[1] Zweiter Theil
Ungewohnt, in einem öffentlichen Fuhrwerk zu reisen, war ich anfangs, wie ich mich mit ein paar fremden Menschen in dem Wagen eingeschlossen sah, über meine Keckheit erschrocken. Ich zog meinen Hut in's Gesicht, drückte mich, als würde mich das ihrem Blicke entziehen, in die Kutschenecke hinein und wagte kaum zu athmen. Bald gewahrte ich, daß sie mich gar nicht beachteten; der kleine Weg ward ohne Störung fortgesetzt, so daß ich nicht mehr die Ueberfahrt, aber die Ankunft in London fürchtete. [1] Die erstere hatte Miß Mortimers Barbara bei meinem Einsteigen bezahlt, indeß ich, gedankenlos für alles außer dem Zweck meiner Reise, mich so wenig mit Gelde versehen hatte, daß es mir beim Aussteigen an Mitteln fehlte, einen Miethwagen zu nehmen. Die Noth zwang mich, den Laden des Kaufmanns, mit dem ich meinen Handel machen wollte, zu Fuße aufzusuchen; und jetzt in einer der volkreichsten Straßen von London war ich nun wirklich den neugierigen Blicken, den kecken Anreden einiger Männer ausgesetzt und gerieth darüber so außer mir, daß ich, wie ich den Laden erreichte, gar nicht wahrnahm wie ein Wagen mit der du Burgh'schen Livree vor ihm hielt. Er war voll geputzter vornehmer Leute, aber nur Eine Gestalt zog meine Augen an – meine herzlose Freundin. – Ich wollte fliehen, mir war's, als sähe ich eine Schlange, im Begriff, nach meinem Herzen zu schießen, aber meine [2] Kräfte versagten mir, ich ward so sichtlich ergriffen, daß ein Ladenmädchen mir schleunig einen Stuhl bot. Julie erblickte mich gleichfalls, ihr Gesicht glühte, sie wendete es ab – da erwachte mein Stolz, ich gebot meinen zitternden Knieen und trat zu dem Kaufmann, um meinen Handel zu schließen. Zu meinem schmerzlichen Erstaunen erfuhr ich von ihm, wie kindisch ich meinen Ring nach dem Werth, den mein Herz ihm beilegte, geschätzt hatte. Er bot mir fünfundzwanzig Pfund, indeß ich auf die vierfache Summe gerechnet hatte; wohl versuchte ich einige Einwendungen, aber ich wußte aus meinen ehemaligen Besuchen in solchen Läden, daß darin kein Feilschen stattfindet; kummervoll wartete ich auf meine Kaufsumme, als ich auch Lady Marie wahrnahm, die mit Miß Arnold, welche noch immer ihr Gesicht von mir abwendete, gesprochen hatte und sich jetzt, unter dem Vorwand, den Kaufmann [3] zu sprechen, mit kalter Neugier zu mir herandrängte. Ihr Benehmen war so gefühllos, daß es ihr einen Anstrich von Gemeinheit gab, die mir meine sittliche Ueberlegenheit plötzlich fühlbar machte; ich trat zurück und sagte verächtlich zu dem Kaufmann: »Thun Sie die Geschäfte der Dame ab, wenn sie deren wirklich hat, ich will warten.« Lady Maria, die meine scharfe Zunge noch von der Pension her kannte, zog sich mit einem hochmüthigen Kopfaufwerfen zurück, ich erhielt nach langem Warten meine Auszahlung und wollte forteilen, als Miß Arnold die Unverschämtheit hatte, zu mir zu treten. Leider war die Zornesgluth, die mich, nun der Schmerz überwunden war, übermannte, nicht die Gemüthsstimmung, welche mir meine letzte Vergangenheit hätte lehren sollen. In den ruhigen Tagen des Lebens gelingt es uns leicht, unser Selbstbewußtseyn rein zu erhalten, aber nicht weil wir stark, sondern[4] weil die Versuchung schwach ist. Ich erfuhr jetzt, wie viel mir noch fehlte, um das Gebot »segnet eure Feinde« erfüllen zu können. Ich beantwortete Miß Arnolds ungeschickte Entschuldigung, »daß sie mich nicht gleich erkannt habe«, mit kaum erhaltner Fassung, und auf ihre Anerbietung, mich nach Haus zu begleiten, wo sie mir Vielerlei erzählen könne, indeß Lady Maria und Lord Glendower ihren Hochzeitputz einkauften, mit schneidender Kälte, wobei ich ihr andeutete: ich wohne bei Miß Mortimer, wo sie und Lady Marie, wenn es ihrem guten Rufe nicht Schaden brächte, eine Entlaufene zu besuchen, mich auffinden könnten. Hiemit wendete ich ihr den Rücken zu, eilte aus dem Laden und ließ mich von dem ersten Miethwagen, den ich erblickte, nach Hause bringen.
Unzufrieden mit mir selbst und schüchtern über den Werth meiner Fortschritte im Guten [5] brachte ich die nächsten Tage zu. Fast hätte ich gewünscht, den beiden Damen, die eine so beschämende Herrschaft über meinen bessern Willen geübt hatten, recht bald wieder zu begegnen, um mich würdiger zu betragen. Diese Gelegenheit zeigte sich mir nicht, denn von dieser Zeit an blieb mir keine Freiheit mehr, Miß Mortimers Krankenbett zu verlassen. Vier Monate lang kämpfte sie mit der Ergebung einer Heiligen gegen die schmerzlichste Zerstörung. Wie oft, unfähig, ohne fremde Hülfe ihrem Haupt eine andre Lage zu geben, dankte sie Gott mit leuchtenden Augen für das Glück, von mir, von ihrer Ellen, diesen Dienst zu empfangen! Wie oft, wenn ich ihr den Angstschweiß von der Stirn trocknete, flog ein sanftes Lächeln über ihre blassen Lippen, die sie, jeden Laut des Schmerzens sich versagend, krampfhaft verschlossen hielt! Schüchtern und schwach, wie die Natur sie bildete, war diese[6] Standhaftigkeit nicht die Folge von leichtem Ertragen des Uebels, sondern des frommen Zutrauens, daß Gott ihr helfen werde, wo ihr Kraft gebräche; und in diesem Zutrauen bleibt unsre Kraft auch unerschöpflich. Sie sah den Tod als Siegerin, nicht als Besiegte herannahen, und die Heiterkeit, die während ihres Lebens liebenswürdig war, machte sie im Sterben erhaben.
Endlich kam der große Augenblick ihrer Befreiung herbei. Ihre Erziehung für ein höheres Daseyn war vollendet, die Rückkehr in das Haus ihres Vaters ward ihr eröffnet. Eines Morgens, nachdem ich nach mancher ganz durchwachten Nacht einige Stunden geschlafen hatte, eilte ich zu ihr und fand sie von Schmerzen befreit. Unwissend über den Ausgang ihres Uebels, glaubte ich thörichterweise, daß die Krisis ihrer Krankheit nun überstanden sey, blickte vorwärts in Jahre einer heitern Zukunft [7] und theilte ihr meine kindischen Hoffnungen mit. Sie war nicht gegen ihre Lage verblendet: »Theures Kind«, sagte sie, »warum willst Du mir ein Leben wünschen, das mir nur Schmerz bietet? Bete doch vielmehr, daß mein Tod Dir zum Vortheil gereiche! Betest Du nicht jeden Morgen: der heutige Tag möge Dir gesegnet seyn?« – Ich hatte mir wohl die Unvermeidlichkeit der mir jetzt so nahen, unvermeidlichen Trennung gedacht; aber heute, an dem nun eingetretnen Tage, zwischen dem kein Raum, kein Aufschub mehr war! – Der Schmerz überwältigte mich, ich warf mich in unaussprechlichem Jammer an der Sterbenden Lager auf meine Kniee. »Ellen, mein Kind«, nahm sie wieder sanft tröstend das Wort, und ihre matte Hand suchte mein Haupt aus seiner Verhüllung aufzurichten, »halte meinen fesselentbundnen Geist nicht durch Deine Klagen an der Erde zurück! Könnte mein leidenvolles [8] Daseyn Dir helfen, so hätte ich meinen Gott um dessen Verlängerung gebeten; aber Du brauchst mich nicht mehr. Ich habe es wahrgenommen, meine Ellen, Du hast das Eine, das Noth thut, gefunden, nun bedarfst Du meiner gebrechlichen Stütze nicht mehr. Wenn ein ganzer Himmel voll Glanzes Dir aufgeht, willst Du verzweifeln, wenn ein schwacher, dunkler Strahl Dir verschwindet?«
Der Arzt, den ich schnell berufen ließ, kam nur, um ihre Erwartung zu bekräftigen. Sie sollte die Sonne nicht wieder aufgehen sehen. Sie bot Jedem, der mit ihrer Pflege beschäftigt gewesen war, ein heitres, liebevolles Lebewohl, gab Jedem ein Andenken und schickte Alle von sich fort, nur ich und ihre alte Barbara blieben bei ihr. – »Ich habe sie auf meinen Armen gehalten, da sie an's Licht trat«, sagte diese gottergebne Greisin, »ich war Zeuge ihres Lebens vor dem Herrn; es ist hart, daß ich ihr [9] Grab erblicken muß und dann allein sterben – aber Sein Wille geschehe!«
Der Pfarrer des Kirchspiels, wohin ihre Hütte gehörte, kam auf ihre Bitte, mit ihr zu beten. »Sehen Sie, meine Ellen«, sagte sie, wie der würdige Mann sich eine Zeit lang entfernte, »das ist das Göttliche unsrer Religion – sie gibt, wie die Sonne jeder Pflanze die Wärme, die sie ihrer Natur nach gebraucht, so jedem Menschen, der es treu mit ihr meint, die Art Trost, die er nach seiner Eigenthümlichkeit bedarf. Der starke Geist im gesunden Körper betet, wie es ihm Noth thut, und der schwache, wie es ihn tröstet, ich endlich, deren Leben halb schon entflohen ist – ich sammle meine schwindenden Gedanken in den frommen Worten dieses ehrwürdigen Mannes. – Ellen, es ist, wie wenn ich mich eines schönes Liedes leichter erinnerte, wenn Ihre liebe Hand die Melodie auf der Harfe spielte.« – O du [10] Engelmilde, die auch im Tod noch bedacht war, die erhabne Frömmigkeit ihrer Seele, um meiner Schwäche willen, menschlich zu schildern!
Nachdem sie gegen den Abend lange in Mattigkeit gelegen, bat sie mich, ihr Popens Sterbelied eines Christen herzusagen. Ich kniete an ihrem Bett und that es. Sie schien die Worte im Innern nachzusprechen, ich blickte sie noch einmal an, ihr Auge glänzte wie eines Ueberwinders Blick, meine Stimme brach, und wie eine Trostlose schluchzte ich: O Tod, wo ist dein Sieg! und verhüllte mein Gesicht auf ihrem Deckbett. Sie legte ihre Hand auf mein Haupt, die Hand ward schwerer und schwerer, sie sank herab auf meine Schulter, ich blickte auf, und sie lag wie eine Schlafende – denn des Gerechten Tod gleicht dem Schlafe.
Kein Mann, auch der zartfühlendste nicht, kann den Schmerz ermessen, der mich niederdrückte, wie ich meiner einzigen Freundin, meiner [11] einzigen irdischen Stütze den letzten Dienst erwiesen, und ich nun den geliebten Leichnam von Miethlingshänden in den Sarg einsperren sah, wie ich endlich von der Grabstätte zurückkehrte und gezwungen war, die Leute aus dem Zimmer, wo sie lebte, die letzten Spuren ihres Daseyns forträumen, fortputzen, vertilgen zu sehen. Männer mögen unendlich tief den Schmerz fühlen, aber sie verlieren in ihrem Liebsten nie ihre Sicherheit, ihre Stütze – ja sich selbst – sie können hinausstürzen in die öde Welt und im Gedränge des Lebens, der Gefahr ihrem Daseyn einen Werth beilegen – das Weib muß hülflos an dem Platz stehen bleiben, wo ihr Lebensglück von ihr schied, muß in dem Moment, wo sie die Natur den Schrei des Schmerzens auszustoßen treibt, durch die Formen des Anstands sich von einer kalten Außenwelt die Vergünstigung, leise weinen zu dürfen, gewinnen.
[12] Wenige Tage nach Miß Mortimers Hinscheiden langte ihr natürlicher Erbe an und eilte durch Eröffnung ihres letzten Willens den Bestand ihrer Hinterlassenschaft zu erfahren. Sie befriedigte ihn sehr wenig, und diese Fehlschlagung erbitterte ihn vielleicht dergestalt, daß er der Verewigten später eigenhändig hinzugefügtem, aber nicht gerichtlich besiegeltem Befehl: der alten Barbara und mir den Genuß ihrer Wohnung, so lange es uns gut dünkte, zu gewähren, keine Folge leistete. Er erklärte mir ohne Rückhalt, daß er keine Verbindlichkeit hätte, diese Clausel zu achten, weshalb ich ihm einen Miethzins zu entrichten oder mir eine andre Wohnung zu suchen habe. Nach dieser Erklärung brannte mir der Boden unter den Füßen – allein wohin sollte ich gehen? Die Verwandten meines Vaters waren mir stets fremd geblieben, die meiner Mutter waren mir während meines Pensionsaufenthalts fremd geworden, [13] und späterhin hatte ich sie mit leichtsinnigem Hochmuth von mir entfernt; in dem glänzenden Zirkel, in welchem ich mich im Taumel der Eitelkeit bewegt hatte, war Keiner, nicht Einer, der, wie des Unglücks Wogen mich verschlangen, nach mir gefragt hätte, und Keiner, dem ich jetzt zutraute, daß er mir Rath und Beistand schenken würde. Wie ärmlich der Ertrag weiblicher Arbeiten sey, hatte ich schon erfahren; der einzige Weg, mir ein Unterkommen zu schaffen, schien mir eine Stelle als Erzieherin zu seyn. An den Kenntnissen, die ein reiches Mädchen braucht, fehlte es mir nicht: einige Sprachfertigkeit, zierliche Arbeiten des Luxus und der Fantasie, Musik, gründlicher und ausgebildeter, als man sie gewöhnlich antrifft, das waren meine Mittel des Unterrichts; aber welches waren die der Erziehung? – Ich wollte erziehen, die kaum den natürlichen Jahren der Kindheit entwachsen, [14] nur eben Zeit gehabt hatte, zu erfahren, daß es mir selbst an Erziehung gefehlt habe? – Allein diese Erfahrung war ja vielleicht ein Mittel, Andre erziehen zu können, und Gebet und fester Wille sollten das Uebrige ersetzen. Nur nicht in London, nicht auf dem Schauplatz meines schnell verschwundnen Glanzes wollte ich in so verschiedner Gestalt auftreten; mir diese Prüfung ohne die dringendste Noth aufzulegen, schien sogar einer geziemenden Würde im Unglück nicht angemessen, und mein inneres Gefühl hieß diesen Widerwillen gut. Sobald mein Entschluß gefaßt war, eröffnete ich dem Geistlichen, welcher mit meiner sterbenden Freundin gebetet hatte, die Bedrängniß meiner Lage und meinen Wunsch, sie auf dem erwähnten Weg zu verbessern. Er ging mit warmer Theilnahme in meine Verhältnisse ein, erbot sich sogleich, an eine seiner verheiratheten Schwestern im fernen Norden des Reichs zu schreiben, [15] und lud mich ein, bis ich ein anständiges Unterkommen gefunden, in dem Schoos seiner Familie zu verweilen.
Ein sehr unerwarteter Vorfall sicherte mich, bei meiner gänzlichen Verarmung, in diesem Zeitpunct vor völliger Entblösung von Geld. Unter den Papieren meiner verewigten Freundin fand sich ein an mich überschriebner versiegelter Brief, er enthielt eine Banknote von dreihundert Pfund und im Umschlag folgende Worte:
»Meine theure Ellen, brauchen Sie die beiliegende Summe ohne Bedenken und ohne Nachfrage! Sie gehört Ihnen, ich hatte nie Ansprüche darauf, sie kam in einer sehr traurigen Stunde in meine Hand, aber aus Furcht, Sie möchten an die Sterbende nutzlos verschwenden, was der Ueberlebenden einst Noth thun könnte, richtete ich es so ein, daß sie Ihnen erst, wenn alles vorüber ist, übergeben werden kann. Elisabeth Mortimer.«
[16] Ich muthmaßte sogleich, daß diese Summe von Herrn Maitland herkommen müßte, und fast überzeugt, daß er jetzt gar keinen andern Antheil mehr an mir nehme, als den Mitleid mit einer Unglücklichen einflößt, konnte mir diese Gabe nur als eine Wohlthat erscheinen. Es war mir zu schwer, so unweigerlich Almosen zu empfangen, wenn gleich mein beßrer Sinn meinem Stolze sagen wollte, daß solche aus der geehrtesten Hand am wenigsten verwunden sollten. In der Hoffnung, daß sich unter Miß Mortimers Papieren eins finden möchte, das mir über Herrn Maitlands Denkart in Absicht auf mich irgend eine Spur geben könnte, bat ich den Erben der Verewigten, mir diese durchsehen zu lassen. – Er vergönnte es mir gern, aber meine Hoffnung ward betrogen. Eine Menge Briefe von Herrn Maitland erwähnten meiner nie anders, als im Ton gewöhnlicher Höflichkeit, nur in dem [17] Fragment von einem, zur Hälfte abgerißnen, der wahrscheinlich durch ein Versehen von meiner Freundin nicht ganz vertilgt worden war, fand ich folgende Zeilen:
»Ich will mich durch Ihre Beschreibung von Ihrer jungen Freundin Vervollkommnung nicht blenden lassen. Indem Sie ihre vortheilhafte Entwicklung schildern, haben Sie sie vor Augen in den Reizen geistigen Ausdrucks, in den schönsten Gesichtszügen. Ich weiß wohl, wie das kindliche Lächeln ihres Mundes, der helle Blick unter ihren seidnen Wimpern heraus das Herz besticht. Daß ich mich dessen noch erinnre, nachdem meine Vernunft ihre Herrschaft wiedergewann, beweist ja die mächtige Wirkung dieser holdseligen Gestalt. Ellen hat warme Leidenschaften, eine lebhafte Einbildungskraft, ihr Unglück hat sie heftig erschüttern müssen; aber das bringt noch keine Gemüthsveränderung hervor. Was unserm ganzen [18] Leben zur Richtschnur dienen soll, muß nicht auf Kräften beruhen, welche äußre Begebenheiten steigern und mindern können. Ellens guter Verstand muß mit ihrem tiefen Gefühl übereinstimmend erkannt haben, daß ihr ganzes irdisches Daseyn zu einem himmlischen führe, und daher kein Moment desselben bedeutungslos, keine Handlung gleichgültig sey. Nur dann ist sie sicher – nach menschlichen Kräften – im Wirken für Andre ihre Bestimmung und ihr wahres Leben zu finden. – Denn das, verehrte Freundin, ist doch Religion? die Religion, die in jeder äußern Form unsere Wohlfahrt sichert. Doch das darf ich Ihnen nicht erst sagen, und gibt es eine Lage, welche Ihrer jungen Freundin zu dieser wahren Religion zu verhelfen vermag, so ist es das Beisammenseyn mit Ihnen, Ihr Beispiel, das Zeugniß, das Ihr Leben von der Wahrheit Ihrer Frömmigkeit ablegt. Sie sehen wohl, daß ich sehr fest entschlossen [19] bin, weise zu bleiben, da ich mich trotz dem Zauber der Liebenswürdigkeit, der Ihre Freundin umstrahlt, über ihre Mängel selbst durch Ihre Lobreden nicht verblenden lasse.
Die Ausführung meiner gegenwärtigen Plane wird mich noch Jahre lang von Großbritannien fern halten; sonst könnte ich hoffen, ganz von dem Joche befreit, welches Miß Percy fast gelungen wäre mir aufzulegen, für ihr Glück wachen, zu ihrer Entwicklung beitragen zu können – ich hatte einigen Einfluß auf sie. Wäre es einem vernünftigen Wesen geziemend, sich mit Träumen zu beschäftigen, ich könnte träumen ...«
Hier war das Blatt abgerissen, und meine Einbildungskraft konnte sich von der möglichen Vollendung dieses Redesatzes nicht losreißen. – Dieses Bruchstück überzeugte mich nur von dem, was ich zu meiner schmerzlichen Beschämung je länger je mehr einsah: daß ich Maitlands ganze [20] Liebe besessen und durch meine Thorheit beharrlich an ihrer Zerstörung gearbeitet hatte, und daß sie endlich an dem tödtlichsten Gifte – von Schaamröthe glühend, konnte ich es nicht ausdenken – an Verachtung meiner Handlungsweise erstorben war. – Tief betrübt hatte mich dieser Brief wohl gemacht, aber den Muth benahm mir meine Betrübniß nicht. Ein schwacher Strahl des Lichts, welches Maitland allein Religion nennen wollte, war in meiner Seele entglommen, und es gab Augenblicke, wo das Andenken an ihn sich mit dem an meine verklärte Freundin solchergestalt verschmolz, daß mein Schmerz um ihn, aller Thorheit entwunden, nicht mehr ein irdischer Schmerz war.
Woher die Banknote kam, blieb mir also ein Geheimniß, und wie sicher es mir schien, daß ich sie Herrn Maitlands Fürsorge verdankte, verbot mir doch meine weibliche Würde, sie ihm zurückzusenden, da ich, ohne allen [21] Beweis für meine Voraussetzung, hätte aussehen können, als suche ich ein Verhältniß, das er offenbar nicht aufrecht erhalten wollte, wieder anzuknüpfen. Ich sah deshalb diese Summe als mein Eigenthum an, und der erste Gebrauch, den ich von ihr machte, befreite mich von einer Schuld, die, wäre mir auch das günstigste Schicksal zu Theil geworden, zuerst getilgt werden mußte, um mir Seelenruhe zu geben. Jener beschämende Vorschuß, den mir Lord Friedrich in den Tagen meiner Thorheit gemacht, und den zu tilgen, ich bisher kein Mittel vor mir gesehen hatte, wurde unverzüglich zurückgezahlt; was mir übrig blieb, mußte ich mit der treuen alten Barbara theilen, die durch die Härte von Miß Mortimers Erben nach einem Leben, das sie ganz dem Dienst ihrer Herrschaft geweiht, sich ohne Unterstützung befand. Nachdem ich das kleine Denkmal bezahlt hatte, mit dem ich Miß [22] Mortimers Ruhestätte bezeichnen ließ, und mir noch einige nothwendige Kleidungsstücke gekauft, verließ ich mit dreißig Guineen, als einziger Habe, die geliebte Hütte, wo ich aus dem Abgrund der Verzweiflung zum Vertrauen auf einen himmlischen Vater wiedergeboren ward, dessen Leitung auf dem finstern Pfade, den ich vor mir sah, ich mich, wenn nicht mit immer gleicher Heiterkeit, doch mit festem Vertrauen übergab.
Es war ein stürmischer Winterabend, an dem ich meinen stillen Schutzort verließ; ich hatte jeden Platz des Hauses, der mir meiner Freundin Gegenwart zurückrief, noch einmal besucht, hatte den Lehnsessel, wo sie, wenn ihre Krankheit sie in dem Zimmer festhielt, vom Fenster aus die Gegend und die untergehende Sonne betrachtete, gegenüber gesessen und mir die Worte voll frommen Sinns, die sie dann sagte, wiederholt; ich hatte vor ihrem Sterbelager [23] kniend gebetet, und die Fülle der Wehmuth hatte mich zu einer Ergebung gestimmt, die mich bei dem Abschied von der gastfreundlichen Hütte aufrecht erhielt. Bei dem Vorübergehen vor dem Gottesacker kehrte ich daselbst ein, um den einfachen Stein zu besehen, der seit meinem letzten Besuche daselbst auf meiner Verewigten Grabhügel aufgestellt ward. Ich fand ihn, wie ich gewünscht, einzig bestimmt, mir und spätern Verehrern ihres Andenkens nach mir den Rasen anzuzeigen, der sie deckte. Diese letzte Liebespflicht schien mir das Siegel der Unwiederruflichkeit auf ihren Verlust zu drücken, so daß ich, wie sich die Kirchhofsthür hinter mir schloß, noch einmal und bittrer den Schmerz empfand, der bei dem Getöse der ersten Erdschollen, die auf Miß Mortimers Sarg herabrollten, mich zerrissen hatte. Es war schon ziemlich dunkel, wie ich den Pfarrhof erreichte. Mein schüchternes[24] Klopfen ward nicht gleich gehört, dennoch erwartete man mich in dieser Stunde, und der Gedemüthigte ist sich so lebendig bewußt, wie ihm neue Verletzung erspart werden könnte. Mein Entschluß, bei dem Eintritt in meine neue Freistätte den ersten Eindruck nicht über mich entscheiden zu lassen, wurde wankend, und statt mein Klopfen zu wiederholen, lehnte ich meinen Kopf weinend an diese Thür, die einzige auf Erden, die mir Aufnahme versprochen, und an die ich nun vergeblich geklopft hatte. Die Ankunft des Geistlichen endigte dieses schwächliche Hingegebenseyn in die Nebenumstände eines harten Looses, welches ich, im Ganzen, muthig übernommen hatte. Er klopfte heftig an, indem er mich um Verzeihung bat, durch unerläßliche Amtsverrichtungen, mich persönlich in sein Haus abzuholen, verhindert gewesen zu seyn. Auch auf sein Klopfen ward die Thür nicht sogleich geöffnet, doch man sah [25] Lichter durch die Zimmer tragen, hörte Thüren schlagen, Treppen auf- und ablaufen, endlich ging die Thür auf, und eine Magd, athemlos vor Eile, leuchtete uns die Treppe hinauf. »Ich hoffe, liebe Miß«, sagte der Geistliche im Hinaufsteigen, »Sie sollen sich, sobald meine gute Frau ihre Geschäfte alle abgethan hat, einheimisch bei uns fühlen.« – Diese Bedingung schreckte mich auf; »es würde mir sehr leid thun, wenn Frau *** durch meine Gegenwart belästigt würde«, erwiederte ich bestürzt. – »Wenn das nur möglich seyn könnte, dann wäre sie recht in ihrem Element!« rief mein neuer Wirth mit etwas erzwungner Heiterkeit und öffnete die Thür des Vorzimmers. Ich nahm in dem Augenblicke wahr, wie die Hausfrau von einem Stuhl herabstieg, von dem aus sie eine von der Decke herabhängende Lampe angezündet hatte, sie band schnell eine farbige Schürze ab, warf sie in einen Winkel [26] und kam mit einem Schwall von Worten, die mich zu bewillkommnen gemeint waren, auf mich zu. Man hatte einmal in meiner Gegenwart gesagt, die Pfarrerin sey eine gebildete Frau, und diese Eigenschaft hatte vorzüglich meinen Widerwillen, die Wohlthat ihres Gatten anzunehmen, vermindert. Unsre Eitelkeit sucht sich bei der vollständigsten Ergebung doch noch eine Befriedigung vorzubehalten; indem ich willig den Vorzügen entsagte, die mir das Schicksal entrissen, glaubte ich bei einer Frau von Bildung Anklänge gleicher Empfindungen mit den meinen hoffen zu können. Dieser Empfang schien meinen Hoffnungen wenig zu entsprechen. Mich mit lauter Entschuldigungen über die Einfachheit ihrer Bewirthung und Voraussetzung der Fülle, welche ich so eben verlassen habe, demüthigend, geleitete sie mich in das Gesellschaftszimmer und drückte mich durch die Unfeinheit, mit der sie ihren Mann, mir den ersten [27] Platz anzuweisen, erinnerte, zu Boden. Ich hielt es für meine Pflicht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, allein ihre gespannte Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, das aus der nahen Küche zu uns hertönte, machte sie dazu ganz unfähig, sie wendete den Kopf mit dem Ausdruck der größten Ungeduld auf die Seite der Thür, rückte auf ihrem Stuhl hin und her, bis ein Scherbengeklingel von zerbrochnem Porzelan ihr die Fassung entriß, und sie, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, aus dem Zimmer lief. Der Pfarrer war diese Auftritte wahrscheinlich gewohnt, oder wollte durch seine Ruhe das durch seine Frau gestörte Gleichgewicht wieder herstellen; er rückte, ohne sich stören zu lassen, seinen Stuhl näher zu mir und begann von einer neuen Flugschrift zu sprechen. Doch da war's eine Kunst, den Faden des Gesprächs festzuhalten, indeß in der anstoßenden Küche Zank, Scheltworte und Befehle abwechselten; [28] endlich aber griff ein unverkennbarer Ton und das darauf entstehende Geheul des Hundes des guten Pfarrers Herz an seiner empfindlichen Stelle an, er ward feuerroth, sprang auf, machte drei rasche Schritte und kehrte dann mit dem fragmentarischen Selbstgespräch: ein Glück, daß die Kinder alle zu Bett sind! sein Gespräch wieder anzuknüpfen, auf seinen Sessel zurück.
Endlich wurden wir zum Abendessen gerufen. Meine Wirthin suchte mich mit freundlichen Blicken zu empfangen, aber ihre zuckenden Mundmuskeln verriethen ihre innere Stimmung, und diese obsiegte auch, indem sie mich bitterlich beklagte, von alter, zersprungner Fayence essen zu müssen, weil die Dirne da – sie deutete auf das junge Dienstmädchen, das sichtbar verschüchtert uns aufwartete – ihr so eben drei Dutzend feine Porzelanteller auf Einer Tracht zerbrochen hätte. – »Das ist [29] ein großes Glück, mein liebes Weib, bemerkte der Pfarrer, damit hat sie dir drei Dutzend Zorne erspart, und diesen einen wollen wir nun beseitigen.« – Das war aber nicht in der Gewalt dieses geplagten Ehemanns, sondern der Unmuth seiner Frau ergoß sich in bittere Anschuldigungen der ungeschickten Magd und Klagen über die überwältigenden Mühen einer Hausfrau, der es mit ihren Geschäften ein Ernst sey. – »Der Eifer, sie zu besorgen, ist rühmlich, meine Liebe«, bemerkte der Gemahl mit behutsamem Ton, »doch beurtheile selbst, ob du nicht für die wichtigern Erfordernisse mehr Kräfte erübrigtest, wenn Du kleine Verwaltungszweige, wie Fürsten zu thun pflegen, deinen Ministern überließest!« – »Dann möchte es in meinem Hause aussehen wie in jener Staaten, und davor behüte mich der Himmel! Sagen Sie selbst, Miß Percy, haben Sie während Miß Mortimers langer [30] Krankheit nicht die Folgen davon erfahren, wenn die Herrin nicht überall selbst gegenwärtig ist?« – »Verzeihen Sie«, erwiederte ich, unwillig über die gleichgültige Veranlassung, durch die sie sich an meiner Freundin Tod erinnern ließ, »in Miß Mortimers Hause war so viel Ordnung, so wenig Ansprüche, ein so mildes Regiment, daß ich in dieser Rücksicht ihren traurigen Gesundheitszustand nie angesehn habe.« – Sobald ich ausgesprochen hatte, bereute ich den versteckten Tadel, den meine Worte enthielten; allein der war an meiner Wirthin verloren, sie sagte, nur zerstreut von dem Ungeschick, mit welchem das Dienstmädchen eine Schüssel aufhob: »So? also wird Miß Mortimer wohl nicht so gar genau haben haushalten müssen ...« Ich fand einen Sinn in dieser Bemerkung, der mich verletzte, hatte aber Klugheit genug, mir die Antwort zu ersparen und diesem peinlichen Abend durch die[31] Bitte, mir mein Zimmer anzuweisen, ein Ende zu machen.
Ach es war nicht das einfache Gemach eines Familienmitglieds, wohin man mich führte, es war ein Putzzimmer, in dem nichts bequemen Gebrauch versprach, sondern alles nur sorgsames Schonen aufdrang. Doch müde von dem Kummer des Tags und der Disharmonie des Abends, legte ich mich mit der Hoffnung nieder, daß nun die Anstrengung des Empfangs von Seiten meiner Wirthin überstanden sey, die folgenden Tage geräuschlos in einfacher, häuslicher Beschäftigung hingehen würden; denn so befremdlich mir die Art der Theilnahme an den Geschäften war, begriff ich wohl, daß es einer Pfarrfrau sehr zur Ehre gereichen könnte, sie selbstthätig zu besorgen. Allein meine Rechnung war falsch. So sanft mein Schlaf war, so früh und unsanft ward er unterbrochen. Fegen, Scheuern, Keifen, Befehlen, Thürenschlagen, [32] Kindergeschrei, durch hörbare Acte der vollziehenden Gewalt auf kurze Zeit beschwichtigt, bewiesen mir, daß meine arme Hausfrau, bei dem Aufwand aller ihrer Kräfte, keine Ordnung, und bei steter Autokratie, keinen Gehorsam einzuführen vermochte. Die widerstandslose Ergebung des Pfarrers wäre mir verhaßt geworden, hätte ich sie der Fühllosigkeit zuschreiben müssen; allein ich sah bald, daß sie die einzige seiner Individualität mögliche Art war, Aergerniß zu vermeiden. Sein ältestes Kind war in einer Pension; in den Tagen, wo ich sein Gast war, brachte er das zweite aus dem Hause und gab mir zu verstehen, daß er die armen Kleinen auf diese Art dem Einfluß einer traurigen Häuslichkeit zu entziehen gedenke. Um diese Ausgaben bestreiten zu können, arbeitete er angestrengt für Buchhändler. – Ich bedauerte und achtete den Mann, der tägliches Märtyrerthum zu erleiden, [33] die Kraft besaß, die ihm wahrscheinlich im Anfang seiner Ehe gefehlt hatte, um seiner Gattin fehlerhafte Neigungen zu zügeln.
Allein der Aufenthalt in diesem Hause war mir so drückend, daß ich mich überzeugte, die härteste Dienstbarkeit könnte nicht quälender, als die Gastfreundschaft von Mistriß *** seyn. Die Antwort auf den Brief, den der Pfarrer an seine Schwester geschrieben, ward daher mit der größten Ungeduld von mir erwartet und war mir, wie sie eintraf, tausendfach willkommener, da sie meinem Beschützer meldete, daß sie selbst mich in ihrem Hause aufzunehmen wünschte, um die Erziehung ihrer einzigen Tochter zu vollenden. Meine musikalischen Talente hatten mir bei ihr zu besonderer Empfehlung gedient. Mistriß Murray wünschte meine Bedingungen zu erfahren, von denen sie fürchtete, sie möchten ihre Mittel übersteigen, aber sehr geneigt wäre, das Aeußerste zu thun. [34] Der Schwager des Pfarrers war Marineofficier und in diesem Augenblick zur See. Seine Gattin mit ihren Kindern, einem Sohn und einer Tochter, lebte in Edinburg, ein Umstand, der zu meiner Befriedigung beitrug, denn so sehr der wackre Herr Sidney mir zuredete, einen sehr vertheilhaften Platz, den er in London für mich gefunden hatte, anzunehmen, beharrte ich auf meinem Abscheu vor der Gefahr, dort meinen ehemaligen Bekannten zu begegnen. Herr Sidney sowohl wie der Pfarrer redeten mir zu, meine Abreise nicht auf eine so schwankende Aussicht hin bei einer so ungünstigen Jahreszeit zu unternehmen, sie stellten mir vor, daß mein Eintritt bei Mistriß Murray nur gewinnen könnte, wenn meine Verhältnisse in ihrem Hause vorher näher bestimmt würden. – Ueber diesen Umstand war ich ganz gleichgültig. Die Ungeduld, meine jetzige Lage zu verändern, machte mich blind gegen alle Unannehmlichkeiten, [35] die eine andre, ganz unbekannte mir aufdringen könnte, und somit ward meine Abreise beschlossen.
Der Landweg nach Edinburg war für meine Mittel zu kostbar, und wie sehr sich auch meine beiden Rathgeber widersetzten, verdingte ich mich doch auf ein Handelsschiff und ging, nach einem vierzehntägigen Aufenthalte in dem Pfarrhause, zur See. Die gewaltsame Steigerung meiner Geistesstärke, mit der ich meine Abreise betrieben, war in Gefahr, gänzlich zu sinken, wie der Pfarrer und Herr Sidney, nachdem sie mich an Bord begleitet, in ihrer Barke wieder ans Land ruderten. In einem feuchten Winternebel sah ich sie von meinem Schiff abstoßen, zuerst wurden mir ihre Züge, dann ihre Gestalten unkenntlich, bald sah ich nur noch ihre weißen Tücher in grauem Nebel wehen, und endlich war der dunkle Punct, den ihr Nachen auf den Wogen bildete, vor meinen thränentrüben [36] Augen verschwunden. – Nun fühlte ich mich allein! nun wäre ich gern zurückgekehrt in das Haus, das bei aller seiner unheimlichen Sitte mir jetzt eine Freistätte schien. Regen und Wind trieben mich vom Verdeck in ein dumpfes Behältniß, wo vierzig Mitreisende, von der ungestümen Bewegung des segelnden Schiffes mehr oder weniger angegriffen, umher lagen. Auch mich trieb diese unleidliche Beschwerde, mein Lager zu suchen. – Ich hatte kein zierlicheres erwartet, gab also meinem Ekel vor dem, was ich fand, nicht nach, sondern strengte alle meine Kräfte an, die auf mich eindringenden unangenehmen Empfindungen zu ertragen. Die Gesellschaft meiner Gefährten in ihren bedrängten Umständen, das Schwanken des Schiffs, das Geschrei der Seeleute, das Klappern des Tauwerks, das donnernde Anprallen der Wellen an die Schiffswände – und endlich, wie der Wind wirklich zum Sturm anwuchs, das [37] Geschrei und Arbeiten an der Pumpe, die ein entstandenes Loch unaufhörlich in Bewegung zu halten erforderte – das alles waren Umstände, deren Zusammentreffen eine geübtere Reisende wie mich hätte angreifen können. Die Reisenden, mit der Seefahrt unbekannt, hielten das mäßige Unwetter für einen weltzertrümmernden Orkan und drückten ihre Todesfurcht mit mehr oder weniger Heftigkeit aus; ich konnte unsere Gefahr nicht beurtheilen, empfand aber mein körperliches Leiden so schwer, hatte im Leben so wenig Vortheil zu hoffen, daß mir der Tod wahrscheinlich und willkommen schien. Ich suchte nur meinen Geist zu bekräftigen, damit der entscheidende Moment mich gerüstet finden möchte. Doch der Sturm legte sich, an Schiffsuntergang war nicht zu denken, aber unser Fahrzeug war so stark beschädigt, daß wir die holländische Küste, wohin uns der widrige Wind getrieben hatte, willkommen heißen [38] mußten und, des Hafens froh, in Rotterdam ans Land gingen.
Gänzlich unbekannt mit den Mitteln wie mit der Nothwendigkeit hauszuhalten, nahm ich ein Zimmer in einem anständigen Wirthshaus, wo ich sehr eingezogen und mit sehr ernsten Betrachtungen beschäftigt die acht Tage zubrachte, welche unser Fahrzeug zu seiner Ausbesserung bedurfte. Wie es zur Abreise kam, war ich höchlich betroffen, durch die Bezahlung meiner Rechnung die ganze mir übrige Baarschaft bis auf zehn Guineen vermindert zu sehen. Dennoch faßte ich Muth. Meine Reise bis Edinburg forderte wenig Kosten mehr, und dort konnte ich mich in Mistriß Murray's Haus bis zum Ablauf des ersten Quartals aller Ausgaben enthalten. Der erste Theil dieser Aus sicht ging in Erfüllung. Unsre Ueberfahrt von der holländischen Küste nach Edinburg war angenehm und so schnell, daß ich schon nach [39] vierzehn Tagen in dem Hafen einen Miethwagen bestieg, der mich nach Edinburg führte.
Ich war über den nun zunächst mir bevorstehenden Augenblick in einer solchen Spannung, daß ich die romantische Lage der Stadt, die Schönheit ihrer Straßen gar nicht bemerkte, sondern zwischen dem innigsten Gebet zu Gott, den Antritt meines neuen Berufs zu segnen, und den Bildern, welche sich meine Einbildungskraft von meiner bevorstehenden Lage machte, getheilt war. Ich malte mir Mistriß Murray's Bild bis auf ihre Kleidung, ihre erste Verbeugung aus. O möchte sie nur in ferner Aehnlichkeit, nur im letzten Nachklang Miß Mortimer gleichen! seufzte ich aus beklommner Brust. Aber Herr Maitland hatte mir oft seine Landsmänninnen als groß, kräftig, rasch gemalt – das Bild glich Miß Mortimer nicht, und mir schien es recht fürchterlich, eine solche hohe, strenge, knochenstarke Frau zu [40] erblicken. Indeß rollte mein Wagen durch die bei später Tageszeit stillen, menschenleeren Straßen, mir ward immer bänger, bis er endlich an einem schönen, aber ganz unerleuchteten Hause stille hielt. Ich schellte, und athemlos wartete ich, bis die Thüre sich öffnete, so daß ich den Diener kaum verständlich fragte: ob Miß Murray zu Hause sey. – Nein, Ihre Gnaden, sie ist seit vierzehn Tagen verreist. – Großer Gott! verreist? wohin? – Nach Portsmouth. Sobald die Nachricht kam, daß der Capitain verwundet dort ans Land gestiegen sey, reiste Mistriß Murray mit ihrer Tochter dahin ab. – Und ließ sie keine Briefe für mich zurück? – Des Bedienten Antwort überzeugte mich, daß kein Mensch meine Ankunft erwartet hatte, ich übersah nun die Folgen meiner übereilten Abreise und sank halb ohnmächtig vor Schrecken in den Wagen zurück. – Steigen Sie hier aus, Ihre Gnaden? fragte jetzt der Kutscher. [41] Nein, rief ich, ohne zu wissen, was nun weiter zu thun möglich sey. – Wohin soll ich Sie denn führen? fragte Jener wieder. – Ich antwortete mit einem Thränenstrom, denn ich wußte keine Thür, die sich mir öffnen, wo Jugend und Armuth Schutz finden könnte. Der Bediente schien von meiner Betrübniß gerührt; vielleicht, sagte er, hat Mistriß Murray meinem jungen Herrn Aufträge an Sie zurückgelassen. – Ist der Sohn des Capitains zurückgeblieben? – Ja, Ihre Gnaden, er blieb, um seine Collegien auszuhören. Er ist jetzt nicht zu Hause, muß aber sogleich heimkommen. Belieben Sie einzutreten und sich auszuruhen! –
Mir schien es am besten, diese Einladung anzunehmen, ich zahlte den Kutscher aus und folgte dem Diener ins Haus. Er führte mich in einen artigen Salon, wo ein erfreuliches Steinkohlenfeuer Helle genug gab, um den Aufputz [42] des Zimmers zu erkennen. Zierliches Geräth, Bücher auf allen Tischen, eine schöne Harfe, Mappen mit Zeichnungen bewiesen mir das Streben nach Bildung in dessen Bewohnern. Mein zerschlagner Muth hob sich von neuem, ich untersuchte die Bücher – es waren meistens juristische Werke, daneben ein sehr zerlesenes Exemplar der neuen Heloise, ein Tibull – jetzt fiel mir ein großer Stricksack, der am Sopha hing, in die Augen, er mochte wohl ein halbes Dutzend paar Strümpfe enthalten, sie guckten obenheraus, und mit ihnen ein Gebetbuch. Die Mappen verriethen die beginnende Kunstfertigkeit der jungen Miß – ungeheure Blumensträuße in winzigen Körben, Landschaften mit Schweizerhütten – und überm Kamin ihr Gemälde, in der Stellung, den Horopipe zu tanzen. Ich betrachtete das alles mit sehr getheilter Aufmerksamkeit, weil ich von einem Augenblick zum andern den Eintritt [43] Herrn Henry's erwartete. Endlich hörte ich einen raschen Schritt unter den Fenstern vorbeigehen; ein Liedchen ward geträllert, und ein nachdrückliches Pochen verkündigte den Herrn vom Hause. Die Angst schärfte mein Gehör; ich vernahm, oder glaubte zu vernehmen, daß der Bediente meine Ankunft meldete, einige schnell auf einander folgende Fragen schienen mir Neugier ohne Verlegenheit zu beweisen, und darauf eilte der Fragende auf den Salon zu. Bei seinem Eintritt ins Haus war ich aufgesprungen, dann war mirs eingefallen, daß ich linkisch aussehen müßte, ließ ich mich stehend finden, also setzte ich mich wieder, mein Herz schlug hörbar, und es bedurfte der mir erst so spät erworbenen Herrschaft über meine äußern Bewegungen, um bei Herrn Henry's Eintritt mit Fassung zu erscheinen. Wahrscheinlich hatte die Abenteuerlichkeit meiner Ankunft im Hause, welche der Bediente [44] dem jungen Menschen berichtet haben mochte, ihm eine kurzweilige Bekanntschaft versprochen, sein Eintritt hatte wenigstens etwas Unachtsames, das bei meiner Annäherung einem Ausdruck von Erstaunen und ehrerbietiger Höflichkeit Platz machte. Er bestätigte die Aussage des Bedienten: Mistriß Murray hatte gar nicht daran gedacht, daß ich mich, bevor eine nähere Verabredung stattgefunden, auf den Weg machen könnte, und hatte deshalb nicht die geringsten Anstalten zu meinem Empfange getroffen. Der junge Mann, der bei ziemlich regelmäßigen Zügen schöne, große, schwärmerische Augen besaß und keineswegs, wie ich ihn mir vorgestellt, ein tölpischer Schulknabe, sondern ein schlanker, zierlicher Jüngling von achtzehn bis neunzehn Jahren war, suchte mich zu überzeugen, daß nichts natürlicher sey, als seiner Mutter Rückkehr in ihrem Hause ruhig abzuwarten. So ehrerbietig die Art war, [45] mit welcher er mir diesen Vorschlag that, lehnte ich ihn dennoch bestimmt ab, bat um die Adresse seiner Mutter, um ihr meine Ankunft zu melden und um ihre Befehle zu bitten, und forderte einen Miethwagen, um noch heute Abend ein anständiges Unterkommen zu suchen. Rücksichtlich des Erstern sagte er mir, daß die Post in dieser halben Stunde noch abgehe; einen langen Brief zu schreiben, sey daher unmöglich, er wolle dem seinen, der zum Siegeln bereit liege, die Nachricht von meiner Ankunft und meiner Verlegenheit noch hinzusetzen. Was aber meine Absicht, heute Abend noch ein Unterkommen zu suchen, beträfe, so wäre sie grausam gegen mich, gegen seine Mutter und gegen ihn selbst. »Wodurch«, sagte er mit dringend bittendem Ton, »hat meine Mutter verschuldet, daß Sie eine rücksichtslose Unfreundlichkeit in ihr voraussetzen? Wodurch zog ich mir die Weigerung zu, einen Abend nur meine Gesellschaft [46] zu dulden? Und endlich – und vor allem: wie können Sie wagen in später Nacht (es hatte wirklich zehn Uhr geschlagen) in einer unbekannten großen Stadt auf Geradewohl ein Unterkommen zu suchen?« – Wahrlich dieser Erinnerung bedurfte es nicht, um mir meine grausame Lage fühlbar zu machen! Ich hatte mit äußerster Anstrengung bei dieser Erörterung einen gefaßten Ton zu erhalten gesucht; bei Herrn Henry's letzter Frage wollten meine Thränen gewaltsam hervorbrechen, als der Ton seiner Stimme mir ein so bewegtes Gemüth von seiner Seite verrieth, daß ich, aufmerksam auf die Nothwendigkeit, hier meine Selbstherrschaft zu behalten, meinen Schmerz niederkämpfte und durch meine Einwilligung, diese Nacht die mir angebotne Gastfreundschaft anzunehmen, dem Streit ein Ende machte. Herr Henry befahl sogleich und mit einer Freude, die mir deutlich bewies, welchen Werth er auf meine [47] Einwilligung legte, das Schlafcabinet seiner Mutter zu meinem Empfang zu bereiten, und der übrige Abend verging in lebhaftem Gespräch über allgemeine Interessen. Noch nie hatte ich Gott so herzlich für ein sanftes Lager gedankt, wie diesen Abend, an dem ich doch nicht wußte, wo ich am folgenden Morgen einen Schutzort finden würde. Gott hatte mir heute eine Ruhestätte gegeben, alle meine Verstandeskräfte konnten die morgende nicht aussinnen; deshalb empfahl ich mich seiner Obhut und überließ mich der Erholung des Schlafs.
