[3] Erster Band.
(1798 bis Frühling 1823).
Ich bin geboren den 2. April 1798 zu Fallersleben, dem Hauptorte des gleichnamigen Amtes im ehemaligen Churfürstenthum Hannover. Mein Vater war Heinrich Wilhelm Hoffmann, Kaufmann und Bürgermeister († 23. April 1819), meine Mutter Dorothea geb. Balthasar († 3. December 1842), sie stammte aus Wittingen. In der Taufe erhielt ich die Namen August Heinrich. Meine Pathen waren Heinrich August Hoffmann, nachheriger Pastor zu Mühlhausen im Waldeckschen und Frau Maria Wolff zu Havelberg. Mein elterliches Haus, jetzt im Besitze meines Schwagers Georg Friedrich Boes, ist noch vorhanden. Auf dem Querbalken über der Hausthür steht die Inschrift:
In meiner frühesten Kindheit war ich körperlich sehr schwach und krankte in Einem fort. Außer den damals gewöhnlichen Kinderkrankheiten, Pocken und Masern, bekam ich auch hinterdrein noch das Friesel. Ich mußte viel ausstehen und nahm geduldig ein und that Alles was der Arzt und die Eltern für gut hielten. Ich erinnere mich, daß ich an einem bösartigen Ausschlage über den ganzen Körper litt und eine Zeit lang fast blind war, so daß ich das Tageslicht nicht vertragen konnte und mich gerne in einen dunkelen Gang zwischen zwei Thüren einsperren ließ, aber auch da noch jammerte, wenn der Widerschein der Sonne durch die kleinen Spalten der [3] vorderen Thüre drang. Eine leichte Reizbarkeit der Nerven habe ich seit dieser Zeit immer behalten, namentlich in den Augen, obschon ich noch heute keine Brille brauche.
Unter der sorgsamen, oft ängstlichen Pflege meiner Großmutter, deren Liebling ich war, wuchs ich auf und wurde, wie es bei schwächlichen Kindern in ähnlichen Verhältnissen immer der Fall ist, sehr verzogen, und bald launisch und eigensinnig.
Obschon ich täglich wenn ich aufwachte und wenn ich Abends zu Bette gegangen war und vor dem Einschlafen mit meiner Großmutter betete, so hatte doch diese Andacht, weil sie gewöhnlich geworden, keinen Antheil weiter an dem was ich des Tages that und trieb. Mehr wirkte ihr frommer liebevoller Sinn und die Wahrheit in ihren Worten und Werken, wodurch sie mehr als durch ihr Alter bei Jung und Alt sich hoher Ehrfurcht erfreute. Sie verstand es vortrefflich, jedem die Meinung zu sagen. Nur in Bezug auf mich, ihren Liebling, war sie zu nachsichtsvoll, ja zu schwach.
Gegen den Willen der Eltern setzte ich Vieles durch: wenn mir eine Speise zuwider war oder auch nur nicht schmeckte, ließ ich sie stehen; erhielt ich nichts nach Wunsch, so hungerte ich lieber. Da ereignete es sich denn wol, daß die Großmama noch spät Abends zu mir in die Kammer kam und mir mit einer angenehmen Speise den Hunger zu stillen suchte. Wurden ihr dann darüber Vorwürfe gemacht, so wußte sie sich zu entschuldigen: ›Dem armen Jungen schrumpft ja der Magen zusammen.‹ Innig dagegen konnte sie sich freuen, wenn ich bei Tische einen guten Appetit entwickelte. Da pflegte sie denn wol zu sagen: ›et schînt als ob't dem Jungen smeckt‹ – was nachher sprichwörtlich bei uns wurde.
Auch in Bezug auf Kleidung war ich eigen und eigensinnig. Es kostete immer große Kämpfe, ehe ich ein neues Kleidungsstück anlegte, sobald mir die Farbe oder der Schnitt nicht gefiel. Einmal erhielt ich eine Jacke mit drei Reihen dicht an einander gesetzter blanker runder Knöpfe. Des Sonntags mußte ich die Jacke anziehen. Man glaubte wunder welche Freude man mir damit machen würde. Ich ärgerte mich und weigerte mich, sie anzuziehen – half nichts. Ich ging den ganzen Tag darin umher und dachte nur an meine Narrenjacke. Alles Auffallende in meinem Aeußern verdroß mich.
[4] Ich konnte sogar keinen Fleck leiden, keine Dunen, keine Fädchen an meinem Rocke. Wenn wir ausfuhren und ich neben dem Knechte auf dem Bocke saß und der Wind übersäete mich mit den Haaren unserer Schecken, so war mir schon dadurch die ganze Fahrt verleidet. So ärgerte ich mich auch, daß ich weißes Haar hatte, weil das den Kindern Anlaß gab, mir nachzurufen: ›Wittkopp!‹
Wenn ich mit anderen Kindern spielte, so konnte ich es nie vertragen, wenn meinem ein anderer Eigenwille entgegentrat. Dagegen konnte ich allein stundenlang mit mir zufrieden sitzen und spielen. Ich untersuchte gewöhnlich mein Spielzeug so lange von außen und innen, bis es kurz und klein war. Die Spielsachen, die mir im Sommer von der Braunschweiger Messe und die mir zu Weihnachten beschert wurden, erfreuten sich nie einer langen Lebensdauer. Es war nicht eigentlich die Lust am Zerstören, sondern kindische Neugier, wie dies und jenes gemacht war und sich in seinen einzelnen Theilen ausnähme.
Nicht immer war meine Selbstunterhaltung eine so billige. Eines schönen Morgens saß ich mitten in der Stube auf dem großen Homannschen Atlas und riß nach und nach die Bilder mit ihren glänzenden Farben aus den Ecken, um sie mir näher zu betrachten. Am Tische saß der Herr Pastor Hantelmann von Wettmarshagen bei seinem Cafe, rauchte seiner lange irdene Pfeife und sah mir wohlgefällig zu, ohne ein Wort zu sagen. Da trat meine Mutter ein: ›aber, Herr Pastor, und das haben Sie dem Jungen nicht verboten?‹ – ›Nun, er hatte ja seine Freude daran.‹
Von den Erinnerungen aus so früher Zeit ist mir die schmerzlichste der Tod meiner jüngsten Schwester (4. Januar 1803). Sie war zwei Jahre älter als ich und starb an den Pocken. Ich sehe sie noch wie sie in ihrem kleinen Sarge ruhte, das zarte Gesicht durch eine schwarze Pockenbeule entstellt. Dies Bild ist mir mein ganzes Leben hindurch nie wieder verschwunden. Als ich zu dichten anfing, war eins der ersten Gedichte unserer früh geschiedenen Dorothea gewidmet. Von dieser Zeit an ist es mir nie möglich gewesen, Leichen zu sehen. Ich wollte mir das Bild des blühenden Lebens nicht durch den Tod verkümmern lassen. So oft andere Kinder an den Sarg ihrer todten Gespielen mit Blumen und Kränzen traten, ging ich trauernd unter den Blumen in unserm Garten umher.
