zu lesen pflegten. Die fast unnatürliche Ruhe des neuen Bekannten, der sich Gaston Teckley nannte, übte einen geheimnisvollen Reiz auf Geo aus. Er suchte Gaston näher zu treten und begleitete ihn bald auf seinen weiten, einsamen Ausflügen in der Umgebung der Stadt. Natürlich erfuhr Teckley bald von dem wunderlichen Seelenzustande seines Gefährten. Etwas wie ein Lächeln huschte über seine fahlen Züge. Dann stellte er allerlei Fragen an ihn. Als Weidmann sie in seiner ehrlichen, etwas stürmischen Weise beantwortete, und Teckley merkte, daß er einen aufrichtigen, wenn auch ein wenig verschrobenen Kauz vor sich hatte, ging er gemach aus seiner Zurückhaltung heraus. Seine merkwürdigen Augen, die meist ins Unbestimmte sahen, gewannen einen festen Ausdruck und richteten sich auf Geo. Dann erzählte er ihm von schönen Büchern, die es gebe, und daß er einmal versuchen solle in ihnen zu lesen. Er brachte selbst mehrere mit, als er Weidmann einmal besuchte. Sie waren in englischer Sprache geschrieben, die Geo wie seine Muttersprache beherrschte. Er las. Anfänglich vermeinte er in einem Märchenbuche zu blättern. Bald war ihm als höre er leise Wasserfälle um sich rauschen, und sein musikalisches Empfinden erwachte; bald kam er sich vor wie von gestaltlosen Kräften in eine unbeschreibliche [96] dämmernde Einsamkeit getragen, die sich grenzenlos durch alle Himmelsgewölbe hinzog und aus deren geheimnisvollen Schatten die Weltseele zu ihm zu sprechen schien. Es wurde ganz still und andächtig in ihm. Er lag stundenlang mit geschlossenen Augen auf seinem Divan, blickte in sich hinein und horchte dem Öffnen der Knospen eines neuen Hoffnungslenzes in sich. Dann griff er wieder und wieder zu den wunderlichen Büchern. Auf eine einmal wie zufällig hingeworfene Bemerkung Teckleys begann er sich des Weines und der Fleischspeisen zu enthalten und seine Nahrung nur auf das Notwendigste zu beschränken. Er sprach tagelang nicht, schlief auf einem harten, kühlen Lager, und fing an sich zu bemühen, seine Gedanken ausschließlich auf einen Punkt zu richten, den Punkt, den er eben in seine Aufmerksamkeit ziehen wollte.
Nach einiger Zeit hatte er einen Theil jener Ruhe erlangt, die ihm an seinem Freunde so wohlgefiel.
Eines Tages sagte er zu Teckley:
»Was soll ich nun? Hier weiter leben und lesen und nichtsthun, oder irgendwie durch Thaten mich geistig vorwärtsbringen? Ich kenne eigentlich noch nicht den Gott, der mich gefesselt hält, aber ich fühle ihn mein Wesen und Denken durchdringen.«
Teckley sagte: »Töte nie ein Thier, sei gütig gegen deine Mitmenschen, und bemühe dich immer weniger[97] zu wünschen und zu erwarten. Mehr brauchst du nicht zu thun. Das andere kommt von selbst.«
»Und zu wem soll ich beten?«
Da senkte Teckley das Kinn auf die Brust.
»Zu keinem.«
Dann, nach einer Weile, meinte Weidmann:
»Und wie nenne ich mich jetzt?«
»Du bist Buddhist.«
Geo saß und blickte in sich und hatte der Wünsche immer weniger. Und dann nach und nach erfuhr er alle die seltsamen Erscheinungen, die der ganz Insichversenkte erlebt. Die Wände verloren ihre Dichtigkeit für ihn und wurden zu durchsichtigen Krystallen, durch die er hindurch sah; die Stille wurde ihm tönend voll von gewöhnlichen Ohren unvernehmbaren Lauten, und die Nacht lag vor seinen durchgeistigten Augen in hellem Glanz.