Herrn Henry's Empfang beim Frühstück war voll Ehrerbietung, aber nicht so gleichgültig, wie meine Verhältnisse es nöthig machten. Wie ich seinen Morgengruß mit der Bitte beantwortete, mir sogleich durch seinen Diener eine Person anweisen zu lassen, die mir eine Wohnung verschaffen könnte, antwortete er mit Bekümmerniß: wenn ich hartnäckig [48] die natürlichste Handlungsweise, die nahe Rückkehr seiner Mutter, oder ihre wahrscheinliche Bitte, sie in Portsmouth aufzusuchen, in ihrem Hause abzuwarten verweigerte, so schlüge er mir vor, eine ihrer in Edinburg verheiratheten Schwestern um Rath oder Beistand zu bitten. Das war ein Lichtstrahl in dem Dunkel, das sich vor meine Aussicht gelagert; ich widerlegte alle seine wiederholten Bitten um Abänderung meines Beschlusses und trieb ihn an, gleich nach dem Frühstück diese Tante für mich um ihren Schutz zu ersuchen. Er blieb lange aus; ich hatte Zeit, mich dem ängstlichsten Nachdenken zu überlassen, und wie er zurückkehrte, versicherte er mich, Mistriß St. Claire nicht zu Hause gefunden zu haben. Ich mußte mit seinem Versprechen, gegen den Abend noch einmal zu ihr zu gehen, mich begnügen und suchte meine Unruhe durch Gespräch und Harfenspiel zu zerstreuen. Mein Spiel entzückte [49] den jungen Mann, er äußerte die bitterste Klage über seiner Mutter Vergeßlichkeit, für den möglichen Fall meiner Ankunft keine Befehle gegeben zu haben. »Dann dürften Sie unser Haus nicht verlassen, Miß Percy, dieselben grausamen Ursachen, die Sie jetzt von mir treiben, gäben dem Bruder Ihres Zöglings dann ein Recht, Sie zu schützen.« – Ich wußte nun aus Erfahrung, wie nachtheilig es für unser Geschlecht werden könnte, Dinge als Scherz aufzunehmen, die einer ernsthaften Deutung fähig sind: ohne auf diese durch die Art des Vortrags noch bedeutenderen Worte zu antworten, begab ich mich, um das Gespräch abzubrechen, in mein Zimmer. Wie ich nach einer Weile wieder in den Saal gehen wollte, hörte ich eine fremde Stimme, die nach Herrn Henry fragte; dieser trat aber sogleich aus dem Sprechzimmer heraus und rief lebhaft dem Eintretenden zu: »So eben wollte ich zu Dir [50] schicken. Du mußt mit mir zu Mittag essen, ich will Dir die Bekanntschaft eines Engels verschaffen.« – »Ein Engel? hier im Hause?« – »Hier im Hause, meiner Schwester Erzieherin.« – »Mit der hältst Du indeß Haus? Das wird Deine Mutter ungemein erbaulich finden. Hat die's so bestellt?« – »Gott, nein! sie weiß nichts von ihr ...« Darauf sprach er leise, ihn von der Treppe hinwegführend. Ich wußte nun genug, um meine Unentschlossenheit zu beenden. Gedemüthigt, der Gegenstand der Bewunderung von ein paar Collegienschülern zu seyn, beschloß ich sogleich, ihre Aussicht auf das Mittagsmahl zu hintergehen. Auf meine Bitte und durch das Geschenk einer halben Guinee in mein Interesse gezogen, ging die Hausmagd sogleich, mir bei rechtlichen Leuten eine kleinen Wohnung zu suchen und einen Miethkutscher zu holen, der mich und mein Gepäck augenblicklich dahin abführe. Sobald beides erlangt [51] war, begab ich mich in das Besuchzimmer von Herrn Henry, um Abschied zu nehmen. Er war äußerst bestürzt, aber sein junges Gemüth hatte noch die schätzbare Zartheit, die dem Betragen bei halb bewußter Schuld die Sicherheit raubt. Der Besuch sei nes Freundes, die Einladung an ihn hatte ihm die Zuversicht, mit der er noch heute früh mich in seiner Mutter Hause zurückhalten wollte, vermindert, er bat mich niedergeschlagen, nur so lange zu verziehen, bis er noch einmal Mistriß St. Claire aufgesucht habe. Ich versicherte ihm meine Absicht, ihr selbst meinen Besuch machen zu wollen, ließ mir ihre Adresse geben und fuhr nach meiner neuen Wohnung ab.
Mir war wohl, wie ich von meinem kleinen Zimmer, das Wohn- und Schlafstätte zugleich war, Besitz genommen hatte. Ich fühlte neuen Muth gegen die Außenwelt, nun ich mir in meinem Innern das Zeugniß, recht gethan zu [52] haben, ablegen konnte. Der einsame Abend ward angewendet, um beim Schein meiner einzigen dünnen Kerze an Mistriß Murray zu schreiben. Lange stritt ich mit mir selbst, was die Redlichkeit mir geböte, ihr zu sagen. Die Verlegenheit, in die mich ihre Abwesenheit gesetzt hatte, war meine Schuld, denn sie hatte mich nicht abzureisen eingeladen, ich hatte also gar keine Ansprüche an sie, mußte mich ihr gleichsam von neuem nur anbieten. Dieser Schritt war aber wegen ihres Sohnes schnell gefaßten Wohlgefallens an mir reiflich zu überlegen. Herrn Henry's Vergaffung war unzweifelhaft, daß aber diese bei einem zwanzigjährigen Rechtscandidaten nicht als eine dauernde Leidenschaft zu behandeln sey, sagte mir meine Vernunft, daß aber Vorsicht und Anstand verböten, durch meinen Eintritt in seiner Mutter Haus diese Vergaffung zu unterhalten, ihn von seinen Studien zu zerstreuen, seinen Eltern Unruhe zu [53] bereiten, sagte mir mein Gewissen und mein Zartgefühl. – Was war da zu thun? – Der Mutter selbst zu melden, daß ihr Sohn meine Schönheit bewundre, wäre eine Albernheit; die Aussicht, in ihre Familie aufgenommen zu werden – die einzige, die mir in meiner verlassenen Lage vergönnt war – von mir zu weisen, wäre ein Verrath an mir selbst gewesen und hätte Herrn Henry's Gefühlen zu viel Wichtigkeit beigelegt. Ich half mir mit einem Mittel, das mir jetzt ein bischen jesuitisch scheint, damals aber Entschluß eines reinen Willens war und mir deshalb auch keine Reue gekostet hat. Ich beschloß, mich zu Mistriß St. Claire zu begeben und ihren Rath zu erbitten; gewiß würde sie ihrer Schwester ein Wort über meine Gestalt schreiben, wenn ihr dieses keine Unruhe über die Sicherheit von ihres Sohnes Herzen einflößte. So glaubte ich bei der redlichen Absicht, jedes nähere Verhältniß mit ihm zu meiden, [54] die Freistätte, welche mir Miß Murray's Haus versprechen könnte, annehmen zu dürfen. In diesen Gesinnungen verfaßte ich meinen Brief; ich meldete auch meinem gütigen Pfarrer meine Ankunft in Edinburg und die Unannehmlichkeit, die mich daselbst betroffen; und so war die Stunde herbeigekommen, die mich jetzt ein Bedürfniß trieb im Gebet zu Gott und mit Prüfung meines eignen Herzens zuzubringen. Sie gab mir den Seelenfrieden, in dem man vertrauensvoll sich der Erquickung des Schlafes überläßt.
Früh am folgenden Morgen kam Herr Murray, und drei Stunden verflogen in lebhaftem Gespräch, wodurch mir aber das Unziemliche meiner Verhältnisse gegen diesen Jüngling nur auffallender wurde. Sobald er mich verlassen hatte, suchte ich Mistriß St. Claire auf. Ich fand eine hagere, lange, ältliche Dame in einem ziemlich engen, hochlehnigen [55] Armstuhl mit dem Ausnähen eines großblumigten Musters in Linon beschäftigt. Sie ließ mich ziemlich weit im Zimmer vortreten, stand dann auf, wodurch sie sich nothwendig einen Schritt vorwärts bewegen mußte, und wie sie ihre ganze Höhe erreicht hatte, hörte ich den dicken, steifen Troguet ihres dunkelbraunen Kleides etwas rascheln, woraus ich schloß, daß sie eine Art von Verbeugung gemacht haben müßte – sichtbar war sie mir nicht. »Herr Murray hat, wenn ich recht verstanden habe, die Güte gehabt, mich zu melden«, sagte ich schüchtern. Die Dame blickte nach einem Stuhl, ich hielt das für eine Einladung, mich zu setzen, rückte ihn herbei und nahm Platz. »Es ist sehr unglücklich für mich, Mistriß Murray nicht zu Hause zu finden«, nahm ich, da keine Antwort erfolgte, von neuem das Wort. – »Hum ...« tönte es ganz dumpf, und die Stille blieb ununterbrochen. »Sie verließ[56] Schottland sehr unerwartet.« – »Sehr unerwartet.« – Wieder eine Pause. »Ich hatte meine Herreise unglücklicherweise schon angetreten, ehe ich es erfuhr.« – »Das war schlimm.« – »Sie wird doch nicht lange abwesend bleiben?« – »Davon weiß man nichts.« – »Vielleicht wünscht sie nicht, daß ich ihre Rückkehr erwarte?« – »Das weiß ich nicht.« – Bis diesen Tag hatte ich kalte Abwehr jeder Theilnahme noch nicht kennen lernen. Ich hatte gewaltsame Unglücksfälle erlebt, war in höchst ängstlichen Verlegenheiten gewesen, aber die drückenden Verletzungen des Gemüths in gemein ruhigen Verhältnissen des Lebens waren mir noch unbekannt. Mein Gemüth hatte sich zu Gott gewendet, aber mein Verkehr mit ihm – daß dieser triviale Ausdruck mir vergönnt sey! – war ein Feiertagsdienst; ich hatte seine Hülfe in so wichtigen Momenten erfleht, daß es mir Entweihung [57] seiner Größe schien, diese Hülfe bei den Dingen des gewöhnlichen Verkehrs zu verlangen. Das war Folge der noch mangelhaften Erkenntniß von dem wahren Werth des Lebens in mir, indem jeder Augenblick Fortschritt auf derselben Bahn zur Ewigkeit ist. Jetzt kämpfte in meiner Brust mein über so unerhörte Theilnahmelosigkeit empörtes Gefühl mit dem Urtheil meines Verstandes, ihr nur Gleichgültigkeit entgegensetzen zu sollen. Der Verstand siegte, ich athmete tief und fragte Mistriß St. Claire: ob sie mich nicht, im Fall Mistriß Murray meiner Dienste nicht bedürfe, in eine andere Familie als Erzieherin empfehlen würde. – »Das wird schwer seyn. Die Leute nehmen keine Fremde.« – »Die Empfehlung, welche Mistriß Murray's Wahl lenkte, würde auch hier gelten.« – – – Doch wozu dieses Gespräch wiederholen? Ich schied von dieser Frau ohne die mindeste Hoffnung, durch sie [58] Hülfe zu erlangen. Wie oft, indem ich meinen Weg einsam nach meiner Wohnung zurück nahm, glaubte ich in den Gesichtern, die an mir vorbeigingen, bekannte Züge zu entdecken! Ein paar Mal stockte mein Herz vor Entzücken bei dem raschen Schritt, den eine bekanntere Gestalt auf mich zu zu nehmen schien. Könnte mir denn Gott nicht einen Retter senden wollen? fragte ich mich, wenn meine Vernunft meine thörichte Hoffnung zurechtweisen wollte. – Aber fremd und ohne Theilnahme eilten die Menschen an mir vorüber, und ich kehrte einsam in mein einsames Zimmer zurück. O wer in dem verlassensten Winkel des Erdbodens nur ein Wesen hat, zu dem er sagen kann: die Einsamkeit ist süß! der weiß es nicht, wie freudenlos eine Wohnung ist, in der wir nicht hoffen dürfen, daß auch nur eine einzige theilnehmende Seele anklopfen werde. –
Ich wußte also nun, daß die Beantwortung [59] meines Briefs an Mistriß Murray meine letzte Hoffnung entschied, aber auch daß jede Rücksicht erfordre, den Besuchen ihres Sohnes fortan zu entsagen. Man meine doch nicht, daß es bei dem rationellen Standpunct, wohin ich gelangt zu seyn wähnte, unmöglich ein so großes Opfer hätte seyn können, auf die Besuche eines vergafften Studentchens Verzicht zu thun. Nicht weil er das war, aber weil er das letzte gebildete Wesen war, durch das ich mit einer Welt, für die ich gebildet und erzogen wurde, zusammenhing, kostete es mir ein ernstes Opfer, seine Besuche nicht mehr zu gestatten. Von nun an brachte ich eine lange Woche in völliger Einsamkeit zu. Der Gang in die nahe Kirche war die einzige Gelegenheit, bei welcher ich die Gasse betrat. Meine Hauswirthin stellte mir den Nachtheil dieser Lebensweise für meine Gesundheit vor und bewog mich endlich, meiner Sehnsucht nach Bewegung [60] und Luft nachgebend, sie eines Tags bei einem Ausgang zu begleiten. Es that mir unendlich wohl, die freie Luft zu athmen, in größerm Umfang, wie in den engen Gassen, den Himmel über mir, die erleuchteten Berge um die Stadt her zu erblicken. Wie wir nach Haus zurücklenkten, erblickte meine Hausfrau an der Thür eines Hauses ein scharlachrothes Fähnchen, auf dem mit großen Buchstaben die Worte standen: »Hier wird ausgepfändet.« Sie sagte mir, das verkündige einen Verkauf von Hausgeräth, da könne man oft wunderwohlfeile Sachen bekommen, ich möchte doch ein bischen mit ihr hineintreten. Mir graute vor dem dunkeln Eingang, allein meine Lage erlaubte mir, nicht sehr schwierig zu seyn, deshalb folgte ich ihr nach durch einen finstern, schmuzigen Gang eine hohe, steile Treppe hinauf, auf einen langen Gang, dessen kleine Fenster auf einer Seite schwarze spitze Giebel erblicken ließen, [61] auf der andern Seite aber mehrere Thüren in Zimmer führten, die in eine Menge Wohnungen sehr armer Leute eingetheilt zu seyn schienen. Das erste Zimmer einer dieser Abtheilung war so von Leuten angepfropft, daß sie auch den Gang vor den Thüren besetzt hielten und es mir unmöglich machten, meiner Hausfrau zu folgen. Indem ich wartete, um durch den Haufen dringen zu können, gewahrte ich ein kleines Kind auf den Armen einer höchst ärmlich gekleideten Frau, das mit Wangen, auf denen die schönste Gesundheitsröthe prangte, aus seinen glänzenden Augen einen schüchternen Blick auf mich warf, dann sein Köpfchen von der Mutter Schultern aufhebend, lächelnd auf mich hinsah. Seine Mutter aber lehnte, wie es schien, in Kummer versunken, ihren Kopf an das Fenster. Ich hätte sie gern angeredet, aber ihr Schmerz gebot mir Zurückhaltung, denn ich war ja meiner Mittel, ihr zu helfen, nicht [62] gewiß. Indem kam ein eben so ärmlich gekleidetes Weib, wie sie selbst, schlug sie gutmüthig plump auf die Schulter und sagte: »Seyd doch gefaßt! es ist schon manch einer ausgepfändet worden.« – Meine arme Frau, die bei dem derben Gruß der Nachbarin ihre Thränen getrocknet und sich freundlich aufgerichtet hatte, verhüllte von neuem schluchzend das Gesicht in ihre Schürze. Ich wendete mich nun an die Nachbarin, um mehr von der Weinenden zu erfahren, und hörte, daß Cecile Graham, so hieß die Trauernde, die Frau eines Soldaten sey, der aus der von jeher den Bergschotten fest eingewurzelten Liebe für ihr Stammoberhaupt, sein Heimathsthal verlassen hatte, um der Fahne seines Häuptlings zu folgen. Ungern blieb seine Gattin zurück und nährte sich seitdem in der Hauptstadt hinreichend mit ihrem redlichen Fleiß. Endlich den Tag vor dem Miethsziel, wo sie alle ihre[63] ersparten Pfennige schon zusammengelegt hatte, um sie den nächsten Morgen dem Hausherrn zu bringen, brach ein Dieb ihren Kasten auf und raubte ihr die mühselig gesammelte Summe. Unfähig, sich auf eine andre Weise bezahlt zu machen, gebrauchte der Hausherr sein Recht, ihre Habseligkeiten zu seiner Abzahlung zu verkaufen. »Und will er dieses arme junge Geschöpf freundlos in die Welt hinausstoßen?« rief ich mit inniger Theilnahme. »Gott verzeihe ihm das!« – »Mir mangelts nicht an Freunden, Ihre Gnaden«, sagte die Weinende in echt schottischer Mundart, aber viel weniger rohem Ton, wie ihre Nachbarin, »alles Gewässer des Brearde kann mein Blut nicht von des Lords Verwandtschaft waschen.« – »Welches Lords?« fragte ich, über den emphatischen Ausdruck lächelnd. »Erdines selbst, Lady, sein Großvater und meine Urgroßmutter waren Geschwisterkinder.« – »Thut denn der Lord nichts [64] für seine Verwandten?« – »Das würde er, und er ist nicht der Mann, der den Bittenden ohne Hülfe läßt.« – »Warum wendet Ihr euch denn nicht an ihn?« – »Wahrlich, Lady, ich will den Lord nicht belästigen; er könnte denken, ich meine, er müsse mich füttern, weil Jemmy mit Herrn Kenneth fortgezogen ist – das begreifen Sie.« – »Was wollt Ihr aber thun? wollt Ihr euch alles nehmen lassen?« – »Könnte ich nach den Hochlanden zurück, so würde alles andre schon gehen. Ueberfluß sind wir nicht gewohnt – ich hätte auch alles hergeben wollen, nur nicht das Stückchen Tuch, das ich, uns hinein zu wickeln, mit eignen Händen gesponnen.« – »Wie Euch hinein wickeln? was soll das bedeuten?« fragte ich, weit entfernt, den Sinn ihrer Worte zu fassen. – »Nun ja! Jemmy und mich einwickeln, mit Erlaub, wenn man uns zur Ruhe trägt. Und ein hübscher Stückchen Flächsen konnte man [65] nicht sehen. Ihre Gnaden selbst hätten drin ruhen können, ja Miß Graham in eigner Person.« – Anfangs glaubte ich wirklich, die gute Frau rede irre, aber bald schämte ich mich meiner Unfähigkeit, in das Gefühl eines Armen einzugehen. Wie sich die menschlichen Wünsche auf ein gutes Bahrtuch beschränken könnten, begriff ich nicht gleich, aber das Ansehn der Frau sprach für ihren gesunden Verstand. Ihre klare breite Stirn und nahe über die Augen gezognen Braunen, von blitzend lebhaften Augen begleitet, verriethen kühle Klugheit, ihre festen scharfen Züge, ob sie gleich von der nationalen Backenbreite entstellt wurden, zeichneten sie unter den gemeinen Gesichtern der umstehenden Weiber aus. Ich fragte sie darauf, wie weit ihre Heimath entfernt sey. »Hörten Sie je von einem Ort, der Glen Enradine heißt? Er mag etwa hundert Meilen und ein Eckchen weiter von hier nach Norden und Westen hin [66] liegen.« – »Und so weit wolltet ihr in dieser Jahrszeit reisen?« – »Wenn es Gottes Wille wäre. Hier und da müßte ich, mit Erlaub, wohl guter Menschen Beistand erbitten. Viel mitzunehmen habe ich nicht. Da das Kind an meiner Brust und ein Päckchen Tabak, den ich für meine Mutter gesammelt; mein Knabe ist derb, Gott segne ihn! der liefe denn auch manchmal ein Stückchen neben her.« – Ich ärgerte mich anfangs an dem Almosenbitten, späterhin habe ich's bei diesem Bergvolk ganz anders ansehn lernen. Unter wahrhaft einfachen Menschen ist das Hülfebitten des Reisenden ein letzter schöner Nachhall alter Väter-Sitte, der zufolge des Gastes Einkehr ein Segen des Herrn war. Cecile erkannte es nicht für das, aber sie trat unbedenklich in die einfachen Menschenrechte zurück, da wo einfache menschliche Bedürftigkeit sie überwältigte. »Warum wendet ihr euch nicht an's Kirchspiel?« fragte ich weiter. – [67] »An das Kirchspiel? an die Armenbüchse? Gott wird mich ja davor behüten! Kirchspiel! Nein, nein! wie groß unsre Noth ist, dahin wird sie uns nicht treiben.« – Thränen drangen aus ihren Augen, sie herzte ihr Kind und rief: »Du gutes liebes Thierchen 2! eher soll es dir und deiner Mutter an Dach und Fach fehlen, ehe sie dir diese Schmach bereite, indeß dein Vater so weit weg ist.« – Es kostete mir Mühe, die gute Frau zu überzeugen, daß ich sie nicht beleidigen gewollt, da nach den englischen Sitten die Unterstützung des Kirchspiels gar nichts Entehrendes hat. Jetzt kam aber eine Nachbarin und meldete ihr, daß so eben ihr Stückchen Tuch in Aufstrich gebracht werden sollte. – »Nun in Gottes Namen!« rief sie und brach auf's neue in Thränen aus, »so mögen sie mich denn in die blose Erde [68] legen! – Die Pfund-Note will ich nicht anbrechen.« – »Ihr habt also noch Geld?« fragte die Nachbarin. – »Ein Pfund, das Jemmy seiner Mutter bestimmte, und das ich ihr noch nicht habe schicken können.« – Ich war zu lang an Reichthum gewöhnt gewesen, um Almosen weise zu verwenden, allein die heldenmüthige Entsagung, mit der diese Frau fremdes Eigenthum ehrte, riß mich hin, ich drängte mich in die Versteigerungsstube, kaufte das Stückchen Leinwand, brachte es Cecilen zurück und erinnerte mich erst jetzt, daß ich, ohne ihr einen wesentlichen Dienst geleistet zu haben, ein für mich höchst empfindliches Opfer gebracht hatte. Die Zeit, wo ich Beifall gab, wenn eine schöne Empfindung meine Seele erhoben hatte, war vorüber, daher legte ich meinem Eifer, Cecilens Wunsch zu befriedigen, keinen Werth bei; ich hätte mit eben dem Gelde ihre Lage wirklich erleichtern können; – und [69] sollte ich das nun versäumen? Diese Mutter mit ihrem Säugling auf den Armen, so fern von ihrer Heimath, schien mir so viel ärmer, als ich, daß es mir grausam bedünkt hätte, ihr nicht zu helfen. – Ich kaufte ihr nothwendigstes Hausgeräth für sie zurück, verschaffte ihr ein Unterkommen, in dem sie eine mildere Jahreszeit abwarten konnte, und kam nun so arm nach Hause, daß mir nur kärglich noch für eine Woche Lebensunterhalt übrig blieb.
Ich habe bemerkt, daß es nicht die Erinnerung an gute Handlungen ist, die uns in trüben Tagen Muth gibt. Denn wenn wir in ruhigen Stunden unsre besten Handlungen genau überlegen, so bleibt wohl keine übrig, die aus völlig reinen Beweggründen geschehen wäre, wenn auch im Augenblick selbst ein schöner Enthusiasmus uns erhoben hätte. Wenn unsre Weisheit, oder was einerlei ist, unsre Kraft wankt, so ist ein bedingungsloses Vertrauen in [70] das höchste Wesen, mit dem Bewußtseyn, das Gute gewollt, wenn auch nicht erreicht zu haben, unsre sicherste Stütze. Das erfuhr ich jetzt in den Tagen, die noch bis zur Ankunft von Mistriß Murray's Antwort auf meinen Brief vergingen, und noch mehr, wie diese mir sagte, daß sie, durch des Capitains wankende Gesundheit gezwungen, ihm mit ihrer Tochter in ein wärmeres Klima zu folgen, meiner Dienste gar nicht mehr bedürfe. Sie beklagte meine vergebliche Reise und verwies mich zu weiterer Beförderung an ihre Schwester, Mistriß St. Claire. Anfangs verwarf ich diese Schutzempfehlung auf das unwilligste; das Andenken des herzlosen Empfangs dieser Frau war mir noch zu neu; aber was sollte ich thun? Freund- und geldlos, wie ich war, mußte ich meinen Widerwillen bekämpfen und sie nochmals aufsuchen. Wahrlich, sie hatte sich nicht geändert, und der äußerste Grad der Hülflosigkeit[71] hatte mich wohl zu größerer Nachgiebigkeit entschlossen, aber nicht fühllos gemacht. Mit eben der unerschütterlichen Theilnahmlosigkeit, wie das vorige Mal, erklärte sie mir ihre Abneigung, sich meiner anzunehmen, eben so die Unwahrscheinlichkeit, daß es mir gelingen könnte, ein Unterkommen zu finden, und schloß damit, daß, zu meinen Freunden zurückzukehren, für mich wohl das Beste seyn würde. – »Wenn das möglich wäre«, sagte ich, indem mir die Thränen in die Augen stiegen, »so würde ich Sie wohl nie mit meinem Besuche beschwert haben.« – »Hm! so fehlt es Ihnen wohl an Reisegeld?« – Gern hätte ich diese übermüthige Frage mit aufwallendem Stolze beantwortet, aber ich war von der Heftigkeit meiner Empfindungen der Stimme beraubt. – »Ich mag fremden Leuten zwar nichts vorschießen, da aber meine Schwester in die Sache verwickelt ist, so gebe ich Ihnen hier fünf Pfund, [72] mit denen Sie Ihre Reise bis London bestreiten können.«
So lange über ein Jahr hatte ich nun gearbeitet, meinen Stolz zu beherrschen, und jedes Mal, daß er angegriffen ward, hatte er noch meiner Vernunft die Herrschaft erschwert. So wie sonst die Zuversicht auf meine eingebildeten Vorzüge mich in meinem thörichten Wahn auf eine höhere Wesenstufe gestellt hatte, so fühlte ich jetzt dieser fühllosen Frau gegenüber mich in der Würde meines Unglücks gekränkt; der Sturm meiner Empfindung brachte mein Blut in so eine heftige Wallung, daß ein heftiges Nasebluten mir vielleicht ein gefährlicheres Uebel ersparte. Unfähig zu jeder Ueberlegung, eilte ich aus Mistriß St. Clairens Zimmer und kam erst in der freien Luft wieder zur Besinnung zurück. Die gutmüthige Neugier des Edinburger Volks setzte mich in eine neue Verwirrung: Männer und Weiber versammelten sich [73] zahlreich um mich, boten mir Hülfe an und thaten Fragen über die vermuthliche Ursache meines Zufalls. Ich flüchtete in den einzigen sich in der Nähe befindlichen Laden und eilte, sobald sich die Menge verlaufen hatte, nach Hause. Es bedurfte nur des gleichern Schlags meines geängsteten Herzens, um mir die Unziemlichkeit, ja das Unrecht meines Betragens einsehen zu lassen. Ich behandelte mich selbst wie ein krankes Kind, dem man die Veranlassung, sich zu schaden, ganz aus dem Weg räumt; ich drängte alle meine persönlichen Empfindungen jetzt zurück und fragte mich ganz einfach, ob, die Widrigkeit ihrer äußern Erscheinung abgerechnet, Mistriß St. Claire meine Vorwürfe denn wirklich verdiene. Sie, die ich für eine fühllose Frau hielt, hatte die gemeine Pflicht der Menschlichkeit gegen mich erfüllt, ich aber, die nach einer höhern Bildung strebte, hatte das Beispiel unsers erhabensten Lehrers [74] sehr schlecht gegen sie beobachtet. Gedemüthigt in meinen Augen durch meine Schuld, nicht durch Mistriß St. Clairens Mißhandlung, eilte ich den Schritt zu thun, den Menschenliebe und Klugheit gebot; ich entschuldigte in einigen Zeilen an Mistriß Murray's Schwester mein störrisches Betragen, begründete aber die verweigerte Annahme ihres Geschenks auf eine Art, die nicht ganz von dem Gefühl frei war, das meinen Busen in ihrer Gegenwart geschwellt hatte – doch das rachsüchtig bittre Gefühl, das mich in jenem Augenblick empörte, war aus meiner Seele gewichen. Ist nun einer und der andre unter meinen Lesern, der in diesem Wechsel der Empfindung noch keine Selbstherrschaft in meinem Urtheil über Mistriß St. Claire, keine evangelische Milde erkennen will, den warne ich, daß er durch überlegnere Siege über sein individuelles Gefühl nicht in geistigen Hochmuth, durch vorgebliche Feindesliebe nicht [75] zu heuchlerischer Bemäntelung seiner innern Gehässigkeit hingerissen werde.
Da es nun durchaus nothwendig geworden war, Mittel zu meinem Lebensunterhalt zu suchen, so beschäftigte ich mich mit der Verfertigung einiger artigen Kleinigkeiten, wie ich sie während meines Aufenthalts bei Miß Mortimer, zwar mit wenig Vortheil, aber doch mit einigem Erwerb verkauft hatte; allein leider war damals in Edinburg noch keine Verkaufsanstalt für weibliche Betriebsamkeit eröffnet. Jetzt verließ mich mein froher Muth. Ich zweifelte keinen Augenblick an Gottes Fürsorge, ich rief mir die Gelegenheiten zurück, wo sie mich aus drohenden Uebeln errettet hatte, aber mein Kopf schmerzte mir von vergeblichem Sinnen, auf welchem Wege Auskunft aus meinem Elend zu finden sey, bis Thränenströme seine Spannung erleichterten. In einem solchen Augenblick hörte ich eines Morgens Herrn Murray bei [76] meinen Hausleuten nach mir fragen. Es waren nun Wochen vergangen, ohne daß der Anblick eines theilnehmenden Wesens mich erinnert hatte, mein Wohl oder Wehe könne noch irgend Jemandes Aufmerksamkeit erregen; eben so lange hatte ich den Austausch vernünftiger Gedanken, ja den Laut gebildeter Stimmen entbehrt. Mit klopfendem Herzen zwang ich mich demnach, das meiner Hausfrau gegebne Gebot, diesen jungen Mann abzuweisen, erfüllen zu lassen; aber freilich empfand ich dabei einen Kummer, den der Gegenstand an und für sich selbst nicht hervorrief und nicht verdiente. Indem ich, meine Gedanken zu zerstreuen, trostlos in meinem kleinen Zimmer umherschaute, erblickte ich mein eignes Bild in dem kleinen Glase, das über meiner einzigen Wäschcommode hing: es zeigte mir eine so zerschlagne Geistergestalt, daß ich froh war, nicht so vor meines Bewunderers Augen erschienen zu seyn. Jedes [77] junge Geschöpf, das, einst blühend und bewundert, durch frühes Unglück sich vor der Zeit verblühen sah, kann wohl nicht dem bittersten Schmerz entgehen; aber mir, die ehemals in dieser Bewundrung ihr ganzes Glück gefunden, mir, deren Gefühle, so lange in eiteln Bestrebungen unangeregt geblieben, jetzt erst sich zur edlern Thätigkeit entwickelten, mir war's vielleicht zu verzeihen, wenn ich meine erloschnen Augen, meine erblaßten Wangen für einen grausamen Raub ansah, den das Schicksal an mir beging.
Das einzige menschliche Wesen, das ich jetzt zuweilen aufsuchte, war Cecile Graham mit ihren blühenden Kindern. Wie ich den Ekel vor der Unordnung und dem Schmuz ihrer Wohnung überwunden hatte, fand ich bei ihr so viel Zeitvertreib, wie in den meisten zierlichen Gesellschaften. Ich studirte den Menschen in ihr. Sie war ein Gemisch von gesunder Vernunft [78] und Aberglauben, augenblicklichem Geize und herzlicher Freigebigkeit, scharfsinnigem Beobachtungsgeist und romantischer Fantasie. Alles, was sie sah und hörte, erinnerte sie an eine alte Begebenheit irgend eines tapfern Grahams, oder an die Einwirkung eines Gespenstes oder einer Elfe. Das Andenken an Maitland, dem mancher meiner Augenblicke geweiht war, brachte mich auf den Gedanken, von Cecile die Gaelische Mundart zu erlernen. Mich selbst verspottend, dachte ich mir seine Ueberraschung, wenn ich ihn einst wiedersähe und ihn in seiner Landessprache – von der ich freilich nicht wußte, ob er sie noch verstehe – begrüßen könnte. Indeß Cecile an ihrem Spinnrade saß, ließ ich mir alle möglichen Gegenstände von ihr benennen und schrieb mit einem ungeheuern Aufwand von Selbstlautern die Aussprache auf. Cecile, welche keinen Begriff hatte, daß eine Arbeit ihren Lohn in sich selbst haben könnte, war [79] sehr neugierig, meine Absicht bei dieser Anstrengung zu erfahren; doch fragte sie mich nicht unmittelbar darum, sondern suchte mich durch Umschweife auszufragen. »Sie wollen wohl selbst in's Hochland gehen?« fragte sie mich einst mit ihrem hellen durch dringenden Blick. Ich versicherte sie, das falle mir nicht ein. »Sie könnten einen braven Mann nehmen, der Sie dahin brächte«, sagte Cecile weiter und setzte mit einer Andacht, als habe sie mir die höchste irdische Glückseligkeit gewünscht, hinzu: »und das gebe Gott!« – »Ich danke, Cecile, ich habe aber keine Aussicht dazu.« – »Das können Sie nicht sagen. War doch Lady Eredine selbst – mit Erlaub – nichts Bessers, als eine Südländerin.« – Ich mußte lachen, denn Cecile sagte ihr »Erlaub« nur, wenn sie etwas Unanständiges zu entschuldigen zu haben glaubte. – »Wie kam der Lord zu so einer Frau?« fragte ich. – »Es war des Himmels Wille: er konnte, [80] sie nicht lassen, und Herrn Kenneth ist's, wenn er leben bleibt, wie's Gott gefallen möge! auch vorbehalten, eine Landsmännin von Ihnen zu freien.« – »Habt Ihr Ahnungen, Cecile, daß Ihr wißt, was Herrn Kenneth bevorsteht?« – »Nein, Lady, ich sah nie etwas Ungewöhnliches; aber wir haben in unsrer Gegend einen Spruch, der sagt: ›Eine Rehkuh, die aus der Fremde kam, das beste Lager in Glen Eredine nahm‹, und der weiseste Mann in Killifoildich, und das ist Donald Macjan, sagte mir, die schönste Sachsen-Blume würde in der Halle von Castell Eredine grünen und blühen.« – »Das ist eine hübsche Weissagung. Da sollte ich lieber gleich nach Eredine gehen, mein Glück zu versuchen.« – »Darüber ist gar nicht zu lachen«, fuhr Cecile ernsthaft fort. »Niemand weiß, wo ihm sein Glück blühen wird. Herr Henry selbst könnte Sie wählen, wenn er wüßte, welche gute Dame Sie sind.« – Dieser Herr Heinrich aber [81] war Cecilens Held; sie räumte zwar Herrn Kenneth, als dem ältesten Sohn, die erste Stelle in ihrer Ehrerbietung ein, allein ihre herzliche Liebe war Heinrich geweiht. Sie hatte mir so viel von ihm, seiner fröhlichen Kindheit, seinem Muth, seiner Abhärtung auf Jagd, bei Seestürmen und allen Gefahren erzählt, daß er mir wie ein alter Bekannter vorkam, und ich, auf Cecilens Wort, alles Gute und Große von ihm erwartete. Allein dieser ihr Abgott besuchte seine Heimath nur zufällig und verstohlen. Die Ursache, warum ein Bergschotte, dem das Feuer seines eignen Heerdes flammte, dem ein betagter Vater jedesmal mit Sehnsucht entgegen sah, in der Fremde lebte, wollte mir Cecile anfangs nicht deutlich erzählen; wie sie aber meine Theilnahme an ihrem jungen Laird gehörig erprobt zu haben glaubte, gab sie mir folgenden Bericht.
»In der Michaelsmesse mag es gegen zwanzig [82] Jahr seyn«, erzählte sie, »als Leute vom Clan Alpine, der, mit Erlaub, nicht viel taugte, die Kühe von Glen Eredine hinwegtrieben, alle, sogar Lady Eredines eigne Kuh, die nach der Lady selbst Lady Eredine hieß. Sie können denken, ob die Erediner das ruhig mit ansahen. Herr Kenneth hielt sich des Studirens wegen in der Stadt auf, deshalb war's nicht seine Schuld, daß er nicht für uns focht, aber Herr Henry, er sollte eben auch dahin abgehen, der bat so lange und so dringend, daß ihm der Lord endlich seinen Willen ließ. Donald Macjan stand beim Abschied zunächst an des Lairds Lehnstuhl: ›Knabe‹, sagte er und legte seine Hand auf Henry's Kopf, ›du wirst Glen Eredine keine Schande machen und nicht mit leeren Händen heimkehren.‹ Dabei wandte er Donald einen Blick zu, als wollte er sagen: ›Du bleibst ihm zur Seite‹; und Donald sagte mir, ihm habe sein Herz hoch geschlagen, und er habe [83] gedacht: zu kleinen Stückchen sollen sie mich hacken, ehe ich einen Zoll von ihm weiche. – Da zogen sie aus: Donald und noch drei, weil Herr Henry sagte, er wolle nur, was er brauche, denn so klug war er, wenn gleich fast noch ein Kind. Er zog nun der Spur des Viehes nach, durch Moor und Haide, wie ein gemachter Mann nur gekonnt hätte. Augen hatte er, wie ein Adler, und machte den ganzen Tag keine Rast, auch nur, um einen Bissen Brod in den Mund zu stecken, obschon seine Zähne damals länger waren, wie sein Bart; Nachts wickelte er sich in seinen Plaid und legte sich mit den Andern auf den Boden, wie es mancher wackre Laird that, als die Gasthöfe und Kutschen und dergleichen Hätscheleien noch nicht Sitte waren.