[5] Der Sinn und die Liebe für die Natur erwachte sehr früh in mir. Im Garten zwischen Blumen war mein liebster Aufenthalt. Wie freute ich mich, wenn die zarten Pflanzen, die ich selbst gesäet hatte, gediehen und unter meiner Pflege zur Blüthe kamen! Jeden Morgen wurde Heerschau gehalten und wenn eine Blume aufgebrochen war, so ward es sofort den Eltern gemeldet. Wo es anderswo schöne und seltnere Blumen gab, wurde hinspaziert, und wenn ich Samen oder einen Ableger erbetteln konnte, so zog ich beglückt heim. Besonders prachtvoll war unser langes Tulpen- und Hyacinthenbeet; auch hatten wir einige Jahre die herrlichsten Nelken, schönere an Farben und Gestalt als die jetzigen verkünstelten. Als ich unter dem Pfeffer Ricinuskörner gefunden hatte, pflanzte ich sie und erlebte die Freude, sie noch im Sommer groß aufgeschossen und in Blüthe stehen zu sehn. Auch Citronenkerne legten wir in Töpfe und erzielten wenigstens zierliche, wenn auch winzige Bäumchen. Wir waren jedenfalls glücklicher damit als bei den früheren Versuchen mit Rosinenkernen.
Aber auch an das Nützliche wurde gedacht. Wie meine Gespielen so legte auch ich eine Baumschule an. Bei dem Ueberfluß an Obst gab es den Winter hindurch Gelegenheit genug Kerne zu sammeln, die dann im Frühjahr gesäet wurden. Auch suchten wir überall in Gärten und Baumhöfen aufgelaufene Obstsprößlinge und vermehrten damit unsere Baumschule. Es war eine große Freude für mich, daß ich nach einigen Jahren, als ich Student war, eine hübsche Anzahl veredelter Stämmchen meinem Vetter verkaufen konnte.
Wie der Garten so wurden bald Haus und Hof, Wiesen und Felder ein unermeßliches Feld kindlicher Freude und Thätigkeit. Das Leben im Freien bei nahrhafter Kost hatte mich gekräftigt, ich fühlte mich meinen Gespielen ebenbürtig und konnte mit ihnen Stich halten. Jede Liebhaberei der anderen Kinder wurde meinerseits mitgemacht. Auch ich mußte Tauben haben, und bald hatte ich Feldflüchter, Trommel- und Pfauentauben, die ich täglich fütterte. Daneben hielt ich mir Kaninchen von verschiedenen Farben, die mir besonders wenn ich sie fütterte ergötzliche Unterhaltung gewährten. Sie hatten aber bald den Stall so unterwühlt, daß ich sie abschaffen mußte. Fast noch mehr Spaß hatte ich an einem Häschen in einer leeren Tabakstonne. Anfangs mußte man ihm die Kohlblätter an [6] einem langen Bindfaden hinabreichen; später als es größer wurde, mußte der Bindfaden immer kürzer werden. Als das Häschen ein Hase geworden, was nun? Da meinte der Vater: ›der Hase muß auf weidmännisch getödtet werden.‹ Die Tonne mit dem Hasen wurde in den Garten gebracht, der Vater stand mit geladener Flinte, den Hahn gespannt, daneben. Da ward die Tonne umgekippt; der Hase sprang hinaus, der Vater schoß hinterdrein und Leporello suchte das Weite.
Im Winter war außer den gewöhnlichen Kindervergnügungen, als Schlittenfahren, Schneebällen, Glandern und Schlittschuhlaufen der Vogelfang eine angenehme Unterhaltung. Wir machten uns Sprenkel, worin wir Rothkehlchen, und Kasten von Fliederstäben, worin wir Meisen fingen. Sobald Schnee lag, spannten wir Fallnetze auf, oder legten einen mit Bindfäden überzogenen Tonnenreif voll Schlingen auf den Schnee und bestreuten die Stelle mit Kaff. Die Rothkehlchen und Meisen setzten wir in die Stube, nach einiger Zeit waren sie ziemlich zahm und wurden dann unsere Wintergesellschaft. Die Finken, Goldammern und Sperlinge, welche sich nicht an die Stube gewöhnen können, ließen wir fliegen, den letzteren aber, den Spatzen, klebten wir zuvor Hahnenkämme von rothem Tuch auf den Kopf, wodurch sie ein recht kriegerisches Ansehn bekamen.
Sobald der Schnee verschwunden und die Sonne länger und wärmer wieder schien, eilten wir in die Gärten und Wiesen und suchten Veilchen, Schneeglöckchen, Erdrauch und Himmelschlüssel, und flogen den ersten Schmetterlingen nach, dem Citronenvogel und der Aurora, denn von den verschiedenen Sammlungen, die wir uns anlegten, war mir die Schmetterlingssammlung die liebste. Nach den Schulstunden war meist der Kirchhof unser Spiel- und Tummelplatz: wir schlugen Ball, liefen bar, spielten haschen, Häselein, Eisermännchen in Eisen, ließen den Drachen steigen und den Brummkreisel brummen.
Eine der lieblichsten Erinnerungen aus so früher Zeit ist mir das Kinderfeft in dem benachbarten Sülfeld. Dorthin zogen am zweiten Pfingsttage die Fallersleber, Alt und Jung, damals noch jedes Jahr. Während die Großen nur an Cafetrinken, Kuchen und Tanz dachten, war zunächst uns Kindern die größte Freude, wenn der Laubfrosch und die Maibraut nach einander ihren Aufzug hielten.
[7] Eine Gesellschaft von zwölf Knaben, jeder mit einem hölzernen Säbel, woran unten bunte Bänder flatterten, kam auf die Scheundiele und bildete einen Kreis; in der Mitte stand der Laubfrosch, so benannt weil er ganz in grüne Zweige eingehüllt war. Sowie der Gesang begann, singen alle an um den Laubfrosch herum zu springen und schlugen mit ihren Säbeln gegen die Wände. Das dauerte bis zu der Stelle: Ein Ei, twei Ei etc., dann machten sie alle wie auch der Laubfrosch bei jeder Zahl einen tiefen Diener. Bei den Worten: Dat sebente is dat Pingestei, sprangen alle wieder wie vorher. Sie sangen:
Einen freundlichen Gegensatz zu diesen wilden Burschen bildete die Maibraut. Zwölf kleine Mädchen, alle hübsch geputzt, freundlichen, bescheidenen Wesens, kamen mit ihrer Königin, die eine Krone von Flittergold und künstlichen Blumen trug, und tanzten wie im Ringelrosenkranze um sie herum und sangen:
Von dem Hauswirth mit Wurst, Semmel, Kuchen von den Fremden mit Geld beschenkt gingen die Laubfrosch- und Maibrautkinder weiter und hielten dann, jede Gesellschaft für sich, einen Abendschmaus. Dies fröhliche Kinderfest ist heutiges Tages spurlos verschwunden, wie der Anteich, worin sich einst der Sürfelder Kirchthurm spiegelte.
Zu Anfange des Sommers suchten wir Erdbeeren und Brombeeren in den Wäldern. Im Herbste holten wir die von den Hecken abgeschnittenen Dornen zusammen, auch das trockene Kartoffelkraut, Halme und Bohnenranken, und zündeten sie an; je dicker der Rausch emporstieg, desto größer war unsre Freude. Nebenbei waren wir auch noch sehr empfindungsreich und machten ohne weitere Anweisung uns viele von den Dingen, welche Hermann Wagner in seinem ›illustrierten Spielbuch für Knaben‹ abbildet und beschreibt; wir machten Wind- und Wassermühlen, Klappbüchsen, Blasröhre, Sprützbüchsen (›Strenjen‹), Schlüsselbüchsen, Flitzbogen, Schleudern, Weidenpfeifen, Petermännchen und Schwärmer.