Eines Tages sagte er zu Teckley:
»Das Wunder klopft bei mir an.«
»Es wird ganz hereinkommen, wenn du erst so weit bist, das Gewand deines Fleisches ausziehen zu können und als freier Geist in deinem Körper aus- und einzugehen, wie dirs beliebt.«
»Giebts einen solchen Menschen?« fragte Geo und senkte die Augen.
[98] Teckley zögerte einen Augenblick; dann versetzte er leise: »Mehrere, viele solche giebt es.«
»Nenne mir Einen von ihnen; ich möcht' ihn sehen.«
»Du hast noch Neugierde?« Der Lehrer sah mit leisem Vorwurf den Schüler an. Aber dann sagte er gütig: »Man kann seiner Eigenschaften nur ledig werden, wenn man sie auslebt. Also folge deiner Neugierde. Einer jener Erleuchteten nennt sich Sankàra und wohnt in einem Thale von Thibet.«
Geos Augen glänzten.
»Du willst zu ihm reisen, reise!«
Der Meister hatte ihn durchschaut.
Geo zitterte vor Freude und Erwartung, einen Adepten, Einen, der viel mehr als ein Mensch sein sollte, von Angesicht zu Angesicht zu sehen – Einen, der freigebig bis zur Verschwendung mit den Offenbarungen der Ueberwelt war, der die Rätsel und zugleich die Rätsellosigkeit der Natur und ihrer magischen Kräfte ergründet hatte, den nur das Mitleid mit den Menschen wieder zur Erde steigen ließ ...
Geo verließ Paris und schiffte sich in Marseille ein. Von seinem Vater hatte er Empfehlungsschreiben an mehrere bekannte Großkaufleute in Indien erhalten. Teckley gab ihm die Adressen einiger Gesinnungsgenossen mit. So reiste er ab. Er empfand nicht die Strapazen [99] der Reise, keine Besorgnisse vor allen kommenden Anstrengungen. Er sah nur das Ziel vor sich. Er malte sich mit den glühenden Farben seiner Phantasie den Mann aus, vor den er treten würde.
Es war ein Greis mit majestätischen Zügen und langem wallenden Haupthaar. Zwei abgrundtiefe Augen, in denen die Weisheit ihr Obdach gefunden zu haben schien, blickten aus dem heiligen Antlitz. Und Geo sah, wie er zu Füßen dieses Mannes niedersank und das Gesicht in die Falten seines weißen Kleides drückte. O wie würde er aufstehen! Welche Kräfte mochten ihn erfüllen, wenn er sich erhob! ...
Das Meer rauschte seine heiligen Psalmen in die Phantasien des jungen Menschen.
Eines Tages verstummte es, und Land, ein fremder Erdteil, lag unter seinen Sohlen. Was kümmerten ihn die Städte des Orients mit ihrer fremdartigen Pracht, was die Menschen, die Sitten, die Gesetze hier. Er drängte vorwärts, nur vorwärts. Eine fieberhafte Ungeduld verzehrte ihn, machte ihn schwach, fast krank. Aber was galt ihm jetzt sein Körper. Seine Seele schrie nach dem Heiland, dem weißen Greise, der ihm sagen würde: »Früher hast du an einen Gott geglaubt, an einen großen Despoten im Himmel, der die anderen kleiner als sich gemacht hat. Ich aber lehre dich, daß jeder sich selbst beherrschende Sterbliche ein Gott ist, der [100] beliebig im Leibe oder außerhalb des Leibes wandeln darf, für den es kein räumliches noch zeitliches Hindernis giebt.« ...
So träumte Geo. Eines Tages kreuzte er die Hände über der Brust.
Die schneebedeckten Zinnen des Himalaya waren aus den Wolken hervorgetreten.