Gut; früh war er vor den Rehen schon wach, und wie er beim Morgendämmern von Bouoghrin herab steigt, sind die Erediner Kühe, [84] Lady Eredine an ihrer Spitze, das Erste, was er sieht. Neil Roy, Calum Dubh und ein paar Andre, die, mit Erlaub, eben so wenig nutz waren, hüteten sie, und mancher Andre mochte etwa in den Büschen versteckt seyn. Damals waren's üble Zeiten. Die rothen Soldaten waren kurz vorher eingebrochen und hatten unsern Männern ihre Wehren genommen, so daß der, welcher geboren war, Schwerter, Schilde und Dolche zu besitzen, genug, um den ganzen Glen Eredine zu bewaffnen, keine Waffe in seiner Hand hielt, als den Haselstock, den er von seiner Hecke geschnitten. Aber ein Graham, Lady, packt seinen Feind, wenn ihm der Tod auch schon die Finger lähmt. Herr Heinrich stand, wie's ihm zukam, vornan und gebot Neil Roy, das Vieh friedlich wieder herauszugeben. Aber dieser Schelm, mit Erlaub, war so frech, des Lairds Sohn zu antworten, ›was er genommen hätte, wolle er [85] behalten.‹ – ›Wenn Du's im Stande bist!‹ sagte Herr Heinrich, und Neil schlug vor, es sollten die fünf Erediner sich fünf seiner Leute aussuchen und mit ihnen kämpfen. ›Topp!‹ rief Herr Heinrich, ›ich wähle Dich, und Schmach dem Erediner, der nicht den stärksten Feind wählt!‹ – O Lady, wenn Sie hörten, was Donald von diesem Kampf sagt, das Blut würde in Ihren Adern erstarren! Herr Heinrich hielt sich so tapfer, daß Neil, ungeduldig, dem Ding gar kein Ende zu sehen, seinen Dolch zog, um ihn in unsers lieben Lammes gutes Herz zu stoßen; doch er fuhr ihm nur ganz leicht in den Arm. Wie aber Donald ihn bluten sah, ließ er seinen Gegner, sprang dem Neil an die Kehle und würgte ihn mit beiden Händen, bis er den Dolch fallen ließ, wobei Calum Dubh immer auf ihn losschlug, wie auf eine Korngarbe; allein daran kehrte Donald sich nicht, bis Herr Heinrich aus Edelmuth [86] ihm befahl, ihn loszulassen, wobei er ihm mit eigner Hand vom Boden aufhalf und den Dolch so weit fort in die Haide hineinwarf, daß ihn niemand mehr fand. Die beiden andern Alpiner lagen am Boden, die Erediner hatten also gewonnen und eilten zu dem Vieh. Der eine rief: Lady Eredine! der andre: Duh Voiach (schwarze Schöne), und die guten Thiere erkannten ihre Stimmen und sprangen ihnen nach. Aber Herr Henry suchte zuerst Janet Donalachs Kuh heraus, weil sie einer Wittwe gehörte und vier Kinderchen von ihr ernährt wurden, aber alle andre kamen auch nach Haus, Huf und Horn, wie Herr Heinrich zugesagt hatte, und keiner der Alpiner durfte sich rühren, denn Neil hatte versprochen, nur fünf gegen fünf sollten kämpfen.«
»Aber, Cecile, was hat denn das mit Herrn Heinrichs Verbannung aus der Heimath zu thun?« – »Das? ei nun! die Südlands-[87] Sherifs, die sich in alles mischen zu müssen glauben, so daß sie den Distelflocken nachspüren, wohin sie der Wind trägt, meinten, daß es auch zu ihrem Amt gehöre, zu fragen, warum die Alpiner mit Glen Eredine gefochten. Da mußten die rothen Soldaten Neil Roy und Calum Dubh beim Kopf nehmen, und die wurden auf Stirling Castle gebracht, und nun hieß es, man würde Herrn Heinrich auch abholen. Lady Eredine hatte aber immer gewünscht, dieser solle fremde Länder bereisen; da lag sie dem Lord so lange an, bis er es erlaubte. Um nun nicht schwören zu müssen und damit Menschenleben zu wagen, verließ Herr Heinrich lieber Freunde und Mitgeborne und Alle, die gern den Boden geküßt hätten, wo sein Fuß geschritten. O wehe mir! entweder erinnre ich mich noch des Tags, oder ich habe mir's so lange erzählen lassen, bis mir zu Sinn geworden ist, als hätte ich's gesehen: [88] denn mir ist's, als wüßte ich's noch, wie meine Mutter mich auf ihre Arme nahm und das Thal hinab ihn begleitete; Jung und Alt ging mit ihm, und der Pfeifer voraus spielte das Klaglied. Keiner konnte sprechen, meine Mutter konnte ihm kein Lebewohl sagen, sie ging und ging, bis sie nicht mehr fortkonnte, und dann sah sie ihm nach und segnete ihn und weinte. Und die Säuglinge, die diesen Tag auf den Armen getragen wurden, waren, wie er das erste Mal wieder nach Glen Eredine zurückkehrte, schon auf den Beinen und liefen ihm auf eben dem Wege mit Freuderuf entgegen.« – »Was ward denn mit den beiden Gefangenen?« – »Loslassen mußten sie die. Meinen Sie, ein echter Schotte würde schwören, damit ein Südländer-Sherif sein Müthchen kühlen möge? Zwei Erediner versteckten sich lange, um dem Zeugniß zu entgehen, Donald und Duncan Bane antworteten so listig, daß der [89] Südländer nichts daraus machen konnte. Da ward Neil frei, und in derselben Nacht – was aber, wie Donald sagte, kein wackrer Erediner gutheißen konnte, – trieb er vier von des Sherifs eignen Kühen in Glen Eredines Triften, um Herrn Heinrich damit zu ehren, aber der alte Laird schickte sie zurück, als haben sie sich allein dahin verlaufen.«
Diese Erzählung und zwanzig andre, in welchen Herr Henry immer als Held auftrat, vermehrten meine Theilnahme an einem Volksstamm, dessen Charakter durch zwanzigjährige Unterdrückung seine Hauptzüge noch beibehalten hatte. Man entriß ihm seine Volkstracht, man nahm ihm seine Waffen, die ihm als Schmuck und Wehr gleich theuer waren, – ist es zu verwundern, wenn diese beeinträchtigten Menschen ihre Sicherheit in der Flucht, ihre Stärke im Betrug suchten?
Doch der sorgenvolle Arme ist selten sehr [90] neugierig, und wie theilnehmend ich auch Cecilens Geschichte anhörte, war mein Geist doch noch lebhafter mit der mir drohenden Noth beschäftigt. Ich hatte schon eine, für meine gänzlich erschöpfte Baarschaft, sehr ansehnliche Summe daran gewendet, in öffentlichen Blättern meine Dienste als Lehrerin der Jugend anzubieten. Wahrscheinlich schenkten die Edinburger einer unbekannten Fremden kein Vertrauen. Mein Versuch blieb ohne Erfolg; nun entschloß ich mich zu dem schwersten Schritt, zu dem bis jetzt die Noth mich genöthigt, ich sammelte mir aus den Zeitungen die Anzeige der verschiednen weiblichen Lehranstalten der Stadt und ging eines Morgens im kalten Winterfroste aus, von Haus zu Haus meine Dienste anzubieten. In dem einen waren die Lehrerinnen schon überzählig, in einem andern bestellte man mich auf ein ander Mal, in einem dritten nahm man keine so jungen Lehrerinnen [91] an, und so kam ich nach einer langen Wanderung hungrig und erfroren in mein ödes Zimmer zurück, wo ich bei der Gluth meiner letzten Kohlen und einem ärmlichen Mahl Gott anflehte, mir den Dank für die Wohlthat zu lehren, daß ich heute noch nicht ohne Feuerung, nicht ohne Nahrung sey. O das ist ein gewaltsamer Zustand, der von wahrer Ergebung noch fern ist! – Aber das junge Leben, das noch auf tausend Wegen zum Glück gelangen zu können sich bewußt ist, kämpft mit allen Kräften gegen den Gedanken, nur zur Entsagung bestimmt zu seyn. Im Alter ist das leichter, da verlieren sich die Wege einer nach dem andern, und der einzige letzte, den wir noch wallen müssen, führt sicher zum Ziele. Schon hatte ich durch Cecilens Beihülfe in der größten Heimlichkeit einige meiner aus London mitgebrachten Kleidungsstücke verkaufen lassen, um meiner Hausfrau ihre Miethe zu [92] bezahlen, und berechnete ängstlich die Zeit der abnehmenden Winterkälte, um dann irgendwo in einem Landstädtchen bei einer ehrbaren Familie die häuslichen Dienste zu übernehmen; eine Aufgabe, zu der ich in der rauhen Jahreszeit bei meinen bisherigen Gewohnheiten die physische Möglichkeit nicht einsah. Unter diesen Umständen kam eines Morgens meine Hausfrau zu mir herein, setzte sich ohne Rücksichten, denn zu diesen hielt sie sich gegen ihre arme Hausgenossin nicht verpflichtet, recht breit auf einen Sessel und erklärte mir, »sie habe gehört, daß ich eigentlich in der Absicht ins Land gekommen sey, in einem reichen Hause Erzieherin zu werden; nun habe sie eine Schwester, die als Stubenmädchen bei Mistriß Boswell diene, einer so reichen Dame, wie nur eine; der habe sie meine artige Person und sittsames Wesen gerühmt und die saubern Arbeiten, die sie mich machen gesehen, und die habe mich ihrer Herrschaft [93] vorgeschlagen, um Miß Jessy, ihr elfjähriges Töchterchen, zu erziehen. Mistriß Boswell sey auch nicht ganz abgeneigt, und so sollte ich doch ja unverzüglich nach George Square gehen, mein Glück zu versuchen.« Also einer solchen Empfehlung sollte ich meine Versorgung endlich zu verdanken haben? dachte ich mit schmerzlichem Lächeln. Das ist der Lohn des stolzen Sinnes, der sich lieber in die unfreundliche Fremde begab, als Gefahr laufen wollte, in seiner Heimath vor den Augen seiner Bekannten dienstbar zu werden! Doch diesen Betrachtungen nachzuhängen, hatte ich nicht Zeit; ich sah die Nothwendigkeit, die sich mir darbietende Aussicht zu verfolgen, und machte mich unverzüglich nach George Square auf den Weg.
Es war noch bei guter Zeit, ich hatte mein ärmliches Frühstück eben erst genossen, meine eigne Einsicht hätte mich belehren sollen, daß die reiche Frau noch im Bette seyn würde. [94] Dennoch kehrte ich bei dem Bescheid, um ein Uhr wiederzukommen, mit gesunknem Muth nach Hause zurück. Um ein Uhr erhielt ich denn wirklich Zutritt. Man führte mich in ein artig aufgeputztes Zimmer, wo mich Mistriß Boswell, halb sitzend halb liegend, auf einem zierlichen Sopha empfing. Ein mageres, eckiges Gesicht, mit einer aufgestülpten Nase und schwarzen Augen, machte, daß sie auf den ersten Blick gescheidt aussah, allein ihr gerade eingeschnittner Mund, ihre borstigen Augenbraunen, ihre niedrige, gedrückte Stirn zeigten beim zweiten den Irrthum. Sie vertrieb sich mit ihrer Tochter, einem schönen lockigen Kinde, die Zeit vor einem großen Schmuckkästchen, aus dem sie Armbänder, Halsketten, Ringe hervornahm und sich und die Kleine so damit behing, daß sie wie Südseeinsel- Prinzessinnen aussahen. An der Wohlgefälligkeit, mit der sie sich in dem seitwärts hängenden Spiegel [95] beschaute, war es sichtbar, daß diese Beschäftigung zu ihrer sowohl wie zu Jessy's Kurzweil gereichte. Ich stellte mich ihr bescheiden als die Person vor, welche ihr als Erzieherin ihrer Tochter empfohlen sey. Sie stand nicht auf, beantwortete auch meine Rede nur mit einer Verziehung des Mundes, die sie für ein Lächeln hielt, wovon jene aber auch nicht die fernste Aehnlichkeit hatte: es war eine Verlängerung der Mundwinkel, von welcher Herz und Auge keine Notiz nahmen. Nach einer ziemlichen Pause sagte sie zu dem Kinde: »Jessy, meine Liebe, geh zur Campel und sage ihr, sie soll mir mein Riechfläschchen suchen, und hilf ihr dabei.« – »Nein, nicht ich«, rief die Kleine in heulendem Ton, »ich weiß wohl, daß Du dein Riechfläschchen nicht brauchst, Du willst mich nur fortschicken, um wegen der garstigen Hofmeisterin zu sprechen.« – »Nicht doch, Herzchen! geh nur! ich nehme Dich auch [96] mit mir in der Kutsche spazieren, und wir kaufen eine neue Puppe, eine große große mit blauen Augen.« – »Du hast mir schon einmal eine versprochen, wenn ich das O schriebe und hast sie mir doch nicht gegeben. Jetzt wirst Du's eben so wenig thun.« – Da ist mir gut in die Hände gearbeitet, dachte ich. Mutter und Kind stritten sich fort, bis Letzteres seinen Willen behielt und die Mutter mir, nun in Jessy's Gegenwart, meine Geschicklichkeit abfragte. Das Pianoforte, Singen, alle Wissenschaften zusammen sollten gelehrt werden; mir ward aber, ehe der Katalog zu Ende war, die Antwort erspart, denn Jessy, die mich von allen Seiten betrachtet hatte, fragte: »Sie sind doch nicht selbst die Hofmeisterin? oder ja?« – »Ich hoffe es zu werden, liebes Kind.« – »Ich dachte, Sie wären ein häßliches, grämliches, altes Ding. Sind Sie grämlich? Sie?« – »Nein, ich hoffe nicht.« – [97] »Ei, ich glaube, Sie sind lustig und freundlich.« – Mistriß Boswell warf mir einen listigen Blick zu, der ihre Zufriedenheit ausdrücken sollte. »Nun, Liebchen, von der hübschen Lady möchtest Du doch Musik und allerhand Dinge lernen?« sagte sie zur Tochter. – »Ich will nichts lernen, gar nichts; aber spielen soll sie mit mir und mich mit dem garstigen Buchstabirbuch nicht quälen.« – »Nun, sie soll Dich nicht quälen. Miß Percy, wie viel Jahrgeld erwarten Sie?« – »Das bleibe Ihnen und Herrn Boswell überlassen! Achtungswürdiger Schutz ist für mich die erste Rücksicht.« – »Gewiß, Schutz ist eine wichtige Sache«, bemerkte die Dame und schien sich dann lange von dieser Verstandesanstrengung erholen zu müssen. – Ich hatte während dem das Glück, Jessy's Gunst durch meine Unterhaltung so sehr zu gewinnen, daß sie bei ihrer Mutter nächster Frage: wenn ich mei nen [98] neuen Beruf antreten würde, durchaus von keinem Aufschub hören wollte, sondern so lange weinte und trotzte, bis ich denselben Abend noch wiederzukommen versprach.
Durch ein unglückliches Schicksal nehmen meistens gerade diejenigen Ehemänner die Zügel des Hausregiments, welche am wenigsten sie zu führen geschickt sind. Eine Frau von Grundsätzen weist dieses Vorrecht von sich, eine vernünftige Frau sucht sich die Nothwendigkeit, das Regiment zu führen, selbst zu verhehlen. Die innige Liebe des Weibes ist viel beglückter durch Unterwürfigkeit, als durch Herrschaft; und gegen den überlegnen Geist der Frauen ist die männliche Eifersucht schon hinlänglich bewaffnet. Mistriß Boswell ward durch keine dieser Ursachen verhindert, ihren Mann am Leitseil zu halten. Das wunderte mich nicht weiter, aber ich konnte lange nicht begreifen, warum sich's der Gatte gefallen ließ, denn er [99] war kein einfältiger Mann. Ich erklärte mir's endlich als die Folge seines langen Aufenthalts in den Kolonien, wo er, von aller gebildeten Gesellschaft entfernt, bei wenigen Geschäften, gar keinen literarischen Hülfsquellen, einzig auf den Umgang seiner Frau beschränkt gewesen war. Sie hatte dagegen ein Herrschermittel, das im häuslichen Leben, obgleich ganz negativ, so mächtig ist, daß ihm, meines Bedünkens, noch kein Ehemann widerstanden hat. Er flieht, oder unterwirft sich. – Sie schmollte mit einer von mir bis dahin nicht für möglich gehaltnen Hartnäckigkeit, die allen Bitten, allem Nachgeben widerstand. Außerdem war sie in ihrer ersten Jugend wahrscheinlich hübsch gewesen – das ist freilich ein vorübergehendes Mittel der Gewalt, allein ein sehr wenig rühriger Mann macht sich aus der einmal gefaßten Bewunderung seiner Frau eine Gewohnheit, die es ihm bequem ist nicht zu [100] ändern. Wo aber die Herrschaft fehlschlagen konnte, bediente sich Mistriß Boswell der List: ihr war jedes Mittel willkommen, Kind, Gesinde, ein Jeder, der sich wollte brauchen lassen, ward gebraucht. Dagegen wendete Kind, Gesinde und wer sich diese Mühe geben wollte, gegen sie die einzigen Waffen, an denen sie zugänglich war: Verleumdung und Schmeichelei, und hatte sie nicht eben die Laune, Festigkeit zeigen zu wollen, so widerstand sie diesen selten. Schon am ersten Abend, den ich in ihrem Hause verlebte, lernte ich ihre Eigenheiten kennen. »Wollen Sie morgen Jessy ihre erste französische Stunde geben?« fragte sie mich mit dem verbindlichsten Lächeln, das sie aufbringen konnte. »Ich sollte denken, meine Theure«, sagte Herr Boswell, nicht im Ton eines Oberherrn, »wenn es Dir gefällig wäre, möchte es vielleicht besser seyn, das Kind lernte erst seine Muttersprache.« – »Die kann sie [101] immer noch lernen« antwortete die Dame, indem ihr Lächeln verschwand. – »Meinst Du aber nicht, sie sollte lieber mit dem beginnen, was am nothwendigsten ist?« – »Wir können Miß Percy ihre Zeit nicht mit Englisch lehren verlieren lassen«, sagte sie, ohne den Gatten eines Blickes zu würdigen. Dieser bedurfte einige Secunden, seinen Muth zu sammeln, dann fing er mit sanftem Ton an: »Ich glaube, Miß Percy wird nie ihre Zeit für verloren halten, wenn sie unserm Kinde irgend etwas, das Du ihm nützlich glaubst, lehrt.« Mistriß Boswell drehte alle Ringe an ihren Fingern herum und sagte nach einer langen Pause, ohne eine Muskel ihres Gesichts zu bewegen: »Man braucht das Kind nur lesen zu hören.« – »Doch Miß Percy's Sprache und Ausdrücke sind so unvergleichlich gebildet ...« Hier unterbrach er sich, von Anzeichen, die mir noch unbekannt waren, in Zaum gehalten, und die [102] Dame sprach kein Wort mehr, hob ihre Augen nicht mehr auf. Endlich, wie ich mich zur Schlafenszeit hinwegbegeben wollte, sagte ich, im innern Gefühl, daß es dem Vater zustehe, über den Unterricht seines Kindes zu entscheiden, zu Herrn Boswell: »Soll ich morgen mit Miß Jessy die englische Sprachlehre anfangen?« – »Wie Sie's für's Beste halten ... wie es Ihnen gefällt«, antwortete er zögernd und warf seiner Frau einen schüchternen, fragenden Blick zu, auf den sie aber keineswegs zu achten würdigte. Nun begleitete ich sie bis an ihr Schlafzimmer, wo sie mich zu mei ner Befremdung hineinzog und schnell hinter sich zuschloß, so daß Herr Boswell auf dem Vorplatz zurückblieb. Sie setzte sich bequem nieder und erzählte mir von Negersclaven, Goldstaub und Elephantenzähnen. Nach einer Weile bat der Gemahl sehr freundlich um Einlaß; sie that gar nicht, als wenn sie ihn hörte.[103] Bei einem zweiten Gesuch von seiner Seite sagte ich, ihr gute Nacht wünschend: »Ich fürchte, Herrn Boswell im Wege zu seyn.« – »O seyn Sie ruhig!« rief sie, den Kopf schüttelnd mit einem listig seyn sollenden Blick. Da sie den Thürschlüssel in ihre Tasche gesteckt hatte, hing ich von ihrer Willkür ab, und sie schwatzte unbefangen fort, bis der arme Herr Boswell, seiner vergeblichen Bitten müde, von seinem eignen Schlafzimmer fortging, um in irgend einem andern Gemach eine Schlafstätte zu suchen. Sobald sie seines endlichen Rückzuges gewiß war, schloß sie mir die Thür auf und wünschte mir eine gute Nacht. Während vier Tagen gelang es Herrn Boswell auf keine Weise, weder Blick noch Wort von ihr zu erlangen. Er willigte in ihren Unterrichtsplan für das Kind – ihr Sinn war nicht zu wenden. Endlich am fünften Morgen gab sie ihm die erste noch sehr mürrische Antwort auf eine [104] seiner Fragen, und ehe ich mich's versah, war die Versöhnung vollendet, deren Beweggrund von ihrer Seite, wie ich später erfuhr, Geldbedürfniß war. – Sie machte mich sehr bald bekannt mit vielen ihrer kleinen Künste, den Fehlern ihres Gatten, den Familienzwistigkeiten, den Mitteln, Miß Jessy zu gängeln, ihren Mann zu hintergehen, das Gesinde zu belauschen. Ich konnte die Nothwendigkeit dieser elenden Listen nie begreifen; allein es liegt in jeder Verstandesübung eine Art von Genuß, diese Kniffe aber waren die einzige Art, wie Mistriß Boswell den ihrigen zu üben vermochte. Dieser Charakter flößte mir peinlichen Ekel ein, in einem Grade, den ich kaum zu unterdrücken im Stande war. Ich glaube, es ist leichter, Beleidigungen zu vergeben, als fortwährend Milde gegen einen Menschen zu üben, der unsern Verstand so wie unser moralisches Gefühl verletzt, und diese Milde ist dennoch [105] nicht weniger eine heilige Pflicht der besonnenen Menschlichkeit, wie jene. Am wehesten that mir Mistriß Boswells Bösartigkeit dann, wenn sie auf meinen Zögling Einfluß üben mußte. Aus Eifersucht über des Kindes Neigung zu mir, oder vielleicht aus bloser Gewohnheit, krumme Wege zu gehen, führte sie die Kleine zu Heimlichkeiten an, die der Mutter Thorheit oder des Kindes Einfalt mir immer verriethen. Bald waren es Vergünstigungen irgend einer Art, die ihr streng verboten wurden, der Hofmeisterin wissen zu lassen, oder sie ließ eine vernachlässigte Aufgabe heimlich von Jemand anders an des Kindesstelle verrichten; war die Kleine über einen von mir erhaltnen Verweis betrübt, so gab sie ihr Zuckerbrod und befahl, ehe sie mir nahe käme, den Mund wohl auszuspülen, damit ich es nicht wahrnähme. Nur die harte Nothwendigkeit, unter der ich seufzte, konnte mich vermögen, [106] in diesem Hause zu bleiben. Mein Gefühl empörte sich um so heftiger gegen diese elenden Kunstgriffe, weil mir mein Zögling sehr lieb ward. Die Tochter so einer Mutter mußte müßig, verschlagen, selbstwillig seyn, allein dabei war Jessy anmuthig, gescheidt und von einer kindlichen Innigkeit, die allen Verkehrtheiten ihrer Erziehung widerstanden hatte. Dieser letzten Eigenschaft ist nie zu widerstehen, am wenigsten konnte ich's, die außer diesem Kinde keinen Menschen hatte, der mir Liebe erwies. Ohne Jessy wäre dieses Haus eine Einöde für mich gewesen. Mit Mistriß Boswell war kein Gespräch zu führen, sie las nicht, sie beschäftigte sich nicht, also fand keine gemeinschaftliche Zeitanwendung zwischen uns statt; sie dachte nicht, also konnten wir keine Ideen auswechseln; sie war einzig mit sich beschäftigt, es fand also keine Sympathie zwischen uns statt. Ihre Unart und Laune hatte Freunde und Bekannte [107] von ihrem Tische gescheucht, nur ein paar arme alte Verwandtinnen, die für ihre Unterthänigkeit zum Essen bleiben durften, kamen in's Haus. Herrn Boswells Aufmerksamkeit auch nur im geringsten Maaße auf sich zu ziehen, war, wie ich bald erfuhr, eine unverzeihliche Unthat – auf diese Weise blieb ich in diesem Hause so fremd, wie ich den Tag meines Eintritts gewesen war. Welche strenge Schule mußte ich durchwandern! Das einzige Geschöpf, an das ich ein vernünftiges Wort richten konnte, das einzige, für das ich Liebe empfinden konnte, war ein Kind, das man nicht meiner Einwirkung überließ; mein Unterhalt hing von einem völlig verächtlichen Wesen ab – aber ich war jetzt so weit zur Selbsterkenntniß gekommen, daß ich fühlte, wie ich gerade durch diese schweren Obliegenheiten am besten zur Beherrschung meines noch immer aufstrebenden Stolzes gelangen könnte, und ich [108] wiederholte mir täglich das Versprechen, geduldig abzuwarten, bis die Vorsehung mir eine tröstlichere Aussicht eröffnete.
Der einzige Genuß, den ich in meiner ärmlichen Einsamkeit gehabt hatte, meine Besuche bei Cecile Graham, waren mir in meiner neuen Lage unmöglich. Jessy konnte ich nicht mit dahin nehmen, und so lange allein auszugehen, war mir nicht vergönnt; so ward denn auch mein Erlernen der Gaelischen Sprache aufgegeben, und ich mußte, mit niedergeschlagenem Herzen, dennoch lächeln, daß mir darum die Möglichkeit, Herrn Maitland wiederzusehen, entfernter schien, weil ich dieses Band zwischen ihm und mir zerreißen mußte. Endlich einmal an einem Tag, wo Mistriß Boswell Jessy mit sich genommen hatte, um ihr Spielzeug zu kaufen, nahm ich die Zeit wahr, zu Cecilen zu gehen. Ich fand sie beschäftigt, auf dem einzigen hölzernen Stuhl, den sie besaß, Haferkuchen zu [109] kneten, denn ihr Tisch lag so voll von den verschiedensten Dingen, daß sie darauf keinen Platz hatte. Bei meinem Eintritt warf sie den Teig bei Seite, zog einen zerrißnen Strumpf von einem quer über die Stube gezognen Strick, stäubte damit den Stuhl ab und bat mich, zu sitzen. Ich entschuldigte mich, daß ich sie störte. »O das thut gar nichts!« rief sie, »ich bin gewiß, Sie bringen immer Glück, und ich dachte schon, ich würde Sie nie wiedersehen.« – »Warum besuchtet Ihr mich nicht?« fragte ich. – »Ja, Lady, ich war an Ihrer Thür eines Tags, wo man sagte, Sie wären ausgegangen; ich kam dann zwei oder dreimal wieder hin und setzte mich mit den Kindern auf die Stufen und meinte immer, Sie sollten aus der Thür treten – aber es ward mir nicht so gut.« – »Warum ließt Ihr mich nicht rufen?« – »Liebe Lady«, sagte Cecile mit einem Lächeln stolzer Demuth, »die Leute hätten [110] Wunder denken können, warum ich Sie sprechen wollte. Aber viel habe ich an Sie gedacht. Man sagt: ›des Fremdlings Odem ist kalt‹; aber gewiß, Sie können mir glauben, mein Herz ist für Sie warm gewesen, seit ich Sie zuerst sah.« – »Ich glaube es, Cecile; es gibt nicht viele Herzen, wie das Eure.« – »Das letzte Mal, wie ich Euch sah, Lady, wart Ihr bleich wie ein Schneeglöckchen, so daß ich meinte, es könne Euch ein böser Blick getroffen haben.« – »Verdirbt ein böser Blick andrer Haut, als dessen, der ihn haben mag?« fragte ich ungläubig. – »Ein böser Blick kann einen Stein spalten, sagt man in Glen Eredine«, antwortete mit ernstem Kopfschütteln Cecile. »Wenn Sie es aber annehmen wollten, so hätte ich wohl etwas, das Sie gegen alles Unheil schützen könnte.« Sie suchte nun lange in ihrem Bettstroh und fand endlich etwas, das ungefähr wie ein Feuerstein aussah. »Wenn Sie dieses [111] in Ihren Unterrocksbund nähen wollen«, sagte sie mir ihn darreichend, »kann Niemand Ihnen mehr schaden.« – »Dank, liebe Cecile! aber wenn ich Euch den Schatz nehme, kann er Euch ja fehlen.« – »O mein Herzblättchen!« (Kalb meines Herzens, ist der Gaelische Ausdruck) rief Cecile innig, »es ist meine Pflicht, alles für Euch zu thun, und gewährt mir Gott erst, wieder nach Glen Eredine zu kommen, so werde ich vielleicht mehr können.« Ich mußte innerlich lachen über den Stellvertreter der Vorsehung, mit dem mich diese gute Seele beschenkt hatte, dachte aber doch, daß er immer so wirksam, wie jede andre menschliche Weisheit, zu wirken vermöchte; da aber ein Versuch, Cecilens Aberglauben zu bestreiten, ihr Vertrauen zu mir hätte erschüttern können, nahm ich ihren »Elfen-Pfeil«, wie sie den Stein nannte, dankbar auf, und fragte sie dagegen, wenn sie nach ihrer Heimath [112] abzureisen gedächte. – »Ich weiß nicht«, antwortete sie seufzend, »das Wetter ist klar und schön, und ich sehne mich nach Haus; aber ... sehen Sie ... ich fürchte, es möchte Jemmy nicht lieb seyn, wenn er mich in Eredine wüßte.« – »Wie wäre das möglich?« – »Ich weiß nicht«, antwortete sie halb lächelnd und blickte vor sich hin, dann tief seufzend und an ihrem Schürzenband drehend, »sehen Sie, Lady, ich habe einen Freund in Glen Eredine, ich ... ich ...« – »Um so besser, Cecile, das kann Euch nicht vom Nachhausegehen abhalten.« – »Ja, ich will sagen ... einen Junggesellen, ... den ich hätte freien sollen, wenn es also beschlossen gewesen wäre.« Nun seufzte sie wieder. – »Sollte Euch Euer Mann nicht trauen, Cecile?« – Augenblicklich war ihre Verlegenheit verschwunden, sie sah mir fest in's Gesicht und sagte: »Nein, Lady, so schlecht werde ich nimmermehr von ihm denken, so verkehrt ist er [113] nicht. Aber er könnte meinen, dort würde mir das Herz schwer seyn, so lange er so weit weg ist – denn leider ist der arme Junge nie mehr recht bei sich, seitdem der Vater mich dem Jemmy zur Frau gab – ach er will sich nicht abwehren lassen, immer nach mir zu sehen und mit dem kleinen Kenneth da (ihrem Knaben) zu spielen und unsre Kühe Abends nach Hause zu treiben, und seit der Vater starb, läßt er sich nicht hindern, meiner Mutter den Torf zu stechen, ob gleich ich nie mehr ein Wort zu ihm sprach, weder Gutes noch Böses, seit dem Tag ...« – Hier fuhr sie mit ihrem Aermel über ihre Augen und setzte dann leise hinzu: »Nun, es war Gottes Wille, und der führt alles zum Besten.« – »Aber wart Ihr denn nicht ein bischen hartherzig, daß Ihr so einen treuen Liebhaber verließt?« – »O Gott, Lady, was konnte ich thun? Ich sah wohl, daß er nicht für mich passe. Seine Eltern sind [114] nur Fremde, mit Erlaub, und ich, wenn ich's gleich selbst sage, bin mit den besten Familien im Lande verwandt. Da begreifen Sie ja, daß es mein Vater nie zugeben konnte.« – »Und Ihr gehorchtet Euerm Vater, gute Cecile?« sagte ich, tief beschämt über das pflichtgemäße Betragen dieser ungebildeten Frau, in Vergleich mit meinem eignen Benehmen. – »Ach, Lady, ich war ja sein Kind«, antwortete Cecile, »außerdem wußte ich, Robert war mir nicht bestimmt; das wußte ich – wohl wußte ich das.« – Sie wiederholte diesen Satz auf alle Weise, indeß ich über meinen unseligen Ungehorsam nachsann, denn Cecile hätte lieber zehnmal dasselbe gesagt, als dann, wenn sie die Unterhaltung übernommen, eine Lücke im Gespräch entstehen zu lassen. »Wie erfuhrt Ihr denn, daß Robert Euch nicht zum Gatten bestimmt sey?« – »Das will ich Ihnen sagen«, antwortete Cecile mit leiserer Stimme, »wir haben in Glen [115] Eredine einen Seher, der war sehr bestürtzt, wie er mich im Geiste ganz deut lich an Jemmy's linker Seite stehen sah. Zuerst früh, dann immer weiter im Tag hinein – da hatte er keine Ruhe, bis er es mir gesagt hatte. Wie ich's aber erfuhr, fiel ich vor Schrecken nieder, als träfe mich ein Blitzstrahl, denn ich verstand wohl, was das bedeute. Aber wir können keiner unserm Loose entgehen. Nicht daß ich klagen wollte, denn Jemmy ist ein guter Gatte, und ich habe es gut bei ihm gehabt.« – »Das verdientet Ihr, Cecile. Eine gehorsame Tochter wird stets ein wackres Weib.« – »Grade das sagte Miß Graham, wie sie mir das erste Mal das Tuch um den Kopf band (das Abzeichen der Ehefrauen, welches sie den Morgen nach dem Hochzeittag anlegen). Sie that es mit eigner Hand; ja wirklich! und wie sie mich schluchzen sah, als stieße es mir das Herz ab, legte sie mir ihren Arm um den Hals und [116] sagte, als sey ich ihres Gleichen gewesen: Liebe Cecile! sagte sie. Ach diese zwei Worte waren mir lieber, als aller Hausrath, den sie mir so reichlich schenkte. Aber anfangs ging's mir doch hart, und es mochte nie eine betrübtere Hochzeit in Glen Eredine gefeiert worden seyn, obschon Herr Heinrich selbst Brautführer war; denn, sehen Sie, er ist Jemmy's Milchbruder.« – Sie erzählte mir nun weiter: Herr Heinrich, den Robert unendlich gedauert, habe ihm, sobald Jemmy's Werbung genehmigt worden, auf ein entferntes Gut geschickt und durch Aufträge dort festgehalten; allein in der Unruhe seines Gemüths verließ der arme Bursche seinen angewiesnen Aufenthalt, irrte im Lande umher und kam gerade an Cecilens Hochzeittag nach Glen Eredine zurück. Cecile war so bewegt bei dieser Erinnrung, daß ich nur durch viele Fragen den Gang der Begebenheit erfuhr. An jenem Hochzeitmorgen bewirthete [117] die Braut ihre Verwandten mit einem Frühstück, bei welchem der Laird selbst gegenwärtig war. Das Mahl war reichlich und, nach meiner guten Bergschottin Meinung, sehr ausgesucht schmackhaft; auf ihn folgte der Tanz, und Cecile sagte: »ich tanzte mit den Uebrigen, wenn mir gleich, mit Erlaub, das Herz sehr weh that, und ich manchmal dachte: o gälte der Tanz doch meinem Leichenfest« 3! Darauf kamen die Freunde des Bräutigams, ein Haufe fröhlicher Bursche und Mädchen; Cecile begrüßte sie, bot ihnen Erfrischungen und wendete sich dann jammervoll ab, »wie ein Gefangner, der mit Festigkeit sein Todesurtheil empfangen hat.« Endlich verkündigten Flintenschüsse die Ankunft des Bräutigams, und [118] die Braut mußte ihm entgegen gehen. »Der Wind hätte mich fortwehen können wie dürres Laub«, sagte Cecile, »ich war so kraftlos; – aber Miß Graham unterstützte mich mit ihrem eignen Arm, Jemmy und ich könnten doch glücklich seyn, sagte sie mit tiefem Seufzer, – aber gewiß, der Ort, wo wir zusammenkamen, war ein Unglücksort. Gerade wo der Weg nach Dorchthalla hinabführt, da wo Kenneth Roy, des Lairds Großvater, etwas sah, dem er zu seinem Unglück nachging; denn es führte ihn über Felsen hin zu einem furchtbaren Abgrund, wo er zerschmettert werden mußte, und wäre er von Eisen gewesen. Nie scheint die Sonne dahin, wo er niederstürzte, und das Wasser ist schwarz. – Nun da, an der Stelle bekam uns Jemmy zu Gesicht; da eilte er nun, wie es unsre Sitte mit sich bringt, auf uns zu, mich zu begrüßen. – – O den Gruß vergesse ich nie!« – Cecile schauderte mit Entsetzen im [119] Blick, dann sprach sie weiter: »Er nahm seine Mütze ab, um, mit Erlaub, von meinem Munde zu nehmen, was ihm vorher noch nie gestattet ward, als, – o, ich werde es nie vergessen! – eine Stimme, ganz wie wenn es keines Menschen Stimme wär', aus der Höhe herabschallte: Cecile, Cecile! Und wie ich aufblickte, stand Robert da, wo der Adler sein Nest baut, und setzte den Fuß fest, als wolle er eben herabspringen.« – »Rettetet Ihr ihn?« rief ich ergriffen. – »O Lady, ich hätte ihn nicht retten können, und wär' er vor meine Füße niedergesprungen. Ich konnte nur meine Augen bedecken, und meine Hände falteten sich so fest, daß die Nägel mich blutig rissen.« – »Gott im Himmel«! rief ich, »hätte ihn keiner retten können?« – »Keiner hatte Macht, etwas zu thun, außer Herr Heinrich, der stets bereit ist, das Gute zu thun. Der rief mit einer Stimme, vor der die Felsen erzitterten, [120] und die ihn ansahen, bemerkten, wie aus seinen Augen, mit denen er nach Robert aufblickte, das wirkliche Feuer strahlte und er Robert zurückwinkte. – Und der arme Bursche war nicht so fühllos, daß er seinen Befehl mißkannt hätte, denn der ist noch nicht geboren, der ihm widersteht. Und da flog Herr Heinrich um den Berg hinum und kletterte den Fels hinauf wie ein Reh und beredete Robert, mit ihm in das Schloß zu kommen, und da behielt er ihn, weil er zur Arbeit nicht mehr zu brauchen war. Nicht daß er widerspänstig wäre, außer wenn es ihn gerade befällt. – Da ist ein Thälchen, wo wir als Kinder Blumenkränze zu binden pflegten; in dem darf kein Kind keine Blumen mehr brechen, und seit der Wetterstrahl dort die große Eiche zersplitterte, sitzt er manchmal an Sommertagen darunter und nennt sie den armen Robert.«
Cecilens Erzählung hatte mich so lange [121] aufgehalten, daß ich von meiner Wanderung etwas später, wie Mistriß Boswell von ihrer Ausfahrt zurückkam, weshalb diese mich mit einer Menge verfänglicher Fragen wegen meines langen Außenbleibens heimsuchte. Ich machte sie sehr unbefangen damit bekannt, fand aber bei ihr keinen rechten Glauben, wie denn Personen, die selbst immer mit kleinen Mitteln zu ihren kleinen Zwecken umgehen, nicht begreifen können, daß Andre weder Vertraute noch Geheimniß bedürfen. Wie ich an ihrem bedeutenden Lächeln wahrnahm, daß sie meinen einfachen Worten nicht traute, brach ich mit Unmuth ab und erregte schon damit einigermaßen ihre üble Laune – doch hätten sich diese Wolken vielleicht noch verzogen, aber eine ernstere Veranlassung zum Unwillen führte Jessy durch eine kindische Spielerei herbei. Indem sie in Gegenwart ihrer beiden Eltern mich liebkoste und mit mir spielte, fiel es ihr ein, meinen [122] breiten Haarkamm herauszuziehen, wodurch mein damals recht schönes Haar in reichen Locken und Flechten herabrollte. Vielleicht nur, um die Unart des kleinen Mädchens zu entschuldigen, drückte Herr Boswell durch einen lauten Ausruf seine Bewunderung über diese Lockenfülle aus und beging damit wirklich eine Unfeinheit, da seine Frau gerade in diesem Stück von der Natur besonders vernachlässigt war. Mistriß Boswell erbleichte vor Zorn und rächte sich durch die Bemerkung, daß es mir auch Mühe genug kosten möchte, sie so schön zu erhalten. Leider gelang es ihr einigermaßen; denn dieser Vorwurf, an meinem Haar zu künsteln, brachte mich so weit auf, daß ich lachend versicherte: das sey etwa das einzig Hübsche an meinem Haar, daß es mir gar keine Arbeit koste. Wie ich das Wort ausgesprochen, fiel mir erst ein, daß sie jeden Abend ihrer armen Kammerfrau über das Haarwickeln [123] eine böse Stunde machte, und ich wunderte mich nicht, wie sie, in drohendem Stillschweigen eine ganze Stunde vor sich hinblickend, ihr Taschentuch zusammendrehte. Zu meiner Befremdung ging aber dieser Anfall vorüber, und sie war den Abend über gesprächig und freundlich. Am folgenden Morgen, wie ich nach den Lectionen Jessy um mich her spielen ließ, bemächtigte sich die Kleine einer Scheere und fuhr damit, indem sie meine in's Gesicht hängenden Locken abschneiden zu wollen schien, so nahe an meinen Augen hin, daß ich sie in meinem gewöhnlichen herzlichen Ton bat, dieses gefährliche Spiel zu unterlassen. Sie sah mich eine Weile mit sonderbarem Ausdruck an, legte dann ihre Arme um meinen Nacken und fragte leise: »würde es Ihnen denn wirklich leid thun, wenn ich Ihnen die niedlichen Löckchen abschnitte?« – »Das denke ich!« sagte ich lächelnd und setzte in halber Selbstbetrachtung [124] hinzu, »vielleicht mehr, wie die Sache verdient.« – »Nun so will ich's auch nicht thun, und würde mir's zehnmal geheißen.« – »Jessy, um Gottes willen, wer könnte Ihnen das heißen?« rief ich, überrascht von der Möglichkeit, die ich im Hintergrunde erblickte. – »Das sage ich nicht, wenn Sie mir nicht versprechen ...« »Nein, liebe Jessy«, unterbrach ich sie, »sagen Sie's mir nicht, wenn Sie Ihr Wort gaben, zu schweigen, allein versprechen Sie mir, nie wieder so hinterlistig Schaden zu thun.« Ich war von der Gottlosigkeit dieser Behandlung von einer Mutter gegen ihr eignes Kind so erschüttert, daß ich mit Thränen und inniger Herzlichkeit, ohne mich bei diesem Anlaß aufzuhalten, die Kleine über die Strafbarkeit der Schadenfreude unterrichtete. Da mein Zögling mich noch niemals in diesem Grade bewegt gesehen hatte, wirkte Mistriß Boswells Anschlag ihrer Absicht ganz entgegen. Statt [125] das Kind von mir abzuwenden, faßte ein lebhaftes Gefühl von Reue in ihr Platz, und es liebte mich von der Stunde an mit doppelter Herzlichkeit. Ohne den moralischen Abscheu, der mich antrieb, zuerst die Gefahr des Unrechts von meinem Zögling zu entfernen, hätte mich vielleicht meine Heftigkeit hingerissen, so daß ich unverzüglich zu Mistriß Boswell geeilt wäre, ihr das gefährliche Beispiel, das sie ihrem Kinde gäbe, vorzuwerfen und meinen Abschied zu fordern; allein die guten Lehren, die ich Jessy gab, verhalfen mir zu der gehörigen Ruhe, um meinen nächsten Schritt zu bedenken. Ich sah wohl ein, daß mich nicht die Hoffnung, diese Frau zu bessern, ihr Vorwürfe zu machen, antreiben könnte; einzig das Gefühl von Rechtlichkeit in meinen Obliegenheiten gegen ihr Kind verband mich, ihr zu sagen: »Euer Thun führt euer Kind zum Bösen.« Andrerseits war ich mir mit Betrübniß [126] bewußt, daß ich nicht in der Lage sey, ohne die äußerste Nothwendigkeit meine Verhältnisse aufzugeben. Ich hatte keine andre Zuflucht, als dieses unfreundliche Haus. Mistriß Boswell sah keine Gesellschaft, ich hatte keine Bekanntschaft gemacht, jenseits ihrer Hausthür war ich heute so verlassen, wie am Tage meiner Ankunft im Lande. Diese Betrachtungen gaben mir die Fassung, meine Vorstellungen an Mistriß Boswell sehr höflich, wenn gleich sehr ernst einzukleiden. Ihre Wirkung war, wie ich sie vermuthet hatte. Die moralische Seite der Sache entging ihr ganz, und wie ich ihr bemerklich machte, daß Jessy die Hinterlisten, die sie ihr lehrte, einst gegen sie selbst gebrauchen könnte, sagte sie sorglos: »An meinen Haaren wäre mir wenig gelegen; sind ja ohnehin jetzt Perücken in der Mode.« Sobald sich Eigensinn mit Dummheit paart, muß Bosheit daraus hervorgehen, und, diese Ursach und Wirkung[127] übersehend, suchte ich das Gespräch zu beenden, entschlossen, Jessy, so viel es mein vereinzelter Einfluß erlaubte, sorgfältig zu bilden und ihre Mutter ihrer eignen Verkehrtheit zu überlassen.