Als meine Eltern glaubten, daß es Zeit sei, etwas zu lernen, schickten sie mich zur Frau Dreyer in die Schule. Es dauerte einige Wochen ehe ich ohne Sträuben hinging. Ich weinte jedesmal, und selbst die Tute mit Rosinen, die ich mit auf den Weg bekam, konnte mich nicht umstimmen. Ich mußte immer hingeführt werden, allein wäre ich nicht gegangen. Nachdem ich aber mich an die vielen fremden Kinder gewöhnt und das Abc überwunden hatte, war mir die Schule kein Ort der Angst und des Schreckens mehr.
Nach Jahr und Tag muß ich wohl so weit gediehen sein, daß ich die Bürgerschule besuchen konnte. Ich erinnere mich wenigstens noch, [9] daß eines Tags der ehrwürdige Superintendent Ziegler uns besuchte und tüchtig abkanzelte: ›Ihr Heiden, ihr Hottentotten –‹ begann er seine Anrede. Dann kam er zu mir, legte seine Hand sanft auf meinen Kopf und sprach: ›Du mein Kind bist artig und fleißig.‹ – Der Unterricht in dieser zweiten Abtheilung der Bürgerschule war sehr dürftig. Meine Eltern und mehrere Familien wollten deshalb ihren Kindern einen besseren geben lassen. Sie einigten sich und fanden in dem Herrn Stolberg einen passenden Lehrer. Es wurde ihm ein Gehalt festgesetzt, eine Wohnung gemiethet und etwa unser acht wurden seine Schüler. So bekamen wir denn zum Lehrer einen Gelehrten, der eben nicht zu viel gelernt hatte und vor der Candidatur des Predigtamtes stehen geblieben war. Obschon diese Schule von kurzer Dauer war, so hatte sie auf mich doch vortheilhaft gewirkt; ich wurde mit manchen Dingen bekannt, von denen ich früher keine Ahndung hatte: ich erfuhr etwas von den Naturreichen und der Länder- und Völkerkunde, und machte den Anfang mit dem Französischen. Nachdem das Verhältniß mit Stolberg gelöst war, besuchte ich wieder die Bürgerschule, nebenbei aber ging ich wöchentlich mehrere Stunden zum Schreiben und Rechnen bei Herrn Harms.
Unser Nachbar Harms, ein Kaufmann, der seinen Handel hatte aufgeben müssen, war Schreiblehrer geworden. Er schrieb eine hübsche Hand und ertheilte guten Unterricht im Schreiben und Rechnen. Er war mit mir recht zufrieden und ich schrieb seine Vorschriften ziemlich gut nach, aber, aber den krummen Finger beim Schreiben konnte er mir nicht abgewöhnen und ich habe ihn mein ganzes Leben behalten. Im Rechnen hatte ich es ziemlich weit gebracht, setzte es leider später nicht fort. Hätte ich nur behalten was ich damals konnte, – ich hatte den alten Hemeling bis über die Mitte durchgerechnet! – es wäre mir in manchen Lagen des Lebens von großem Vortheile gewesen.
Für Musik hatte ich viel Sinn, vielleicht auch Anlage, aber keine Gelegenheit, Singen und Spielen zu lernen. Ich freuete mich an Musik und Gesang, und was ich singen hörte, wußte ich schnell auswendig und sang es nach. Ich machte mir selbst musicalische Instrumente, überzog Schachteldeckel mit Drahtsaiten, suchte aus ungleichen Rohrstangen eine Papagenopfeife zusammenzufügen und aus Wallnußschalen kleine Klappern zu bereiten. Unser oberster Boden war die [10] eigentliche Polterkammer. Unter allerlei Gerümpel befand sich dort eine alte Drehorgel. Manche Stunde spielte ich mir hier alle Stücke nach einander vor und oft mehrmals. Der Gesang in der Schule beschränkte sich meist auf Kirchenlieder. Jeder sang, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Als ich später mit zu den Neujahrssängern gehören sollte, handelte es sich nur um zweistimmigen Gesang, oder um ›grob und fein‹, wie wir es bequemer nannten. Wer ein gutes Gehör und eine gute Stimme hatte, genügte vollkommen den mäßigen Anfoderungen.
Zum Zeichnen hatte ich große Lust, aber es fehlte mir auch dazu an Anweisung. Ich begnügte mich, Häuser und Bäume aus dem Kopfe zu zeichnen oder nach Bilderbogen und sie nachher auszumalen. Um ein ziemlich treues Bild zu erlangen, hielt ich an eine Glasscheibe das Original mit darüber gelegtem feinen Papiere und zog nun darauf mit einem Bleistift die Umrisse nach und malte diese dann aus. Da sich aber so etwas nur bei Tage veranstalten ließ und die Winterabende sehr lang waren, so machten wir uns Papier mit Fett und Kienruß schwarz, legten dies mit der schwarzen Seite auf weißes Papier und oben drauf das Original, das dann durchgezeichnet wurde. So gab es denn Tag- und Nachtbilder.
So ergötzlich diese Beschäftigung und jedesmal mit jedem neuen Tuschkasten gar eifrig unternommen wurde, so hielt sie doch nicht lange an, wir kehrten immer wieder zu unseren alten lieb gewordenen Bilderbüchern zurück. Daneben mußte der alte Guckkasten uns noch manche Stunde ausfüllen. Er enthielt einige alte Ansichten von Versailles, tapetenartig gemalt. Sie machten sich aber gar hübsch, wenn sie hinten mit zwei Lichtern beleuchtet wurden. Daß aber dieser Kasten noch zu etwas anderem dienen könnte, ahndeten wir nicht. Später machten wir eine Camera obscura daraus, stellten ihn mitten in den Garten zu Ende des langen Ganges, gerade dem Kirchthurme gegenüber. Da sahen wir denn zu unserer großen Freude eine liebliche Landschaft auf das weiße Papier hingezaubert mit allen Blumen und Bäumen, von bunten Schmetterlingen und Vögeln durchflogen. Bei jeder anderen Stellung des Kastens gewannen wir natürlich immer ein anderes Bild. Mancher heitere Sommertag lud uns zu dieser mühelosen und genußreichen Landschaftsmalerei ein.
[11] Während dieser meiner friedlichen Zeit des Spielens und Lernens daheim sah es draußen sehr kriegerisch aus. Zu Anfange des Jahres 1803 hatte zwar Frankreich England den Krieg noch nicht erklärt, benahm sich aber schon längst sehr feindselig. Endlich wurde denn auch dem Kurstaat die Pflicht sehr nahe gelegt, sich zu rüsten und zu wehren. Am 16. Mai kam ein Regierungserlaß, jeder Unterthan solle sich zur Vertheidigung und Befreiung des Vaterlandes der Regierung zur Verfügung stellen, eine bis dahin in Hannover nie gekannte Maßregel. Es wurden denn auch im Amte Fallersleben sofort Recruten ausgehoben. Wie es dabei herging, weiß ich nur vom Hörensagen. Die jungen Bauerkerle wurden Nachts aus ihren Betten geholt und wenn sie nicht willig folgten, mit Gewalt fortgeschleppt. Mein Vater erhielt den Befehl mit dem Amtschreiber von Blum diese gepreßten Vaterlandsvertheidiger nach Hannover zu geleiten, ein trauriges Geschäft! Nachdem sie auf dem Rathhause eingesperrt und bewirthet und dann theils gutwillig, theils mit Gewalt auf die Wagen gebracht waren, setzte sich der Zug unter dem Geheule der alten Weiber und Bräute in Bewegung und wurde eine weite Strecke dann von diesen begleitet. Als sie in der List dicht vor Hannover ankamen, hieß es denn: ›et is te late, gân se man wedder na Hûs, de Herzog flüchtet eben tom Dore henût.‹ Schnell wie der Blitz sprang Alles von den Wagen herunter und bediente sich der Abwesenheit. Mein Vater aber ging nach Hannover hinein. Es war ihm eine willkommene Gelegenheit, sich die Hauptstadt, die er noch nicht kannte, anzusehen, und er sah sie sich gehörig an.
Schon in den letzten Tagen des Mais rückte Mortier von Holland aus ins Hannoversche ein, unterzeichnete den 3. Juni die Convention von Sulingen und hielt den 4. seinen Einzug in Hannover. Der Sulinger Convention folgte die noch schmählichere von Artlenburg am 5. Juli. Hannover war in den Händen der Franzosen, die sich durch das ganze Land vertheilten.
Auch Fallersleben blieb nicht verschont: eine Schwadron reitender Artillerie rückte ein und nahm auf lange Zeit Standquartier. Wir Kinder freuten uns über die schönen Uniformen und rothen Federbüsche, und zogen überall mit, wenn es Uebungen und Paraden gab. Wir konnten uns nur wundern, wenn wir zu Hause hörten: ›das sind unsere Feinde – wenn wir sie nur bald wieder los wären!‹ [12] Als mein Bruder sich eines Tages sehr freute, daß der Trompeter so schön bliese, sagte der alte Bürgermeister Krüger: ›theuere Musik, lieber Herr Vetter, theuere Musik!‹
Unsere Feinde betrugen sich recht gut; sie waren leicht zufrieden zu stellen, sobald man ihnen nur freundlich entgegen kam und guten Willen zeigte. Unter einander waren sie brüderlich einträchtig. Knechtischen Dienstgehorsam und rohe Behandlung von Seiten der Obern nahm man niemals wahr. Wir hatten so oft gehört, wenn ein Junge unartig war: ›wart! du sollst dem Kalbfelle folgen!‹ Das schienuns gar keine Strafe. Freilich hatte man uns früher das Soldatenleben als etwas Schreckliches geschildert: Prügel, Spießruthen, Gefängniß bei Wasser und Commißbrot. Wir spielten jetzt selbst Soldaten, und wenn einer nicht that was er sollte, so sperrten wir ihn ein: das kam auch bei den Franzosen vor und ging dort eben so lustig ab wie bei uns.
Das Jahr 1804 war angebrochen, eine Aenderung unserer Lage schien in weite Ferne gerückt, vorläufig blieb Alles beim Alten. Seit dem 19. Juni war Bernadotte Oberbefehlshaber. Die Lasten blieben dieselben. Im September (1805) schien es sich für uns besser zu gestalten: die Franzosen zogen ab und am 28. October rückten Preußen in Hannover ein, die hannoversche Regierung wurde hergestellt. Als aber am 2. December die Schlacht von Austerlitz für Oesterreich verloren ging, da gestaltete sich plötzlich Alles anders.
Einige Wochen nach dem Beginn des neuen Jahres 1806 rückten preußische Truppen unter dem Grafen Schuleuburg-Kehnert in Hannover ein. Der König von Preußen erklärte, die französischen Völker würden von nun an das Kurfürstenthum räumen und Preußen bis zum Frieden in Verwaltung und Obhut nehmen.
Wir in unserem entlegenen Winkel erfuhren nur wenig von diesem großen Ereignisse. Die Landeshoheits- und Grenzpfähle mit dem preußischen Adler erinnerten uns jedoch bald, daß wir nicht mehr königlich großbritannisch-hannoverisch waren. Die Stimmung war sehr gegen den neuen Landesherren und hie und da hörte man viel vom preußischen Pfiff und preußischen Kuckuck. Man fürchtete eine größere Steuerlast. Mit Wohlgefallen erzählte man sich, ein Bauer habe vor einem Pfahle, woran der Adler, gestanden, diesen immer angesehen und sich die Taschen zugehalten. Endlich sei die Wache gekommen und habe gefragt, warum er doch immer den Adler [13] so ansehe? ›Ik mach mik dreien wohen ik wil, hei kickt mik immer in mine Taschen.‹
Im Sommer blieb es still, wir waren von Einquartierung verschont. Im Herbste wurde es unruhiger als je. Viele tausend Preußen kamen durch unsere Gegend, lauter Fußvolk. Der Zug eines Regiments dauerte sehr lange, es war groß Gewühl und Getümmel, hinterher viele Packwagen mit Zelten und Stangen. Wir hatten oft bis spät Abends zu sehen. Sehr ergötzlich waren für uns die großen Wagen mit Truthühnern und sonstigem Federvieh; den Thieren bekam die Reise ganz wohl, sie sprangen munter ans Gitter und pickten uns die Brotkrumen aus der Hand. Es sah gar nicht aus, als ob es in Krieg ginge, und alle Welt sagte doch: ›es geht in den Krieg.‹
Manches ereignete sich auch was selbst uns Kindern gar zu spaßhaft vorkam. Eines Morgens hörten wir plötzlich trommeln. Wir laufen vor die Thür. Da kommen mehrere Trommelschläger vom Amthofe herab und schlagen den Generalmarsch. Wir fragen sie was das solle? ›Nun, sagen sie, uns ist befohlen, jetzt zum Abmarsch zu trommeln.‹ Wir bedeuteten ihnen, es sei ja am frühen Morgen Alles schon abmarschiert. Sie hingen die Trommeln auf den Rücken und zogen ihres Weges. Da kommt endlich der alte General hinterdrein geritten; er wundert sich, seine Leute nicht mehr zu sehen. ›Wo ist mein Regiment hinmarschiert?‹ fragt er und wir ertheilen ihm die nöthige Auskunft.
Die Durchmärsche der preußischen Truppen hatten aufgehört. Bald aber wurde die Stille aufs Neue unterbrochen. Hatten wir bisher nur Soldaten gesehen, die siegesgewiß, stattlich mit Wehr und Waffen in geordneten Zügen kamen und gingen, so sollten wir nun auch Soldaten sehen, die einzeln oder truppweise ohne Gepäck und Waffen, traurigen Blicks einherzogen und nach kurzer Rast als Flüchtlinge weiter eilten.
Es war eines Sonntags (den 19. October) gegen 1 Uhr, wir hatten uns eben zu Tische gesetzt, da sprengten drei preußische Cürassiere vor unser Haus. Wir eilten vor die Thür. Wie erschraken wir, als das erste Wort aus ihrem Munde kam: ›es ist Alles verloren!‹ Wir suchten sie auszufragen, aber sie wußten auf alle unsere Fragen nur immer dasselbe zu erwiedern: ›es ist Alles verloren, Alles!‹ [14] Sie erkundigten sich nach dem Wege, den sie einschlagen wollten, näher und machten sich bald auf und davon. Wir sahen uns erstaunt an. Mein Vater schüttelte zweifelnd den Kopf, er hielt es für unmöglich, daß ein Krieg, dessen Anfang wir ja noch kaum wußten, bereits einen so unglücklichen Ausgang für Preußen genommen habe; er konnte an die schreckliche Kunde, die erste vom Kriegsschauplatze, nicht glauben und hielt lieber die drei Reiter für Ausreißer, die ihre Feigheit nur hätten beschönigen wollen.
Leider bestätigte sich das Unglaubliche nur zu früh. Schon die nächsten Tage kam Fußvolk truppweise, alle niedergeschlagen und im erbärmlichsten Aufzuge, sie hatten nichts weiter gerettet als das Leben und den Brotbeutel. Sie gehörten verschiedenen Heeresabtheilungen an, und wußten nicht woher, wohin. Durch ihren traurigen Anblick und die Erzählungen von ihren ausgestandenen Leiden und Strapazen erregten sie allgemein großes Mitleid, sie fanden überall Unterstützung. Die Durchzüge der Flüchtlinge und Versprengten dauerten noch mehrere Tage fort.