Vielleicht wäre es mir nicht gelungen, diese unangenehme Unterredung so bald zu beendigen, hätte nicht Herrn Boswells Eintritt der Leidenschaftlichkeit der Dame eine andre Wendung gegeben. Er schien von einem ungewöhnlich lebhaften Interesse bewegt, setzte sich neben seine Gattin auf den Sopha, überhäufte sie mit Schmeicheleien und, wie er glaubte einen günstigen Eingang gefunden zu haben, erzählte er, daß er heute einen alten Schulkameraden, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen, wiedergefunden und rechte Lust hätte, mit ihm zu Mittag zu essen. Mistriß Boswell sagte nichts, sah aber verneinend aus; ihr Mann schwieg eine Weile, dann fing er seine Kriegslisten [128] wieder an, und dieses Mal glückte es ihm besser, denn er fiel darauf, ihr Morgenhäubchen, in dem sie sehr hübsch zu seyn glaubte, zu bewundern. Sie beglückte ihn mit einem beifälligen Lächeln. Nun hielt er den Zeitpunct für günstig und sagte: »Ich möchte recht gern mit dem armen Tom Hamilton zu Mittag essen!« – »Lirum, larum. Das stünde mir an!« antwortete sie im Ton einer schnippischen Magd. »Wozu braucht es doch wohl das?« – »Nun, Liebe! Wir haben uns ja in zwanzig Jahren nicht gesehen und möchten gern von vergangnen Zeiten sprechen – – ich hab's ihm halb und halb schon zugesagt.« – »Thorheit!« rief die Lady mit gebietendem Ton. Der arme Eheherr rückte seufzend seinen Stuhl an's Camin und zeichnete nachdenkend Figuren in die Asche. Ob diese Beschäftigung seinen Muth stärkte, weiß ich nicht, genug, er sagte nach einer Weile halb leise zu mir: »Wenn Sie meiner [129] Frau Gesellschaft leisten wollen, habe ich rechte Lust mit meinem Freund zu speisen.« – »Das thun Sie doch ja! der Herr führt ja den Hausschlüssel, wie das alte Sprichwort sagt« – und dabei verfuhr ich freilich nicht mit der Vorsicht, die ich dem Hausfrieden und meinen Verhältnissen schuldig war; der Unwille über die unwürdige Unterwürfigkeit des Eheherrn riß mich hin. Herr Boswell schien den Muth des Augenblicks benutzen zu wollen, er eilte zum Zimmer hinaus, doch schon draußen steckte. er den Kopf noch einmal in die Thür und rief mit erkünstelter Heiterkeit: »Auf Wiedersehen, Liebste! ich speise mit Hamilton.« – »Herr Boswell!« rief die Dame mit erblassenden Lippen; aber er war fort, und sie verfiel in ihr Schmollen, das einige Stunden lang und während des Mittagsessens durch nichts unterbrochen werden konnte. Anfangs hatte ich mich mehrmals bemüht, sie durch Gespräch zu zerstreuen, da ich [130] aber weder Antwort noch Gegenrede von ihr erhielt, fand ich es bald für angemeßner, sie sich selbst zu überlassen und setzte meine Beschäftigungen allein und mit dem Kinde, gerade als sey sie nicht gegenwärtig, fort. Sie glaubte mich durch allerlei Störung ärgern zu können, stieß mir das Tintefaß um, trat dem armen Fidel auf die Pfote, klapperte, während ich den Flügel spielte, mit Schubladen und Schlüsseln. – Statt mich empfindlich zu zeigen, bewies ich ihr, mit aufbringend guter Laune, daß mir dieses Alles keinen Abbruch thue, und brachte es vielleicht durch diesen Muthwillen dahin, daß sie ihren Racheplan änderte, oder für's erste ihren Gatten allein zu dessen Gegenstand ersah. Der arme Mann kam ziemlich spät, und offenbar, durch andre Mittel noch, als des Schulkameraden Gesellschaft, aufgeregten Lebensgeistern, nach Hause. Er sagte seiner Frau einen treuherzigen guten[131] Abend; wie sie ihn aber mit einer sehr unanständigen, auf sein Aussehen gegründeten Bemerkung zurück wies, setzte er sich neben mich, meine Freundlichkeit auf eine Weise preisend, die Mistriß Boswell nothwendig erbittern mußte. Ich sah das voraus und eilte aus dem Zimmer. Aus der wüthenden Heftigkeit, mit welcher ich sie aber beim Herausgehen ihre Schelle anziehen und gleich darauf Herrn Boswell fluchend von seinem Bedienten in sein Zimmer führen hörte, mußte ich vermuthen, daß der Auftritt zwischen den beiden Eheleuten ein sehr unangenehmens Ende genommen hatte.
Mehrere Tage setzte Mistriß Boswell ihr Schmollen nun ganz systematisch fort. Sie blickte nicht auf, nahm an keinem Gespräch Antheil und fügte noch ein paar andre ungewöhnlichere Kunstgriffe hinzu: Sie hielt ihr Taschentuch fleißig vor die Augen, als suche sie Thränen zu stillen, und verweigerte jede [132] Speise mit einem Ausdruck von Ekel, der uns armen gesunden Leuten unsre Eßlust, als die roheste Befriedigung eines schlechten Bedürfnisses, vorwarf. Was an ihren Thränen sey, erfuhr ich sehr bald; denn da sie bald wahrnahm, daß mich ihr Spiel nicht täuschte, ersparte sie sich die Mühe, es in meiner Gegenwart fortzusetzen und nahm es nur bei Herrn Boswells Eintritt wie der vor. Ob aber der Zorn nicht wirklich ihre Eßlust verdorben, blieb mir eine Zeitlang zweifelhaft. Nach einigen Tagen, in denen der beängstigte Ehemann jedes Mittel, ihr Rede abzugewinnen und durch die niedlichsten, ihr heimlich zubereiteten Leckerbissen ihre Eßlust zu reizen vergeblich versucht hatte, kam er auf den Einfall, bei einem Zuckerbäcker in eigner Person eine Auswahl der zierlichsten Waaren zu kaufen. Er kannte seiner Gattin Vorliebe für solche Näschereien, suchte sie deshalb, schwer bepackt, mit einigem Selbstvertrauen in [133] ihrem Ankleidezimmer auf, und neben ihm schlüpfte Fidel, weil er mich darin witterte, herein. Mit der schmeichelhaftesten Einladung häufte der gutmüthige Gatte überzuckerte Pomeranzenschalen, Quittenschnitze und Zuckerbrötchen vor seiner Herrin aus. Ich war auf dem Punct, über die großen Kinder, die sich durch Bonbon versöhnen wollten, zu lachen, als Fidel unter einem Tischumhang ein tüchtiges Stück Rinderbraten hervorzog, den die Dame wahrscheinlich bei meinem Eintritt dahin geflüchtet gehabt hatte. Nun vermochte ich nicht mehr das Lachen zu unterdrücken. Doch die Bosheit des einen, die Schwäche des andern Theils war mir zu verächtlich, um meinen Zögling davon Zeuge seyn zu lassen; ich nahm Jessy bei der Hand, um sie aus dem Zimmer zu führen, als ich Mistriß Boswell den Feuerhaken ergreifen sah, um den armen Fidel, der seine Beute auf meinen Befehl [134] sogleich hatte fahren lassen, damit zu verfolgen. Hier verließ mich meine Fassung. Ich ergriff ihren Arm und sagte strenge: Mistriß Boswell, erniedrigen Sie sich nicht selbst! – So wüthend sie war, wirkte doch meine entschlossene Bewegung; sie senkte den Arm und ließ den Hund unverletzt mit mir das Zimmer verlassen. Von diesem Augenblick an war aber das arme Thier der Gegenstand ihrer Verfolgung; sie verjagte ihn, wo er ihr begegnen mochte, und gab mir durch die Herzlosigkeit, mit der sie ihn aus dem Zimmer stieß, manchen Stich ins Herz. In meinen Verhältnissen ward mir die Nothwendigkeit klar, diesen Gegenstand des Aergernisses zu entfernen; aber mein Stolz widersetzte sich so gut wie mein Gefühl, ich fand eine knechtische Nachgiebigkeit darin, meinen treuen Kindheitsgefährten einer unbilligen Leidenschaft zu opfern. – Doch bald zog der arme Fidel selbst sein Schicksal herbei [135] Eines Tags unterstand er sich, vor der Thür des Eßzimmers zu liegen und seine ehrlichen Vorderpfoten der daher schreitenden Mistriß Boswell recht eigentlich zum Opfer zu bieten. Sie benutzte seine Stellung, trat ihm unbarmherzig auf dieselben, und Fidel biß sie sehr unsanft ins Bein. Ihr Geschrei übertraf ihren Schmerz und die Wichtigkeit der Wunde; aber von nun an war ihr Ansuchen, den Hund aus dem Hause zu schaffen, gerecht, und ich dachte mit widerspenstig schwerem Herzen darauf, mich darein zu fügen. Ich wußte keine Zuflucht für ihn, wie Cecilens arme Behausung; von ihr allein konnte ich einige Güte für meinen alten Gespielen hoffen, wenigstens bis zu ihrer Abreise ins Hochland war er bei ihr versorgt, und weiter, wie auf die nächste Zukunft, wagte ich nicht mehr zu denken. Wollte meine jugendliche Fantasie ihren Flug weiter wagen, so stieg die Erinnerung aller meiner zertrümmerten [136] Aussichten vor mir auf, und statt zu Planen und Hoffnungen, schwang sich mein Geist auf ihren Fittigen im Gebet zu dem einzigen Beschützer, von dem ich Hülfe zu erwarten hatte, empor. Ich schickte mich den nächsten Morgen an, meinen armen Liebling zu Cecile Graham zu führen. Jessy, welche meine Absicht auszugehen bemerkte, bat, mich begleiten zu dürfen, und da ihr wiederholtes Verlangen nicht bei mir fruchtete, gerieth sie, was ihr jetzt selten und gegen mich seit langer Zeit gar nicht mehr geschehen war, in einen der Anfälle von lautem Weinen, das ihr die Gewährung ihrer Bitten, von Seiten ihrer Mutter, zu verschaffen pflegte. Auch dieses Mal erreichte sie ihren Zweck; denn obgleich ich Mistriß Boswell einige Gegenvorstellungen machte, ertheilte ihr diese doch die Erlaubniß, mit mir zu gehen. Der Mutter stand es zu, über ihr Kind zu verfügen, ich war daher im Begriff, [137] mich mit Jessy auf den Weg zu machen, als mir Fidel, die Veranlassung dieser ganzen Begebenheit, fehlte. Seine Abwesenheit war so etwas seltnes, daß Bediente und Köchin mit mir suchten und riefen; um aber Jessy's Ungeduld zu vermeiden, beschloß ich für's erste Cecilen ihren neuen Kostgänger anzukündigen, worauf sie ihn selbst abholen konnte, und ließ ihn zurück. Bei meiner Ankunft an der Thür meiner guten Hochländerin ward ich schmerzlich überrascht, diese offen und die ganze ärmliche Wohnung leer und verödet zu finden. Mir schien es unbegreiflich, wie sie hatte, ohne Abschied von mir zu nehmen, die Stadt verlassen können; es mußte mir als einen Beweis ihrer geringen Anhänglichkeit an mich gelten, weshalb ich mit thränenden Augen in den beräucherten engen Mauern umhersah, von denen ich mir, wie ich nun glaubte, fälschlich eingebildet hatte, daß sie ein, mir ergebnes Wesen bewohnt hätte. [138] Um doch einige Nachricht von Cecilens Schicksal zu erhalten, klopfte ich an die nächste, auf demselben Gange gelegne Thür. Man antwortete mir nicht; ich öffnete sie, ward aber von einem so furchtbaren Qualm unreiner Dünste angefallen, daß ich Jessy befahl, auf dem Gange zu warten, bis ich meine Nachfrage gemacht. Ich trat darauf ins Zimmer; das wenige Licht, welches das mit Lumpen verhangne Fenster gewährte, ließ mich erst spät ein Bett in einem Winkel erblicken, an dessen Inhaber, ein junges Weib, ich meine Frage um die Zeit von ihrer Nachbarin Abreise richtete. Da ich nur ein undeutliches Stöhnen zur Antwort erhielt, bewog mich ein unbedachtes Mitleid näher zu treten, und mit Schrecken bemerkte ich in der Kranken die irren Blicke, die ängstliche Gesichtsröthe des heftigsten Fiebers. Ich erinnerte mich, Herrn Boswells Hausarzt von ansteckenden Nervenfiebern, die unter der ärmern Classe häufig [139] wären, sprechen gehört zu haben, wendete mich also schnell ab – doch jetzt erblickte ich Jessy, die, meinem Gebot ungehorsam, mir ins Zimmer nachgefolgt war und mit kindischer Neugier sich neben mich hindrängte, um die Kranke recht genau ins Auge zu fassen. Ich zog sie schnell hinweg und rief eine jetzt eintretende Verwandte oder Wärterin auf den Gang hinaus, um mir über Cecile Grahams Abreise einige Nachweisung zu geben. Eigne Noth, wenn sie recht dringend ist, stumpft ungebildete Menschen für fremdes Interesse ab. Die Frau wußte mir gar nichts von ihrer Nachbarin zu sagen, als daß sie, kurz ehe ihre Base das Fieber bekommen, abgereist sey. Mit inniger Wehmuth über Cecilens leichtsinnige Trennung von mir und bange Sorgen über die Folgen, welche dieser unvorsichtige Krankenbesuch auf meinen Zögling haben könnte, eilte ich nach Hause und eröffnete sogleich Mistriß Boswell den [140] Vorfall mit der dringenden Bitte, ihren Hausarzt um Vorkehrungsmittel für die Kleine zu ersuchen. Ich dachte so wenig an meine eigne Gefahr, daß ich bereit war, den Unwillen der Mutter über die Gefahr ihres Kindes unbedingt über mich ergehen zu lassen; allein zu meinem erstaunen beschäftigte diese sie gar nicht, sondern, nur für ihre persönliche Sicherheit sorgend, sprang sie, sobald sie meine Erzählung vernommen hatte, mich abwehrend zurück, rief ihrer Kammerfrau, um ihr Essig zum Waschen und Räuchern zu bringen und bat mich um Gotteswillen, nebst Jessy ihr doch ja nicht zu nahe zu kommen. Eine so heidnische Aengstlichkeit empörte mein Gefühl; ich verhieß ihr, den Rest des Tags mit ihrer Tochter nicht mehr von meinem Zimmer zu kommen und eilte dahin. Vor meiner Tühr lag Fidele lang ausgestreckt, in sonderbar starrer Stellung. Verwundert, ihn nicht bei meiner Ankunft frohlocken zu [141] sehen, rief ich seinen Namen. Er suchte den Kopf aufzuheben, öffnete noch einmal seine geschwollnen Augen, wedelte mit dem Schwanz und verschied. Seine Stellung, seine vor dem Tod erstarrten Glieder, die Umstände, unter denen dieser Vorfall statt fand verriethen mir dessen Ursach und Urheber. Dennoch suchte ich meine Fassung zu behalten; ich rief den Kutscher herbei, der beim ersten Anblick des Leichnams ihm das Vergiftetseyn ansah; ich befragte ihn und die übrigen Dienstleute auf ihr Gewissen, ob ihnen etwas von Fideles Schicksal bekannt sey? Sie versicherten alle mißbilligend, daß der Hund Keinem im Wege gewesen und sein Tod wohl mehr gemeint sey, mich zu kränken, als das arme Thier bei Seite zu schaffen. Diese allgemeine Meinung vermehrte meine Ueberzeugung von Mistriß Boswells rachsüchtiger That. Mit der moralischen Ueberzeugung, daß es ein Verrath am Guten sey, eine solche [142] feige Grausamkeit stillschweigend zu dulden, und daß die Abhängigkeit von einer Frau, die verächtlich genug dächte, ihrer Rache ein unschuldiges Thier zu opfern, schwerer sey wie jedes Loos, das mich treffen könnte, begab ich mich in Mistriß Boswells Zimmer, um ihr meine Denkart über diese Handelsweise zu erklären. Es ist eine peinliche Aufgabe, den Seelenzustand eines schlechten Menschen zu beobachten. – Mich dauerte diese Frau wegen des Schreckens, der sie bei meiner unbestimmten Anklage über die Todesart meines Hundes ergriff. Die Furcht vor der Rüge des Unrechts, selbst wenn sie mit gar keiner Strafe verbunden werden kann, ist wohl die letzte Stimme des Rechts in des Schuldigen Busen. Ihr Erbleichen, ihre Versicherung, daß es niemanden einfallen könnte, ein unschädliches Thier, das eines Andern Eigenthum sey, zu tödten, hätte mich fast in die Nothwendigkeit gesetzt, [143] meine Sache unausgemacht zu lassen, als ich beobachtete, daß Mistriß Boswell mit einer gewissen Vorsätzlichkeit ihr Taschentuch auf ein vor ihr am Boden liegendes Papier fallen ließ und dann es aufzuheben bemüht war. Ich kam ihr zuvor, griff aber zugleich nach dem Papier und las auf den ersten Blick die nach Apothekerart geschriebne Ueberschrift, »Arsenik.« – Dieser Beweis einer That, für die mirs bisher ganz an materiellen Beweisen gefehlt hatte, benahm mir alle Klugheit, ich warf ihr mit dem Ausdruck der tiefsten Verachtung den elenden Tod meines Hundes vor und setzte hinzu, daß ich, überzeugt durch mein angestrengtestes Bemühen, ihrem schlechten Beispiel bei ihrer Tochter nicht entgegen wirken zu können, sie bäte, dieselbe wieder aus meinen Händen zu nehmen und mich zu entlassen. Mit diesen Worten eilte ich von ihr hinweg.
Es bedurfte nur weniger Minuten, um [144] mir den Umfang des Opfers, das ich meinem Gefühl für Recht gebracht hatte, zu ermessen. Ich besaß weder Geld, noch Freunde, noch die Tüchtigkeit harte Dienstarbeit zu verrichten, und das schwere Loos, was mich erwartete, war nicht Gottes heilige Führung, es war die Folge meines leidenschaftlichen Willens. Meine Ungeduld, Andrer Unart zu tragen, schloß mich jetzt aus dem letzten Verkehr, das mir noch mit Menschen übrig geblieben war, aus; und indem ich selbst so wenig Duldsamkeit erwiesen hatte, konnte mein Vertrauen in die meiner Brüder nicht groß seyn. So demüthigend meine Selbsterkenntniß und so trostlos meine Aussicht war, hielt mich mein stolzer Sinn dennoch auf recht. Meine einzige Unterstützung war das erste Quartal meines Jahrgehalts von Seiten Mistriß Boswell; es war jetzt völlig verflossen und ich konnte an dessen Auszahlung, so gering die Summe auch seyn mochte, nicht zweifeln. [145] Seit ich es bei meinem ersten Besuch in diesem Hause Mistriß Boswell überlassen hatte, den Lohn meiner Bemühungen zu bestimmen, war dieser Punct nie mehr erwähnt worden; Schüchternheit, Stolz, Nachlässigkeit und Ekel, durch einen Handlohn meine Knechtschaft zu beurkunden, hatten mich eines um das andre einen Schritt zu thun verhindert. Jetzt drang die Noth, und ich bat Mistriß Boswell noch an demselben Tag, mit mir zu rechnen. Sie antwortete mit anscheinendem Befremden: daß sie dieses nie für nöthig gehalten, daß sie bei meinem Eintritt in ihr Haus verstanden habe, es sey mir nur um einen anständigen Schutz zu thun, und keineswegs gesonnen sey von dieser Ansicht zu weichen. Meine Fehlschlagung bei dieser Aeußerung war so schmerzlich, mein Unwille so bitter, daß ich das Gespräch fallen ließ und den Entschluß faßte, Herrn Boswell als Vater und Hausherr mit meinen Ansprüchen [146] bekannt zu machen. Sobald ich ihn zu Hause wußte, begab ich mich in sein Zimmer. Sein Schrecken bei meiner Eröffnung war unbeschreiblich; er sprach von meiner Absicht, seiner Tochter Erziehung aufzugeben, wie von dem bittersten Unglück, das ihn treffen könnte, und wendete die dringendsten Bitten an, meinen Entschluß zu ändern. Mit einer Schonung, die aus seiner angewohnten Furcht vor seiner Gattin entstand, gestand er die Nothwendigkeit für Jessy's künftiges Wohl ein, ihr andre Lehren, ein andres Beispiel, wie das seiner Mutter, vor Augen zu stellen, und, sagte er, nachdem mich neben meinem übrigen harten Loos die Sorge um das Wohl meines Kindes nicht mehr drückte, athmete ich seit ihrer Geburt zum erstenmal leichter auf, weil ich sie in Händen sah, die alle meine Wünsche übertrafen. Ich kann daher um keinen Preis in Ihr Begehren willigen; ich kann es für Sie selbst nicht recht heißen, darauf [147] zu bestehen.« Ich bestand aber doch darauf. Die zahme Anerkennung seiner elenden Schwäche gegen ein böses Weib empörte mich und bewies mir, wie ich, auf väterliches Ansehen mich berufen könnend, in keinem Falle hoffen dürfte, durch meine Sorgfalt allein Jessy gegen ihrer Mutter Einfluß zu bewahren. Mit großer Betrübniß stand er endlich von seinen Bitten um mein Bleiben ab und versprach meiner anerkannt gerechten Geldforderung, sobald es ihm möglich sey, über eine solche Summe, ohne Zwiespalt mit seiner Frau, zu verfügen, aufs vollständigste zu genügen. Doch zu diesem Zweck beschwor er mich, noch einige Tage in seinem Hause zu verweilen, wobei ich zugleich Mittel finden würde, selbst mit mehr Besonnenheit über meine Zukunft zu verfügen.
Ach zu diesem so dringenden Geschäft blieb mir keine Zeit! nachdem ich die ersten vier und zwanzig Stunden nach jenem unglücklichen Besuch [148] in Cecilens verlaßner Wohnung in erfolglosem Nachsinnen über meine Lage zugebracht hatte, klagte Jessy über Kopfweh und Schmerz in allen Gliedern; gegen den Abend brannte ihr Köpfchen in trockner Gluth, und noch einmal vier und zwanzig Stunden, so hatte sich das gefährlichste Nervenfieber, als Folge der Ansteckung an dem Bette des armen Weibes erklärt. Mistriß Boswell gerieth in eine Angst, die an Verrücktheit grenzte. Sie berief alles, was sie von Aerzten erfragen konnte, ließ Wahrsagerinnen kommen, um den Ausgang der Krankheit zu erspähen, Segensprecherinnen, um ihr Zimmer, die Treppe, die Wege im Haus, welche sie täglich gehen mußte, zu besprechen, allein ihr Kind sah sie nicht wieder; dieses wurde mit mir und seiner Wärterin in das entlegenste Zimmer gebannt, niemand, der mit uns verkehrte, durfte ihr nahen, und ihr Gatte erhielt das strengste Verbot unser Zimmer [149] je zu betreten. Doch das Vatergefühl war in ihm zu mächtig, um sich solcher herzlosen Vorsicht zu fügen; da es ihm Tags über nicht vergönnt war, sich unbemerkt fortzustehlen, brachte er die Hälfte der Nacht an dem Krankenbett seines Kindes zu und theilte meine Sorgfalt für sie mit einer Beharrlichkeit, der ich diesen charakterlosen Mann nicht fähig gehalten hätte. Doch meine kleine Kranke war gleich fühllos gegen seine Zärtlichkeit, wie gegen seine Sorge; ihre Liebe für mich schien ihr einzig noch übriges Gefühl; auch für sie war ihr kein willkürlicher Ausdruck geblieben, doch meine Nähe war es, die sie ruhig erhielt, meine Stimme, die den dichten Nebel, der ihr Bewußtseyn umfangen hielt, hinlänglich zerstreute, um dann und wann auf ihren Ruf ihr trübes Auge zu öffnen und ausdruckslos auf mich hinzustarren. Unter diesen Umständen war es nicht mehr möglich dieses Haus zu verlassen. [150] Ich kam nicht mehr von ihrer Seite, und wenn ich, vom Wachen erschöpft, einen Augenblick der Ermattung erlag, ruhte mein Haupt auf demselben Kissen, wie das der halb entseelten Kranken. Meine Sorgfalt gewann Herrn Boswells Dankbarkeit in einem Grade, den der traurige Vergleich zwischen der Hingabe einer Fremden und der selbstsüchtigen Vorsicht einer Mutter wohl erhöhen mußte. In einer der Nächte, wo das Uebel auf dem höchsten Punct schwebte, bewog ich ihn, sich gegen den Morgen zur Ruh zu begeben; wie er vor der Thür des Zimmers, bis wohin ich unter der Versicherung, ihm am Morgen sogleich Nachricht von der Kranken zu geben, ihn begleitet hatte, Abschied nahm, ergriff den sonst schwerfälligen Mann das Gefühl der Verpflichtung, die er mir zu haben glaubte, er faßte meine beiden Hände und, sie festhaltend, drückte er mit dem Ausruf: »Gott lohne Dir frommen [151] Mädchen deine Liebe!« seine Lippen auf meine Stirn. In demselben Augenblick gewahrte ich Mistriß Boswell, die ihres Gatten nächtliche Abwesenheit aus seinem Schlafzimmer mußte wahrgenommen haben und jetzt im nachlässigsten Nachtkleide an der Thür des Vorzimmers uns belauschte. Erstarrt von Schrecken und Erwartung der kommenden Dinge, blieb ich stehen; sie aber fuhr wie eine Furie auf uns zu und rief mit bebenden Lippen: »Schön! o schön! nun habe ich genug gesehen! aber ich werde nicht so thörig seyn dergleichen zu leiden. Nein, das werde ich nicht.« – Bei diesen schimpflichen Worten sah ich mich um Schutz nach Herrn Boswell um, allein sein unmännlich furchtsamer Ausdruck ergrimmte mich so, daß meine Fassung zurückkehrte. Mit Stolz und Verachtung rief ich ihr zu: »Was wollen Sie nicht dulden, gnädige Frau? Ihre eignen thörigen Träume? Das würde ich Ihnen [152] rathen.« – Feig und ungeschickt wie sie war, erlosch ihre Heftigkeit vor meiner festen Rede, allein ihr Gift strömte fort, mit wankender Stimme sagte sie: »Ich gedenke mit Ihnen keine Worte zu wechseln, allein ich bitte Sie, Miß Percy, mein Haus friedlich zu verlassen und nicht durch Ihr Bleiben andrer Leute Ehemänner ...« Hier verließ mich selbst der Wunsch, gefaßt zu erscheinen, ich rief mit erstickter Stimme: »Wenn ich nicht fürchtete mehr zu sagen, wie einer Christin geziemt, so würde ich Ihnen antworten« – und mit diesen Worten eilte ich in das Krankenzimmer zurück, wohin sie, wie ich wußte, mir nicht folgen würde.
Hier blieb ich in das schmerzlichste Nachdenken vertieft. Mein Gefühl weigerte sich, eine Stunde länger in diesem Hause zu bleiben, alles was mich jenseits desselben erwarten konnte, war mir in Vergleich des Unrechts, [153] was mich hier getroffen hatte, erträglich; ich trotzte jedem fernern Geschick, Gott vertrauend, aber nicht als meinem leitenden Vater, sondern als Bundsgenossen meines Zorns. Die Gegenwart der Krankenwärterin, die mit höhnischem Spott die Wuth der leidenschaftlichen Frau belachte, traf wie Pfeile mein Herz, denn ich begriff, daß eine Andre ihres Gleichen eben so über meine Rolle bei diesem Vorfall zu lachen sich erfrechen könnte. Die Stelle brannte unter meinen Füßen – aber sollte ich die bleiche Kranke, die vor mir da lag, ein Bild des nahen Todes, verlassen? Ihr erloschnes Auge fesselte mich, ihr kurzes Athmen hielt mich zurück. – Ich drängte alle meine persönlichen Empfindungen in mein schwellendes Herz zurück und beschloß, bis zur Entscheidung von Jessys Schicksal meinen Platz in ihrem Krankenzimmer nicht zu verlassen. – War es denn reine Liebe zu Jessy, die mich bewog? – [154] Nein! – diese Liebe war da, und rein, und mehr wie sie: Liebe für meine bei ihr übernommene Pflicht. Allein der Trieb, durch meine heldenmüthige Aufopferung Mistriß Boswell noch mehr ins Unrecht zu setzen, wirkte auch, und so hat das Evangelium recht, wenn es zu beten lehrt: Ich bin ein unnützer Knecht und mangle des Ruhms, den ich haben sollte.
Der Arzt verkündigte mir noch denselben Tag, daß mein Beruf an dem Krankenbett bald entschieden werden würde. Er verhieß nach den vorhandnen Anzeichen eine sicher eintretende Krisis, die über Tod und Leben entscheidend seyn mußte. Ich bat ihn, den Eltern der Kranken diese ängstliche Erwartung zu ersparen, und versprach ihm, bis diese wichtige Stunde vorüber sey, mich keinen Augenblick von dem Bette des Kindes zu entfernen. Der Tag verging in banger Stille. Mistriß Boswell ließ nichts von sich hören, sie mußte [155] Mittel gefunden haben ihren Gatten zu entfernen, denn auch er ließ sich nicht im Krankenzimmer sehen. Ich war froh, auf diese Weise alles Widerspruchs und aller Heftigkeit überhoben zu seyn; die verdorbne Luft, welche ich nun so lange Zeit athmete, hatte mein Blut entzündet, meine Glieder waren matt und schwer, meine Augen wurden vom Licht schmerzlich angegriffen, ich war unruhig und hatte doch mich zu bewegen keine Kraft. Stündlich nahm mein Uebelbefinden zu. Der Arzt, wie er seinen Abendbesuch machte, erschrak über meine wilden Blicke und rieth mir augenblicklich zur Ruhe zu gehen, allein ich hatte beschlossen erst Jessy's Schicksal entschieden zu sehen, was dann geschehen würde, schwebte vor meiner glühenden Stirn wie ein Bild des ruhigen Grabes.
Endlich stellte sich die schicksalsvolle Stunde ein. Ein tiefer Schlaf sank auf die Kranke [156] herab, allmählig erschlafften die gespannten Züge in zwanglose Schlaffheit, die Haut, welche die Hitze gedörrt hatte, schien sich auszufüllen, ihre Schmutzfarbe wandelte sich in krankes Weiß das aber wieder Leben verrieth, denn große Schweißtropfen sammelten sich auf dem Antlitz, das keiner Todtenlarve mehr glich. Kaum athmend, saß ich neben dem Bett und starrte betend dieses Wunder an. – Betend ohne Sinn, denn mein Kopf, schon von der Krankheit eingenommen, hatte nur für die eine Vorstellung: Jessy's Genesung, noch Raum. Jetzt schlug sie die Augen auf. Matt aber mit liebevollem Ausdruck richtete sich ihr Blick auf mich, und mein Name, leise gelispelt, war das Pfand ihres zurückgekehrten Bewußtseyns. Kaum nahm ich mir die Zeit, das Kind zu beruhigen, die Wärterin an ihr Bett zu setzen, dann flog ich zu Herrn Boswell, ihm die beglückende Nachricht zu bringen. Er war in [157] seinem Ankleidezimmer, ich trat ein und erzählte – ich weiß nicht wie. – Gott sey Dank! rief er, und vermochte nicht mehr, sondern brach in Thränen aus; dann segnete er mich dafür, daß ich sein Kind gerettet, wie er meinte, und dann eilte er mit mir aus dem Zimmer, die Genesende zu sehen. Bei unserm Austritt aus seiner Thür begegneten wir Mistriß Boswell, die, bleich vor Wuth, sich nicht entblödete, meinen Besuch in ihres Gatten Zimmer auf das pöbelhafteste zu erklären. Ich rief, nicht zornig, aber erstarrt vor dem Mißton zwischen des Vaters Dankgebet und der Mutter Lästerung: »Weib, ich meldete Deinem Gatten, daß Gott Euer Kind errettet hat.« – Was sie aber antwortete, vernahm ich nicht, ich verstand nur, daß sie mir augenblicklich ihr Haus zu verlassen gebot. Hier verließ Herrn Boswell die angewohnte Schlaffheit seines Betragens, um einem Anfall von unwürdiger Heftigkeit[158] Platz zu machen; er faßte seiner Gattin Arm, rief einige donnernde Worte, die ich mir nicht erinnre, warf sie zur Seite und eilte in der Kranken Gemach. – Die Frau erregte mein inniges Mitleid, aber meine Kräfte sanken so schnell, daß ich nicht, was ich gern wollte, ihr zu sagen im Stande war. Ich gehe, ich gehe, gleich gehe ich, sprach ich stammelnd, wankte nach meinem Zimmer und sank ohne Besinnung zu Boden.
Eine sonderbare Betäubung bemächtigte sich nun meiner. Schwarze Schatten, von blutrothen Lichtstreifen durchkreuzt, schwammen vor meinem Blick, abscheuliche Gespenster wimmelten um mich her, und eines von ihnen, das scheußlichste, legte seine glühende Hand an meine Stirn. Dann folgte eine dunkle Hoffnung, daß alles nur ein schrecklicher Traum sey, aus dem ich bald erwachen würde, ich strebte mich aufzurichten, diesen Traum abzuschütteln[159] – doch plötzlich sah ich mich am Rand eines Abgrunds liegen und mußte froh seyn, mich fest an die glühenden Felsen schmiegen, jede Bewegung, bei deren geringster ich nothwendig herabstürzen mußte, zu vermeiden. Doch noch einmal war ich mir bewußt, daß diese Schrecken nur in Täuschung beständen. Ich glaubte mein Zimmer zu erkennen, ich war mir bewußt, daß es bestimmte Gegenstände gäbe, an die ich denken sollte; doch, anstatt sie zu finden, drängten Larven und Töne sich um mich, und der Gedanke, den Verstand verloren zu haben, schnitt furchtbar durch mein Gehirn. Nach einer Zeit, die ich nicht ermessen konnte, glaubte ich eine Gestalt sich mir nahen zu sehen, die ich für meine Mutter oder Miß Mortimer hielt. Ich rief sie, sie nahte sich mir, ergriff mich aber unsanft, hüllte mich in ein rauhes dunkles Gewand, das ich für mein Leichentuch hielt, und übergab mich zwei finstern [160] Gespenstern, die mich auf ein Rad legten, das sich im Wirbel umherdrehte, bis ich alles Gefühl und Bewußtseyn des Schmerzes selbst verlierend, dem Elend dahingegeben war.
Der erste Eindruck, von dem ich mir wieder Rechenschaft zu geben vermochte, war der Ton rauher, mißklingender Stimmen, die mich aus einem tiefen, schweren Schlummer zu wecken schienen. Ich öffnete meine Augen und befand mich in dichter Finsterniß. Mühselig hob ich mein Haupt empor und empfand eine scharfe Nachtluft, die in ein kleines Fenster zu meinen Füßen, doch hoch an der Wand, hereinströmte. Die Nacht war dunkel, doch unterschied ich endlich, daß es mit eisernen Gittern verwahrt sey. »Bin ich denn in einem Gefängniß?« fragte ich mich bestürzt? aber Schwäche senkte mein Haupt wieder nieder und ich dachte: »mag es auch ein Gefängniß seyn! für die wenigen Momente, die ich noch zu leben habe, ist das [161] einerlei. »Ich schloß meine Augen und meine noch immer trüben Gedanken erhoben sich sehnsuchtsvoll zu der Welt, die mir in glücklichen Tagen so fremd war und mit der mich auch die Prüfung des Unglücks noch wenig vertraut gemacht hatte. Nicht lange so vernahm ich eine weibliche Stimme, die im Ton der sanftesten Klage zu singen begann; dann lebhafter fortfahrend, unglückliche Liebe besang, bis sie von einer ersterbenden Cadenz zum Gesprächston übergehend, in unzusammenhängenden Reden die Verwirrung ihrer Begriffe offenbarte, und sich selbst in die wildeste Heftigkeit hinein schwatzend, in die stille Nacht hinein rief. Endlich schien der Ton einer fernen Glocke ihre wandernden Gedanken in einen bestimmten Jammer zusammen zu fassen; denn sie rief ängstlich: sie läuten, sie läuten! und verstummte in herzbrechendem Schluchzen. – In einem Tollhaus! sagte ich mit selbst und mein Blut erstarrte [162] vor Schrecken; aber er dauerte nur einen Moment. Und wenn auch? jenseits der Pforte an der ich stehe, ist der Verrückte und der tiefste Philosoph seiner Fesseln entledigt. – O wär ich ihr wirklich so nahe gewesen dieser Pforte, welche beschämende Rechenschaft hätte ich dem Hausherrn von dem Geschäft, das er mir übertragen, geben müssen! Heil, daß seine Welt so groß ist, um jedem Schüler Hoffnung zu geben, daß er in ihr irgendwo Raum zur Belehrung, zur Besserung finden werde! Doch in diesem Augenblick wurden mir diese Betrachtungen nicht klar; mein Geist war mit meinem Körper so geschwächt, daß meine Todeserwartung sehr bald in tiefen, aber dieses Mal in einen natürlichen Schlaf überging.
Bei meinem auf ihn folgenden Erwachen, war es heller Tag. Ich konnte nun meinen Aufenthalt übersehen. Ich befand mich in einer Art von Zelle, eben nur lang genug für mein [163] niedriges Bett, die nackten Wände waren mit zahllosen albernen Sprüchen beschrieben, aber durch sie hin hatte eine meiner unglücklichen Vorgängerinnen einen Namen, der vielleicht die Veranlassung ihres Elendes war, in jeder Richtung mit den zärtlichsten Beinamen geschrieben. Nie kann ich diesen Namen vergessen, so unbekannt mir der blieb, der ihn trug, der ihn schrieb; denn wenn ich in der erdrückenden Unthätigkeit meiner Einkerkerung alle diese Sprüche hundert Mal gelesen hatte, kehrte meine Aufmerksamkeit auf ihn zurück. Indem ich noch meine Umgebungen betrachtete, hörte ich einen festen Schritt meiner Thür nahen, den Schlüssel im Schloß sich umwenden, und ein Mann mit einem strengen dunkelgefärbten Gesicht trat herein. Er bot mir einige Speise der ärmlichsten Art. Mein krankhafter Ekel bewog mich, sie schnell von mir zu wehren; darauf reichte er mir einen Trank von Milch [164] und Wasser, den ich mit Begierde verschluckte und soweit es meine Schwäche gestattete, dafür dankte. Des Mannes strenger Blick milderte sich ein wenig. »Ihr seyd heute früh etwas besser?« fragte er. – »Ich werde es bald seyn«, erwiederte ich mit schwachem Lächeln. Er wendete sich um fortzugehen, als mich der Gedanke ergriff, daß ich nach meiner Auflösung, die ich für unfehlbar sich nahend ansah, diesem Manne, vielleicht seinen noch roheren Gehülfen, überlassen seyn könnte; ich bot alle meine Kräfte auf, rief ihn zurück und bat: »wenn es mit mir aus ist, so bittet doch – aus Barmherzigkeit! bittet irgend ein frmmes Frauenzimmer, daß sie für meinen Leichnam sorge! Ich war von gutem Stande und bin keiner Unanständigkeit gewohnt.« – Der Mann versprach ohne Schwierigkeit mir zu genügen und ermunterte mich dadurch noch mehr zu bitten. »Ich habe einen Freund, dem möchtet Ihr [165] doch auch schreiben!« – »Warum nicht, wie heißt er?« fragte er eifrig. – Herr Maitland, der reiche indische Kaufmann. Schreibt ihm Ellen Percy sey hier gestorben und habe seiner mit Achtung und Dankbarkeit gedacht.« – Der Wärter sah mich einen Augenblick mit Erstaunen an, dann lächelte er ungläubig und ging mit den sorglos ausgesprochnen Worten: »ja, ja, ich werde es besorgen« aus der Zelle.