Es wurde nun wieder still. Der Krieg berührte uns nicht weiter unmittelbar. Der Winter hatte begonnen und wir Kinder gingen zu unseren alten Spielen über. Nach dem Schlusse der Schulstunden eilten wir auf das Eis, wir glanderten oder liefen Schrittschuh, und wenn es Schnee gab, fuhren wir auf dem Handschlitten eine steile Schneebahn hinab, und bei eintretendem Thauwetter schneebällten wir uns, machten Schneefestungen oder errichteten große Schneemänner auf wegsamen Straßen, zuweilen sogar heimlich dicht vor den Hausthüren. Da die Arbeiten für die Schule bald gemacht waren, so gewährte der lange Abend Zeit genug zum Spielen. Wir machten uns von Kartenblättern Soldaten eigenthümlicher Art: das Blättchen wurde der Länge nach gefaltet und hinten schräg eingeschnitten, der Einschnitt umgeklappt und mit einer Feder versehen, und der Soldat war fertig. Da in unserm Hause viel kartengespielt wurde, so eigneten wir uns die schlecht gewordenen Spiele zu, unser Heer war immer vollzählig.
An zwei Abenden in der Woche kam der Hamburger unparteiische Correspondent. Ich mußte dann die Blätter vorlesen. Die Stammgäste saßen um den großen Tisch herum, rauchten zu ihrem Glas Bier ihr Pfeifchen und hörten aufmerksam zu. Ich las und [15] las in aufgeregter Stimmung, denn die Tagesbegebenheiten hatten auch für mich ein großes Interesse.
Schon in den ersten Tagen des Novembers erfuhren wir Näheres über die unglückliche Schlacht von Jena und auch von ihren Folgen eine auch für uns höchst wichtige: Bertier war wieder in Hannover und erklärte am 12. November, daß er im Namen seines Kaisers das Land in Besitz nehme. Der preußische Adler wurde mit dem französischen vertauscht. Zwei Tage später erlag in Ottensen seinen Schmerzen der todtwunde Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, fern von seinem Lande, das glücklich durch ihn und mit ihm gewesen war. So folgten sich rasch hinter einander die großen traurigen Tagesereignisse.
Noch Einmal, ehe das Jahr zu Ende ging, wurden wir daran erinnert, daß wir in Kriegszeiten lebten. In der Abenddämmerung hielten zwei Bauerwagen vor unserem Hause still. Mehrere Männer stiegen ab, sie schienen durchnäßt und angegriffen von der Reise. Mein Vater hieß sie freundlich willkommen. Es waren preußische Officiere von der Besatzung Hamelns. Nachdem sie sich umgekleidet und gespeist hatten, wurden sie gesprächig. Sie sprachen sich alle unumwunden und sittlich entrüstet aus über die niederträchtige Capitulation des Commandanten von Schöler. Es war eine männliche würdige Sprache, die uns mit Achtung für die jungen Männer erfüllte und mir unvergeßlich geblieben ist. Der Haß gegen Preußen, der im Kurstaate Hannover ein ziemlich allgemeiner gewesen, war jetzt ziemlich verschwunden, das große Unglück hatte große Theilnahme erweckt. Es wurde wieder viel in unserem Hause politisiert; wir hörten das Alles mit an und ließen unser Spiel ruhen. Wenn man von dem traurigen Ende des Herzogs von Braunschweig sprach, so weinten wir, denn wir hatten nur immer Züge der Liebe und Güte von ihm vernommen. So oft man auf Blücher's Niederlage in Lübeck und die dortigen Gräuel zu sprechen kam, wurden wir über die Franzosen empört. Die preußische Ruhmredigkeit war hart gestraft, aber niemand konnte sich denken, daß ein so mächtiger Staat so schnell in die tiefste Schmach sinken würde. ›Ja, rief dann eine Stimme, es ist mit uns Deutschen vorläufig vorbei!‹ und eine andere meinte dagegen: ›laß nur! die Preußen werden die Franzosen ins Land locken und ihnen den Garaus machen.‹ Leider hatte jene [16] erste Stimme, ich glaube die meines Vaters, Recht: es war vorläufig mit uns vorbei, es folgte ein schmachvoller Friede.
Mit dem Beginne des Jahres 1807 hatte die Aufregung der Gemüther ziemlich nachgelassen. Es wurde zwar noch viel in unserem Hause politisiert, man beschäftigte sich aber mehr mit den großen Kriegsereignissen der letzten Monate als mit denen die noch kommen könnten; niemand dachte mehr an einen Sieg der Preußen und ihrer Verbündeten, der Russen, niemand hegte die Hoffnung, daß wir so bald von der Franzosenherrschaft erlöst werden würden. Der Friede von Tilsit ließ voraussehen, daß auch wir von den Folgen desselben nicht unberührt bleiben würden. Schon im August wurde der südliche Theil des Kurstaates dem neuen Königreich Westfalen einverleibt. Wir blieben vorläufig noch unter französischer Botmäßigkeit.
In der Kinderwelt ward es lebendiger als früher. Wir sannen immer auf neue Kurzweil und Narrenspossen. So pflegten wir uns in den Winterabenden zu verkleiden und dann auf den Kirchhofsgräbern umherzuwandeln. Einer mußte den Geist machen, vor dem wir anderen erschraken und flohen. Dieser Geist hatte sich in einen alten weißen Pudermantel gehüllt und konnte nur langsam fortschreiten. Zuweilen legten wir ihm dicke Steine auf die Schleppe, ohne daß er es merkte, so daß ihm dann selbst bange wurde, als ob ein Geist aus dem Grabe ihn fest hielte.
Zu Ende des Jahres entstand in unserm kleinen Orte ein recht reges Leben. Mehrere junge Leute waren von der Universität zurückgekehrt, alle recht gesellig und lebenslustig; ihnen schlossen sich andere gleichgesinnte, wie mein Bruder, an. Es wurde das alte flotte Burschenleben neu wieder aufgelegt, es wurde gespielt und commersiert. Endlich kam man auf den Gedanken, Schiller's Räuber aufzuführen. Die Rollen wurden ausgeschrieben und passend vertheilt, Proben abgehalten und es erfolgte nach kurzem Zwischenraume eine zweimalige öffentliche Aufführung unter dem freudigsten Beifalle der Zuschauer. Ich war jedesmal zugegen und bin mir noch heute des gewaltigen Eindrucks bewußt, den das Stück auf mich machte. Ich las es später selbst in dem Exemplare, wonach es gegeben wurde; es war die erste Mannheimer Ausgabe von 1781. Ich wußte bald ganze Scenen auswendig. Die jungen Schauspieler, von Haus aus lauter prosaische Naturen, waren durch diese Kunstübungen zu neuen [17] Menschen geworden, sie bewegten sich von jetzt an in freieren geselligen Formen und hatten einen gewissen poetischen Anstrich bekommen. Die Art und Weise ihres Verkehrs in der Gesellschaft blieb nicht ohne Einfluß auf uns Kinder; wir nahmen manche Redensarten und Manieren dieser erwachsenen Jugend an und waren seitdem für alle Freiheitsideen empfänglicher.