Meine zitternde Hoffnung, meine freudige Zuversicht eines heran nahenden Todes, ward diesen ganzen Tag von nichts als dem Eintritt des Wärters, der mir zu bestimmten Stunden Nahrung brachte, unterbrochen. Eine ruhige Nacht stärkte meine Kräfte so merklich, daß den folgenden Tag, mit der Möglichkeit zu leben, auch die Freude am Leben zurückkehrte. Mit dieser Freude ward aber auch das schreckliche Bewußtseyn meiner Lage in mir klar. [166] Ich begriff, daß Irrthum oder Bosheit die Bewußtlosigkeit meines, von Jessy geerbten Fiebers für einen Zustand angesehen hatte, der mich in die Classe der Unglücklichen, welche diese Anstalt bewohnten, beigesellen mußte. Welche helfende Hand würde sich aber, wenn Bosheit mich hier festhielt, meiner erbarmen? Kein lebendes Wesen entbehrte mich von allen, die mich jemals gekannt; Niemand fand eine Lücke, da wo ich meinen Platz in der Gesellschaft besessen; wer sollte nach mir forschen? wer an mir, an der aus den Lebenden ausgestrichnen, Barmherzigkeit üben wollen? – Meine Unerfahrenheit gab mir keine Möglichkeit an, mir einen Ausgang aus diesem furchtbaren Aufenthalt zu verschaffen. Monate lang hier zu bleiben, Jahre lang vielleicht, war ein Gedanke, vor dem ich meinen schwachen Kopf hüten mußte, denn er drohte mich den Unglücklichen gleich zu stellen, deren herzzerreißende Stimmen [167] die Stille der Nacht mir hie und da zutrug. Sobald mein Wärter am zweiten Tage zu mir eintrat, empfing ich ihn mit der Frage: warum ich mich in dieser Anstalt, zu der mein Zustand mich keineswegs eigne, befinde? »Herr und Mistriß Boswell«, sagte ich, »wissen beide, daß mich das Fieber bei der Krankenpflege ihrer Tochter befiel.« – »Ja, ja, das wissen sie,« antwortete er besänftigend. – »Warum haben sie mich denn hierher geschickt?« – »Ja, für was halten Sie denn dieses Haus«? sagte der Mann nach einigem Nachsinnen. »Denken Sie denn es sey ein Irrenhaus? Es ist eine Krankenanstalt für Kranke Ihrer Art.« – Jetzt nahm ich wahr, daß er mich glaubte als eine Verrückte beruhigen zu müssen. Ich bat ihn dringend, er solle sich auf alle Weise von den sehr gesunden Zustand meines Gehirns überzeugen und mich aus dem Hause entlassen. Er versprach mir, daß dieses, sobald es mein [168] Zustand erlaubte, geschehen sollte. Um meine Kräfte bald herzustellen, sey es aber nothwendig, mich ruhig zu halten, und mir die unnützen Gedanken aus dem Sinn zu schlagen. So schaudervoll dieser unbestimmte Aufschub meiner Wünsche war, mußte ich dem Mann doch rücksichtlich der Nothwendigkeit durch Ruhe Genesung zu erstreben, recht geben. Ich erbat sie innig von Gott, und wendete mein Gemüth mit unendlicher Anstrengung von der Hoffnung der Befreiung aus diesem fürchterlichen Aufenthalt, die meine nächste Zukunft beglücken sollte, zu der Vergangenheit hin, die durch Thorheit, Eigensinn und Unglück mich in diese schreckliche Lage gebracht hatte. Das Nachdenken während der nun folgenden Tage reifte meinen Geist mehr, wie Jahre des Glückes hätten thun können. Mein letztes Unglück hatte meinen stolzen Sinn völlig gebrochen; ich hatte die Vergänglichkeit jedes Erdengutes erfahren, mein letzter Götze [169] war der Vorzug, den mir mein Verstand über Mistriß Boswell gegeben und der Uebergang weniger Minuten von Gesundheit zu Krankheit, hatte diesen Verstand in eine Verfassung gesetzt, die mich den Bewohnern eines Irrenhauses gleichstellte. Wenn ich, statt des Unwillens, mit dem ich der dummen Leidenschaftlichkeit dieser Frau trotzte, mit wahrer Ueberlegenheit des Geistes und Milde des Gemüths sie behandelt hätte, würde der ganze Gang der Begebenheit verschieden gewesen, Jessy's Krankheit viel leicht vermieden, und ich nie in dieses fürchterliche Gewahrsam gekommen seyn. Mit allen diesen Betrachtungen kehrte wirkliche Ergebung in mein Gemüth zurück und durch sie stärkten sich meine Kräfte. Ich war wieder fähig das Bett zu verlassen und den engen Raum meines Kämmerchens zu durchschreiten und lag meinem Wärter täglich dringender an, mir meine Freiheit zu geben. Er verwies [170] mich immer kaltblütig auf das unleugbare Bewußtseyn meiner Schwäche, berief sich aber endlich auf den nächsten Besuch des Arztes dieser Anstalt, der über meinen Aufenthalt entscheiden würde. Von nun an sah ich täglich diesem Besuch, als meiner Rettungsstunde, entgegen. Während die Zeit mit bleiernem Schritte dahin schlich, hatte ich einen Gegenstand ausfindig gemacht, der mir einen Wechsel der Beobachtung, in dem Fortschritt seines Zustandes, darbot. Dieses war ein Schwalbennest, welches seine Bewohner in dem Mauerwinkel meines Zellenfensters erbaut hatten. Ich ward mit dem Thun und Lassen derselben aufs innigste vertraut, sah sie aus- und einfliegen, ihren Jungen Futter bringen, und fröhlich im Sonnenschein die Mauern umkreisen. Während die Alten, Nahrung zu suchen außen waren, kamen die Jungen einer nach dem andern an die Oeffnung des Nestes und riefen in [171] mein Gefängniß hinein, ich sprach zu ihnen hinauf und sie antworteten mir wieder. Ich sah sie wachsen und gedeihen und mir schien es oft, als wär unser Schicksal verwandt, und die Vögelchen würden von ihren Eltern zu ihrem ersten Fluge zu eben der Zeit geführt werden, wenn mein Kerker sich öffnen würde. Eines Morgens verkündigte mir mein Wärter den lang ersehnten Besuch des Arztes, und beantwortete meine zuversichtliche Hoffnung, auf sein unfehlbares Zeugniß sogleich in Freiheit gesetzt zu werden, mit gefälligem Zustimmen. Meine schwachen Nerven geriethen bei dieser Aussicht in ungeregelte Spannung. Mit Mühe hielt ich mich zurück dem Mann freudetrunken die Hände zu küssen, aber auf meine Knie sank ich und strömte, noch in seinem Beiseyn, mein Dankgefühl zu Gott aus. Der Mann sah mich aufmerksam an und verließ kopfschüttelnd das Gemach. Ich ahnte, daß meine Heftigkeit [172] seiner Meinung von der Gesundheit meines Kopfes nicht sehr günstig gewesen war, und suchte mich durch die Beobachtung meiner kleinen gefiederten Freunde zu zerstreuen. Jetzt bemerkte ich, daß ein heftiges Sturmwetter heranzog. Bald sauste der Wind an den Mauern her und der Regen schlug an das Fenster. Die Eltern der jungen Brut steckten die Köpfchen aus dem Nest, gleichsam um das Wetter zu beobachten; ein paar Mal schlüpften sie heraus, versuchten die Flügel zu lüften, aber der Luftstrom trieb sie zurück; sie setzten sich mit gesträubtem Gefieder aufs Gitter, schüttelten den Regen von den Fittichen und krochen wieder in ihr Nest. Um die gewöhnliche Zeit trat der Wächter wieder bei mir ein. »Wenn kommt der Arzt?« fragte ich ängstlich. – »Bei dem Sturm doch nicht?« erwiederte jener verdrießlich, »er reißt ja die Ziegel vom Dach.« – In diesem Augenblick rollten wirklich [173] Ziegel herab; ich blickte zum Fenster und rief: »Ach! das Nest reißt los! o helft, helft mir es retten!« mit diesen Worten deutete ich an das Fenster hin, und auf mein Bett steigend, bemühte ich mich mit meiner Hand an das Fenster zu reichen, um den leichten Anbau zu sichern. Es war zu spät; ein neuer Windstoß ergriff ihn und schleuderte ihn herab, indem die Alten, dem unsichern Schlupfwinkel entfliehend, vom Sturm niedergetrieben, mit ängstlichem Geschrei gegen den Boden flatterten. Meine Schwäche verrieth sich freilich durch den Eindruck, den dieser nichtsbedeutende Zufall auf mich machte. Ach, dem Unglücklichen, der von der Theilnahme seiner Mitgeschöpfe keinen Trost erhält, wird die theilnahmlose Natur zum Propheten und Wahrsager. Dieser Sturm an dem Tage meines ersehntesten Glückes hatte mich schon gequält, das Verderben dieser kleinen Geschöpfe, deren ersten Flug meine, jedes [174] fremden Gegenstandes beraubte Einbildungskraft, so lange als Symbol meiner Befreiung angesehen hatte, brachte mich zur Verzweiflung. Ich rang die Hände und brach in ein convulsivisches Weinen aus. »Nun, da seht Ihr, daß Ihr nicht fähig seyd das Haus zu verlassen«, sagte mein Wärter, der mir bedenklich zugesehen hatte, mit rechthaberischem Ton, »wie würde es Euch gehen wenn Ihr Euch bei andern Leuten auch so thöricht wolltet anstellen«, und hiermit verließ er das Zimmer. – Die Einsicht der furchtbaren Folgen schnell übersehend, welche dieses Mannes Bericht an den Arzt, über meinen Mangel an Fassung, hervorbringen könnte, gab mir Selbstbeherrschung zurück; ich warf mir die Verirrung meiner Fantasie vor, die mit einer Art von Aberglauben in den unzusammenhängendsten Dingen, Beweisgründe für die Leitung meines Schicksals aufgesucht, da es mein besserer Sinn [175] so oft schon gläubig in die Hände eines gütigen Vaters im Himmel gelegt hatte. Mit vielem Kampfe gelang es mir, bei dem Eintritt des Arztes in einer ruhigen Stimmung zu seyn. Er befragte mich sehr sorgfältig um meine Gesundheit, dann sagte er zu dem Wärter: »Herr Schmid, ich wiederhole Ihnen was ich bei dem Eintritt dieses Frauenzimmers gesagt: ihr Uebel eignet sich keineswegs für die Behandlung dieses Hauses.« – »O was das anbetrifft«, antwortete der Wärter mit zuversichtlichem Wesen, »so hätten Sie noch heute Morgen sehen sollen, welchen Auftritt ich wegen eines albernen Schwalbennestes mit ihr hatte.« – »Den will ich dem Herrn erzählen«, nahm ich das Wort, »bitte Sie aber um Entschuldigung, Sie mit meiner kränklichen Empfindlichkeit belästigt zu haben.« Statt der Geschichte des zertrümmerten Nestes erzählte ich aber dem Arzt mit so bündigem Zusammenhang, wie [176] mir immer möglich war, die Veranlassung meiner Krankheit und die Umstände, denen ich mein Einsperren zuschrieb. Der Arzt hörte mich aufmerksam an, that dann viele Fragen, um sich des Zusammenhangs meiner Begriffe zu versichern, und fragte endlich: ob ich ihm gestattete, bei Herrn Boswell meinetwegen Erkundigungen anzustellen. – »Von Herzen gern, wenn Sie keinen andern Weg kennen, sich von meinen gerechten Ansprüchen an meine Freilassung zu überzeugen. Außerdem wünschte ich Herrn Boswells häusliches Unglück nicht durch die Kenntniß von seiner Frau Verbrechen zu vermehren.« – Der wackre Mann blieb noch lange bei mir, unterhielt mich von mancherlei Gegenständen, um meine Geistesfassung zu beobachten, widerlegte durch die Bemerkungen, welche ich selbst über des Wärters Anschuldigung von Ueberspannung machte, die falschen Ansichten, die der Mann von meinem [177] Zustand hatte, und am Schluß der Unterredung – – o Entzücken, das keine Ausdrücke beschreiben! – unterzeichnete er das Zeugniß meiner Entlassung aus dem Institute. –
Ich wußte nicht, wo ich nun ein Obdach finden sollte, ich mußte fürchten, daß meine wiedergeschenkte Freiheit mich der Dienstbarkeit, dem Hunger, dem Elend entgegenführen würde – aber ich war frei! – und so wie der Gedanke an Gottes Schutz in meinem Kerker mein einziger Trost gewesen war, so dünkte mir, draußen in der Freiheit sey mir sein Schutz noch gewisser. Ach, ist es dem, der nach langem Sehnen den Gegenstand seiner innigen Wünsche erhält, wohl zu verdenken, wenn er ihn mit der höchsten Schöne herausschmückt? Seine Brüder, seine Mitgenossen des wandelbaren Erdenlooses, dürfen ihn darum wenigstens nicht verwerfen.
Die Ordnung des Hauses wollte, daß [178] Mistriß Boswell, auf deren Antrag ich eingesperrt worden war, von meiner Freilassung, von meiner Wiederherstellung unterrichtet seyn sollte. Der Arzt nahm das Mißtrauen wahr, mit dem ich diese Nachricht empfing, sendete daher sogleich einen Boten zu ihr ab und erwartete seine Rückkehr in meiner Zelle. Dieser brachte die Nachricht, daß Herrn Boswells Haus unbewohnt und verschlossen sey, indem die ganze Familie sich aufs Land begeben habe. »Gut«, sagte der menschenfreundliche Mann, »das hält Sie nicht auf. Mistriß Boswell empfange die Anzeige nach ihrer Rückkehr. Die Furcht, ihre Unthat bekannt machen zu sehen, wird sie den Mangel an Förmlichkeit wohl übersehen machen.« Ich nahm daraus ab, daß diese Frau durch die Furcht einer Entdeckung aus der Stadt getrieben worden; ihre Abneigung gegen das Landleben war mir bekannt, sie hatte, um unter keinem Vorwand [179] dazu beredet werden zu können, Herrn Boswells Vorschläge zu Verbesserungen seines Landhauses stets abgelehnt. – Doch meines Schweigens über ihren an mir begangnen unmenschlichen Verrath konnte sie gewiß seyn. Ich traute meinem eignen Gefühl noch zu wenig, um entscheiden zu können, ob Gerechtigkeit oder Rache mich leiten würde, indem ich mich über jenen beklagte, nahm deshalb den Entschluß, fürs erste die Begebenheit dieser letzten Wochen gegen niemand zu erwähnen. Man händigte mir bei meinem Austritt aus dem Hause einige Bündel mit allem dem Wäsch- und Kleidervorrath aus, die ich in Mistriß Boswells Hause besessen hatte, sie waren bei meiner Ueberkunft in das Irrenhaus abgegeben und mir treulich aufbewahrt worden. Es war so wenig, was dieser Vorrath enthielt, aber der Erbe der reichsten Verlassenschaft kann nicht froher auf seine Schätze blicken, als ich auf [180] diese geringen Habseligkeiten, die mir für die nächste Zeit Reinlichkeit und ehrbaren Anstand zusicherten.
Wie ich endlich das Haus verließ und dessen Thore hinter mir zufielen, wie der Träger, der mein kleines Gepäck trug, mich fragte, wohin ich zu gehen gedächte, schien mir das alles ein Traum. Diese Frage, die mir meinen verlaßnen Zustand aufdringen mußte, wie er sie zum ersten Mal that, füllte mich mit Entzücken; im nächsten Augenblick machte sie mich stutzig; wie der Mann sie aber wiederholte, hatte ich meinen Entschluß gefaßt und wies ihn wohlgemuth an, mich zu meiner ehemaligen Hauswirthin, Frau Millner, zu führen. Sie empfing mich sehr kalt, sie antwortete kaum auf meine Frage: ob mein ehemaliges Zimmer offen sey, und auf meine Bitte, wenn sie mir dieses nicht geben könnte, doch eine andre anständige Wohnung für mich aufzufinden, brach ihre [181] Beredtsamkeit los. Ich mußte hören, wie sie ihre Schwester, indem sie mich an Mistriß Boswell empfohlen, in die Gefahr, verabschiedet zu werden, gebracht, und daß es kein Mensch Mistriß Boswell hätte verdenken können, mich aus dem Hause zu schaffen, nachdem ich so ein Unglück, wie Mistriß Jessys und ihres Vaters Krankheit, in die Familie gebracht hätte. »Also ward Herr Boswell auch angesteckt?« rief ich bestürzt. »Gewiß! und das ganze Haus wäre krank geworden, hätte man Sie nicht entfernt.« Bei dem Anblick meiner aufrichtigen Theilnahme milderte sich meiner Hausfrau Betragen. Ich war zu glücklich gestimmt, um mich durch die erste Unannehmlichkeit niederschlagen zu lassen; und da es ihr auch ganz angenehm war, ihr Zimmer wieder zu vermiethen, so ward unser Vertrag bald erneut, und ich befand mich wieder im Besitz meiner ehemaligen Wohnung.
[182] Wie ich sie das erste Mal bezog, schien sie mir so dürftig, so klein; und jetzt mußte ich mir doch eingestehen, daß die wenigen Schillinge, die ich in meinem Gepäck, als letzten Rest meiner kleinen Baarschaft, gefunden, nicht hinreichten, diese Wohnung lange zu bezahlen. Mein rechtlicher Anspruch an den mir von Herrn Boswell versprochnen Quartal-Gehalt war die einzige mir offenstehende Aussicht, eine kleine Summe zur Deckung meiner nächsten Bedürfnisse zu erhalten. Der Schritt ward mir unendlich schwer, aber ich lernte je mehr und mehr mich der Nothwendigkeit beugen und schrieb Jessys Vater, ohne der letzten Vergangenheit zu erwähnen, mein Gesuch, wobei ich ihn von dem Ort, wohin er das Geld zu senden habe, unterrichtete. Ich hoffte wenig, und doch waren die Tage, die ohne Antwort verflossen, sehr lang, und die allmälig eintretende Ueberzeugung, [183] daß man meinen Brief verhindert hatte, in Herrn Boswells Hände zu kommen, sehr bitter. Indessen machte ich jeden Versuch, mir Arbeit und Erwerb zu verschaffen. Ich erkundigte mich nach Mistriß Murray – sie war noch immer im Auslande, und ihr Sohn war ihr dahin gefolgt; ihre unliebenswürdige Schwester befand sich, so wie der größte Theil der wohlhabenden Bewohner Edinburgs, auf dem Lande; denn in der schönen Jahrszeit ist das, was von London nur als Redensart gilt, in Edinburg im eigentlichen Sinne wahr: die Stadt ist dann leer. Dieser Umstand mochte meinem Nachsuchen ebenso ungünstig seyn, wie mein gänzlicher Mangel an Bekanntschaft und Empfehlung. In vornehmern Häusern fehlte mir diese, und in Bürgerhäusern mochte meine wieder aufblühende Jugend und mein Ansehen, das mich auch in meiner bescheidnen Kleidung vor der Volksclasse auszeichnete. Mißtrauen erregen.
[184] Eines Tags sah ich hinter dem Fenster eines Kaufladens einige kleine Handarbeiten, wie ich sie in meinen bessern Tagen verfertigt. Ich trat hinein und bot dem Kaufmann an, ihm ähnliche zu liefern. Er schien sehr wenig Vertrauen in meine Geschicklichkeit zu setzen, versprach mir aber doch, wenn ich selbst das Material dazu hergeben wollte und sie ihm gefielen, dieselben zu kaufen. So gering diese Gefälligkeit war, konnte ich doch meine erste Hoffnung an sie knüpfen und ging freudig nach Hause. Meine Lage forderte dringend eine günstigere Wendung; ich hatte nur eine Woche von meinen wenigen Schillingen gelebt, und bei der strengsten Sparsamkeit gingen sie zu Ende. Meine Miethe sollte heute auch bezahlt werden, und es blieb mir kein Mittel, als ein Stück meines kleinen Kleidervorraths zu verkaufen. Lange sann ich nach, wie ich dieses schwere Opfer zu meinem größten Vortheil bringen [185] könnte. Wenn ich für den Erlöß meiner Habseligkeit Material zu den Arbeiten anschaffte, die mir der Kaufmann abzunehmen versprochen hatte, so konnte ich mich in den Stand setzen, nicht allein Frau Millner zu bezahlen, sondern auch für meinen künftigen Unterhalt zu sorgen. Allein hatte ich, so lange ich ihr meinen Miethzins schuldig war, das Recht, über einen Theil meines Besitzes auf eine andre Weise zu verfügen? Sollte ich die Nachsicht einer Person in Anspruch nehmen, die ich nur mit Mühe nöthigte, mich mit Achtung zu behandeln? Nach langem schmerzlichen Bedenken überwand ich meinen aufgährenden Stolz, bat Frau Millner, in mein Zimmer zu kommen, und legte ihr meine Lage vor. »Ich kann Ihnen den Miethzins noch diese Woche bezahlen, aber dann nicht mehr, wenn Sie mir nicht auf einige Tage Credit geben«, schloß ich meinen Vortrag. Sie sah mich verwundert an, denn nie vorher[186] hatte ich mit ihr von meiner Lage oder meinen Verhältnissen gesprochen. Nach einigen Fragen, durch die sie sich über meine Plane noch mehr verständigen wollte, und die ich nicht zurückweisen durfte, sagte sie: »Nein, ich will Ihnen nicht weh thun. Bezahlen Sie mir die Hälfte der Miethe und versuchen Sie mit der andern Ihr Glück.« – Dieser Punct war also gewonnen; jetzt kam es darauf an, das Geld herbeizuschaffen, und zu diesem Ende nahm ich mein kleines Päckchen, um es dahin zu tragen, wohin die Noth mir schon früher den Weg gezeigt hatte. Der elende Winkel, in welchem der Trödler und Pfandverleiher seinen Laden aufgeschlagen hatte, erfüllte mich mit Ekel. Es war ein trüber, regniger Tag; vielleicht war dieser Umstand daran schuld, daß mir dieser Ort heute so schauerlich vorkam; vielleicht hatte mein Fieber mich reizbarer gemacht, meine dürftige Nahrung mich geschwächt, genug, daß [187] ich mit Zittern und Zagen mein Geschäft begann. Einige schmuzige, zerlumpte Weiber, anscheinend aus der niedrigsten Volksclasse, standen vor dem Zahltisch, der mit Kleidungsstücken und Wäsche von sehr schlechtem Ansehen bedeckt war; in rauhen, rohen Tönen feilschten sie, schrieen, bettelten, und Noth, Ungeduld oder Arglist verzog ihre garstigen Gesichter. Ich schloß schleunig meinen Handel und wollte wieder hinwegeilen, als ich beim Heraustreten eine Stimme vernahm, die, weniger mißtönend wie die andern, traurig und halb leise dem Trödler ein dringendes Gesuch vorzutragen schien. Sie sprach meine Landessprache, und dieser Ton traf wie Freundes Stimme mein Ohr. Das Gesicht der Sprechenden war von mir abgewendet, auch zum Theil mit einem Mantel verhüllt, an dem noch einige Fetzen eines ehemaligen Besatzes zu sehen waren; mit dem einen Arm, der so abgezehrt [188] war, daß die farblose Haut jeden Knochen bezeichnete, hielt oder schleppte sie vielmehr ein kränkliches Kind. Sie begann noch einmal zu bitten: »O Herr, wenn es nur einige Schillinge seyn könnten!« – »Nicht einen. Ihr habt schon viel mehr erhalten, wie das Kleid werth ist,« sagte der Mann mit unbarmherzigem Ton. – »Nun so helfe mir Gott! so muß ich verhungern!« rief die Frau und schritt neben mir aus der Thür. Jetzt konnte ich ihre Züge unterscheiden, und wie verändert sie auch waren, erkannte ich Julie Arnold. Ich rief ihren Namen, und mit ihm trat ihre ehemalige Lieblosigkeit vor mein Gedächtniß. Starr vor Entsetzen sah ich sie einige Augenblicke an – ein Bild des Jammers! Krankheit, Mangel, Gram war in ihre Züge eingegraben! – Ich erinnerte mich ihrer Blüthe, unsrer Kinderjahre und schlang meine Arme um ihren Hals. Lange konnten wir beide nicht sprechen; sie [189] vermochte es zuerst: »Ellen,« sagte sie mit hohler, tonloser Stimme, »Sie sind schrecklich gerächt!« – Jetzt erinnerte ich mich der Verwünschung, die ich damals, wie sie mich verleugnete, in der Tiefe meiner Noth gegen sie ausgestoßen, und nun ich sie so viel elender sah, als ich jemals gewesen, schien ich mir durch ihren Zustand gestraft. Wie ich meine Augen zu ihr aufhob, blickte sie mit Schaamröthe auf mich hin und sagte: »Nicht wahr, mit mir ist, seit Sie mich nicht sahen, eine traurige Veränderung vorgegangen?« – »Lassen Sie uns nur hier fortgehen, liebe Julie, dort sollen Sie mir erzählen, was Ihnen widerfuhr«, antwortete ich, indem ich ihr meinen Arm bot. Sie nahm ihn mit einem Blick der Verwunderung; »gewiß, Ellen«, sagte sie, »Sie müssen sich schämen, mit mir in meinem gegenwärtigen Aufzug durch die Straße zu gehen.« – »O Julie, kann ich in diesem Moment an Ihren [190] Aufzug denken?« rief ich, im Herzen gekränkt über ihre kleinliche Bemerkung, und führte sie schweigend mit mir fort. Meine Wohnung war weit weg, ihre Kräfte reichten kaum zu dem Weg hin, sie blieb mehrmals stehen, um Athem zu schöpfen. Da mir jetzt beifiel, daß ich ihr das Kind abnehmen müßte, streckte ich meine Arme nach ihm aus, konnte mich aber von dem Verdacht, der mich in diesem Augenblick ergriff, nicht einer Bewegung erwehren, die ihr nicht entging. Eine noch tiefere Röthe überzog ihre schwindsüchtig gefärbte Wange, und sie sagte mit einem festen Blick in mein Auge: »Nein, Miß Percy, nein! es ist kein Kind der Sünde.« – Mein Herz war nun um vieles erleichtert, ich umfaßte das Kind, und wir setzten unsern Weg fort. Endlich erreichten wir das Haus. Meine Wirthsleute warfen übelwollende Blicke auf den Gast, den ich zu mir einführte. Ich beachtete sie nicht, brachte Miß [191] Arnold in mein Zimmer und theilte alles mit ihr, was sich von Nahrungsmitteln vorfand. Sie aß wie eine Hungrige, aber kaum gesättigt, begann sie ihrem Gespräch die kleinliche Wendung zu geben, die es mir in alten Zeiten so gefährlich gemacht hatte. Sie bemerkte, daß die Zeit, in welcher sie mich nicht gesehen – wenn sie mich verändert – meiner Schönheit nur Zuwachs gegeben, besonders durch die zartere Farbe, welche mein Fieber mir zurückgelassen hatte. – »Doch, Julie, werden Sie mich in einem Punct verändert finden. Ich habe alle Freude an Schmeicheleien verloren – aber von denen soll auch gar nicht mehr die Rede seyn. Jetzt erzählen Sie mir, warum ich Sie so weit von der Heimath entfernt finde, so ... erzählen Sie mir alles, was Sie drückt!« –
Julie schien dazu gar nicht abgeneigt. Sie sagte: ihre vertraute Bekanntschaft mit Lady [192] St. Edmond hätte sie nothwendig Lady Maria de Burgh nähern müssen, »denn diese Dame«, sagte die Arme, indem ein wohlgefälliges Lächeln um ihren blassen Mund spielte, »verlor, nachdem wir kaum ein paar Mal zusammen gekommen waren, ihr Vorurtheil gegen mich. Dazu gehört nun wenig, denn sie ist eine solche Thörin, daß sie nie recht weiß, was sie will.« – Ich erinnerte mich mit Schaamröthe der Zeit, wo Julie mit einer solchen Bemerkung mir Wohlgefallen erregen konnte, schwieg aber und ließ sie forterzählen, wie Lady Marie sich dergestalt an ihren Umgang gewöhnt habe, daß sie in sie gedrungen, als Gesellschafterin bei ihr zu leben. »Damals bewarb sich Lord Glendower um Lady Maria oder vielmehr«, sagte Miß Arnold, »die Dame hoffte ängstlich, daß er sich bewerben würde. Ich sah aber bald sehr deutlich, daß er, bei gleichen Umständen, mich bei weitem vorgezogen hätte«. [193] Hier hielt sie inne, als habe sie einen Einwurf von mir erwartet; wie ich schwieg, fuhr sie fort: »Sie wissen wohl, Ellen, daß ich nicht in der Lage war, eine glänzende Versorgung von mir weisen zu können, ich hatte auch keine Art von Verbindlichkeit gegen Lady Marie, die mich, ihr mein Glück aufzuopfern, hätte vermögen können.« – »Glück?« rief ich, mich des unwürdigen Charakters dieses Mannes erinnernd. – »Nun, nennen Sie es, wie Sie wollen«, erwiederte Miß Arnold, »in Vergleich der Abhängigkeit, in der ich leben mußte, sey es von meinem Bruder, sey es von Fremden, war es ein Glück; und ... nach mancherlei Vorgängen, die mir klar bewiesen, daß mir gar nichts Beßres zu thun übrig blieb, entfloh ich mit Lord Glendower nach Schottland.« – »O Julie! Lord Glendower war ja sein eigner Herr, er konnte ja heirathen, wen er wollte.« – »Je nun, er wünschte es also.[194] Und Sie wissen wohl, Ellen, wenn man liebt ...« – »Nein, Julie, das weiß ich nicht; allein ich habe durch meine eigne Thorheit das Recht verloren, Ihnen über diesen Gegenstand Bemerkungen zu machen. Fahren Sie fort!« – »Wie wir hierher kamen, nahm ich leider wahr, daß er mich in der Gesellschaft nicht einführen wollte, und daß ich vor ihren Augen straffällig erschien. Ich durchschaute bald Mylords abscheulichen Plan. Zeugen konnte ich nicht gegen ihn aufstellen, aber ich hatte mich nach den schottischen Gesetzen über die Ehe erkundigt, und da weigerte ich mich, mit Lord Glendower die geringste Gemeinschaft zu haben, bis er nicht wenigstens die Leute, in deren Hause wir wohnten, beredet hätte, daß ich seine rechtmäßige Frau sey; nachher brachte ich es auch dahin, daß er mir ein Billet sendete, an Lady Glendower überschrieben; dessen Inhalt hatte gar keinen Werth, mir reichte aber die Ueberschrift [195] aus. Ich war nun bemüht, die Leute um uns her aufmersam zu machen, daß er mich wie seine Gattin behandelte, und in Schottland ist das mehr werth, als zehn Trauscheine. Ein solcher will ja auch gar nichts sagen: was ein Paar unzertrennlich verbindet, ist eine Ehe vor Gott und Menschen. Nicht wahr, Ellen?« – »Wohl, arme Julie!« sagte ich, zwischen Mitleid und Widerwillen getheilt, »dazu gehört aber, daß beide Theile fest entschlossen sind, sich unwiderruflich zu verbinden.« – Miß Arnold schlug einen Augenblick die Augen nieder, dann fuhr sie mit Zuversicht fort: »Nun ich diesen Punct gewonnen hatte, weigerte ich mich nicht, ihm nach einem Landhaus, das er in den Hochlanden gemiethet hatte, zu folgen. Dort verweilten wir einige Monate und langweilten uns von ganzem Herzen. Im Winter kamen wir wieder hierher, und Glendower sprach davon, nach London zu gehen. Ich konnte ihn nicht [196] begleiten und mochte es auch wirklich nicht. Der Mensch hatte sich dem Trunk in hohem Grade er geben. Er ließ mich also zurück, mit dem Versprechen, nach meiner Entbindung wiederzukommen. Aber er war nicht zwei Monate fort, so las ich in den Zeitungen, daß er sich mit Lady Maria vermählt habe. Die Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag. Aus Schrecken kam ich zu früh nieder und war gefährlich krank. Dennoch dictirte ich Briefe an Glendower und Lady Maria, in denen ich mein Recht darthat und erklärte, im Fall man es nicht beachtete, die Gesetze zu Hülfe rufen zu wollen. Ich schrieb oft, ehe ich eine Antwort erlangen konnte; endlich hatte Glendower die Frechheit, alle meine Ansprüche an ihn abzuleugnen; er war sogar so grausam, zu behaupten: die Zeit, wo mein armer kleiner Knabe geboren ward, widerlege zum Theil meine Anklage.« Bis dahin hatte Julie mit einem empörend gleichgültigen [197] Ton erzählt, jetzt brach sie aber in Thränen aus, drückte das Kind an ihre Brust und rief recht innig: »Und so wahr mir Gott helfe, der Knabe ist Glendowers Sohn und, wie ich ernstlich glaube, sein einziger rechtmäßiger Erbe. Könnte ich ihn in seine Rechte eingesetzt sehen, so forderte ich weiter nichts.« Sie bemeisterte bald ihre Rührung und erzählte weiter. Lord Glendower, über die Mißhelligkeiten aufgebracht, die ihre Forderung zwischen ihm und seiner Gemahlin erregt hatte, versagte ihr Unterstützung; sie wendete sich an ihren Bruder, der ihr sehr zornig antwortete: daß er genug für sie gethan habe, da er ihr eine Erziehung geben ließ, die sie in Stand gesetzt hatte, sich mit Ehren durchzuhelfen, nun aber weiter keine Verbindlichkeiten gegen sie zu haben glaubte. Zugleich schickte er ihr dreißig Pfund, die sie zu irgend einem kleinen Handel anlegen sollte. Dieses Geld reichte eben nur hin, sie aus dem [198] Schuldgefängniß zu befreien. Sie behielt nichts übrig, verkaufte ihre Habseligkeiten, eine nach der andern, und war nun zu der gänzlichsten Entblößung herunter gebracht. Dazu kam noch ihre wankende Gesundheit – »dieser erschöpfende Husten«, sagte sie, »und diese Schwäche, obgleich ich weiß, daß sie von gar keiner Bedeutung sind.« – Bei diesen Worten konnte ich mich eines Schauders nicht enthalten. Abzehrung blickte aus ihren tief liegenden Augen, sprach aus der dunklen, abgeschnittenen Röthe ihrer hohlen Wangen. – »Warum sehen Sie mich so erschrocken an, Ellen?« rief sie unwillig, »ich bin nicht so krank, wie ich aussehe.« – »Gewiß nicht, gute Julie!« sagte ich und versuchte zu lächeln.
Es war jetzt fast dunkel geworden; der Ort, wo Julie in der letzten Zeit Unterkunft gefunden hatte, war weit entlegen, ich dachte darauf, sie diese Nacht bei mir zu behalten, als [199] Frau Millner den Kopf in die Thüre steckte und mich ziemlich unverbindlich aus dem Zimmer rief, um mit mir zu sprechen. Da es mir ahnte, wovon die Rede seyn würde, suchte ich die Unterhandlung vor dem Ohr meines unglücklichen Gastes zu verbergen. Meine Hausfrau warf mir mit pöbelhaftem Unwillen vor, eine Landstreicherin in ihr Haus eingeführt zu haben, die sie nicht darin zu dulden gedächte. Ich stellte ihr mit Fassung vor, daß diese Wohnung, so lange ich sie gemiethet habe, mein sey, und es von mir abhinge, ein unglückliches Frauenzimmer, die keineswegs von niedrigem Stande sey, bei mir zu beherbergen. Mit diesen Worten wendete ich ihr den Rücken und kehrte in mein Zimmer zurück. Zornig eilte die Frau hinter mir drein; »wenn das Ihre Zuversicht ist«, rief sie übermüthig, »so ist die Sache bald geendigt: Sie zahlen mir sogleich den rückständigen Zins, oder räumen das Haus [200] augenblicklich, ohne durch dergleichen Gesindel dessen guten Ruf zu beflecken.« Da ich, unfähig, meine Fassung aufrecht zu erhalten, nicht sogleich antwortete, wendete sich Frau Millner an Miß Arnold und befahl ihr, das Haus zu verlassen. Diese mochte wohl leider schon oft der Härte solcher Menschen nur Flehen entgegen zu setzen gehabt haben, denn sie bat wimmernd: »Erbarmt euch doch! ich habe ja nicht Kräfte, um nach Hause zu gehen.« Mir schnitt diese Erniedrigung ins Herz; ich rief ihr zu, sich nicht wegzuwerfen, sondern in meiner Begleitung sich sogleich auf den Weg nach ihrer Wohnung zu machen. Bei diesen Worten zog ich meinen Beutel heraus, zählte noch mals die kleine Summe, welche ich aus meinem Kleide gelöst hatte, und warf Frau Millner ihren Miethzins auf den Tisch. Zu meinem Erstaunen fuhr Miß Arnold während dessen fort, mit Frau Millner um die Erlaubniß, bei mir bleiben zu [201] dürfen, mit einer Beharrlichkeit zu bitten, die mich empörte und mir erst im Verfolg erklärlich ward. Ohne auf die Hausfrau zu hören, die bei dem Anblick meines Geldes sehr besänftigt ward und mir versicherte, ihre Wohnung sey mir nicht verweigert, wenn die Hausordnung ihr gleich auferlegte, sie Fremden zu verschließen, ergriff ich Miß Arnolds Arm und zog sie mit mir fort. Sie folgte mir widerwillig und erschwerte sich selbst den Weg durch vergebliche Klagen über ihre Unfähigkeit, dessen Ziel zu erreichen. Es war Abend, ich zitterte vor der Aussicht, diesen langen Weg im Dunkeln allein zurückkehren zu müssen, ich zitterte, in der Gesellschaft meiner unglücklichen Gefährtin der Rohheit der Vorübergehenden ausgesetzt zu seyn. Jedes Mal, daß sie, nach Athem ringend, stehen blieb, war mir bang, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf uns zu ziehen; ich sprach ihr Muth ein und erlag fast[202] selbst beim Fortschreiten unter ihrer Last, da sie sich kraftlos auf mich lehnte, und der des armen Kindes, das wimmernd auf meiner Schulter lag.
Endlich hatten wir Miß Arnolds Wohnung erreicht. Sie befand sich in den Mansarden eines Hauses, dessen verschiedne Stockwerke jedes für zwei Familien eingerichtet schien, also insofern viel besser, als Cecilens Wohnung, gewesen war, die mit einer ganzen Kolonie auf demselben Boden gewohnt hatte. Julie klopfte zögernd, ein schmuziges, armseliges Weib öffnete behutsam, und ihr stellte mich Miß Arnold vor als ein Frauenzimmer, das ... Ich verstand, daß sie mich ihr als Miethsfrau vorschlagen wollte; allein das Weib hörte sie gar nicht an, sondern überschüttete sie mit Schimpfreden, aus denen mir klar ward, daß die Unglückliche schon lange bei ihr Schulden gemacht, und dann schloß sie die Thür mit erschütterndem[203] Lärm vor uns zu. Starr von Schrecken, wendete ich mich zu meiner Begleiterin, die von Jammer überwältigt, auf die Stufen der Treppe gesunken war und kaum vernehmlich mir zurief: »O Ellen, bitten Sie für mich, bitten Sie! denn ich kann mich nicht weiter fortschleppen.« – Ich klopfte von neuem an die Thür, entschlossen, mich der ganzen Härte der Hausfrau auszusetzen, um nur ein Obdach für meine unglückliche Gefährtin zu erhalten; allein es war vergeblich, sie öffnete sich nicht.
Es blieb mir nun nichts mehr übrig, als Julie zu ermuthigen, daß sie noch einmal den Weg zu Frau Millner zurück machen möchte, überzeugt, daß diese Frau, nun sie bezahlt war, mir nicht versagen würde, diese eine Nacht eine Unglückliche zu beherbergen; allein die Erschöpfung des Körpers hatte sich auch der Seele mitgetheilt, Julie war keines Entschlusses fähig, sondern wimmerte hülflos: »ich kann [204] nicht weiter; gehen Sie, verlassen Sie mich! ich verließ Sie ja, wie das Unglück über Sie einbrach, thun Sie, was ich an Ihnen verdient habe!« – Diese schrecklichen Worte gaben mir einen übernatürlichen Muth. – Uebernatürlich; denn Gott senkte ihn in der Gestalt des Glaubens in mein Herz. Ich wußte keinen Ausweg aus dem Abgrund der Hülflosigkeit, in dem ich mich versunken sah, weder für das zerschlagne Geschöpf, das sich vor mir am Boden krümmte, noch für das weinende Kind, das vor Hunger oder Furcht auf meinen Armen bebte. Aber mit einer Zuversicht, als hörte ich den Fuß des Retters sich nahen, rief ich: »Nein, Julie, ich verlasse Sie nicht, und hülflos, wie wir sind, wollen wir nicht verzweifeln, sondern zu Gott beten, daß er sich unser erbarme.« – Die Arme war dieses Aufflugs des Geistes nicht fähig, sie antwortete mir nur durch dumpfe Klagtöne, aber das Kind fester [205] in meine Arme schließend, wendete ich mich ab und bat Gott mit unaussprechlicher Inbrunst, uns eine Hülfe zu senden.
Der Schall eines die Treppe heraufsteigenden schwerfälligen Schrittes schreckte mich jetzt auf. Ich beschwor Miß Arnold mit leiser Stimme, ihren Jammer zu mäßigen, damit man uns nicht des letzten Obdachs, welches dieser Treppengang uns vielleicht für diese Nacht gewähren könnte, beraubte. Doch umsonst, sie fuhr fort zu stöhnen; doch ward ich, über die herannahende Person ruhiger, da ich unerachtet der Dunkelheit, sie für ein Frauenzimmer erkannte. Sie ging über den Vorplatz und klopfte an die jener, von wo man Miß Arnold so unbarmherzig abgewiesen hatte, anstoßende Thür, dann kehrte sie zu meiner Gefährtin zurück und fragte, was ihr fehle. – »Sie ist fremd, sie ist krank«, sagte ich, mich ihr nähernd, »und der einzige Ort, wo sie [206] diese Nacht Obdach finden könnte, ist zu weit, als daß sie ihn zu erreichen im Stande wäre.« – Jetzt öffnete sich die Thür, ein junges Mädchen trat mit einer Lampe heraus, mehrere freundliche Gesichter begrüßten die heimkehrende Mutter, ich erblickte durch die offne Thür die gewöhnliche Helle eines Caminfeuers in einer reinlichen, wenn gleich sehr beschränkten Wohnung. – Ach, wie beneidenswerth kam mir diese Frau vor! Ich betrachtete sie, die Lamve beleuchtete sie, ihre Züge schienen mir bekannt – sie war die Wittwe des armen Gärtners, der in Greenwich in meinem Beiseyn starb. – Sie sprach mitleidig mit Miß Arnold, da zog sie das kleine Mädchen beim Aermel und sagte leise: »Mutter, die sieht der guten englischen Dame ähnlich.« Die Frau richtete ihre Blicke auf mich, konnte ihren Augen nicht trauen und rief: »Nein, das ist gar nicht möglich.« – »Es ist nur zu möglich, liebe Frau Campell«, [207] sagte ich, »das wandelbare Schicksal hat mich nun zum Fremdling im Lande gemacht.« – »So sind Sie es wirklich?« rief die Wittwe mit fröhlichem Lächeln. »Gott segne Sie! Sie werden mir nie ein Fremdling seyn; treten Sie ein und ruhen Sie aus! und wenn Sie für die arme kranke Person kein Unterkommen wissen, so sagen Sie ihr, daß sie auch herein komme!« –
Nur der einsame Wandrer, der, in Feindes Land gerathen, unerwartet eine gastfreie Hütte sich eröffnen sieht, kann begreifen, mit welcher Freude ich diese Einladung annahm. Ich hob Julien vom Boden auf, führte sie in Frau Campells Zimmer und dankte Gott für die Zuflucht, die er uns so unverhofft bereitet hatte. Wir befanden uns in einem Gemach, das zugleich als Küche und Wohnzimmer diente; unsre Wirthin rückte einen großen gepolsterten Armstuhl an das Feuer und lud mich ein, darin [208] Platz zu nehmen. Julie, die vor Mattigkeit ganz zusammensinkend neben mir stand, zog zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich. »Der Platz gebührt meiner kranken Freundin, liebe Frau Campell« 4, sagte ich, die Arme zu ihm leitend, Lady Glendower ist vielleicht einstens im Stand, Ihre Gastfreundschaft zu erkennen.« – Ich wollte meiner armen Gefährtin durch diese Anerkennung ihrer Verhältnisse wohlthun, wollte aber auch meine eigne Lage, die mich in einer so traurigen Gesellschaft auf geführt hatte, in ein beßres Licht setzen. Mein Verstand hatte recht, meine Jugend und Vereinzelung bedurfte Beweggründe, um so ein [209] Verhältniß begreiflich zu machen, allein meine Eitelkeit mochte doch dabei nicht ohne alle Theilnahme seyn. Sobald ich Julie unter diesem Namen eingeführt hatte, ward es mir leichter, bei Frau Campell anzufragen, ob sie dieselbe nicht aufnehmen könnte. Die gute Frau war sehr froh, mir dienen zu können, und das kleine Mädchen, dessen Schüchternheit allen meinen Versuchen, die Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, widerstanden hatte, bot nun ihrer Mutter leise an, ihr Bett der Fremden zu überlassen. Das war aber gar nicht nöthig. Seit Frau Campell durch meine Beihülfe in ihre Heimath zurückgekehrt war, hatte es ihr, da sie eine geschickte Wäscherin war, nie an Erwerb gefehlt. Seit kurzem hatte ihr Bruder, ein wandernder Krämer, der Wittwer geworden war, sie gebeten, jetzt ihm hauszuhalten, und da dieser, auf mehrere Wochen abwesend war, bot sie Julien den Gebrauch seines Zimmers an.
[210] Nun für meine Gefährtin gesorgt war, fing ich an wegen meines eignen Unterkommens bange zu werden. Mitternacht war beinahe herangekommen; ich war fast eine Stunde von Frau Millners Wohnung entfernt; und ob ich gleich diese rohe Frau jetzt bezahlt hatte, so konnte ich doch nicht ganz sicher rechnen, von ihr aufgenommen zu werden. Doch mir blieb keine Wahl. Die Bitte, auch bei meiner guten Wittwe zu übernachten, schien mir zu anmaßend; ich fürchtete damit ihre Gutwilligkeit gegen die arme Julie zu schwächen. Doch mich in dieser Nachtzeit allein auf die Straße zu wagen, schien mir unmöglich, und so bat ich Frau Campell, mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten. Sobald Julie meine Absicht fortzugehen wahrnahm, überfiel sie der unbillige Gedanke, daß ich sie möchte verlassen und nicht wiederkehren wollen. Anfangs suchte sie durch die ängstlichsten Bitten, wie ich diesen aber [211] vernünftige Vorstellungen entgegensetzte, durch das ungestümste Flehen mich davon zurückzuhalten. Die Nacht rückte unter diesem Streite fort, ich fürchtete, daß die Heftigkeit der Unglücklichen in meiner Abwesenheit ihre neue Hausfrau ermüden könnte, und erbot mich endlich, den Rest der Nacht an ihrem Bette zu wachen. Unsre gute Wirthin überließ alles meiner Willkür und führte uns sogleich unter den wiederholtesten Entschuldigungen, uns nicht besser bedienen zu können, in das uns bestimmte Zimmer ein. Ach sie wußte nicht, daß es bei weitem das zierlichste war, welches ich mir aus eignen Mitteln zu verschaffen je fähig gewesen! Es war freilich niedrig, mit dunkeln, wollnen Tapeten behangen, aber mit gutem Hausrath und einem Bette versehen, dessen reine Wäsche dem ekelsten Geschmack genügt hätte. Julie ließ mich ohne Widerstand für ihr armes Kind sorgen, das vielleicht seit [212] mehrern Tagen nicht so vollständig, wie heute, gesättigt, reinlich gewaschen, und in einen reinen Bettüberzug, den ich von Frau Campell entlehnt, warm eingewickelt, zu den Füßen seiner Mutter ruhig fortschlief.
Während sich meine arme Gefährtin einem unruhigen, doch dem Anscheine nach tiefen Schlaf ununterbrochen überließ, überdachte ich meine Lage. Sie war durch die Verhältnisse, in welche ich nun mit Julie gerathen war, furchtbar verschlimmert worden; doch die Verbindlichkeit, diese Unglückliche der Verwilderung und dem Elende zu entreißen, war mir so heilig, daß mir kein Gedanke aufstieg, so lange sie so hülflos sey, mich von ihr zu trennen. Ich war gesund, ich hatte Thätigkeit und ein unbeflecktes Gewissen. Mit demuthvoller Dankbarkeit zu Gott erkannte ich diese Vorzüge als Aufforderung und Mittel, für meine hülflose Kranke zu sorgen. Dieser Mittel waren [213] sehr wenig: fürs Erste zeigte sich der Erwerb, über welchen ich mich gestern mit dem Kaufmann verabredet hatte, und diesen wollte ich Julien vorschlagen mit mir zu theilen. Ich erinnerte mich, daß ihre bewegliche Fantasie ehemals eine besondre Leichtigkeit gehabt hatte, zierliche Spielwerke zu erfinden, und hoffte sogar, daß diese Gattung von Arbeit, indem sie ihrem Geschmack angemessen wäre, zu ihrer Ermunterung beitragen sollte. Die Gegenwart des armen Kindes, das sie mir zubrachte, bekümmerte mich nicht sehr; die herzliche Freundlichkeit, mit der Frau Campells Bruderskinder mit ihm gespielt hatten, und die Hoffnung, welche mir sein gesunder Schlaf gab, es bei hinreichender Nahrung und Pflege bald erstarken zu sehen, halfen mir ein ganz leidliches Bild von unserm Leben entwerfen, wenn ich Frau Campell, mich gleichfalls in ihr Zimmer aufzunehmen, bewegen könnte. Eine andre [214] Weise, Julien zu unterstützen, konnte ich nicht ersinnen. Was ich ihr allmälig von meinem Erwerb mittheilen konnte, würde nicht hingereicht haben, sie zu unterhalten, und meinen ernsten Zweck, ihr Kind wohl verpflegt zu sehen, konnte ich damit gar nicht erreichen; denn nach allem, was ich von der Unglücklichen vernahm, ward es mir klar, daß ihre Mutterliebe nicht von der Art war, ihre Thätigkeit, selbst da, wo ihre Kräfte hinreichten, für ihr Kind zu verwenden.