Um diese Zeit pflegte ich gern Gedichte zu lesen, auch wol mit lauter Stimme herzusagen. Zuweilen wenn ich ganz allein im Zimmer war, band ich mir ein Tuch um den Leib, setzte mir einen Hut auf, stellte mich auf den Tisch und declamierte feierlich: ›Begra ben will ich Cäsar, nicht ihn loben‹ etc. – Ohne mich weiter mit Poesie zu befassen, schrieb ich eines Tages mit rother Dinte, bloß aus Narrenspossen, zum 2. April in ›von Bogatzky, Güldenes Schatzkästlein der Kinder Gottes für jeden Tag‹:
Auch das neue Jahr 1808 brachte uns keine Gewißheit über unser Schicksal, ob wir noch länger französisch bleiben oder nächstens dem neuen Königreich Westfalen einverleibt werden sollten. Vorläufig schien es, als ob wir für die Zwecke des Kaisers noch nicht genug ausgebeutet wären: Kriegssteuern und Einquartierungen dauerten fort.
Im Februar rückten zwei Schwadronen Cürassiere ein vom 11. Regimente und nahmen auf längere Zeit Standquartier. Trotzdem daß niemand von ihnen deutsch verstand, so gestaltete sich doch bald ein traulicher Verkehr zwischen Soldat und Bürger. Wenn es Streitigkeiten gab, so machte mein Vater mit Hülfe meines Bruders den glücklichen Schlichter. Meinem Bruder fiel der größte Theil der Bürgermeistereigeschäfte zu; er war sehr geschäftsgewandt und der einzige der des Französischen mächtig. Jung und lebenslustig wie die Officiere wurde er bald ihr Freund und durfte bei ihren Zusammenkünften nie fehlen. Ich erinnere mich noch, wie er mit ihnen kegelte, mit ihnen trank und sang, scherzte und lachte.
Die Gemeinen hielten unter einander gute Kameradschaft. Selbst bei ihren Trinkgelagen ging es heiter und friedlich zu. Wer singen [18] konnte, sang, die auderen hörten mit Wohlgefallen zu, dann stimmten auch wol mal alle einen Rundgesang an:
Sie hielten das Glas hoch empor, senkten es dann und tranken es schließlich aus.
Ihnen gegenüber erfreuete sich Monsieur le bourguemestre, mein Vater, eines hohen Ansehens, weil er sich vor niemandem fürchtete, und im Bewußtsein, nur das Rechte zu wollen, sich auch vor niemandem zu fürchten brauchte. Schon seine stattliche Gestalt, seine Körperstärke und Gewandtheit, mehr aber noch seine ganze Art und Weise, wie er auftrat, waren achtunggebietend. Kein anderer hätte das wagen dürfen was er wagte. Eines Tages sahen wir zwei Cürassiere mit ihren langen Degen unter dem Arme in einen Garten laufen. Wir blieben von ferne stehen. Sie zogen sich aus bis auf die Unterkleider und wollten eben mit einander duellieren. Da kam mein Vater, der von der Geschichte benachrichtigt war, eilig dazu, suchte sie zu beschwichtigen, und als das nicht gelingen wollte, wand er ihnen die Degen aus den Händen. Sie ließen sich das ruhig gefallen, mein Vater gab ihnen die Waffen zurück, und der Kampf war vorläufig beendet.
So ernst die Weltlage, so traurig die staatlichen Verhältnisse, so drückend fortwährend die Abgaben waren, die deutsche Gemüthlichkeit feierte doch nicht länger und wußte sich endlich wieder geltend zu machen, freilich mit einem starken Anfluge französischer Leichtfertigkeit. Wie man dachte und fühlte, sprach sich in allen Vergnügungen aus: bonne mine à mauvais jeu wurde der leitende Grundsatz. Damit stimmten denn auch die Gesellschaftslieder, welche man zu singen pflegte, wenn man lustig wurde:
Die meisten dieser Melodien sangen wir den Alten nach, wußten freilich oft vom Texte nur selten mehr als die erste Strophe. Dagegen sangen wir bei unseren Spielen und Märschen:
Alle diese Lieder stammten aus einer früheren Zeit, waren aber recht zeitgemäß geworden; dagegen waren neue entstanden, die der Gefühlsrichtung der Gegenwart noch mehr entsprachen und deshalb in anständigen Gesellschaften beliebt waren und oft und gern gesungen wurden. So die beiden Lieder:
Solchen Liedern konnte keine Censur etwas anhaben, noch [20] weniger aber jenen Liedern, welche ›Gedruckt in diesem Jahr‹ zu den Drehorgeln gesungen wurden:
(Jede Strophe schloß mit dem wiederholten: Aber nur incognito!)
Solche Leichtfertigkeit ward damals gedichtet und gesungen und fand ein dankbares Publicum.
Eine schönere Erinnerung ist es für mich, wenn die Schüler ihren Neujahrsumgang hielten. Sie sangen jedem Hauswirth und Hausgenossen ein Lied und bekamen dann in die eine Büchse eine Gabe für den Rector, in die andere eine für sich. Bei uns mußten sie sich einfinden, wenn wir uns eben zu Tische gesetzt hatten, und jedesmal singen meines Vaters beide Lieblingslieder:
So war denn das Jahr 1809 herangekommen. Die gesellige Fröhlichkeit verstummte allmählich, die Tagesbegebenheiten beschäftigten wieder alle Gemüther. In unserm Hause wurde wieder viel politisiert, ich mußte die Zeitungen vorlesen und auf der Landkarte den Kriegsschauplatz aufsuchen. Der Krieg in Spanien gewann immer größere Bedeutung; der Name Saragossa erfüllte uns mit Begeisterung; aber mit Wehmuth vernahmen wir, daß auf der Halbinsel Deutsche gegen Deutsche fechten mußten. Der Marsch nach Spanien galt für den sicheren Weg ins offene Grab. Wie viele Westfalen gingen hin, wie wenige kehrten heim. Ein Bauerjunge nahm sich ein Taschentuch voll Erde mit, um noch eine Nacht auf dem Boden leiner Heimat zu schlafen. Manche Mutter starb vor Gram über den Verlust ihres Sohnes, manche Braut vertrauerte ihr Leben. Herzzerreißend war der Gesang, wenn die Soldaten beim Ausmarsch anstimmten:
[21] In Süddeutschland war der Krieg in vollem Gange. Alle Gemüther waren aufgeregt, jedes hoffte, endlich würde Napoleon erliegen. In Hessen brach ein Aufstand aus unter Dörnberg, und etwas später zog Schill mit seiner Schaar heran und beunruhigte Sachsen und Westfalen. Alles scheiterte. Anfangs Mai fanden Dörnbergsche Flüchtlinge in unserm Hause einen Zufluchtsort. Später brachte man durch unsere Nachbarschaft Schillsche Officiere, die in Braunschweig erschossen wurden. Wir Kinder waren begeistert für Schill, wir kannten ihn schon aus dem letzten unglücklichen Kriege, wir waren betrübt und zugleich empört, daß ein so tapferer Soldat und entschiedener Franzosenfeind ein so schreckliches Ende nehmen mußte. Noch lange nachher lebte er in ehrendem Andenken fort, in mancher Bauernstube war sein Bild an der Thür zu sehen.