Sobald ich es in der Küche meiner guten Wittwe laut werden hörte, begab ich mich zu ihr und trug ihr mein Anliegen vor. Da sie den lebhaften Wunsch hatte, mich zu verbinden, und ihr Bruder noch geraume Zeit abwesend bleiben sollte, wurden wir sehr bald des Handels einig. Meine nächste Sorge war nun, meine wenigen Habseligkeiten von Frau Millner abzuholen. Julie hatte nichts dagegen, doch entging mir eine [215] gewisse Unruhe nicht, die sie bei meinem Weg gehen befiel, und wie ich schon das Zimmer verlassen hatte, rief sie mich zurück und reichte mir ihr Kind, mit der Bitte, es mitzunehmen, weil sie heute nicht im Stande sey es in die freie Luft zu bringen. Ich durchschaute sie sogleich. Sie wollte mir das arme Geschöpf als ein unvermeidliches Hinderniß, von ihr entfernt zu bleiben, aufdringen. Dieses Mißtrauen nach dem, was ich gestern für sie gethan, in dem Augenblick, wo sie Zeugin meiner Abrede für alles, was zu ihrem Besten gethan werden konnte, gewesen war, erfüllte mich mit Abneigung. Ich war im Begriff, sie lebhaft zurückzuweisen, aber ein Blick auf ihr entstelltes Gesicht, ihre hinfällige Gestalt entwaffnete mich: ich stellte ihr die Unbilligkeit ihres Verdachts vor, suchte sie von dem Bedürfniß zu überzeugen, das mich antrieb, Gottes Gebot gemäß gegen sie meine Pflichten zu erfüllen, [216] und eilte meinem Geschäfte nach. Sobald ich mein kleines Gepäck von Frau Millner fortgeschafft hatte, kaufte ich von dem wenigen mir übrigen Gelde zuerst die unentbehrlichen Bedürfnisse für den gegenwärtigen Tag und dann Stoffe zur Verfertigung der Kästchen, Beutelchen und Nadelkistchen, die ich bei dem Kaufmann anzubringen hoffte. Sobald mein kleiner Haushalt besorgt war, machte ich mich an die Arbeit. Ach es ist unendlich peinlich, mit recht schwerem Herzen eine Beschäftigung zu treiben, die uns wohl einstens zum Spiel der Fantasie, zur Ausfüllung müßiger Augenblicke gedient hat! Indem ich die bunten Fleckchen zusammensetzte, die fantastischen Figürchen malte, beneidete ich manchmal Frau Campells kleine Marthe, die an ein paar groben Soldaten-Socken strickte, und noch mehr den Kohlenträger, der, seines täglichen Gewinnes sicher, unter seiner Last schweigen, oder ein lustiges [217] Stückchen pfeifen konnte, je nachdem es ihm gefiel. Allein die Noth mußte hier der begeisternde Genius seyn, und das fromme Bewußtseyn, unter Gottes Segen zu arbeiten, machte es mir alle Tage leichter. Juliens Hülfe war sehr nichtsbedeutend bei meinem Geschäft. Das Unglück hatte in ihr keine Kräfte entwickelt, und körperliche Schwäche würde ihr jetzt die Ausführung mit festem Willen sehr erschwert haben. Sie fing manche Arbeit an, unterbrach sie hundertmal und warf sie endlich mit Ekel bei Seite. Ich mußte froh seyn, wenn ich Mittel fand, eine und die andre Unternehmung zu beenden; oft sah ich mit Bekümmerniß die eingekauften Stoffe vergeudet, ohne irgend einen Vortheil daraus ziehen zu können. Da ich vor meinem Gewissen die Pflicht übernommen hatte, für diese Unglückliche zu sorgen, erlaubte ich mir nicht die kleinste Ermahnung, ihre üblen Gewohnheiten zu überwinden; [218] allein die Unzufriedenheit, welche Müßiggang und Beschränkung nach sich ziehen, blieb bei ihr nicht aus und ward durch die ihrer Krankheit eigenthümliche böse Laune vermehrt. Gegen mich ließ sie dieselbe nicht aus, aber das war ein bittrer Zwang, den sie sich auflegte; denn so zart ich sie behandelte, hielt sie sich doch oft für verletzt und konnte sich der Ueberzeugung dann nie erwehren, daß ich sie für ihr früheres Verfahren gegen mich büßen lassen wolle. Bald gesellte sich zu dieser übeln Laune eine traurige Unzufriedenheit mit der einfachen Kost, welche mein geringer Verdienst anzuschaffen hinreichte. Ihre kranke Eßlust sehnte sich täglich nach einer andern Nahrung, von der sie jedes Mal Erleichterung, wenn nicht gar Heilung hoffte. Ich entzog mir das Nothwendige, um ihr das Mögliche von diesen erträumten Leckerbissen zu verschaffen, allein ihr bloßer Anblick flößte ihr meistens schon wieder Ekel ein.
[219] Ich hatte sie oft an die Nothwendigkeit erinnert, die Rechte ihres kleinen Knabens durch eine gesetzliche Aussage vor einem Advocaten zu sichern. Da sie dieser Schritt an die Feierlichkeit eines Testaments erinnerte, weigerte sie sich beständig ihn zu thun, versichernd, daß es, sobald sie ganz hergestellt wäre, ihr erstes Geschäft seyn sollte. Nun war sie schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr fähig, das Zimmer zu verlassen. Ich nahm wohl wahr, daß sie sehr gern einen Miethwagen zu einer Spazierfahrt hätte haben mögen, allein meine Mittel litten das nicht; und so weh es mir that, beharrte ich ihre Winke nicht zu verstehen. List und Langeweile gaben ihr endlich ein, die Schritte, die sie zum Besten ihres Kindes thun sollte, zur Befriedigung ihrer Sehnsucht nach einer Spazierfahrt zu benutzen. Sie kündigte mir an, daß sie einen Wagen haben müsse, um endlich ihre Geschäfte bei einem Advocaten zu besorgen. [220] Es war ein naßkühler Tag nach einem heftigen Gewitter; ich stellte ihr die übeln Folgen vor, die es für ihre Gesundheit haben könnte, wenn sie, die der Luft jetzt entwöhnt sey, grade heute sich ihr aussetzte. Ihre Antwort legte mir durch die dienstbare Demuth, mit der sie oft, um meinen Widerspruch zu entkräften, »meiner Wohlthaten« erwähnte, Stillschweigen auf; ich wendete also den Erwerb zweier eifrig in Arbeit hingebrachten Abende darauf, ihr einen Miethwagen herbeizuschaffen, und war doch herzlich froh, wie sie mit der schriftlichen Begutachtung des Rechtsgelehrten zurückkam, daß ihre Beweisgründe sie sehr wohl in Stand setzten, eine Klage gegen Lord Glendower zum Besten ihres Sohnes zu führen. Doch diese Ausfahrt zog alle die Uebel nach sich, welche ich für die arme Kranke gefürchtet hatte. Ihr Husten und ihr Fieber nahmen in einem furchtbaren Grade zu, und zugleich ihre fantastisch [221] umherschweifende Eßlust, die bei ihrem zunehmenden Leiden in der Befriedigung eines jeden neuen Einfalls ein Labsal erwartete. Zu allen diesen Bedrängnissen gesellte sich jetzt noch die Erklärung des Kaufmanns, der mir bisher meine Arbeiten bezahlt hatte: daß ich sie wohlfeiler geben müsse, als bisher, weil sich zu wenige Käufer dafür fänden. – Wohlfeiler, wie bisher, wo ihr Lohn kaum meine dringendsten Bedürfnisse gedeckt hatte! – Das war, ohne zum Hungerleiden gebracht zu werden, nicht möglich. Wie unmöglich es sey, einen andern Erwerb zu finden, hatte ich aus eigner Erfahrung gelernt; wenn dieser mir gebrach, war ich dem Verderben dahingegeben. Bei den Obliegenheiten, die ich gegen Julie übernommen, war es mir sogar unmöglich geworden, einen Dienst als Stubenmagd zu suchen; denn wer sollte sie pflegen? wer ihren armen Knaben, an den das innigste Wohlwollen mich band? [222] Unentschlossen und trostlos wandelte ich nach Hause. Der Abend brach ein, ich fand Julie eingeschlafen und blieb, ihren kleinen Sohn durch leisen Gesang still erhaltend, an dem Fenster sitzen. Der Mond spiegelte sich mit mattem Strahl in den großen blauen Augen des blassen, sanften Kindes, es sah so vertrauend und doch so wehmüthig zu diesem Nachtgestirn auf, das so oft meine Thränen beleuchtet hatte. Auch jetzt flossen sie langsam und einzeln über meine angstglühenden Wangen. Ach in solchen Stunden »gehen die Geister unsrer Sünden vor uns vorüber!« Ich hatte nun zu viel gelernt, um mich gegen meinen himmlischen Vater zu empören, und die Erinnerung meiner frühern Thorheiten verwies mich auf das dringende Bedürfniß der strengen Schicksalsschule, in der ich mich befunden. Das war ein trauriger, muthloser Abend! Doch er ging vorüber und die Stunde kam, wo es dem mit Gott befreundeten [223] Gemüth täglich durch den Gang der Natur, so nahe, so überzeugend nahe gelegt wird, daß sein Schicksal in einer höhern Hand ruht. Sollten wir ohne diesen Gedanken uns je der süßen Hülflosigkeit des Schlafes hingeben dürfen? Erneut er uns nicht jeden Abend den Beweis, daß wir durch die Natur unsers Daseyns genöthigt sind, einen so großen Theil unsers Daseyns hindurch ihm widerstandslos zu vertrauen, und sollte nicht jeden Morgen mit unserm Bewußtseyn der Gedanke erwachen, daß eine höhere Hand uns geschützt hat? – Hülflos und rathlos warf ich mich diesen Abend mit unbedingter Zuversicht an Gottes Vaterherz und erwachte am Morgen mit gestärktem Muth und dem heiligen Vorsatz, heute jeden, auch den bittersten Schritt zu thun, um mich aus meiner Noth zu erheben.
Das einzige Mittel, das ich zum vortheilhaftern Verkauf meiner Arbeiten und vielleicht [224] zu sicheren Bestellungen hatte ersinnen können, war, die Gefälligkeit unsrer Hausfrau anzusprechen, daß sie solche in den Häusern, wo sie ihr Beruf hinführte, anbieten möchte. Dieser Entschluß kostete mir unaussprechlich viel. Frau Campell war bisher keineswegs von meiner Lage unterrichtet; nicht daß ich mich schämte, arm zu seyn, oder um des Unterhalts willen zu arbeiten – ich hätte mich für glücklich gehalten, hätte ich, so wie diese wackre Frau, auf Wochen hinaus gewußt, wer mir meine redliche Anstrengung bezahlen wollte; aber dieses Anbieten bunten Spielwerks, das der vernünftige Tagelöhner ohnehin mit Geringschätzung als ein Bedürfniß des müßigen Reichen ansehen muß, schien mir dem Betteln so ähnlich zu seyn, daß ich fürchtete, Frau Campells Meinung von mir würde dadurch leiden. Schwer ließ sich mein widerspenstiges Herz beschwichtigen, und mit einem Herzklopfen, das [225] mir den Athem benahm, bat ich meine gütige Wittwe, den Auftrag zu übernehmen. Sie war herzlich geneigt dazu, that mir eine Menge Fragen über den Gebrauch, den Preis der Waare, die mehr ihren guten Willen, als ihre Fassungskraft bewiesen und mich an Cecile Graham erinnerten, deren natürlicher Scharfsinn mir gewiß diese peinlichen Einzelnheiten erspart hätte. Schließlich band ich ihr aufs dringendste ein, in ihrem Ausbieten der Waaren nicht zudringlich zu seyn und meinen Namen streng zu verschweigen.
Den ersten Tag brachte sie meine armen Künsteleien, ohne ein Stück verkauft zu haben, zurück, und ich mußte sie, um für den heutigen Tag leben zu können, um einen sehr herabgesetzten Preis meinem ehemaligen Kaufmann überlassen. Den zweiten Tag glückte es besser: sie verkaufte ein kleines gemaltes Körbchen theurer, als ich es angeschlagen hatte, ja sie [226] überbrachte mir zugleich von Seiten der Käuferin die Bestellung, ein ganzes Dutzend Caminfächer zu verfertigen. Man wünschte sie so niedlich wie möglich, ohne mir einen Preis vorzuschreiben; die Dame machte mir nur die einzige Bedingung, daß ich selbst zu ihr kommen möchte, um die Arbeit mit ihr zu verabreden. Diese war mir sehr peinlich; in der Lage, wo ich mich befand, konnte ich sie aber nicht abschlagen. Die arme Julie war über unser gutes Glück kindisch entzückt. »O nun bekomme ich das Glas Burgunder, um das ich Sie schon zwei Tage lang vergeblich gebeten!« – Seit zwei Tagen weigerte sie sich hartnäckig, unsre einfache, doch leichte Nahrung zu genießen, und klagte Tag und Nacht, daß sie vergeblich nach dem einzigen Labsal lechze, welches ihrem kranken Körper Kräfte zu geben vermöchte. Bei dem Fieber, das sie verzehrte, bei dem Husten, der ihr ganzes Wesen erschütterte, [227] konnte Burgunder kein angemeßner Genuß für sie seyn; mein weniges Geld reichte auch nicht hin, ihn zu kaufen, und wenn ich diese Ausgabe erzwungen hätte, war ich gewohnt, daß kranker Ekel ihr jede noch so ersehnte Befriedigung, sobald sie ihr gewährt wurde, widrig machte. Nothgedrungen und aus Ueberlegung hatte ich ihrem Verlangen nach diesem Glas Burgunder widerstanden und sagte auch jetzt: »Liebe Julie, wir müssen auf etwas Anderes zu Ihrer Labung denken. Alles Geld, das wir besitzen, reicht, wenn wir die morgen an Frau Campell zu bezahlende Miethe abziehen, nicht hin, Burgunder zu kaufen.« – »Frau Campell kann warten; die braucht das Geld nicht so dringend.« – »Liebe Freundin, wenn man jeden Tag nur für den Tag erwirbt, kann man nicht Schulden machen; man hat kein Recht dazu, weil der Tag, wo man bezahlen könnte, vielleicht nie herbeikommt.« – »O so eine kleine [228] Schuld! aber ich weiß wohl, ich habe nicht das Recht, solche Opfer von Ihnen zu verlangen. Ich habe es nicht um Sie verdient; aber um meines armen Kindes willen, das ohnehin bald eine Waise werden muß ...« Hier unterbrach sie sich selbst und weinte fort. Mir zersprang fast das Herz vor Wehmuth und Unwillen. Der letzte, weil ich aus hundertfacher Beobachtung wußte, daß sie nie an den Tod dachte, und der traurige Schluß ihrer Rede nur mich erweichen sollte. Fest entschlossen, auf meiner wohlbegründeten Weigerung zu bestehen, begab ich mich, ohne ihr zu antworten, hinweg. Nachdem ich ein paar Stunden, an Frau Campells Küchenfenster sitzend, gearbeitet hatte, kehrte ich in mein Zimmer zurück, wo ich zu meinem Befremden Julie an der Thür begegnete, die mir entgegen rief: »Ach, ich dachte, Sie kämen nie wieder! Wo ist der Wein?« – »Liebe Julie«, antwortete [229] ich, untröstlich über ihre Beharrlichkeit, »ich kann Ihrer Forderung nicht genügen.«
Sie hatte sich eingebildet, mich überredet zu haben; die Fehlschlagung brachte sie jetzt dergestalt auf, daß sie durch das Weinen in einen Anfall von Husten gerieth, der endlich einen Brustkrampf erregte, wodurch ihr Leben augenscheinlich zu erlöschen bedroht war. Frau Campell, die glücklicher Weise zu Hause war, holte einen Apothekergesellen herbei, dem es gelang, durch einige Opiate den Krampf zu stillen; eine tödtliche Schwäche folgte ihm, die nach kurzer Zeit jedoch in einen ruhigen Schlaf überging. Während ich die Nacht an ihrem Bette verwachte, dachte ich mit Schauder an die Vorwürfe, die ich mir würde gemacht haben, wenn Julie in diesem durch meine Schuld veranlaßten Anfall den Tod gefunden hätte. Mein Verfahren konnte ich nicht tadeln, es war die Frucht eines schweren Siegs [230] der Vernunft über meine Weichheit; allein die schnelle Hülfe, welche »des Doctors«, wie ihn meine Wittwe nannte, einfache Arznei gewährt hatte, machte mir die Nothwendigkeit einleuchtend, ärztliche Hülfe für die arme Kranke zu suchen. Bisher hatte ich geglaubt, meine geringe Einsicht in ihr Uebel könne mich hinlänglich bei dessen Behandlung leiten; allein jetzt war mir die Möglichkeit ihres Todes, bevor sie ihre Gefahr eingestehe, bevor sie ihre Gedanken zu der großen Verwandlung gesammelt, nahe getreten, und ich dankte Gott für die Aussicht, durch die mir aufgetragne Arbeit einen hinlänglichen Erwerb hoffen zu dürfen, um sogleich einen Arzt für Julie zu bestellen. Diese Betrachtungen hatten meine Abneigung gegen den mir bevorstehenden Besuch gänzlich vertilgt, so daß ich mich, zwar sehr schüchtern, aber freudiges Muthes auf den Weg gemacht hätte, wäre mir nicht eine neue quälende Nothwendigkeit [231] klar geworden. Die aufgetragne Arbeit sollte mir einen reichern Gewinn geben, allein sie erforderte auch längere Zeit, und mein Bedürfniß verlangte einen täglichen Zuschuß; ich sah mich also nothgedrungen, von meiner neuen Wohlthäterin einen Theil der Bezahlung imvoraus zu erbitten, um so mehr, da ich Stoff zu dieser Arbeit einkaufen mußte – eine unerschwingliche Ausgabe in meinem Verhältniß. Doch da mir meine Vernunft sagte, daß ein großer Theil Arbeiterinnen in diesem Fall seyn dürften, und eine solche Forderung mit Almosenheischen nichts gemein hätte, überwand ich meine Scheu und trat ziemlich gefaßt in das Haus. Man wies mich zu einer ältlichen Frau von sehr angenehmem Aeußern; der angemeßne Ernst in ihrer Kleidung, ihre Haltung forderten die ihrem Alter gebührende Ehrerbietung, wobei doch die Güte und Heiterkeit ihres Wesens die Jugend anziehen mußte. Sie empfing [232] mich mehr wie höflich und begann sogleich ein Gespräch mit mir, dem sie eine so leichte Wendung zu geben wußte, daß ich alle Verlegenheit ablegte. Bald nahm ich wahr, daß der günstige Eindruck gegenseitig sey, was mich nicht weiter wunderte, da die Dame mir einen Wink gab, daß die gute Wittwe Campell ihr in der Dankbarkeit ihres redlichen Herzens von mir erzählt hatte. Erst nach einem langen Gespräch kam sie auf die schonendste Weise auf meine Arbeit zu sprechen, verabredete die Darstellungen, welche ich auf den Fächern anbringen sollte, mit so viel Geist wie Geschmack, und gab mir sehr verbindlich zu verstehen, daß ich den Preis ganz nach meiner Mühe ansetzen sollte. Jetzt war nun der Augenblick gekommen, wo ich mein Gesuch anbringen sollte; aber eben darum, weil mich diese Frau nach so langer, langer Zeit wieder auf den Platz gesetzt hatte, für den meine ehemalige Bildung [233] mich bestimmte, fand ichs um so schwerer, auch sogleich wieder zu der Rolle der Geldbedürftigen herabzusinken. Der Muth verließ mich, ich ward stumm und zerstreut, meine Zunge versagte mir ihren Dienst – aber dann fiel mir Juliens elender Zustand ein, die Nothwendigkeit, mir selbst Mittel zur Arbeit zu verschaffen, und ich stammelte: »ich hätte wohl um eine Gunst zu bitten ...« aber mehr hervorzubringen, war mir unmöglich. Die edle Frau sah mir fragend ins Gesicht, faßte meine Hand und sagte: »Ich wünschte, Sie sähen mich als eine alte Bekannte an; mir ists wirklich zu Sinn, als habe ich Sie schon in der Wiege gekannt.« – Vor so viel Güte schwand meine Widerspenstigkeit; »ja«, rief ich mit hervordringenden Thränen, »Sie sind gütig, ich sehe, Sie sind es; und ich sollte nicht diese Zurückhaltung fühlen ... ich sollte gestehen, daß mich die äußerste Nothwendigkeit [234] antreibt ...« Hier schwieg ich wieder; aber die Dame hatte ihren Geldbeutel schon in der Hand: »Ich sollte Ihnen schmälen«, rief sie freundlich, »denn Sie flößen mir den Verdacht ein, zu denen zu gehören, die Gottes Güte nur dann erkennen wollen, wenn er sie unmittelbar in ihre eignen Hände legt.« – Der Vorwurf that mir weh. Ich fand die Sprache wieder und sagte ihr, worin eigentlich meine Forderung bestanden hätte; aber im Sprechen erkannte ich, daß ihr Vorwurf doch einigen Grund hätte, und setzte hinzu: »Doch schmälen Sie nur, ich habe es einigermaßen verdient, denn mir fehlt immer noch die Demuth, mit der jede Gabe Gottes von einem armen Geschöpf, das sie so oft nicht verdient hat, angenommen werden sollte.« Die Dame schien meine Art und Weise ganz zu verstehen: sie gab mir nun so viel und auf die Bedingungen, wie ich es wollte, ohne mir mehr aufzudringen.[235] Bei meinem Abschied fragte sie nach meinem Namen, den ihr Frau Campell, meinem Verbot zufolge, nicht genannt hatte. Ich erröthete über meine immer wieder auftauchende Eitelkeit und sagte: »Es war wieder eine Schwäche von mir, ihn zu verschweigen. Ich weiß, Ellen Percy ist dadurch nicht beschimpft, daß sie durch ihre Arbeit ihren Unterhalt erwirbt.« – »Percy!« rief die Dame, als wenn sie sich plötzlich an etwas erinnerte. »Aber Frau Campell sagte, Sie hätten in Schottland gar keine Bekanntschaften. – Kaum die allerentfernteste.« – »So können Sie es doch nicht seyn, von der sie sprachen« – sagte sie wie im Selbstgespräch, indem sie sich zu ihrem Schreibtisch wendete, wo offne Briefe lagen, gleichsam als deute sie auf den Inhalt. Gern hätte ich um eine Erklärung gebeten; allein da die Dame nichts hinzusetzte, war ich zu schüchtern und begab mich, sehr neugierig, hinweg. Hätte [236] ich Zeit gehabt, so möchte ich mich wohl mit Errathen und Luftschlössern beschäftigt haben; von diesem Zeitvertreib hatte mich aber die ernste Wirklichkeit ziemlich geheilt, und jetzt forderte mich Juliens Zustand auf, mich mit ganz andern Dingen zu beschäftigen. Da ich einen Arzt für sie zu Rathe zu ziehen gedachte, fiel mir der Mann ein, der in meinem fürchterlichen Verwahrsam sich meiner so thätig angenommen, und, durch sein Betragen gegen mich von seiner Menschlichkeit überzeugt, ließ ich ihn um einen Besuch bitten. Er kam ungesäumt, freute sich ohne viele Worte über meine blühende Gesundheit und ging sogleich auf den Zweck seiner Einladung los. Während er Julie befragte, beobachtete ich ihn wohl und nahm wahr, daß er ihren Zustand für hoffnungslos hielt; indeß sie mit dem traurigsten Selbstbetrug ihm die Beobachtungen, die er selbst machte, abstritt. Er verließ sie, ohne eine [237] Verordnung zu machen. Ich folgte ihm aus der Thür und fragte, ihn aufhaltend: »Haben Sie mir gar keine Anweisung für die Kranke zu geben?« – »Gar keine, als sie treiben zu lassen, was sie noch freut. In weniger wie einer Woche ist es mit ihr vorüber.« – Kaum hatte er diese fürchterlichen Worte ausgesprochen, so hörte ich einen schweren Fall, und wie ich in das Zimmer zurückflog, lag Julie besinnungslos am Boden. Sie hatte aus des Doctors Betragen und meinem Eifer, ihn zu begleiten, Verdacht geschöpft, hatte die Thür leise geöffnet und unser Gespräch leise behorcht. Das über ihr Leben ausgesprochne Urtheil hatte sie der Besinnung beraubt; mühselig brachten wir sie ins Leben zurück. Ach, sie begrüßte es mit dem wehklagenden Geschrei: ich soll sterben, ich soll sterben! und alles Zureden, allen Trost von sich weisend, wiederholte sie, deren armer Kopf nun weiter keinen Gedanken zu fassen fähig war, [238] unaufhörlich diese Worte, bis die erliegende Natur ihr in einem unruhigen Schlummer Stillschweigen gebot.
Auch mir war heute der Schlaf eine willkommene Wohlthat, so daß mein letzter Gedanke, ehe er mich in süße Vergessenheit hüllte, ein herzlicher Dank war, daß der kleine Knabe heute nicht, wie es wohl oft der Fall war, durch sein Weinen meine wenigen Ruhestunden verkürzte. Bei meinem Erwachen fand ich Julie so still, und sie lag so unbeweglich, daß ich mich mit Aengstlichkeit ihrer Athemzüge versicherte. Zu meinem Erstaunen schien sie, ohne mich zu rufen, schon eine Weile gewacht zu haben. Sobald sie mich aber erblickte, fragte sie mit einer Art Gleichgültigkeit: »Hat denn der Doctor *** den Ruf eines geschickten Mannes? Er schien von meiner Krankheit gar nichts wahrzunehmen, als was ich ihm selbst sagte, und das mißverstand er [239] dennoch ganz und gar.« – Die Beharrlichkeit, mit der sie auf ihrer Selbsttäuschung bestand, war mir unendlich schmerzlich; ich wiederholte meine gute Meinung von des Arztes Geschicklichkeit und setzte hinzu, daß sein Urtheil eigentlich aber gar nichts bestimme. Wenn sie das, was ihr vor ihrem Ende zu thun übrig bliebe, gewissenhaft vollbringe, sey es ja ziemlich gleichgültig, ob er dieses fern oder nahe hielt. Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »Sie haben recht. Kommen Sie neben mein Bett, ich will Ihnen einen Brief an meinen Bruder dictiren.« Ich willfahrte ihr, sobald es mein kleiner Haushalt vergönnte, und darauf sagte sie mir einen Brief in die Feder, über dessen Klarheit und Zweckmäßigkeit ich erstaunte. Sie nannte und bezeichnete die Personen, welche in ihrer Sache zu ihren Gunsten Zeugniß geben konnten, und nahm Herrn Arnolds herrschende Leidenschaft [240] höchst geschickt in Anspruch, indem sie ihm begreiflich machte, daß er, sobald die Legitimität von seinem Neffen erwiesen sey, als Oheim und natürlicher Vormund, nach Lord Glendowers Tode mit der Verwaltung des gänzlichen Vermögens von fünfundzwanzig tausend Pfund Einkünften beauftragt werden müsse. Mit unruhigem Rückblick auf mich selbst sah ich hier ein neues Beispiel, wie klar wir Andrer Fehler einsehen, indeß wir über die unsern in steter Täuschung verbleiben. Ich hoffte, daß sie die Kräfte, welche ihr ein erquickender Schlaf schien gegeben zu haben, nun auch zu einem noch viel ernstern Geschäft, als die zeitliche Wohlfahrt ihres Kindes zu begründen, anwenden würde; ich hoffte, sie würde ihrem Bruder über dessen Erziehung etwas sagen, würde einen kräftigern Zuspruch, wie den meinen, über ihre nächste große Zukunft verlangen; – aber die flüchtige Helle ihres Geistes [241] war schon vorüber; ehe der Brief noch geschlossen ward, schweiften ihre Gedanken ab, und ein halb träumender Zustand machte sie zu jedem Nachdenken unfähig.
Meine nächste Beschäftigung war nun, die Zeichnungen zu meiner mir aufgetragnen Arbeit zu entwerfen. Leider war Frau Campells Töchterchen heute durch Hausarbeit verhindert, mit dem kleinen Glendower zu spielen, es blieb mir daher nichts übrig, als ihn mit der einen Hand auf meinen Knien zu halten, ein Körbchen mit den bunten Abschnitzeln meiner Arbeit vor ihm, in welcher er unruhig umherwühlte, indeß ich mit der andern Hand den ersten Entwurf zu meinen Zeichnungen versuchte. In diesem Augenblick öffnete sich leise die Thür, und die Dame, bei der ich mich gestern vorgestellt hatte, trat mit einer jüngern ein, die auf den ersten Anblick meine Aufmerksamkeit fesselte. Sie hatte eine majestätische, [242] im schönsten Ebenmaß gebildete Gestalt; ihre Haut, wenn gleich von der Farbe, die sich zu braunem Haar paart, war durchsichtig, und wenn gleich für die kränkelnde Zartheit einer londner Schönen zu hoch gefärbt, gewann sie durch das Roth der Gesundheit ihrer Wangen. Ihre schwarzen, etwas grade gezeichneten Augenbraunen lagen nahe über so dunkeln, leuchtenden Augen, daß ihre eigentliche Farbe nicht zu unterscheiden war, und für die Weiße ihrer Zähne war das alte poetische Bild orientalischer Perlen zu matt. Die Lieblichkeit ihres Lächelns wäre eben so schwer zu schildern. Wahr ist es, sie konnte neben einer zartgebauten Nymphe etwas zu breitschultrig aussehen, aber ihre Formen waren höchst weiblich, ihre Bewegungen mild und behende. Sobald sie ihre Begleiterin als Charlotte Graham eingeführt hatte, erinnerten mich ihre Züge an meine gute Cecile; sie glichen sich, wie der rohe Entwurf einer Büste [243] zu ihrer ausgeführten Vollendung; auch im Ausdruck fand dieser auffallende Unterschied statt. Cecilens ihrer war ernst, durchdringend und, für eine so junge Frau, fast streng; Miß Grahams Gesicht war heiter, offen, lebendig, beide aber drückten die Art Scharfsinn aus, welche die Worte dessen, der da redet, bis zu ihrer Quelle verfolgt.
Miß Grahams tiefe Trauerkleider und eine trübe Wolke, die zuweilen über ihr fröhliches Gesicht zog, bedeuteten mich, daß irgend ein Todesfall die Familie betroffen haben mußte. Ihr Betragen benahm aber auch den Schüchternsten alle Verlegenheit. Es war gebildet, aber nicht modig; höflich, doch nicht gekünstelt; gütig, ohne den mindesten Anschein von Herablassung; allein in ihrer Haltung, ihren Bewegungen, vor allem in ihrem Gang drückte sich eine Hoheit aus, die es bewieß, daß sie sich nie von der Gegenwart eines Obern gedrückt [244] fühlte und wohl zu gewähren, aber nicht zu bitten gewohnt war. Diese Eindrücke machte mir die erste Viertelstunde von Miß Grahams Bekanntschaft. Was mir Cecile von ihr gesagt hatte, war ganz geeignet gewesen, ihr meine Bewunderung zu erwerben; allein die unaussprechliche Melodie ihrer Stimme erwarb ihr mit den ersten Worten, die sie mit einer etwas fremden, ihr Vaterland höchst angenehm bezeichnenden Aussprache zu mir sagte, mein Herz. »Wenn Sie uns entschuldigen, im Fall wir Ihnen lästig sind«, sprach sie, »so ist mein Gewissen beruhigt; denn ich bin überzeugt, Sie sind es mit der ich mein Geschäft abthun soll; denn zwei Personen können meiner Beschreibung nicht ähnlich sehen.« – »Sie werden sich erinnern«, sagte ihre Begleiterin, indem sie über meine erstaunten, fragenden Blicke lächelte, »daß ich gestern einer Freundin gegen Sie erwähnte, die ein Frauenzimmer Ihres Namens aufgesucht [245] hätte. Wir dürfen nun hoffen, solches in Ihnen gefunden zu haben, und damit muß manche zudringliche Frage entschuldigt werden.« – »Ich bedarf nur eine beantwortet zu erhalten«, sagte Miß Graham. »Sagen Sie mir nur, wer Ihre Eltern waren?« – Dieses sagte ich ohne den geringsten Rückhalt. »Gut«, nahm Miß Graham wieder das Wort, »in diesem Fall habe ich die Freude, Ihnen eine angenehme kleine Nachricht zu bringen. Mein Bruder war so glücklich, eine Ihrem Vater schuldige Summe einzutreiben; der Schuldner zahlte sie nur unter der Bedingung aus, daß die Hälfte davon in Ihre Hände gegeben, und nur die Hälfte der Masse zugewendet werden sollte. Die Sache ist nun gerichtlich abgethan, und Sir William Sorbes wird Ihnen funfzehn hundert Pfund auszahlen.« – Kaum wird man mir glauben, daß diese Nachricht mir anfangs keine große Freude machte. Ach, das kommt [246] nun zu spät! dachte ich, meine Blicke auf die arme Julie heftend, die aus dem Hintergrund des Zimmers diesen Vorgang mit dumpfer Gleichgültigkeit zusah. Doch mein zweiter Gedanke belehrte mich, daß ich undankbar gegen Gott und meine Wohlthäter sey, und ich drückte Miß Graham meine Erkenntlichkeit aus. Sie versicherte mich dagegen auf die liebenswürdigste Weise, daß meine Bekanntschaft sie schon weit über den Werth des kleinen geleisteten Dienstes belohnt habe, und kam meinen weitern Danksagungen durch die Fortsetzung ihres Gesprächs zuvor. »Mein Bruder«, sagte sie, »konnte Ihre Spur nur bis zu Miß Mortimer und von da nach Edinburg verfolgen, hier verlor er sie, und da er zu entfernt war, Nachforschungen anzustellen, trug er sie mir auf, und mir war in meinem Geschäft eine Ihrer und meiner sehr dankbaren Schützlinge, die gute Cecile Graham, behülflich. Sie wies mich an die Boswells; [247] die wollten aber nichts von Ihnen wissen. Mittlerweile kam ich vor wenigen Tagen in die Stadt, ohne zu wissen, welche Wege ich einschlagen sollte, aber fest entschlossen, nicht, ehe ich Sie gefunden, Glen Eredine wiederzusehen« – »Wäre es möglich, daß ich solch eine großmüthige Theilnahme bei Fremden erregt haben sollte?« – »Nennen Sie mich Fremde, wenn Sie wollen, wenn mir der Name nur einen freundlichen Empfang bei Ihnen verschafft. Doch mein Bruder muß Sie persönlich gekannt haben, wenigstens mit Ihrem Vater in sehr genauen Verhältnissen gewesen seyn, denn er beschrieb mir Ihre Person.« – »Ja, ja«, nahm die ältere Dame mit gutmüthigem Scherze das Wort, »die schwarzen Wimpern und das Grübchen in den Wangen.« – – – »Das Lächeln hätte Sie mir doch noch leichter verrathen«, unterbrach sie Miß Graham. – »Wenn ich die Ehre haben sollte, Herrn Kenneth, [248] den ich jedoch nur aus Cecilens Erzählung gekannt zu haben glaube, wiederzusehen, kann er Ihnen selbst sagen, ob ich seinem Gemälde gleiche«, antwortete ich, ebenso verlegen wie geschmeichelt. Miß Grahams Heiterkeit erlosch, und eine Thräne füllte ihr Auge. Ich suchte mir diese sonderbare Erscheinung zu erklären und dachte, daß Herr Kenneth selbst der Schuldner gewesen und seitdem verstorben sey, weshalb meine Hoffnung, ihn wiederzusehen, der liebenden Schwester so weh thue. Diese faßte sich aber bald wieder und fragte: »Sie erinnern sich also nicht, einen Bruder von mir zu Ihres Vaters Lebzeiten gesehen zu haben?« – Ich war beschämt. War Herr Kenneth ein Geschäftsmann gewesen, der meiner Eitelkeit nicht besonders gehuldigt, so konnte er sich sehr wohl unter den vielen Gästen meines Vaters befunden haben, ohne daß ich ihn je bemerkt hatte. »Gut«, rief Miß Graham, da sie meine Verlegenheit [249] bemerkte, »ich will dafür sorgen, daß Sie mich nicht also vergessen«; – und jetzt wendete sie das Gespräch auf Cecile, ihre Landsleute und den Unterschied zwischen den Hochländern und den Einwohnern der Ebene. Wenn gleich ihre Unterhaltung über diesen, wie über jeden andern Gegenstand, keine besondere Geistesbildung bewies, so verrieth sie doch einen natürlichen Scharfsinn, eine so schnelle und scharfe Beobachtungsgabe, wie ich sie sehr selten angetroffen habe. Ihr Besuch nahm ein Ende, ohne daß ich begreifen konnte, wie er zwei Stunden gedauert habe. Die langentbehrte Wohlthat eines freundschaftlichen Austausches von Gedanken und Gefühlen hatte mich so entzückt, daß das unerwartete Glück, welches sie mir verkündet, mich, so lange sie gegenwärtig war, wenig beschäftigte.
Doch die Gelegenheit, es anzuerkennen, stand mir nahe genug. Juliens Zustand war jetzt so [250] hülflos geworden, daß ihre Pflege und die Aufsicht auf ihr armes Kind, obgleich ich nun in. der ältesten Campell eine Art Wärterin für dasselbe bezahlte, mir sehr wenige Zeit zu arbeiten ließ. Die Kranke war so abgemagert, daß Bewegung und Stilleliegen ihr gleich schmerzhaft bedünkten; meine ängstliche Unruhe war das einzige Gefühl, das der Tod noch nicht in ihr vertilgt hatte; so wie ein kindisches Bewußtseyn ihrer Abhängigkeit von mir die letzte ihrer menschlichen Empfindungen zu seyn schien. Die Furcht vor dem Tode war in stumpfer Unterwürfigkeit unter die Nothwendigkeit untergegangen, und so sah ich sie gleich unbedürftig und unfähig, die große Stunde, der sie entgegen ging, würdig zu bestehen, vor meinen Augen verschmachten. Mit tiefer Wehmuth und unaussprechlichem Danke zu Gott saß ich Tage und Nächte an diesem jammervollen Todbette. Ich war mit dieser Sterbenden jung und thöricht [251] gewesen, mich hatte eine Vaterhand aus dem Strom des Verderbens gerettet, auf den Wogen des Unglücks getragen, und ich fühlte tief in meinem Herzen: weinen konnte ich noch viel, fehlen noch oft, aber so sterben, so trost- und hoffnungleer sterben würde ich nie. Dann sann ich nach, was denn mein Verdienst sey, daß ich nicht von jenem Tage an, wo mich meine Verkehrtheit in Lord Friedrichs Hände übergab, gesunken und zu Grunde gegangen sey, wie meine unglückliche Gespielin, und gedachte der Demüthigung, die mich damals traf, und des Jammers, der ihr folgte, mit tiefem, innigem Dank. – Denn wahrscheinlich hatten sie mich gerettet. Diese Tage lehrten mich, welchen Schatz ich an Charlotte Graham gewonnen hatte. Durch mein Schicksal verschüchtert, wehrte ich mich anfangs vor der Anziehungskraft ihres Wesens und sagte mir oft: um eine wahre Freundin zu seyn, bedarf es [252] mehr, wie dieses liebenswürdige Aeußere. Aber nun, da sie täglich Gesellschaften, in denen Beifall und Freude sie erwarteten, hintansetzte, um die Abende in meiner ärmlichen Wohnung die Pflege einer Sterbenden zu theilen, ward mir ihre Milde, ihre Geduld, ihre Frömmigkeit klar, und wir knüpften eine Freundschaft, die gewiß nur der Tod zu scheiden vermag. Sie fühlte viel zu zart, um mich, so lange Julie meiner bedurfte, zu einer Veränderung meiner Lage zu bewegen; allein mein Besuch in Glen Eredine ward als eine so ausgemachte Sache angenommen, daß sie mich schon wie eine Bewohnerin von ihres Vaters Hause ansah. Sie machte die Eintheilung unsrer Zeit für jede Stunde des Tags; unsre wissenschaftlichen Uebungen, unsre Lustwanderungen wurden verabredet; alles, was sie beschäftigte, führte sie auf Glen Eredine zurück; sie beschrieb mir die Naturscenen, die ich zeichnen sollte, den Felsen, [253] wo der Widerhall meiner Harfe sollte antworten; und wenn sie selbst sich auf ihren unabläßlichen Träumereien über ihr Heimathsthal überraschte, rief sie mit einem glänzenden Blick zum Himmel: »ach, es ist ja auch nirgend so schön«! und legte die gefalteten Hände auf die Brust.
Bei diesem nur ihren edeln Landsleuten eigenen Enthusiasmus für ihr Land, bei der innigen Ehrfurcht, mit der Miß Graham von ihrem Vater sprach, der, wie sie gestand, durch ihre Abwesenheit eine peinliche Leere empfände, konnte ich nicht begreifen, was sie in Edinburg festhielt. Geschäfte schienen es nicht zu seyn, denn nie hörte ich solche von ihr erwähnen, und Lustbarkeiten fesselten sie nicht, denn sie brachte ihre meiste Zeit in meiner kummervollen Wohnung zu. Endlich aber war unsre traurige Aufgabe gelöst. Mit kaum merklicher Stufenfolge sank Julie aus einem matten [254] Schlummer in die Arme des Todes. Ich fühlte ihren unterbrochnen Puls, bewachte ihre seltneren Athemzüge; allein ihr Leben schwand so leise, daß mir der Augenblick seiner Flucht nicht bemerklich ward. Ich erfüllte die letzte Pflicht der Freundschaft an ihr, ich bereitete sie mit frommen Händen und mancher Thräne der Wehmuth zu ihrem Uebergang ins Grab, ins unbeweinte Grab – denn meine Thränen galten ihrem Leben, nicht ihrem Tode – und ihr armer Knabe sah neugierig zu, wie die Männer den ungeschmückten Sarg aus dem Zimmer entfernten.
Zwei Tage nach ihrem Tode empfing ich von ihrem Bruder die Versicherung, die Rechte von Lord Glendowers Erben vertheidigen zu wollen, zugleich auch die Anweisung, das Kind nach dem Tode seiner Mutter zu ihm nach London zu senden. Die Trennung von ihm ward mir unendlich schwer, ja ohne Miß [255] Grahams klare Ansicht der Dinge, hätte ich mich vielleicht von meinem weichen Herzen bewegen lassen, ihn seinem natürlichen Beschützer zu entziehen. Sie bewies mir aber, daß des Knaben Wohl und meine weibliche Würde mir nicht erlaube, ihn in meinen Händen zu behalten, daß sein Oheim eben das für ihn thun würde, was mir zu thun möglich sey: er würde ihn in eine gute Pension thun. Sie hatte recht, aber mir schien meine Liebe ein Gewicht, das kein Vernunftgrund aufwiegen könnte. Dennoch erkannte ich die ihrigen an, ich beredete meine gute Frau Campell, gegen eine angemessene Belohnung meinen armen kleinen Liebling selbst nach London zu bringen. Seine Rechte wurden anerkannt; und da Lord Glendower von Lady Maria nie Kinder erhielt, wurden Juliens Sohn alle die Vortheile des Glücks eingeräumt, die seine arme Mutter vergeblich um den Preis ihres Lebens hatte zu erlangen gestrebt.
[256] Nun mich keine unerläßliche Obliegenheit mehr fesselte, gab ich Miß Grahams Bitten nach und ward ihre tägliche Gefährtin. Edinburg mit seinen historischen Merkwürdigkeiten und seinen Umgebungen, voll der erhabensten Schönheiten der Natur, beschäftigte mich nun auf die anziehendste Weise, unsre Morgen waren den mannichfaltigsten Wanderungen geweiht, und die Abende in Gesellschaften zugebracht, in denen ich, ohne außerordentliche Vorzüge, alle Annehmlichkeiten vereint fand. Viel feine Sitten, also keine Sonderbarkeiten; allgemeine Bildung, also keine Pedanterei; viel guten Geschmack, also keine auffallenden Einzelnheiten. Von Miß Graham eingeführt, fand ich überall den schmeichelhaftesten Empfang, und die arme Fremde, der es nicht gelingen wollte, Arbeit zu ihrem täglichen Unterhalt zu finden, ward nun, da sie ihren Beitrag zur Kurzweil müßiger Stunden gab, von allen Seiten aufgesucht und [257] bewundert. Nun sah ich mich wieder in der Lage, meinen alten Fehlern Raum zu vergönnen. Wohl nirgends hat weibliche Schönheit so große Geltung wie in der Hauptstadt von Schottland. Miß Grahams hohe Gestalt und meine Schlankheit, traten als neue Erscheinungen auf und fanden warme Bewunderer, doch mein Geschmack an diesen Huldigungen war vorüber; mir war bei dieser meiner Rückkehr in die Gesellschaft eine Schüchternheit vor meiner eignen Schwäche geblieben, die mir Wachsamkeit gegen mich selbst gebot. Ein genugthuenderes Vergnügen, wie der Beifall der Männer, gab mir Charlottens edle Uneigennützigkeit in der getheilten Bewunderung der Menge; sie erfreute sich des kleinen Gewichtes, das meine Waagschaale niederdrückte – es entstand aus den sieben Jahren frischerer Jugend, die ich vor ihr voraus hatte. – Es gingen andre sieben Jahre vorüber, und dann gebührte ihr der [258] Kranz der Schönheit, denn ihre Züge, von dem Zauber nie alternden Geistes beseelt, trotzten dem Einfluß der Zeit.