Aller Augen waren nach Süddeutschland gerichtet immer noch hegten die Vaterlandsfreunde einige Hoffnung. Mit Begier wurde der Hamburger Correspondent gelesen. Da die Botenpost nur zweimal nach Gifhorn ging, so wurde oft Geld zusammengeschossen, um ihn durch einen eigenen Boten holen zu lassen. Wir Kinder hörten viel vom Kriegsschauplatze und wollten durchaus, daß der deutsche Kaiser den Sieg davon trage über den neuen Franzosenkaiser. Wir hatten damals neue graue Jacken bekommen; bei unserm Soldatenspiel wendeten wir sie um und schrieben mit Röthel ein großes F. II. (Franz der Zweite) darauf, obschon der deutsche Kaiser schon längst nur noch ein österreichischer war und sich F. I. schrieb. Welch ein Jubel, als die erste Siegesnachricht eintraf! Erzherzog Karl ward der Held des Tages – Aspern und Eßlingen, Jubel und Freudenthränen überall! Aber unsere Freude wurde bald getrübt: das Kriegesglück wendete sich, Napoleon ging auch aus diesem Kampfe als Sieger hervor.
Noch Einmal blinkte ein Schimmer von Hoffnung an unserem Himmel. Der geschworene Feind Napoleons, der seines Landes beraubte Herzog Friedrich Wilhelm, damals meist Braunschweig-Öls genannt, machte einen kühnen Streifzug durch halb Deutschland und so durch sein väterliches Erbe. Er traf den 31. Juli in Braunschweig ein. Wir hatten mit Angst und Beben die Kunde vernommen. Den 1. August kam es bei Ölper zum Treffen mit seinen Gegnern. Des Abends gingen wir ins Freie, hielten das Ohr an[22] den Erdboden gelehnt und hörten deutlich jeden Kanonenschuß und das Rottenfeuer. Des anderen Tages kam die Kunde, daß sich der Herzog durch eine bedeutende Uebermacht von Feinden siegreich durchgeschlagen habe. Lange Zeit noch sprach man von dem abenteuerlichen Zuge des Herzogs und seinen schwarzen Husaren mit dem Todtenkopfe. In vieler Händen war sein Bildniß. Aus dem nahen Braunschweig erfuhren wir Alles genau was sich dort während der Anwesenheit des Herzogs begeben hatte, was und mit wem der unglückliche Fürstensohn gesprochen, nichts aber wurde öfter wiederholt, als daß dort wirklich Brüder gegen Brüder gefochten. Der Herzog hatte sich längst schon eingeschifft, lebte aber in unserem Andenken noch fort. Bei unseren Soldatenspielen trugen wir Papiermützen mit gemalten Todtenköpfen.
Der Friede war abgeschlossen, Napoleon abermals Sieger, nur in Tirol dauerte der Kampf noch fort. Wir hörten viel vom Sandwirth Hofer, sahen ihn auch auf den Bilderbogen, aber diese letzte muthige Auflehnung gegen die Franzosenherrschaft war endlich auch gebrochen. Es schien als ob ganz Deutschland französisch werden sollte, als wir in das neue Jahr 1810 eintraten. Schon im Januar ward Alt-Hannover mit Westfalen vereinigt und im Herbste auch das Schicksal Fallerslebens entschieden: es bildete von nun an einen eigenen Canton des Okerdepartements. Mein Vater wurde am 1. October Canton-Maire, mein Bruder Mairie-Secretär (11. November). Beide Stellungen waren nur bedeutend durch die Ehre und die Gelegenheit, amtlich viel Schlimmes abzuwenden und viel Gutes zu veranlassen und zu fördern.
Plötzlich war nun Alles anders geworden. Das öffentliche Politisieren hörte auf. Von Braunschweig wußten wir, wie gefährlich es war und werden konnte. Mancher büßte für eine unbefangene Äußerung in den Gefängnissen zu Cassel. Die geheime Polizei nämlich, diese saubere Napoleonische Einrichtung, war auch in Westfalen eingerichtet und zählte mehr Eingeborene als Fremde unter ihren Helfern und Helfershelfern – ewige Schmach für den deutschen Namen! Der westfälische Moniteur, die einzige westfälische Zeitung, halb französisch halb deutsch, ging von der Regierung aus; alle Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter und Anzeigen standen unter der strengsten Censur. Fremde Zeitungen waren zu theuer [23] und durften sich ebenfalls nicht frei äußern. Der Hamburger Correspondent hatte für uns aufgehört. Hamburg war französisch geworden, der Correspondent mußte eine bedeutende Stempelsteuer bezahlen, das war den Fallerslebern zu theuer und niemand hielt ihn mehr.
Geheime Polizei und Censur hatte bis jetzt keiner bei uns eigentlich gekannt, jetzt lernten wir sie in ihrer ganzen Bedeutung kennen: beide waren die besten Mittel zur gänzlichen Unterdrückung der Wahrheit und jeder vaterländischen und freisinnigen Regung. Die geheime Polizei verbreitete Furcht und Schrecken in allen Kreisen der Gesellschaft und brachte jene trübe Stimmung hervor, die sich auch im Jahre 1819 bei den Demagogenuntersuchungen ebenfalls aller Gemüther bemächtigte. Doch blieb es nicht bei dem geistigen Drucke und der geistigen Bevormundung. Die Continentalsperre hemmte allen Handel und Verkehr und vertheuerte eine Menge Lebensbedürfnisse, an die man sich in unseren Gegenden seit mehr als hundert Jahren gewöhnt hatte. Alles das traf jedoch mehr die Gebildeten, Wohlhabenden und Vornehmen. Zwei Dinge aber erstreckten sich über das ganze Volk: die unbarmherzige Conscription und die fast unerschwinglichen Abgaben. Wer die althannoversche Soldatenaushebung kannte, mußte das jetzige Conscriptionssystem grausam finden, und es war es auch, nur wenige Fälle konnten davon befreien. Mein Vater half auch hier wo er nur helfen konnte; er hat mancher Familie ihre Stütze, mancher kranken Mutter ihren einzigen Trost auf Erden gerettet. Aber oft reichte auch seine Fürsprache nicht aus und nebenbei mußte er noch die ärgsten Vorwürfe des Unterpräfecten sich gefallen lassen. Ebenso drückend waren die Abgaben. Gegen ihre Vertheilung wäre weniger einzuwenden gewesen, aber sie waren zu hoch und zu mannigfaltig und wurden mit unerbittlicher Strenge eingetrieben.
Das waren die Hauptschattenseiten der westfälischen Regierung, und darum glaubte man, es müsse als Wohlthat betrachtet werden, wenn man dem Volke, als es wieder hannoverisch geworden, alles Alte, was es einst hatte, so schnell als möglich wiedergäbe. Und das geschah. So wurde denn von der neuen Junker- und Zopfregierung vieles Gute beseitigt, was alle vernünftigen Vaterlandsfreunde für heilsam und nothwendig hielten und halten.
Das junge Königreich Westfalen hatte Gleichheit vor dem [24] Gesetz, mündliches und öffentliches Gerichtsverfahren, Schwurgerichte, allgemeine Conscriptions- und Steuerpflichtigkeit, freie Ausübung des Gottesdienstes der verschiedenen Religionsgesellschaften, gleiche Berechtigung zu öffentlichen Aemtern, Trennung der Justiz und Verwaltung, undhatte – keine Hörigkeit, keine Frohnden und Zehnten, keine Privilegien und keinen Adel. Bürger und Bauern hatten das Schlechte schnell kennen gelernt, aber das Gute noch viel schneller. Sie wußten, daß sie sich überall einer anständigen Begegnung von Seiten der Behörden zu versehen hatten, daß ihre Klagen und Beschwerden gehört werden mußten, daß ihre Prozesse schnell und billig entschieden wurden, daß sie mit einem weiland bevorrechteten Stande in gleichen Rechten und Verpflichtungen standen. So lernten sie allmählich ihre Würde als Menschen fühlen und ihre Stellung als Staatsbürger begreifen. Die hannoversche Junker- und Beamtenherrschaft war verschwunden mitsamt ihren langstieligen, groben, halblateinischen und eben deshalb unverständlichen Erlassen, ihren Bütteln und Hundelöchern, ihren Schandpfählen, Folterkammern, Galgen und Rad. In den amtlichen Schreiben gab es keine Abstufungen vom Edelgeborenen Schneider und Schuster bis zum Hochgeborenen Grafen. Alles wurde mit ›mein Herr‹ abgemacht.