Seit Juliens Tod war es zwischen uns ausgemacht worden, daß ich Miß Charlotte nach Glen Eredine begleiten würde; mein Aufenthalt in Edinburg gefiel mir aber so wohl, daß ich nicht sehr ungeduldig auf unsere Abreise drang, um so weniger, da meine Freundin, so sehnsuchtsvoll ihre Blicke nach ihren Bergen gerichtet waren, sie doch täglich verschob. Eines Abends, wie wir die Sonne von einer der romantischen Felshöhen um Edinburg untergehen sahen, blickte sie begeistert nach Westen und rief: »Ach, sie sinkt hinter Benarde hinab!« – »Man sollte glauben, Charlotte«, sagte ich lächelnd, »Sie hätten nicht weit von Benarde Jemand bestellt, der mit Ihnen diese letzten Strahlen zugleich begrüßen sollte.« – »Das ist ein empfindsamer Einfall«, rief sie [259] lachend, »den könnten Sie gar nicht haben, hätten Sie nicht selbst schon solche fantastische Rendezvous gehabt. Gestehen Sie, Ellen, Sie haben geliebt!« – »Ich? nein, ich habe nicht.« – »Kind, sehen Sie nicht so unschuldig aus! Warten Sie nur, bis Sie Bruder Heinrich kennen lernen! Dann wollen wir sehen, wie es um die Unverletzbarkeit Ihres Herzens aussehen wird.« – »Grade wie jetzt. Hätte die gefährdet werden können, so wäre es schon vorlängst geschehen.« – »Das wäre? Was, liebe Ellen, hat Sie denn so unverletzbar gemacht?« – »Die Neigung eines der edelsten und weisesten der Menschen, meine Freundin. Ich hatte einst das Schicksal, die Aufmerksamkeit Ihres Landsmanns, des großmüthigen, beredten Maitland auf mich zu ziehen.« – Miß Graham schreckte auf, antwortete aber nicht. »Kannten Sie ihn?« fragte ich, sie ansehend. – Hohe Röthe deckte ihr Gesicht; »ja, ja, ich [260] kannte ihn«, sagte sie zögernd und schien in tiefe Gedanken zu sinken. Wir schwiegen eine Weile. Charlottens Fassung schien mir ein Geheimniß zu verrathen, in das mein Schicksal verflochten war. Es konnte mich nicht befremden, daß Maitland mit Miß Graham zusammengetroffen, und daß er in ihr alle die Vorzüge gefunden, die sein männlicher Geist suchte und einst gütevoll sich bemühen wollte, in mir zu entwickeln. Es kostete mir einen schweren, aber nur kurzen Kampf, meinen unausgebildeten, aber im lebendigen Keim stets noch in meinem Busen schlummernden Hoffnungen zu entsagen. Aber die Vernunft gebot es; die Entsagung gelang, doch dem Schmerz um sie gebot ich nur augenblickliches Schweigen; er sollte mir jetzt die Selbstherrschaft nicht rauben. Jetzt bedurfte ich es, den freimüthigen Verkehr zwischen mir und Charlotten wiederherzustellen; es war mir unleidlich peinigend, neben der [261] Freundin, die mich mit beispielloser Großmuth behandelt hatte, in diesem Augenblick so abgeschieden zu stehen. Den Uebergang zu finden, ward mir schwer, denn trotz der Freimüthigkeit in Charlottens Betragen, hatte meine Vertraulichkeit mit ihr Grenzen; wenn sie einmal einen Punct angedeutet hatte, den sie nicht berührt haben wollte, so getraute ich mich nie mehr ihm zu nahen. Wir wanderten noch stumm neben einander, als sie sagte: »Ellen, Sie sind beleidigt, denn ich that Ihnen eine Frage, die sich selbst die vertrauteste Freundin versagen soll.« – »Nicht doch, liebste Charlotte, Sie dürfen alles fragen; ich will Ihnen gern ...« – »Nein, nein! solche Fragen sollen nicht gethan und nicht beantwortet werden. Ist eine Liebe glücklich, so gesteht sie der Liebende gern; ist sie unglücklich, so ist ihr Geständniß eine Herabwürdigung, die kein Mensch von dem andern fordern darf.« – Gott! sollte das dein Loos [262] seyn, dachte ich, so soll dein edles Herz wenigstens durch mich nicht leiden, du sollst wissen, daß ich dir nicht im Wege bin. Mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen nahm ich wieder das Wort: »Charlotte«, sagte ich, »Sie müssen meine Beichte anhören, sie ist sehr demüthigend, wenn gleich nicht in der Art, die Sie bezeichnen. Ich muß Herrn Maitland die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er mich nie in den Fall setzte, ihn ausschlagen zu können. Er sah ein, daß ich zu seiner Gattin nicht geschickt war, und in demselben Augenblick, wo er seine Schwachheit eingestand, entsagte er ihr auf immer. Sehen Sie nicht ungläubig aus, Charlotte! Weder ein hübsches Gesicht, noch ein großes Vermögen, wie ich damals besaß, konnten Herrn Maitland verleiten, seine Hand einem herz- und gedankenlosen ... Doch seitdem habe ich mich verändert, sehr verändert. Aber wahrlich, Charlotte, [263] ich stehe Niemandem im Wege, der Maitland so glücklich machen möge, wie ich ....« – Ich mußte innehalten, und Miß Graham ersparte mir das Ende meiner Rede, indem sie meine Hand liebevoll drückte und sich dann mit einem eben vorbeigehenden Bekannten unterhielt.
Von dieser Zeit an sprach sie, so offen sie sich über alle Gegenstände ausließ, nie mehr von Maitland, und sie gewann dadurch an Achtung bei mir; denn sie bewies damit, nach meiner Ansicht, sowohl ihre Herrschaft über ihre eigne Empfindung, als ihre Schonung für Andere. Jedesmal, wenn ich Charlotte beobachtete, ward es mir räthselhafter, wie Maitland nicht mit ihr sympathetisch empfinden mußte. Alle Anlagen, die sich in ihm zu dem Mann ausgebildet hatten, den sein Vaterland ehrte, der seine Freunde beglückte, hatten sich in Charlotten als weibliche Tugenden entwickelt, die sie zur Führung des Hauswesens, zum erfreuenden [264] Mittelpunct des gesellschaftlichen Kreises geschickt machten. Ein Gegenstand, der ihr Gespräch um so häufiger betraf, war ihr Bruder Heinrich, der mit ihr in dem innigsten Verhältniß zu stehen schien. Da mir aus Cecilens abenteuerlicher Erzählung ein Zweifel aufgestiegen war, ob die Veranlassung seiner frühern Auswanderung nicht nachtheiliger für ihn und seine Angehörigen gewesen seyn möchte, wie der Familienstolz der Hochländerin eingestehen konnte, war ich zu schüchtern, über seinen Aufenthalt im Auslande, seine Schicksale, nachzufragen; da ich in Glen Eredine alle diese Umstände zu erfahren hoffte, begnügte ich mich auch immer mit dem, was mir Charlotte zu sagen für gut fand; und wenn ich Herrn Heinrich hätte schildern sollen, so wäre er als funfzehnjähriger Knabe dagestanden, wie er in Plaid gewickelt und den Knotenstock in der Hand, von Bouoghrin herabsteigend, die Kühe [265] von Glen Eredine wiedergewann. Daß dieses Bild nicht mehr zu dem Heinrich, aus dessen Briefen mir Charlotte oft vorlas, paßte, bekümmerte mich wenig. Er schrieb ihr wie ein Freund dem Freunde, und doch mit der Zartheit, welche die Verschiedenheit des Geschlechts dem Mann von Gefühl zur Pflicht macht. Sie war seine Almosenpflegerin, und so wenig er seit langen Jahren in seinem Thale gelebt hatte, kannte er jeden Clansmann und bestimmte ihm die Gabe, die ihm nützen konnte. Das Ansehen, der Ton, in dem er sie behandelte, hatten etwas Patriarchalisches, und oft, das gestehe ich, konnte ich seine Befehle nicht mit den englischen Begriffen von persönlicher Unabhängigkeit vereinigen. Was er gebot, athmete Uneigennützigkeit und gerechtes Urtheil, er sprach, wie ein unumschränkter Fürst, und handelte, wie ein gütiger Vater. Da Charlotte durch seine Aufträge in den Angelegenheiten des[266] Clans in die verschiedensten Verhältnisse verwickelt ward, und dabei das Schloß ihres Vaters durch die herzlichste Gastfreundlichkeit einer Menge Besucher stets offen stand, schien mir der Aufenthalt daselbst die entgegengesetztesten Beschäftigungen zu vereinigen, und sehr begierig, dieses alles mit eignen Augen zu sehen, hörte ich es sehr gern, wie mir Charlotte endlich den Tag unserer Abreise verkündete.
An einem schönen Septembermorgen machten wir uns auf den Weg. Obgleich ich mich an der Seite des Wesens befand, das mir auf Erden das geliebteste war, konnte ich Edinburg doch nicht ohne eine dankbare Thräne verlassen. Ich hatte dort die furchtbarsten Bedrängnisse erlebt, mein Geist war dort gereift, mein Herz gereinigt, und in der letzten Zeit hatte ich dort zum ersten Mal die Freuden der guten Gesellschaft, ohne den thörichten Flitter der großen Welt, genossen.
[267] Während dem ersten Tag unsrer Reise kamen wir durch ein so reiches, ebnes Land, daß ich, hätte nicht ein dunkel gefärbter Streif den westlichen Horizont bezeichnet, würde geglaubt haben, in England zu seyn. Ich bewunderte diese Gegend nach meinem englischen Maßstab von einem schönen Lande. »O wenn Sie erst mein Thal werden sehen und meine felsigen Hügel!« rief Charlotte und sah auf den dunkelnden Wolkenstreif hin, der alle die Herrlichkeit deckte. Gegen den Abend fing sich dieser Streif an in Hügelformen zu vertheilen, wo graue Felsen die Höhen, und tiefe Schatten die Thäler ahnen ließen. Am folgenden Morgen waren alle Umgebungen verändert; Kornfelder und Laubbäume hatten einförmigen Haiden Platz gemacht, hier und da von Schaaftriften unterbrochen, oder da, wo ein Bach durch sie hinfloß, durch das Grün, welches an seinen Ufern entsproß. Nur selten erblickte [268] man kleine Birkenhäufchen, gewöhnlich drei und drei, deren bebendes Laub in der stillen Oede flüsterte. Wenn wir langsam die steilen Höhen hinangefahren waren, bot uns die Aussicht eben so eine Haide, wie wir sie unten verlassen hatten, und stiegen wir in eine kleine Senkung hinab, so war es, um sogleich noch viel höher zu klimmen. Endlich in einem engen Thal, das uns reich und einladend empfing, zeigten sich menschliche Wohnungen; die Kleidung der Einwohner bedeutete uns, daß wir die Hochlande erreicht hatten. »Mein nie erobertes Land«! nannte es Charlotte. »Wie der Römer die kleinen Menschen in Staub getreten hatte, trieb ihn die Tapferkeit unsrer Väter hinter seine Mauern zurück. Willkommen, meine Ellen, in dem Hochland, wo nie ein Freund einen Verräther, und nie ein Feind einen Feigling fand!« – setzte sie, meine Hand schüttelnd, hinzu, indeß ich, noch ungewöhnt an [269] diese rauhe Natur, etwas verwundert ihr hochherziges Entzücken mit den uns umgebenden Naturschönheiten zusammenstellte.
Allein noch waren wir fast eine Tagereise von Charlottens Heimathsthal entfernt. Die Berge wurden steiler, die Thäler bekleideten sich mit reicherem Grün, als Charlotte auf einige Gebäude zeigte, den Ort, wo wir sollten zu Mittag speisen und unsern Reisewagen mit einem andern Fuhrwerk vertauschen, weil jener auf den uns nun bevorstehenden Wegen nicht weiter fortzukommen vermochte. Dieser Gasthof war noch einer der besten; die aus Steinen und Rasen zusammengefügten Mauern waren so niedrig, daß ich von dem auf ihnen ruhenden Dach ohne Mühe die schönsten Glockenblumen pflückte; überhaupt bot dieses, mit Moos und Schlingpflanzen bedeckt, von Herbstblumen einzeln durchwebt, einen höchst malerischen Anblick dar. Der Schornstein bestand aus einem [270] alten Faß, dessen abgesprungene Reifen mit dicken, aus Haidegras gedrehten Bändern ersetzt waren. Dennoch zeichnete sich dieser Gasthof vor den ihn umgebenden Hütten durch ein Glasfenster an der einen Seite der Thür und ein Schild an der andern aus. Auf diesem war eine Flasche nebst einem Glas gemalt, und mit großen, erst kürzlich erneuten gelben Buchstaben auf schwarzem Grunde, las man:
Jeder Pilger ist willkommen,
Mag er kommen oder gehn.
Will er in dies Wirthshaus gehn,
Wird er freundlich aufgenommen.
Kaum hatten wir die Hausthür erreicht, so fuhr ein solcher Schwarm von Kindern heraus, daß es mir räthselhaft war, wie sie darin hatten herbergen können. Daß sie alle barfuß waren, wunderte mich, da ich von dieser Landessitte schon unterrichtet war, nicht mehr besonders, und ihr übriger Anzug war mehr abgeschmackt, [271] als ärmlich. Selbst der kleinste Knabe trug schon die kriegerische Mütze der Bergschotten, ihr Tartan oder kurzer Rock war an einem scharlachrothen oder blauen Kittel befestigt und auf dem Rücken zugeschnürt, als wollte man diesen Naturkindern die Versuchung ersparen, sich dessen eigenmächtig zu entledigen; den Mädchen zeigte die Sitte in diesem Stück mehr Vertrauen, denn ihr Oberkleid, das in einer weiten Jacke, oder einem Stück farbigen, um die Schulter geworfenen Tuch bestand, war unter dem Kinn, vermittelst einer großen metallnen Nadel oder hölzernem Pflock zugehalten. Dieser abgeschmackte Anblick ward durch den unpassenden Ernst ihres Benehmens noch erhöht. Sie sahen vielmehr ehrbaren alten Familiengemälden, wie lebend jugendlichen Geschöpfen ähnlich. Schweigend und sich neigend sahen uns die Mädchen vorübergehen, und die Knaben, ihre Mütze in der Hand haltend, [272] blickten uns ehrenvest nach. Die Hütte war in zwei Theile geschieden, deren einer, wie ich bald durch den Rauch unterschied, mit Bauern, die um einen Haufen glühender Kohlen, auf dem Fußboden gelagert, angefüllt war; Miß Graham und ich begaben uns in den andern, als Staatszimmer geachteten, Theil. Man mochte, um ihn uns einzuräumen, erst so eben die Gäste herausgeschickt haben, denn auf dem gestampften Lehmboden und auf dem eichnen Tische lagen noch die Käserinden, Gerstenkuchen und angeschnittnen Zwiebeln, um kleine Landseen von Whisky gestreut. Die gute Wirthin hob aber diesen kleinen Uebelstand zu ihrer völligen Beruhigung, indem sie mit dem Zipfel ihrer Schürze über den Tisch hinfuhr und mit sichtbarer Freude wahrnahm, wie sogleich der Haushund und ein paar Hühner den Boden von den nahrhaften Resten säuberten. Während dem begann sie mit Miß Graham [273] ein Gespräch, in welchem sie alle mögliche Fragen anbrachte, nur nicht die, welche ich bei meinem Eintritt in jeden Gasthof von jeher zuerst gehört hatte: was wir zum Mittagsessen verlangten. Allein das wäre auch eine zwecklose Frage gewesen, denn auf unser Nachforschen erfuhren wir, daß alle Möglichkeiten auf eine alte Henne beschränkt waren. Alsobald erschien eine rüstige Bäuerin mit rothen, bis an die Knie nackten Beinen und bloßem Kopf, dessen Haar nur mit einem blauen Zwirnband aufgeknüpft war; sie legte Reisig in den Camin – denn mit diesem war das Gemach versehen – kniete am Boden, faßte ihr kurzes Röckchen mit beiden Händen und fachte aufs geschickteste die Flamme an. Jetzt trat auch unser Wirth in seiner eigenthümlichen Landestracht ein. Zu meinem Erstaunen reichte er Miß Graham seine Hand zum freundschaftlichen Gruß, setzte sich ohne Umstände zwischen uns [274] nieder und begann ein politisches Gespräch Eben so empört über seine Unverschämtheit als über die Höflichkeit, mit welcher Miß Graham sie duldete, suchte ich jener durch meine Bitte um ein Glas Wasser ein Ende zu machen. Ohne sich zu rühren, trug er der Magd mein Verlangen auf und setzte seine Unterredung fort. Sobald ich dazu kommen konnte, warf ich Charlotten ihre nachsichtige Gutmüthigkeit vor; sie sah mich aber verwundert an und sagte: »Nun? was sollte ich denn thun? Es ist ein vernünftiger Mann und ein Gentleman dazu.« – »Gentleman!« rief ich spottend. – »Und warum das nicht? Er ist meines Vaters Vetter im dritten Glied und mit der besten Familie in Perthshire verwandt.« – Es war offenbar, daß Miß Graham und ich mit dem Worte Gentleman einen verschiedenen Sinn verbanden. Vermöge seiner Vorfahren mußte ich aber dennoch diesem Gentleman Platz an unserm [275] Eßtisch gestatten. Unsre unglückliche Henne hatte ein großes Stück frischen Lachs zur Begleitung, von welchem Miß Graham mich bat, um unsrer Wirthin willen zu kosten. Gegen das Ende der Mahlzeit schob die Wirthin eine große hölzerne Bettstatt von der Wand, öffnete einen Mauerschrank und nahm einen großen Käse nebst einem Topf gesalzner Butter heraus, welches beides sie vor uns auf den Tisch stellte; dazu brachte sie uns frische Haferkuchen, die auf der wollnen Decke des besagten Betts zum Abkühlen ausgebreitet gewesen waren. Ich mochte meinen Ekel nicht sorgfältig genug verbergen, denn die junge Bäuerin sagte sogleich: »Es ist einzig, um sie reinlich zu erhalten; denn man ist nirgend sicher, daß nicht Rußtropfen herabfallen, als unter dem Betthimmel – das Bett hatte oben eine Bretterdecke, die vor Alters Betthimmel hieß.
[276] Unerachtet dieser Entschuldigung hatte mich ein solcher Widerwille ergriffen, daß ich sehr froh war, unsre Pferde ankommen zu hören, und mit Verlangen an die Thür lief, um die uns vom Schloß Eredine entgegengeschickte Begleitung zu sehen. Sie bestand in drei kleinen Pferden, zwei für Miß Graham und mich, und das dritte zum Fortbringen unsers Gepäcks. Das letzte war, ungefähr wie ein Zigeuneresel, auf jeder Seite mit einem Korbe versehen, die beide mittels ein paar Stricken über seinen Rücken gehängt waren. Ein Packknecht stopfte Miß Grahams Mantelsack in den einen, und wie er wahrnahm, daß der meine für den gegenüberhängenden zu leicht sey, füllte er den übrigen Raum mit einigen Torfklösen aus, um das Gleichgewicht zu erzwecken. Außer diesem Packknecht waren wir eine jede mit einer Art Laufer versehen, der neben den Pferden herlief und die Obliegenheit hatte, sie bei beschwerlichen [277] Stellen zu führen; endlich erblickte ich noch ein halbes Dutzend derbe Hochländer, die ohne eine andre Verbindlichkeit, als die Liebe zu ihrem Häuptling, diese vierzehn Meilen zu Fuß hergekommen waren, seine Tochter ins Vaterhaus zurück zu geleiten.
Also gerüstet, zogen wir aus. Unsre Begleiter schienen ohne alle Anstrengung Schritt mit den Pferden zu halten, und mit ihnen allen unterhielt sich gelegentlich Miß Graham in ihrer Landessprache, sie antworteten ihr bereitwillig und ohne alle Scheu, doch keiner sprach sie unaufgefordert an, noch willigte je einer von ihnen ein, so lange sie mit ihm sprach, sein Haupt zu bedecken. Heinrichs Name ward so oft in allen diesen Gesprächen genannt, daß ich sehr neugierig wurde, deren Gegenstand zu erfahren. Obschon ich mit Charlottens Hülfe mein Erlernen des Gaelischen fortgesetzt hatte, war es mir doch zu [278] wenig geläufig, um diese Landleute zu verstehen, und Charlotte fing an über meine Fragen um ihren Bruder so listig zu lachen, daß ich sie um einen Aufschluß zu bitten Bedenken trug. Endlich konnte ichs aber doch nicht lassen; ich sah so unbefangen wie möglich aus und fragte: »Charlotte, von was spricht der Knecht mit solchem Eifer?« – »Mein Freund Kenneth«, antwortete sie mit Nachdruck, »erinnert mich daran, wie Heinrich einst seiner Amme Schaafe aus dem Schnee rettete. Fragen Sie ihn selbst, er spricht englisch. Kenneth! die arme Miß Percy kann kein Gaelisch; erzählt ihr die Geschichte auf Englisch! Für euern Freund Heinrich sprecht ihr ja gern ein gutes Wort.« – Der Mann grüßte ehrerbietig, doch ohne den Rücken zu beugen, und sagte: »wenn er hier wäre, bedürfte er keines Andern, um einer jungen Dame ein gut Wort für sich zu sagen.« Darauf erzählte er sehr umständlich, wie Heinrich [279] und er die felsige Seite des Benarde hinangestiegen seyen, um beim tiefsten Schnee von einem Felsen, mitten in einem rundum eingeschloßnen Abgrund, die Schaafe eines Hüttenbewohners nach Hause zu holen. – »Ist euch denn in den Hochlanden das Leben um einige wenige Schaafe feil?« fragte ich. – »Meint Ihr nicht, Lady, daß ich das Recht hatte, für meiner Mutter kleine Heerde das Leben zu wagen? Und das wißt Ihr wohl, daß es mir nicht zukam, dem jungen Herrn es zu verbieten. Sein Leben! Alle Schaafe in Argyll wären nicht kostbar genug, um ein Haar seines Hauptes zu erkaufen. – Darauf wendete er sich zu meinem eigentlichen Begleiter und sagte mit großem Ausdruck eine gaelische Phrase, die ich ihn bat mir zu übersetzen, sie besagte: »Ein Mann kann seinen Freund lieben, aber sein Pflegbruder ist ein Theil seines Herzens.« »Meine Mutter«, nahm Kenneth wieder das [280] Wort, »würde an jenem Tage, hätte Herr Heinrich mich nicht begleitet, das liebste Lamm ihrer Heerde verloren haben. Die Kälte packte mich, ich wollte mit Gewalt einen Augenblick schlummern, das litt er nicht; aber fürder zu gehen, war ich zu betäubt; da zog er mich, er trug, er schleppte mich – ich weiß nicht, wie er mich großen Kerl die Felsen hinan mit sich fortbrachte; wie ich aber meine Augen wieder öffnete, sah ich meine Mutter vor mir, die rief: »»Er hat mir die Stütze meines Alters gerettet.«« – Nun, Gott segne es ihm um ihretwillen! ohne seine Hülfe hätte eine fremde Hand ihr Grab mit Rasen bedeckt.« Kenneth hatte seiner Lady Befehl erfüllt, jetzt zog er sich wieder bescheiden zurück, als gebühre es ihm nicht, die Aufmerksamkeit zu fesseln.
Wahrlich, Charlotte, rief ich bewegt, Sie sind die glücklichste Schwester in der Welt! Wie innig wird dieser Ihr Bruder geliebt! [281] Aber wie glücklich ist auch eine Lebensweise, bei welcher der Mensch noch dem Menschen so nahe steht! So eine treue Anhänglichkeit hatte ich bisher nur in Romanen gekannt.« – Charlotte sah mich mit ausdrucksvollem Erstaunen an; sie mochte eben so wenig mich beschuldigen wollen, daß ich nie verstanden hätte, wahre Anhänglichkeit aufzuspüren, noch meine Landsleute, daß sie nicht fähig seyen, dergleichen für einander zu empfinden. »Wie sollten denn Heinrich und seine Freunde einander vergessen können?« sagte sie nach einer Pause, in der ihr Blick einen nachsinnenden Ausdruck annahm, als suche sie sich meine Unwissenheit in der Sache der bessern Menschheit zu erklären. »Unsre herzliche Lebensweise mag wohl dazu beitragen, diese Gefühle zu erhalten, und in Heinrichs Seele, wo alles Schöne doppelt kräftig ist, glühten sie auch wohl vorzüglich lebendig. Ich erinnre mich unter andern, daß [282] er in einem Zeitpunct seines Lebens, wo Fehlschlagung und Arbeit ihn sehr schwer belasteten, mir auftrug, seiner alten Amme ein neues Bett verfertigen zu lassen. – Er mochte in seinen schlaflosen Nächten sich erinnert haben, daß das Lager der Alten nicht zum beßten seyn möge.« – Das Letzte setzte sie, seine Wohlthätigkeit sich selbst erklärend, lächelnd hinzu. – »Wie konnte aber Ihr Bruder, wie konnten Ihre Eltern zugeben, daß ein bloses Vorurtheil ihn vom Vaterland entfernte? Er konnte doch unmöglich im Ernste sich ein Gewissen daraus machen, gegen einen wirklichen Räuber, einen Taugenichts, der sein Leben sogar angriff, zu zeugen.« – »Doch wohl! Neil Roy war ein Gentleman und in mancher Rücksicht ein wackrer Mann. Außerdem, wenn die Bestrafung mit dem Vergehen in gar keinem Verhältniß steht, ist es widrig, zu ihr beizutragen. Dennoch ist es nicht diese Begebenheit allein, die [283] Heinrich in die Fremde trieb. Cecile hat Sie nicht ganz gut unterrichtet. Sie wissen, meine Mutter war eine Fremde, und obschon eine der allerwürdigsten Frauen, war es doch natürlich, daß sie ein günstiges Vorurtheil für ihr Vaterland behielt; mein Vater wollte Heinrich eine Pachtung geben. oder ihn zum Geistlichen machen, welches meiner Mutter aber ebenso schrecklich vorkam, als wolle man ihn lebendig begraben. Allein ohne die Geschichte mit Neil Roy würde sie es doch haben über sich ergehen lassen müssen; diese gab ihr aber Mittel, den Vater zu bereden, daß er ihn fortschickte. Heinrich ward demnach ein Friedensopfer für meiner Mutter Verwandten, die seit ihrer Heirath mit einem hochländer Rebellen, wie sie meinen edeln Vater zu nennen beliebten, keinen Verkehr mehr mit ihr hatten gestatten wollen. O Ellen, oft drückt es mir schwer das Herz, daß Heinrich diesen Menschen, die meinen Vater [284] von oben herab anzusehen wagten, die geringste Verbindlichkeit gehabt haben soll! Doch was auch geschehen mag, Heinrich kann nimmer seinen Gehorsam gegen seine Eltern bereuen.«
Miß Graham sprach so unbesorgt, als säßen wir im verschloßnen Zimmer; denn sobald unser Gefolge wahrnahm, daß wir, unsre Pferde nebeneinander haltend, ein Gespräch begonnen hatten, hielt es sich in einer so ehrerbietigen Entfernung, daß keiner uns vernehmen konnte. Jetzt nahten sich aber unsre Stallmeister, faßten unsre Pferde am Zügel, und, indem die andern Männer, vor uns hergehend, die großen Steine aus dem Wege räumten, führten sie uns um den Vorsprung eines sehr steilen Hügels herum. Unwillkürlich hefteten sich meine Augen auf die tiefe Schlucht im Grunde des Thales neben dem Wege. Ich sah, daß ein falscher Schritt meines Pferdes mich einige Hundert Fuß in sie hinabschleudern mußte. [285] Die goldnen Wolken, die im Westen schwammen, erhellten unsern Pfad, die Schlucht aber lag in tiefes Dunkel gehüllt. Die Hochlandswege waren mir noch fremd, und dieser ängstigte mich so sehr, daß ich gegen meinen Führer den Wunsch abzusteigen äußerte. In diesem Augenblick rief Charlotte mit einer Stimme des Entzückens, als habe sie eine längst ersehnte Erscheinung begrüßt: »Benarde!« Ich blickte erschrocken auf und sah zwischen mir und dem glühenden Sonnenuntergang sich ein hohes Felsenhaupt erheben, indeß bläuliche Dünste von seinen Abhängen in das Thal herabflossen.
Jetzt wand sich unser Weg rund um den Berg abwärts. Reich in allen Farben des Herbstes, von dem Abendschimmer gemildert, zeigte sich Glen Eredine unserm Blick. Charlotte sprach kein Wort, wie eine Betende – und sie mochte wohl beten – kreuzte sie ihre Hände über die Brust und blickte begeistert [286] zum Himmel. Ergriffen von dem Schauspiel um mich her, mochte ich nicht diese Stille unterbrechen. Zu unsern Füßen lag ein See, unbeweglich, als hätte nie ein Lüftchen seine Gewässer gekräuselt, alles war still, wie die Erde, bevor Lebendiges sie bewohnte, nur ein großer Adler schwebte majestätisch in gleichem Fluge entlang dem Thal; der Osten war noch immer vom Abendwiederschein erhellt, aber der Benarde zeichnete dunkel seiner Felsen Gipfel auf dem ruhigen See; an dessen einer Seite schimmerten die weißlichen Mauern des alten Castells, und hinter ihnen in einem geschützten Thal schwebte der bläuliche Rauch aus den Hütten des Dorfs, deren bewachsne Dächer in der allgemeinen Schattirung der Landschaft versanken.
Unser Weg ging bergab, und der Wald entzog uns die Aussicht. Anfangs erstanden Birken zwischen den dürren Felsenritzen, dann [287] streckten Krüppeleichen ihre starken Wurzeln aus dem jugendlich grünen Moos, allmälig ließ sich der Ahorn und die Buche erblicken, die, sich endlich in schattige Gänge ordnend, den Weg zum Schloß, aber auch in Nebenalleen zu niederern Wohnungen zeigten. Zu beiden Seiten kamen wir an mehreren derselben vorbei; ihre Bewohner eilten heraus, Charlotten zu bewillkommnen. Kein Geschrei, kein zudringliches Grüßen störte die Stille der Umgebung; selbst die Kinder bückten ihre glühenden Gesichtchen nieder und blickten nur seitwärts, ob ihre Lady sie nicht übersähe. Eine Art natürliche Brücke, eine Landzunge vielmehr, führte endlich zu dem Felsen, auf welchem das Schloß Eredine lag. Ich gestehe, daß Cecilens Erzählungen und das Entzücken, mit dem Charlotte von diesem Sitz ihrer Vorfahren sprach, mir ein andres Bild von diesem Ort hatte auffassen lassen, als ich in der Wirklichkeit fand. [288] Ein viereckiger Thurm mit einem gewölbten Eingang war alles, was von der ehemaligen Veste noch vorhanden war; ihm schlossen sich eine Reihe neuerer Gebäude an mit steilen Dächern und Fenstern, die durch die Beleuchtung im Innern ihre gemeinen Formen sichtbar machten und von der Einrichtung der Wohnung kein günstiges Vorurtheil erweckten. Raum mußte aber darin seyn, denn wie wir anlangten, strömten wenigstens dreißig Menschen, verschiedenen Alters und Geschlechts, uns entgegen. Der ihnen allen voranschritt, hätte meine Aufmerksamkeit erregt, hätte ich ihn auch nicht an Charlottens Freudenruf für ihren Vater erkannt. Das Alter hatte weder auf seinen festen Schritt noch die erhabne Haltung seines kräftigen Körpers gewirkt, sein Auge glänzte noch, seine Wangen glühten von Leben, nur die Silberlocken, welche unter seiner Mütze herabhingen, verriethen, daß er weit über die [289] Jahre der Jugend hinausgerückt sey. Seine Kleidung zeichnete sich nur durch die Länge und Schönheit der Federn seiner Kopfbedeckung aus, übrigens trug er den scharlachrothen und blauen Tartan seines Clans. Er begrüßte mich mit einem Kuß, erst auf die eine, dann auf die andre Wange, zum Willkommen in Eredine, eben so ungezwungen und fast so herzlich, wie er seinen Liebling Charlotte begrüßt hatte; dann gab er einer jeden von uns einen Arm und führte uns in seine Behausung ein. Das Zimmer, wo wir eintraten, war ein großes getäfeltes Gemach, mit tiefen Fensterplätzen und mit Wandschränken versehen; ein Camin, so groß, daß er ein kleines Zimmerchen hätte vorstellen können, verbreitete jedoch durch sein flammendes Holzfeuer in diesen dunkeln Wänden eine fröhliche Helle; noch mehr aber, wie dieses, luden die heitern, wohlwollenden Gesichter aller seiner Bewohner zu dem vertraulichsten[290] Wohlbehagen ein. Meine Gegenwart legte so wenigen Zwang auf, ich war in Eredine so willkommen, Charlotte und alle Hausgenossen weihten mich so schnell in die freundlichen Sitten dieses Hauses ein, daß ich, bevor acht Tage vergingen, so heimisch daselbst war, als wäre ich von Kindheit an gar nichts anders gewohnt.
Charlotte, die beständig bemüht war, das Gefühl, schwesterliche Rechte mit ihr gemeinsam zu haben, in mir zu erregen, bat mich, ihr Gemach, unter dem Vorwand, daß es das modigste sey, mit ihr zu theilen. »Da ich Sie in unsre Berge entführte, ists wohl billig«, sagte sie, »daß ich Sie vor Ihnen schütze; Heinrich hat mir aber meine Zimmer so veranglisirt, daß kein wahrhaft hochländisches Gespenst den Fuß hineinsetzen mag«. Es war wirklich eine höchst angenehme Wohnung; sie enthielt alles Geräth, zu dem uns damals der Luxus gewöhnt hatte, [291] was aber noch besser war, eine Sammlung vortrefflicher Bücher, einen vollständigen Apparat zum Zeichnen und Malen, und einen reichen Vorrath der schönsten Wollen- und Seiden-Garne zu Stickarbeiten jeder Art. Neben unserm gemeinschaftlichen Wohn- und Schlafzimmer befand sich ein drittes kleineres Gemach, wo eigentlich die Bücher aufgestellt waren, mit einem Schreibtisch an einem Fenster, dessen Aussicht über den See reichte – dieses wies mir meine gütige Freundin als mein besondres Eigenthum an.
Wie wir uns zur Nachtruhe auf unser Zimmer begaben, umfaßte mich Charlotte und sagte: »Liebe Ellen, ich muß Sie um eine Vorsicht bitten, ja um eine Gunst, die mir vielen Werth hat.« – Ich antwortete, wie mein von Dankbarkeit fast zu überfülltes Herz mir gebot. – »Nun, liebe Ellen, vermeiden Sie sorgfältig, in meines Vaters Gegenwart je [292] den Namen eines Mannes zu nennen ... eines Mannes, den wir beide kennen ...« »Herrn Maitlands Name?« half ich ihr ein. – »Ihn; nennen Sie ihn nie vor meinem Vater!« – »Gewiß, nie. Meine Charlotte muß triftige Gründe haben, um gegen ihren Vater solche Vorsicht zu gebrauchen.« – »Ja sie sind triftig«, antwortete Charlotte nachdenkend. »Vielleicht werden Sie selbst sie einst dafür erkennen. Ich möchte gern kein Geheimniß vor Ihnen haben, meine Ellen, von diesem hängt aber jetzt mein ganzes Lebensglück ab.« – »Genug, Charlotte! Ich brauche weiter nichts zu wissen. Nur das lassen Sie mich nochmals wiederholen: Herr Maitland ist mir gar nichts, gar nichts, als der beste der Menschen, der uneigennützigste Freund, ein Freund, der von aller meiner Unwürdigkeit sich nicht abschrecken ließ ... O Charlotte, wenn Ihr Vater seinen Werth kennte ...« Ich hielt inne, denn [293] ich fühlte, wie die Lebhaftigkeit meiner Gefühle mich hinriß. Ein sanftes Lächeln spielte um Charlottens schönen Mund, als wenn eine schmeichelhafte Hoffnung sich in ihr Herz stähle; allein meine Hand drückend, wendete sie sich, ohne die Unterredung fortzusetzen, von mir ab.
In den Tagen des Elends, wenn mein Nachsinnen für den Unterhalt des folgenden Tags keine Auskunft hatte finden können, neben dem beklommnen Aechzen von Juliens Krankenbett, von dem Weinen ihres unruhigen Knabens unterbrochen, hatte der Schlaf mein Auge geschlossen, sobald mein Haupt ein, oft recht hartes, Kissen gefunden. Jetzt ruhte ich nun unter dem Dache des Frommen, in dem Schutz der Freundschaft, morgen einen fröhlichen Tag, heitre Umgebungen erwartend, und der Schlummer wollte sich lange mir nicht nahen. Es war der Hoffnungslosen leichter geworden, bei dem dichtesten Dunkel ihres [294] Schicksals, sich am Abend eines ermüdenden, sorgenvollen Tages blindlings in ihres Vaters Arme zu verbergen, als der jetzt dem Sturm Entronnenen, die neuen Bilder, die dämmernden Aussichten, die möglichen Glücksfälle zu ordnen, die ihre Einbildungskraft ihr vorgaukelte. Endlich verflossen die sich kreuzenden Gedanken in dem einzig klaren Bewußtseyn von Dank gegen Gott und der flehenden Bitte, mir den rechten Pfad zu zeigen in Glen Eredinens gastfreiem Thale, wie er mich ihn in dem freundlosen Edinburg, wohl auf verwundend rauhem Wege, geführt hatte.
Das Frühstück des nächsten Tages verwirklichte mir das Bild dieses Mahls, wie es Reisende in Schottland oft beschrieben haben. Eine Menge nahrhafter Speisen, mit Sauberkeit und Ordnung aufgestellt, deckten den Tisch. Eredine, so ward hier, wie ich wahrnahm, Charlottens Vater genannt, wies mir meinen [295] Platz neben sich in einem großen, mit hoher Rücklehne versehenen Armsessel an und belud meinen Teller mit den verschiedensten Speisen. Meine beschämte Bitte, meiner Unfähigkeit zu schonen, schien ihm doch endlich zu Herzen zu gehen, er blickte auf mich herab, als auf das wahre Bild von »den Söhnen kleiner Menschen«, und sagte lächelnd: »wenn Ihnen das ein Ueberfluß scheint, was hätten Sie dann zu einem Frühstück zu der Zeit meiner Jugend gedacht!« – Sobald das Mahl beendigt war, übernahm Charlotte wieder die Führung des Haushalts, mit dem in ihrer Abwesenheit eine von ihren zahlreichen Cousinen beauftragt gewesen war. Um mir das Gefühl des Daheimseyns recht einzuprägen, übertrug sie mir einen bestimmten Antheil an ihrem Geschäft, und obschon die Zahl der eigentlichen Hausgenossen seit Menschen-Gedenken nicht kleiner gewesen war, wie jetzt, hatten wir dennoch genug zu thun. [296] Die alten Lehnsgebräuche, wo ein großer Theil der Verwandten unter den Augen ihres Stammhauptes lebte, waren abgeschafft; Eredine hatte drei ältere Schwestern überlebt, die fast ein Jahrhundert lang das Haus, wo sie geboren wurden, bewohnt hatten; nachdem zwei seiner jüngern Brüder durch eine dreißigjährige Landesverweisung ihre Anhänglichkeit an ihren erblichen Fürsten gebüßt hatten, kamen sie zurück, um ihren Staub zu dem Staub ihrer Väter zu fügen; sein ältester Sohn war vor wenigen Monaten, ein Raub des ungesunden Himmelsstrichs, in Westindien gestorben, und der jüngste lebte, wie ich gesagt habe, seit vielen Jahren im Bann. Jetzt bestand nun die Familie einzig aus Eredine, seiner Tochter und mir, vier männlichen und sieben weiblichen Bedienten, Charlottens Amme, einem blinden Weibe, das, weil es sonst nichts zu arbeiten vermochte, die Strumpfstrickerin für das ganze Haus war [297] und daneben durch ihr seltnes Gedächtniß und pathetisches Er zählen alter Familiengeschichten noch die Stelle des ehemaligen Barden ersetzte. Außerdem waren noch zwei kleine Mädchen, eine gebrechliche und eine kränkliche, und drei Knaben, von denen zwei, weil sie Waisen waren, der dritte als Enkel von des Lairds ältestem Diener, unterhalten wurden. Endlich muß ich noch Robert Goraich, Cecilens armen wahnsinnigen Liebhaber, erwähnen; dieser zäumte, wenn es seine Laune gerade mit sich brachte, Herrn Heinrichs alten Schimmel auf, wanderte in allen Kirchen der Grafschaft umher, oder saß stumm betrachtend unter der vom Blitzstrahl zerschmetterten Eiche.
Doch das waren nicht die einzigen Gäste an Eredines wirthlichem Tisch: mehrere greise Alten beiderlei Geschlechts, denen er in dieser Absicht in der nächsten Umgebung des Schlosses hatte Hütten bauen lassen, Laufbuben, Schaaf-, [298] Kuh-, Gänse- Hirten, Bettler und Wanderer, alles fand Aufnahme und Nahrung und zahlte mit Ehrerbietung und Segen. – Und das alles bestritt der Laird mit einem Einkommen von nicht viel mehr als tausend Pfunden des Jahrs.
In der ersten Zeit nach unserer Ankunft kamen zahlreiche Bekannte und Nachbarinnen, Miß Graham zu besuchen, und eine der ersten war die wackre Cecile, die, mich mit Freudenthränen begrüßend, ausrief: »Ich sagte Euch wohl, daß Ihr nicht wüßtet, wo Euch ein Stern aufgehen könnte; und nun sehet, nun seyd Ihr nach Schloß Eredine gekommen. Ich habe es prophezeit und ich prophezeie noch mehr; aber nicht eher, bevor es Zeit ist.« – Auf meine Frage nach ihrem Gatten erzählte sie mir, daß er krank und dienstunfähig verabschiedet worden sey; doch ängstige sie das nicht, sie habe ihm einen Krug Wasser aus der heiligen Quelle von Breadalbane geholt, das ihm gewiß helfen [299] werde. Nur das thue ihm weh, daß er nicht im Stande sey des Lairds Sichelfest beizuwohnen, wovon sie jedoch Miß Graham nichts sagen möchte; denn, sehet Ihr, er verlor seine Gesundheit, indem er Herrn Kenneth auch in seiner Krankheit nicht verließ.«
In den nächsten Tagen fand das Herbstfest, dessen Cecile erwähnt hatte, statt. Bei Tages Anbruch weckte mich ein gellender Dudelsack unter unserm Fenster, und wie ich aus dem Bett sprang, um seine Absicht zu erforschen, sah ich einen Haufen von mehr wie hundert Männern und Weibern vor dem Hause versammelt. Es waren die Pächter von Eredine, die zur Frohnde heute des Lairds Korn schneiden sollten. – Doch nie sah ich bei einem Freudenfest so viel wahre Fröhlichkeit, wie bei dieser lohnlosen Arbeit. Das Mähen dauerte den ganzen Tag, nach dem Tact der sich ablösenden Dudelsackpfeifer, aber weder die Arbeit [300] noch die Pfeife that dem Scherzen der Jüngern, dem Erzählen der Alten einigen Eintrag; Eredine kam oft, um sich unter die Arbeiter zu mischen, mit den Alten zu schwatzen, mit den Jungen zu scherzen, und wo er erschien, fügte sich Ehrerbietung in die freudenvolle Aufnahme des Lairds. Alles, was Kräfte hatte, war zur Arbeit geschickt; Charlotte und ich, von der alten Amme und der blinden Strickerin unterstützt, mußten die Küche für alle diese Gäste besorgen – und das war keine kleine Arbeit, so einfach die Kost auch seyn mochte, die ihre gesunde Eßlust befriedigte.
Da es, wie mir Charlotte gesagt hatte, Sitte war, solche Feste mit Tanz zu beschließen, begab ich mich in der Zeit, wo die Tänzer versammelt seyn konnten, an den Platz, der, wie ich glaubte, zu der Lustbarkeit bestimmt war. Ein mit großen Bäumen umgebner Rasenplatz im Hintergrund des Küchengartens war [301] mir als solcher genannt; allein zu meiner Verwunderung war er ganz einsam, nur ein kränklicher, abgezehrter Mann, der über seinem Tartan einen verblichnen Soldatenrock trug, stand traurig, an den Stamm eines Baumes gelehnt. Da ich glaubte, mich in dem Orte geirrt zu haben, fragte ich diesen Mann, wo heute getanzt würde. »Glaubt Ihr denn, Lady«, antwortete er halb unwillig, »daß heute hier getanzt werden soll? Ich hoffe, so roh ist kein Erediner, daß er hier tanzen wolle, so lange Eredines bestes Blut noch nicht im Grabe erkaltet ist.« – Er deutete, wie mir klar war, auf Herrn Kenneths vor kurzem erfolgten Tod, und ich bewunderte dieses zarte Anstandsgefühl, diese innige Anhänglichkeit in Leuten, die wir für Wilde zu halten so geneigt sind. Schon wollte ich mich mit dem Mann in ein Gespräch einlassen, als Charlotte sich nahte. Theilnehmend erzählte ich ihr, was [302] mir eben begegnet sey. Sie war nicht verwundert, aber gerührt; »das erwartete ich«, sagte sie, »armer Jamie! es hätte ihm das Herz gebrochen, hätte man heute auf diesem Rasen getanzt. Hier war vor fünfundzwanzig Jahren sein und meiner Brüder Spielplatz; und er schleicht alle Abende, wenn die Sonne ihn bescheint, hierher und lebt eine Stunde in seiner frohesten Erinnerung. O, der Mann hat viel für meinen Bruder gethan! Wie er hörte, daß Kenneth ins Ausland beordert sey, verließ er Weib und Kind und wanderte zu Fuß quer durch Irland bis zum Hafen, wo sein Regiment sich einschiffte. Er ließ sich anwerben und folgte ihm nach Westindien nach, und wie meinen Bruder die schreckliche Krankheit befiel, bei welcher kein Wärter ausdauern mag, verließ er sein Bett weder bei Tag noch bei Nacht; schon selbst von ihr ergriffen, folgte er ihm zur Gruft, und wie die Grabbegleiter von der [303] gifthauchenden Stelle forteilten, blieb er dort liegen und weinte auf dem Hügel, der das Haupt des Edelsten barg. Ach es ruht in fremder Erde und unsre Thränen netzten sie nie!« –
So oft ich mit Charlotten von ihrem Bruder gesprochen hatte, war dieses die erste Klage, die ich von ihr hörte. Ihr erschien das Andenken an ihre Todten vielmehr wie ein heiteres Bild. Sie sprach mit persönlicher Theilnahme von Lady Eredines Freude beim Empfang ihres Sohnes und beschäftigte sich mit ihnen, ganz wie mit lebenden Personen, deren Empfindung man in der weitesten Entfernung dennoch mit Innigkeit theilt.
In kurzer Zeit war ich in Eredine so eingewohnt, als gehörte ich schon längst zu der Familie. Meine gütige Charlotte fand bald Mittel, es mich als meinen gegenwärtigen Wohnort ansehen zu machen; sie fühlte in meiner [304] Seele, daß ich mich nützlich mache, sey zu meiner Befriedigung durchaus nothwendig; wahrscheinlich vielmehr in der Absicht, mir dieses zu gewähren, als weil es ihr sehr darum zu thun war, Musik zu lernen, verwendete sie sich alles Ernstes auf die Erlernung der Harfe. Bisher hatte sie es in der Tonkunst nicht weiter gebracht, als einige schottische Liederchen auf einem alten Clavier, das sich im Schlosse vorfand, zu klimpern; jetzt langte aber eine herrliche Harfe an, die Herrn Heinrichs unermüdete Theilnahme an seiner Schwester Wünschen, sobald er ihre neue Kunstanstrengung erfahren, in London hatte kaufen lassen. Nun ward recht ernstlich gelernt, und Charlotte lohnte meinen Unterricht mit der beharrlichsten Mühe, mich in Besitz der gaelischen Sprache zu setzen. Es glückte mir so sehr, daß ich den Beifall aller Schloßbewohner ärntete, und die Landleute mich bald eben so freundlich begrüßten, [305] als gehörte ich in ihr Thal. Am mehrsten freute sich aber der alte Laird meiner sprachkundigen Fortschritte; besonders wenn ich gaelische Liederchen sang, rief er entzückt: »sie singt fast so gut, wie meine liebe selige Mutter. »»Möge es weiß um ihre Seele her seyn!«« 5 »Nur sollte sie statt des ungeschickten großen Dinges (der Harfe), die leichte, weiblich niedliche Clarsaeh (eine Art Mandoline) im Arm halten, aber die verdammten Hannoveraner haben sie, wie sie Glen Eredine plünderten, verbrannt!« –
Die Musik, so lieb sie mir war, nahm aber doch jetzt einen ganz andern Platz in der Anwendung meiner Zeit ein, als ehemals, wo sie die einzige Beschäftigung war, die mir Putz und Gesellschaft ersetzte. Es hatte sich jetzt in meiner Seele die Ueberzeugung entwickelt, daß jeder Moment unsers Lebens in Arbeit und [306] Lust, ein vernünftiges, wohlthätiges oder frommes Andenken zurücklassen müsse. Bald nahm ich wahr, daß diese Ansicht, welche ich anfangs mit etwas Aengstlichkeit befolgte, keine heitere Benutzung der Lebenszeit störte; denn Heiterkeit entsproßte nur auf dem Wege der Pflicht, und diese führte mich Hand in Hand mit dem Glück derer, die neben mir schritten. Ich begriff immer mehr, daß die Blüthen des geistigen Lebens jedem Genuß entsprießen, der unsrer Menschennatur zugetheilt ist, wenn wir ihn als geistige Wesen, nicht nur mit der rohern Hälfte unsrer Kräfte genießen. Kaum kann es je einen glücklichern, vielleicht keinen fröhlichern Kreis gegeben haben, als der das Caminfeuer von Eredine umgab.
Ich hatte manche Woche in diesem glücklichen Kreis verlebt, als Charlotte eines Tags athemlos vor Entzücken zu mir hereinstürzte und mir zurief: »Er kommt, theure Ellen, [307] er kommt! Er will alles aufgeben, seine Gewohnheiten, seine Plane, er gibt ihnen ihren Tand zurück und kehrt zu seinen Vätern heim – heim zu uns allen!« – »Wer? Heinrich? Heinrich kommt zurück? Wenn?« – »Jetzt, bald, in einer Woche. Ach, wenn diese Woche vorüber wäre!« – Sie konnte nicht an einem Orte bleiben, die Freude trieb sie fort, und ich eilte ihr nach zu ihrem Vater. Der Greis schloß uns beide in seine Arme: »Gott lasse mich«, rief er, »nur noch diese Woche überleben, und dann, dann ...!« – Er zögerte, halb beschämt über seine Rührung. »Ich sorge zuweilen«, fing er wieder an, als spräche er nun von etwas anderm, »ich sorge, meine Augen sind angegriffen, ich will sie in der Luft stärken.« – Und damit ging er auf den Weg nach Edinburg aus, als könne er schon heute hoffen, seinem Sohn zu begegnen, und von heut an kehrte er unzählige Mal auf [308] diesen Weg zurück. Zunächst bemühte er sich nun jeden Ruhepunct seiner Reise zu berechnen, er glaubte die Stunde seiner Ankunft bestimmen zu können, und machte eine endlose Menge Zubereitungen zu seinem Empfang. Hatte er sich dann recht müde gewirthschaftet, so setzte er sich auf seinen großen eichnen Armsessel, kreuzte die Arme, sann nach, und ein seliges Lächeln spielte über sein Gesicht. »Er hat doch von jeher die Südleute nicht gehaßt«, rief er einst im Selbstgespräch aus, »obschon in ihm selbst kein südländischer Blutstropfen war. Hat er den krauspfotigen Hund seiner Mutter doch auch immer gern gehabt, und ich selbst mochte doch die Sachsen nicht leiden.« – Ich war im Begriff, an meinem Stickrahmen laut aufzulachen, als mir eine Ahnung über die Bedeutung seines Ideengangs einfiel, die mich mit Beschämung zurückhielt.
Heinrichs Ankunft konnte mir in keiner [309] Rücksicht gleichgültig seyn. Seit ich erfahren hatte, daß ich ihm, nicht Kenneth, die Rückzahlung der meinem verewigten Vater gehörigen Summe schuldig war, hatte ich ein Gefühl persönlicher Dankbarkeit gegen den Mann, in dem ich den Mittelpunct der Liebe und Achtung dieses ganzen Thales kennen lernen sollte. Aber seit Cecilens prophetischer Wink von dem Glück, was meiner in Glen Eredine warten könnte, so schön in Erfüllung gegangen war, daß ich mich auf das unerwartetste als Tochter eines Hauses aufgenommen sah, dessen Name mir vor einem Jahre noch ganz fremd war – seitdem machte Heinrichs Name einen tiefen Eindruck auf mich. Ich mochte mir ihn nicht erklären und rechtfertigte ihn doch mit meinem traurigen Schicksal. Arm und freundlos, wie ich war, konnte ich das Wohl meiner Zukunft einzig durch Gottes mir unbekannte Fügung erwarten. Da nun Liebe, Glück [310] durch Liebe, ein Bündniß aus Liebe dieser versagt schien, war es mein ängstlicher Wunsch, einem Mann vertraut zu werden, gegen den Achtung und Gehorsam jede zärtlichere Neigung meines Herzens ersetzte. Lieben sollte dieses Herz nie. Nachdem es Maitlands Neigung verscherzt hatte, waren Ergebenheit und Pflicht die fortan ihm geziemenden Schranken.
Schüchtern, aber von Herzen, theilte ich die allgemeine Freude und half bei der allgemeinen Thätigkeit, die Heinrichs Ankunft im Schlosse verbreitete. Jede Hausmagd wollte sein Zimmer putzen, die Spinnerinnen besangen bei dem Schnurren ihrer Spindeln in selbst erfundnen Liedern seine Rückkehr. Die Knechte schossen Rehböcke, Rothwild und Auerhähne genug, um eine hungrige Einquartierung zu speisen. Charlottens Amme erzählte mir zahllose Züge aus Heinrichs Kindheit, die blinde Strickerin rühmte mit Salbung, wie er sie die Wiese entlang zu [311] dem Tanzplatz geführt – nur Robert Goraich, Cecile's unglücklicher Liebhaber, war der Einzige, dessen Freude sich nicht in fröhlichem Taumel verkündigte. Bei einer einsamen Wanderung, wie ich sie so gern in der Nähe des Hauses machte, setzte ich mich einst auf einen meiner Lieblingsplätze, einen Felsen, der über dem See hing, und träumte von einem fantastischen Freundschaftsbund, der noch einst zwischen Charlotte, Maitland, Heinrich und mir bestehen könnte; da sah ich den armen Robert daherkommen, dem Heinrichs alter Klepper so vertraulich wie ein Hund folgte. Er blieb mir gegenüber stehen, sah mir mit ernster Freundlichkeit ins Gesicht und sagte leise: »Sie sagen, Ihr wäret ihm bestimmt; so möge Gott Euer Antlitz erfreuen! nehmt ihn in Frieden!« – Robert war nicht der Erste in Glen Eredine, der mir diese Zukunft prophezeite. Aber heute traf mich diese Rede so tief, daß ich, besonders [312] gegen diesen armen Mann, mein Gefühl unter einem Scherz zu verbergen suchte. »Wohl gut, lieber Robert«; rief ich, »aber um des Anstandes willen kann ich mich doch nicht so schnell dazu entschließen.« – »O doch! entschließet Euch schnell, denn der Mensch weiß nicht, was morgen geschieht!« sagte er ernst und legte seine Hand bittend auf meinen Arm. »Wie würde es ihm seyn, wenn er Euch müßte die Wiese entlang und durch den Wald hin gehen sehen, eines andern Mannes Sohn auf dem Arm!« – Dabei zeigte er auf den Weg hin zu Cecile's Hütte. Dann fuhr er, sich ganz vergessend, in seiner Landessprache fort: »Da würde ihm alles gleichgültig werden, seine schöne goldne Uhr und die Parks und die Städte von Eredine. – Alles wäre ihm nichts mehr gegen die bloße Luft, die ihm von ihr herüber weht.« – »Doch, Robert«, unterbrach ich sein jammervolles Selbstgespräch, »würdet Ihrs [313] denn leiden mögen, wenn eine sächsische Lady auf dem Schlosse hauste?« – »Wenn es also beschlossen wäre, wie könnte man da murren? Und es könnte ja sehr gut seyn. Vergeßt Ihr nur, daß Ihr eine Stiefmutter seyd, wir wollen gewiß nicht daran denken.«
Wie ich nach Hause kam, sagte man mir, daß Cecile im Schlosse gewesen, um Arznei für ihren sterbenskranken Gatten zu erbitten. Sobald sie hörte, welche frohe Veranlassung den Schloßbewohnern Arbeit gäbe, hatte sie sich enthalten, Miß Graham zu sprechen, um ihre Freude durch ihr trauriges Anliegen nicht zu trüben, und war unverrichteter Sache wieder fortgegangen. Sobald aber Charlotte von ihrem Besuche hörte, willigte sie in meinen Vorschlag, ihr am Abend, was sie bedürfen könnte, selbst zu überbringen.
Cecile empfing uns an der Hausthür und führte uns unter tausend Glückwünschen in ihr [314] Prunkzimmer – denn in Glen Eredine konnte es dafür gelten. Es hatte Fenster und Sessel und einen Tisch, ein Wandbret mit buntgemalten Steinkrügen und Tellern, auf denen fromme und lose Sprüchelchen zu lesen waren; wir verlangten aber Jemmy in seiner Krankenstube zu sehen, worin uns sein gutes Weib nach den höflichsten Entschuldigungen willfahrte. Dieses bescheidnere Gemach war von dem vorigen durch eine Breterwand getrennt, das Bett stand in einer Art von Verschlag, der übrige Raum hatte das Dach zur Decke, ein Loch in diesem zum Rauchfang und ein Fenster von vier kleinen Scheiben, um es zu erhellen. Der Feuerplatz in der Mitte des Gemachs unter der Oeffnung des Daches war allein gepflastert, der Zimmerboden selbst bestand aus gestampfter Erde. Auf ihm lag Torf, Küchengeräth und Wasserzober umher. Cecile's ältester Knabe, ein vierjähriger, mit Tartane und [315] Helmmütze bekleideter Caledonier, wenn es je einen gab, saß neben einem jungen Hammel, mit dem er friedlich einen Haferkuchen theilte, der jüngste, viel sorgloser bekleidet, stritt sich mit dem Hahn um die Reste eines Mehlbreis in einem schwarzen eisernen Topf. Cecile riß sie beide vom Boden auf und befahl ihnen, die feinen Frauen zu grüßen, und schalt sie aus, daß sie sitzen blieben, wenn die »Edeln im Lande sie besuchten.« Diesen Grundsatz lehrte sie durch Beispiel, denn nichts konnte sie bewegen, sich in unsrer Gegenwart zu setzen. Miß Graham fragte den blassen, stillen Kranken freundlich, wie es ihm ginge. – »O Sie sind gut, also zu fragen«, antwortete Cecile statt seiner; »er kann nicht besser werden, und kaum schlechter, als er schon ist.« – Die Fassung, mit welcher diese Frau in des Kranken Gegenwart über seinen hoffnungslosen Zustand sprach, empörte mich. Ich zitterte vor dem Eindruck, den diese [316] Herzlosigkeit auf den armen Kranken machen müßte. Dieser sagte aber mit heitrer Stimme: »Das Uebel will seine Zeit haben; aber wir dürfen hoffen, daß es nicht mehr lange dauern kann.« – Dieser fromme Muth nöthigte mich, den tröstenden Zuspruch, zu dem ich mich gerüstet hatte, in Beifall zu verändern. »Ja ich hoffe, ich bin bereit zu scheiden«, antwortete Jemmy; »zuweilen habe ich mich wohl davor gefürchtet, zu andern Zeiten bin ich aber auch recht gefaßt.« – Jetzt überströmten seiner Gattin Augen. »Wahrlich, Lady«, rief sie, »er braucht sich auch nicht zu fürchten; denn er war lebelang ein guter Christ, wie nur einer, und ein guter Ehemann war er auch; und er braucht nicht zu sorgen, daß ihm nicht so eine feierliche Leichenbestattung werden sollte, wie irgend einem, für den man ein Grab grub – und das haben wir größtentheils Ihnen zu danken, Miß Percy, und dafür segne Sie [317] Gott und gebe Ihnen einst ebenfalls einen friedenvollen Tod! Ja, Jemmy, und wir müssen Gott danken, daß du nicht nackt eingescharrt wirst, unter Fremden und Heiden und allem Abschaum der Erde.« – »Nein, James«, nahm jetzt Miß Graham das Wort, »unter Fremden sollt Ihr nicht liegen. Ihr sollt den Platz haben, der Euerm Pflegbruder bestimmt war, und Euer Grabstein soll sein Denkmal seyn und dessen, was Ihr für ihn gethan.« – Ein Freudenstrahl leuchtete über des Sterbenden Gesicht. Er wollte ihr danken, aber von Schwäche und Wehmuth verstummt, bewegte er nur seine Lippen; Cecile aber weinte laut und lächelte auch und verneigte sich für diese tröstliche Zusage. Charlotte aber fuhr fort: »Und wenn Ihr meinen Bruder wiederseht, James, so grüßt ihn und sagt, daß es mein einziger Kummer ist, seinem Staube gar keine Ehre zu erweisen, ihn so weit, weit entfernt begraben zu sehen!« –
[318] In diesem Augenblick ließ eine zufällige Veränderung meiner Stellung mich durch das Fenster einen Menschen erblicken, der sich halb hinter eine alte Esche ganz nah an dem Fenster verbarg. Jetzt kam er einen Schritt näher, und ich erkannte, daß es Robert Goraich war; er lehnte sich an den Baumstamm und blickte aufmerksam auf das Fenster, seine Arme hingen leblos herab, seine ganze Gestalt bewies die gänzliche Abwesenheit seiner Gedanken. Ich war im Begriff, Charlotte auf diese Erscheinung aufmerksam zu machen, als ein lauter Schrei des jüngsten Kindes, das Cecile so eben auf die Arme genommen hatte, unser sonderbares Gespräch unterbrach. Cecile entschuldigte seine Unart und suchte, ihn auf den Armen wiegend, durch den summenden Gesang zu beschwichtigen, mit dem Wärterinnen die Kinder einzuschläfern pflegen. Dazwischen tröstete sie das Kind gaelisch und entschuldigte sich bei uns [319] auf englisch; zugleich bemerkte ich, daß sie in ihrem Gesang und ihrer Zusprache oft die Worte: »geh, geh zur Ruh«! aussprach, wobei sie das Kind weit von sich weghielt, als wollte sie es von sich legen. Nach und nach ging ihr Gesumm und ihr Gesang in wirkliche Worte über, die bald so deutlich wurden, daß ich sie, trotz meiner wenigen Kenntniß des Gaelischen, völlig verstand. Dieser Gesang hatte etwas unaussprechlich Ergreifendes, – es war eine Leidensklage, wenn es je eine gab. Da ich sogleich nach meiner Nachhausekunft den Sinn der Worte aufschrieb, setze ich sie hier her.
Geh zur Ruh, gehe nun!
Schmerzlich sind mir deine Klagen,
Und des Vaters Zorn, Geliebter, weckest du;
Geh zur Ruh!
Meine Liebe schenkt' ich dir,
Doch nun nehm' ich dich vom Busen –
Daß mein Leiden ende, geh in Frieden du;
Geh zur Ruh!
[320]Klage nicht mehr, laß mir Frieden!
Bis nach langer Nacht am Morgen
Freudig wir uns wiedersehn, geh du,
Geh zur Ruh!
Mir konnte der doppelte Sinn dieses Gesanges, da ich Robert Goraich vor Augen hatte, nicht entgehen, und weder der arme James, noch Miß Graham konnten Verdacht daraus schöpfen; allein die Kunst in dieser Frau Benehmen erregten einen so lebhaften Unwillen in mir, daß ich, sobald wir die Hütte verlassen hatten, ihn meiner Freundin zu verstehen gab. Anstatt ihn zu theilen, antwortete sie sehr ruhig: »Ich weiß, daß Cecile sehr viel Klugheit und Geistesgegenwart besitzt.« – Ich behauptete, die Geschicklichkeit, durch welche es dieser Frau gelungen sey, vor unsern und ihres sterbenden Ehemanns Augen mit ihrem Liebhaber zu verkehren, verdiene den Namen von Ränkeschmiederei. Charlotte sah mich erschrocken [321] und höchst mißbilligend an. Der Verdacht, daß eine Gattin fähig seyn könnte, unter diesen Umständen aus pflichtwidrigen Bewegungsgründen zu handeln, erfüllte sie mit Abscheu. »Wie?« rief sie, »Sie könnten muthmaßen? Sie könnten voraussetzen, daß ein Weib alle Schaam also zu vergessen vermöchte, daß sie ihre Kinder könnte zu Landstreichern machen wollen? ihren Namen mit der Schmach bedecken wollen, die Erste in Glen Eredine zu seyn, die ihren Stamm je befleckt? O nein, nein! lieber würde Cecile sich unterm Benarde begraben! O nein! eher stiege Robert, so verrückt er ist, selbst in die Gruft! Nein, Miß Percy, was Ihnen auch die übrige Welt für Beispiele aufgestellt hat, in Glen Eredine werden Sie solche Abscheulichkeit nicht finden.« – Ich schwieg beschämt – denn selbst wenn sich Charlotte über die Tugenden der Erediner geirrt hätte, so wäre so ein Irrthum schon der Hochachtung werth.
[322] Jetzt schlich Robert eine Weile schweigend hinter uns her, endlich sagte er bittend zu Miß Graham: »Wollt Ihr nicht so gut seyn, ihr zu sagen: sie soll mich nur drei Garben für sie dreschen lassen? Ich verspreche, so wahr ich lebe, ihrer Hüttenthür nicht zu nahen; ich will in der Scheune bleiben und sie keineswegs plagen.« – »Es wäre ja thöricht, Robert, Euch also für eine Frau zu mühen, die Euch gar nicht ansieht.« – »Ich weiß wohl, daß ich thöricht bin«, antwortete der arme Mensch mit einem wehmüthigen Lächeln. Nach einigem Stillschweigen, indem er ehrerbietig hinter uns herging, wiederholte er seine Bitte, und noch einmal, und noch einmal, weil er die Abwehr immer vergessen zu haben schien. Nur andre Ursachen setzte er zu seiner Dienstleistung hinzu: »damit die Frau kann ihren Kleinen pflegen«, sagte er einmal, »und damit sie nicht in der Nacht zu dreschen braucht – [323] ach, Schlafen thut so gut!« – »Nun, so schlaft Ihr, guter Robert«! entgegnete Charlotte. Er blickte mit irrem Lächeln vor sich hin: »Ich schlafe nicht mehr,« rief er leise und geduldig. »O Charlotte«, sagte ich und ergriff bittend meiner Freundin Hand, »ich habe Robert und Ihr Thal beurtheilt, wie die elende Welt, in der ich aufwuchs. Verzeiht ihr beide! nur ein tugendhaftes Weib kann so eine bescheidne Liebe einflößen.« – »So ist's, meine Ellen. Schlaffe Moral und ungeordnete Sinne sind nie der Boden, aus dem eine ernste, dauernde Leidenschaft erwächst.« – Schweigend und ernst ging sie nun neben mir her.
Endlich erschien der Tag, der so sehnsuchtsvolle Hoffnungen erfüllen sollte. Alle Stunden waren gezählt worden; den Abend, wo Heinrich das erste Nachtlager auf schottischem Boden halten sollte, ging sein greiser Vater mit einer Art Feierlichkeit in sein Schlafzimmer – sein [324] Sohn betrat diesen Boden heute auch; und endlich sprach er, Charlotten und mich beim Schlafengehn umarmend: »morgen um diese Zeit!« – und sein Blick suchte den Himmel, als das Einzige, was er noch Höheres, wie Heinrich, erkenne. Außerdem aber war seine Freude seit ihrem ersten Ausbruch still; doch sah man, daß er mit keinem andern Gegenstand beschäftigt war; auch an alles, was er aus der Vergangenheit erwähnte, hing er eine Bemerkung, die ihn betraf: »damals war Heinrich noch ein Kind«, oder: »Heinrich hatte eben sein erstes Hochwild geschossen«; und so waren Heinrichs Lebensstufen sein Kalender. Dazwischen drückte er von Zeit zu Zeit Charlottens und meine Hände mit glänzend glückwünschendem Blick. Bis Aberfoyl ihm entgegen zu reiten, war sein herzlicher Wunsch, er hatte nur einigen Zweifel, ob sich das mit seiner väterlichen Würde vertrage; doch »Heinrich ist ja nie ein [325] verzogner Knabe gewesen«, bemerkte er, und sonach entschloß er sich zu dem Ritt.
An dem großen Tage war die ganze Familie schon beim Morgengrauen munter. Wen ich zuerst erblickte, war Eredine, in voller National-Kleidung, mit jugendlichem Schritt im Hof umherschreitend. »Charlotte, heute gilt's ein derbes Frühstück«, rief er, an den Tisch sich setzend, der geschäftigen Tochter zu, »wer zehn Stunden reiten will, darf nicht nüchtern bleiben«; und mit diesen Worten langte er fröhlich zum Glase. Der Laird hatte beschlossen, ohne andre Begleitung mit seinem Hausgesinde allein fortzureiten, allein der alte Sackpfeifer wußte sich auf andre Weise zu entschädigen. Er zog, den »Grahams Aufruf« pfeifend, durch das ganze Thal, aus allen Hütten schlossen sich alle männliche Bewohner ihm an, und mit diesem zahlreichen Zug rückten sie gegen Aberfoyl vor. Die Weiber des ganzen Clans blieben [326] in der Bezeigung ihrer Theilnahme nicht zurück: von früh an kamen die Hausmütter, still und ehrbar brachten sie, was ihr Vorrath an Schinken, Eiern, Geflügel ihnen darbot, »zum freundlichen Gruß« und kehrten ruhig in ihre Wohnung zurück. Der Tag schien uns von endloser Länge. Charlotte war stumm und ruhelos; sie wollte nähen – es gelang nicht; sie nahm ein Buch – es war vergebens; sie ging wieder und immer wieder in ihres Bruders Zimmer um sich zu überzeugen, daß dort nichts fehle – aber eigentlich nur, um von dort aus dem Fenster zu schauen, da der äußerste Punct der Aberfoyl-Straße dort zu sehen war. Endlich fing sie an zu sorgen, ob er auch heute ankommen möge, und zürnte mir fast, wie ich die Möglichkeit des Gegentheils zugeben mußte. Gegen den Abend stellte sie sich an das Fenster und blickte, zuweilen ihre Augen trocknend, bewegungslos in die [327] dunkelnde Ferne. Der Abend sank und verkündete eine frostige Nacht. Charlotte zog mich mit sich vor das Schloßthor; alles war still; endlich bellte fern im Thale ein Hund; »ich höre die Pfeife!« rief Charlotte und faßte meinen Arm. Ich horchte; leise schwirrte der Ton, erstarb und tönte wieder, nach und nach ward er bis zur Deutlichkeit stark. Grahams Kriegslied, der Hufschlag der Rosse, der Fußtritt der Menge, die Stimmen der Menschen wurden deutlich. – – Charlotte flog den Weg hinab, kehrte um und rief: »Nein, vor dieser Menge kann ich ihn nicht empfangen!« und eilte zurück in das Haus.
Ich erblickte durch das Dunkel die zwei stattlichen Gestalten der Häuptlinge, die am Thor von ihren Pferden gestiegen waren und sich jetzt zu Fuß dem Schlosse näherten, und begab mich in das Zimmer, besorgt, dieses erste Wiedersehen zu stören; aber bald eilten [328] die Schritte herbei, ich hörte meinen Namen, die Thür flog auf, und Maitland stand vor mir – – –
Wie ich am Schluß eines glücklichen, von dem Vater und Charlotten in stillem Rausch der Freude, die zum Gebet wird, hingebrachten Abends endlich mit meiner Freundin allein war, machte ich ihr Vorwürfe, meinen Irrthum über Heinrich und Maitland vorsätzlich genährt und mich dadurch zu Geständnissen verleitet zu haben, die mich jetzt in ihre Hand gäben. Wohl erkannte ich das Glück an, von diesem verehrten Mann im Schoose seiner Familie, als dem Liebling seiner Geliebtesten, wiedergefunden zu werden, nachdem er mich einst im Wirbel der Thorheit zurückließ. Ich war deshalb weit entfernt, mir mädchenhafte Ziererei zu erlauben; aber ich suchte meiner Freundin zu beweisen, daß sie mein Vertrauen durch die falsche Rolle, die sie dem vorgeblichen [329] Maissand aufgetragen hatte, gemißbraucht zu haben schien. Anfangs lachte die in ihr Glück verlorne Charlotte, bald legte sie mir aber die Gründe, durch die sie ihr Betragen gerechtfertigt hielt, vor Augen. »Nach dem, was ich von Ihnen wußte«, sagte sie, »konnte ich nicht hoffen, daß sie sich würden von meinem Bruder Ihr Geld zurückzahlen lassen; sobald ich Sie aber gesehen und liebgewonnen hatte, begriff ich meines Bruders Schicksal und verstand seine Theilnahme an Ihnen. Auch daß Sie Maitlands Schwester nie Ihr Vertrauen würden geschenkt haben, wurde mir klar; und Sie zu mir zu ziehen und an mich zu fesseln, war doch mein Wunsch – es war mein Wunsch, Sie unter meines Vaters Augen zu bringen, und es ist alles gelungen, wie ich gewollt habe, und nun werde ich für meinen Bruder keinen Schritt weiter thun.« – Es war so viel Edelmuth in den Bewegungsgründen ihrer Handlungsweise, [330] es war eine so kühne Offenheit in diesem Bekenntniß lang fortgesetzter Heimlichkeit, daß mein Unwille verstummte; mein natürlicher Abscheu vor Hinterlist und Larve hielt mich aber von einer gänzlichen Versöhnung zurück. Ich sprach von der Unvorsichtigkeit einer Intrigue, die einzig durch den Umstand gesichert war, daß Maitlands Name nicht im Schlosse genannt wurde. »O nein!« rief Charlotte; »dieser gemeine Krämername ist im Schlosse kaum bekannt. Mein südländer Oheim machte es den Graham zur Bedingung, ihn zu tragen – und wahrlich! Eredine konnte den Namen seines Schwagers nicht verachten; aber nie ward Heinrich so genannt, mein Vater überschrieb nie seine Briefe mit ihm – und Gott sey Dank! er hat ihn nicht in sein Vaterland zurückgebracht, er ist Heinrich Graham, wie seine Mutter ihn geboren. Nicht, Ellen, als wenn ich den Handelsstand verachtete – [331] davor bewahrt mich mein Bruder, der zwanzig Jahr ihn durch seine Betriebsamkeit ehrte – jeder Erwerb verdient Achtung, aber mir däucht, ein Edelmann sollte ihn denen überlassen, die Geld bedürfen, um sich Auszeichnung zu verschaffen.« – Nun mußte ich lächeln über die hochgeborne Schottin, die dem handelführenden Südländer Hohn sprach und eines handelführenden Südländers Tochter aus dem Abgrund der Armuth gerettet hatte, um sie in die Heimath der Grahams zu verpflanzen. Und während meines Lächelns und Nachdenkens hatte sich der Schlaf auf Charlottens Augen gesenkt.
Ich stand früh auf, und es war mir lieb, daß Charlotte noch früher an ihre Geschäfte gegangen war. Mein Gemüth war sehr bewegt. Meine alte Schwachheit war aber nicht gänzlich unterjocht, denn, mit den ernstesten Betrachtungen im Kopf, mit überwältigenden [332] Gefühlen im Herzen, blickte ich mehr wie einmal in den Spiegel und war mir bewußt, daß Ellen Percy in der schmucklosen Hauskleidung Maitlands Augen nicht minder gefallen dürfe, wie Ellen in der ersten Jugendblüthe und im Flitterstaate des Luxus und der Mode. Wie ich in das Zimmer trat, war die Familie schon beim Frühstück versammelt. Maitland führte mich an einen Stuhl und setzte sich mit den Worten: »ich muß zwischen meinen beiden Schwestern sitzen,« zwischen mir und Charlotte. Die Güte seines Betragens färbte meine Wangen bei der Erinnerung, wie unverzeihlich ich ihn bei unsrer ehemaligen Trennung behandelt, mit hoher Schaamröthe; aber er behandelte mich so achtungsvoll, der Kreis dieser Menschen war so einfach und liebend, daß ich in ihrer Freundschaft das Pfand meiner Veredlung las und mich bald so unbefangen in Maitlands Gegenwart bewegte, als [333] hätte er mir nichts zu verzeihen. Der Tag verfloß, ohne daß ein bittres Andenken ihn verdunkelte; dieser und mancher andre nach ihm. Fortschreitende Arbeiten war ihr Beruf, vereintes Lesen und Gespräche ihre Erholung, vollendete Arbeiten ihre Feste. Eredine brachte trotz seines hohen Alters, wie ein wahrer Nordlandsheld, mit seinem edeln Sohn die Vormittage auf der Jagd hin. Charlotte und ich hatten genug zu thun, um nach unsrer Hausarbeit in allen Familien von Glen Eredine unsern Beruf als Kinderlehrerinnen, Rathgeberinnen und Krankenpflegerinnen zu erfüllen. Welche zahl- und endlose Familiengeschichten mußte ich anhören! Da war keine Hütte im Thal, deren Ahnherrn und gegenwärtiger Mitglieder Schicksal mir nicht mit den geringsten Umständen anvertraut, und in vielen Fällen noch ein prophetischer Blick in ihre Zukunft vergönnt wurde. Unsre Abende waren entzückend. Wenn der [334] alte Vater sich aus sei nem beeisten Plaid gewickelt, Maitland die Windspiele in ihre Hütte geschmeichelt hatte, und wir alle um das Caminfeuer saßen – der rüstige Jäger wind nun der feine Gesellschafter der dankbaren Schwestern, er las, erzählte, ließ sich abstreiten, belehrte, und der verehrte Alte hörte zu oder nickte bei dem Glück seiner Kinder mit seligem Lächeln ein und wachte unter ihrem lebendigen Geschwätz mit noch seligerm wieder auf. Wie oft, in dieser glücklichen Zeit, war ich erstaunt, Maitland je für kalt und förmlich gehalten zu haben! Sein ernster und nach Wirksamkeit strebender Geist fühlte sich freilich bei zweckmäßiger Zeitanwendung am wohlsten, aber in einem geläuterten Herzen, wie das seine, wird die Freude zum Gottesdienst, und also versagt es sich derselben nie. Wir scherzten, wie glückliche Kinder, und im Kreis jugendlicher Nachbarn konnte der reife Mann oft noch wie ein fröhlicher Jüngling erscheinen.
[335] Der Frühling brach an, und nie, seit der Frühling Edens erglühte, konnte diese Jahrszeit zauberischer seyn. Seine Farben waren so mild, seine Lüfte so balsamisch, so rein, sein Mondlicht so friedlich! Nie werde ich die köstliche Kühlung vergessen, die eines Tags in einem leichten Regenschauer herabthaute und den ruhigen See mit zitternden Lichtpuncten bedeckte. – Ich stand mit Graham – denn mit diesem Namen, den sein Land segnet und die Freunde des Rechts und der Wahrheit verehren, muß ich doch endlich den unlieben Namen Maitland vertauschen; ich stand mit Charlotte und Graham schutzsuchend unter einer Fichte, kein Laut ward gehört, als das Rieseln der Tropfen im See und dann und wann der Ruf eines fernen Wasservogels. »Wie oft, wachend und schlafend, habe ich hiervon geträumt«! sagte Graham leise, als wollte er die Stille nicht stören, »und noch jetzt ist mir, was mich umgibt, wie ein Traum. Diese [336] tiefe Ruhe! Jeder Schatten liegt noch auf eben der Bucht, auf eben dem Abhange, wie damals, wenn ich so oft dastand und erstaunte, wie die unermeßliche Tiefe des Wassers die grenzenlose Höhe des Himmels also abbilden könne. Und nun nach meiner langen Verbannung so vereint zu seyn mit allem, was mir am theuersten ist, seine Nähe zu empfinden – –« Ich fühlte mich plötzlich unendlich beklommen. Ich glaubte seit einiger Zeit hoffen zu dürfen, das Schicksal habe meine Erziehung durch Unglück beendigt und wolle sie nun durch friedliches Glück, so weit es Menschen vergönnt ist, vollenden. Daß ich mir nur in Vereinigung mit den Geliebten, die jetzt mich umgaben, Glück denken konnte, leugnete ich mir nicht; aber dieses Glück von Gott zu erbitten, hatte ich mir in jungfräulicher Zucht und kindlicher Ergebung immer versagt. Heinrichs Worte sagten deutlicher, wie je, was mich nicht mehr überraschen konnte; denn das freudenreiche Beisammenseyn [337] eines ganzen Winters hatte mir bewiesen, was ich jetzt in einem bestimmtern Sinn, mit der Ueberraschung der ersten Liebe vernahm. Unwillkürlich trat ich einen Schritt von Graham zurück, und sein ernst auf mich gehefteter Blick konnte mir meine Unbefangenheit nicht wiedergeben.
Den folgenden Tag kam ich von einem Gang in das Dorf zurück und wollte eben in das gemeinschaftliche Zimmer treten, als ich durch die angelehnte Thür Grahams Stimme in dem festen, bestimmten Ton hörte, wie er ihn nur bei Dingen, die seinem Herzen sehr nahe waren, zu gebrauchen pflegte. »Ist es so«, verstand ich jetzt deutlich, »so geh' ich morgen fort, und hier muß sich alles verändern.« – Fort? morgen fort? und ohne einen Gedanken an mich? oder dieses »verändern« drückte den vernichtendsten Gedanken aus. Halb entseelt wankte ich auf mein Zimmer zu; Charlotte begegnete mir auf [338] der Treppe – »heil'ger Gott, was ist Ihnen geschehen?« rief sie bei meinem Anblick. Ich eilte neben ihr vorbei und verschloß mich in mein Zimmer. Ich war nicht mehr das ungestüme, seine Wünsche ertrotzende Geschöpf, ich wollte aufrichtig, was Gott wolle, ertragen; aber in diesem Augenblick vermochte ich nichts, als mir zu gebieten: »ruhig, armes Herz!« – und nichts zu beschließen, so lange es das nicht war. Doch Charlotten, die so flehend um Einlaß bat, mußte ich die Thür öffnen, ich mußte zum Thee herabgehen, und wie sie alle so zutraulich mir anriethen, zur Erleichterung des von mir vorgeschützten Kopfschmerzens ins Freie zu gehen, mußte ich Graham und Charlotte an das Seeufer begleiten. Heinrich bot mir seinen Arm, ich mußte ihn wohl annehmen, aber fern von ihm ging ich und stützte mich nicht. Er fragte so theilnehmend nach meinem Befinden, er sprach so zärtlich, achtungsvoll mit mir, daß meine – Angst mehr, als [339] meine Zurückhaltung – wich, und ich zwar mit Herzklopfen, aber ohne thörichte Heftigkeit vernahm, daß Charlotte uns anwies, unsern Weg allein fortzusetzen, weil sie in einer benachbarten Hütte einen Krankenbesuch abzulegen gedenke. Er führte mich auf ein kleines schattiges Thal zu; ich versuchte anfangs mit Lebhaftigkeit zu schwatzen, aber es gelang mir nicht; halb beschämt, daß ich versucht hatte unwahr zu seyn, versank ich in ein Stillschweigen, das Graham nicht störte; nur hie und da theilten wir uns eine Bemerkung mit, die gleichgültige Vorgänge betraf. In einem Augenblick, wo ich mich zufällig umsah, fiel mir die Schönheit der Aussicht auf, die uns jetzt am Ausgang des kleinen Thals durch ein paar Felsabhänge den See im Sonnenglanz zeigte. »O, weilen wir hier und blicken zurück!« rief ich, meinen Begleiter aufhaltend. »Ja«, antwortete Graham mit einem leichten Lächeln, »weilen wir hier und [340] blicken einen Augenblick rückwärts! vielleicht für lange, lange Zeit zum letzten Mal! Kommen Sie, Miß Percy, lassen Sie mir den lieben Arm! lehnen Sie sich auf mich, wie sonst! lassen Sie mich glücklich seyn, so lange ich darf!« – Er schwieg, aber mein Mund war verstummt; ich hätte kein Wort über meine Lippen bringen können. – Graham begann von neuem: »Dieser Abend, diese Stunde vielleicht kann diese reiche, herrliche Natur für mich in ewige Trauer kleiden, oder ihre Schönheit über allen Wechsel erheben. Ehe wir heute scheiden, Ellen, muß ich endlich erfahren, ob es meinem Leben nie verliehen seyn soll, Pflicht und Glückseligkeit zu verbinden. Sie wissen, Ellen, wie lange – Sie begreifen aber nicht, wie zärtlich ich Sie geliebt habe. Der Mann wird Herr seiner Gefühle, aber diese Herrschaft kostet ihm dennoch sein Glück. Wenn ich Sie nun so innig liebte, wie Irrthum Sie entstellte, wie Gleichgültigkeit [341] und Uebermuth mich von Ihnen zurückwies, was muß ich jetzt empfinden, da Sie alles in sich vereinen, was den Mann im Weibe entzücken muß! Mich jetzt von Ihnen trennen – jetzt, Ellen, da hier jeder Gegenstand Sie mir zurückruft! – O Ellen, dazu verurtheilen Sie mich nicht! Kann meine Liebe dich gewinnen, kann meine Beständigkeit dir Zutrauen geben, kann dein unschuldiges Herz sich mit dem Glück befriedigen, das ich dir hier biete, kann eines greisen Vaters Segen – Der starke Mann wollte vor der Geliebten nicht in Thränen ausbrechen, darum schwieg er mit zitternden Lippen. – Ich fand aber jetzt Kraft, wahr zu seyn, und Worte, es zu äußern; »Heinrich«, sprach ich, »sagen Sie mir, was Sie wünschen! deuten Sie mir an, was Sie glücklich macht! ich darf es Ihnen versprechen.« – Das sprach ich, glaub' ich, wenigstens verstand er mich recht. Er verstand, daß ich nicht mehr das thöricht herzlose Geschöpf war, das der Beifall [342] eines Gecken über die Verdienste eines edeln Mannes verblendete, nicht das gedankenlose Wesen, dessen Wünsche und Bestrebungen sich um die flüchtigsten Täuschungen des Augenblicks drängten. Er erkannte das kindlich dankbare Herz, das vom Schicksal erzogen, ertragen, lieben und genießen gelernt hatte. Ellen war nun würdig, an seiner Hand in ein beßres Daseyn zu pilgern, war fähig, die Blumen des Weges zu pflücken, dessen Stürme zu bestehen.
Ich bin nun schon manches Jahr ein glückliches Weib; und nie seit dieser Zeit habe ich Schloß Eredine verlassen, noch es zu verlassen gewünscht. Graham ist noch immer gewissermaßen mein Liebhaber, und wenn mir gleich von Ellen Percys Muthwillen immer noch ein kleiner Anstrich blieb, gestehe ich doch mit stolzklopfendem Herzen, daß er mir theurer ist, wie je, und ich stolzer, wie je, auf den Mann blicke, den Alle verehren, und der mich als die geliebte Mutter seiner Kinder begrüßt.
[343] Noch immer leben wir unter den Augen unsers ehrwürdigen Vaters, noch immer theilt unsre Charlotte seine Liebe und unser Glück Wir sehen Wechsel in diesem seligen Leben voraus, allein wir kennen ein noch seligeres – und diesem gehen wir mit der Zuversicht entgegen, wie wir im Schimmer der Abendröthe, der Sonne nachblickend, freudig denken: bis morgen! – und ihres schöneren Aufgehens gewiß sind.