Seit dem Beginne des Jahres 1811 schien die Umgestaltung der Dinge bei uns immer festeren Fuß zu fassen. Trotzdem war kein rechter Glaube daran im Volke. Als der große prachtvolle Comet im Frühjahr sich blicken ließ, da war mancher erfüllt von Angst und Schrecken und prophezeihte einen blutigen gräuelvollen Krieg, dem der Umsturz alles Bestehenden folgte. Wir Kinder freuten uns jeden Abend an seinem herrlichen Glanzlicht und sahen in ihm mehr den Verkünder eines warmen Sommers, der uns lange heitere Tage für unsere Spiele brächte.
Im Sommer fühlte mein Vater eine unaussprechliche Sehnsucht nach seinem jüngsten Bruder, seit 1807 Pfarrer zu Mühlhausen im Waldeckschen. Die beiden Brüder hatten sich seit 15 Jahren nicht gesehen. Mein Vater beschloß eine Reise dahin, woran meine Mutter, meine älteste Schwester und ich theilnahmen. Ich freute mich gar sehr darauf und zeichnete mir eine Landkarte mit allen den Orten, die wir berühren mußten. Wir reisten mit eigenem Wagen und Pferden. In Göttingen erkrankte unser eine Pferd und starb. [25] Wir wurden dadurch einige Tage aufgehalten und sahen den botanischen Garten, die Bibliothek, das Museum u. dergl. Die Bibliothek war eben damals durch den historischen Saal, den ganzen oberen Raum einer alten Kirche erweitert. Solche Menge Bücher hatte ich noch nie gesehen. In einem Saale hing das lebensgroße Bild des Königs von Westfalen. Noch anziehender war für mich eine Sitzung des Tribunalgerichts. Hier sah ich zuerst das öffentliche und mündliche Verfahren.
In Cassel fanden wir viel Leben und alles was eine Stadt zur Residenz macht: Lakaien, Beamte und Soldaten. Den letzteren schenkte ich besondere Aufmerksamkeit; sie waren nach meiner Ansicht die schönsten die man bis dahin gesehen hatte: geschmackvoll und zweckmäßig gekleidet, vortrefflich eingeübt, und leicht, frisch und munter in ihren Bewegungen. Ich stahl mich weg von Vater und Mutter und trieb mich stundenlang auf den öffentlichen Plätzen umher, wo es immer etwas zu sehen und zu hören gab. So lustig die Musik klang, so schrecklich tönte das Kettengeklirre der Gefangenen, welche die Straßen reinigen mußten; es waren viele politische Verbrecher darunter, die erst zwei Jahre später ihre Erlösung fanden. Nach einigen Tagen verließen wir Cassel.
Eines Morgens in aller Frühe trafen wir in Mühlhausen ein. Mein Vater hatte sich seinen Amtshut tief ins Gesicht gedrückt. Der Oheim kam an den Wagen, sehr verlegen, er glaubte, ein französischer Commissär wolle Conscribierte holen. ›Kennst Du mich nicht, August?‹ rief die Mutter. Es war eine rührende Ueberraschung. Wir blieben mehrere Tage bei dem guten Oheim, der nun seinerseits Alles aufbot, uns für den weiten Weg zu belohnen. Eines Tages besuchten wir das Arolser Schloß. Als wir schon die innere Treppe hinaufgegangen waren, kam unten der Fürst vorbei. Mein Oheim eilte die letzten Stufen wieder hinab und stellte die Mutter vor. Vater und ich blieben oben. Ich war gar nicht weiter bewegt von dieser hohen Bewillkommnung. Ich fragte meinen Oheim: ›Wie groß ist denn das waldecksche Land?‹ ›Dreiundzwanzig Quadratmeilen‹, war die Antwort. ›Nun, meinte ich, da lohnt es sich ja gar nicht einmal ein Fürst zu sein.‹ Diese unüberlegte Äußerung wurde mir nie verziehen.
Auf dem Rückwege hatten wir in Cassel einen unangenehmen Auftritt. Meiner Mutter wareu zu Haus viele Briefe an Soldaten [26] von ihren armen Eltern und Verwandten eingehändigt worden. Jetzt wußte sie nicht, was damit machen. Der Vater saß in der Gaststube am Tische neben einem unbekannten Manne, der sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen. Die Mutter überreichte dem Vater die Briefe. ›Ach, sagte dieser, was geht's mich an!‹ und warf das ganze Paket auf den Tisch. Sofort nahm der Fremde sie in Beschlag ›Halt! mein Herr, was soll das?‹ entgegnete mein Vater. Jener aber bemerkte, daß er ein Recht darauf habe, holte ein Papier aus der Tasche und rechtfertigte sich: der Mann gehörte zur geheimen Polizei. Beide gingen zum Minister des Innern, und ich glaube, die Folge davon war, daß auch späterhin die Mitnahme von dergleichen Briefen nicht mehr verpönt war. Die Geschichte hatte einen so bösen Eindruck auf mich gemacht, daß ich von dieser Zeit an einen unauslöschlichen Haß gegen jede geheime Polizei behalten habe. Mein Vater war auch in seiner Stellung verdammt, eine gewisse geheime Polizei auszuüben, aber daß er dadurch jemanden in Unannehmlichkeiten oder gar ins Unglück hätte bringen können, gehörte nach meiner Ansicht zu den Unmöglichkeiten.
Nach meiner Rückkehr besuchte ich wieder die Bürgerschule, welcher seit 1809 der Rector F. zum Berge, mein nachheriger Schwager und später Schwiegervater, vorstand. Es wurde wenig gelernt, weil nur wenig gelehrt werden konnte: Religion nach dem hannoverschen Katechismus, biblische und Reformationsgeschichte, etwas Erdkunde – an der Wand hingen auf Pappe geklebt die beiden Halbkugeln der Erde –, Auswendiglernen von Gesangbuchversen, Bibelstellen und Gedichten zum Declamieren, Rechnen und Schreiben. Viele Eltern meinten, das genüge auch, da ja doch jeder Soldat werden müsse und zu einem Staatsamte keine gelehrte Bildung, höchstens nur noch Französisch erforderlich sei. Mein Vater dachte nicht so, er wünschte daß ich viel lernte und ließ mir durch den Rector Privatstunden geben. Das Französische, welches ich schon früher begonnen, setzte ich fort und das Lateinische fing ich mit großem Eifer an. In letzterem konnte ich es aber nicht weit mehr bringen, ich hatte bis zu meinem Abgange nur 40 Stunden darin gehabt.
Ich war in diesem halben Jahre recht fleißig: ich lernte den ganzen hannoverschen Katechismus mit allen seinen Bibelstellen und Gesangbuchversen auswendig, las viel in der Bibel, schrieb viel [27] Gedichte ab, um sie öffentlich herzusagen. Außer den Schulstunden besuchte ich regelmäßig den Confirmandenunterricht. Am grünen Donnerstage (26. März) wurde ich confirmiert. Es war mir zu Muthe als ob ich ein ganzes Leben abgeschlossen hätte und ein neues beginnen müßte. Am Nachmittage spazierten wir Confirmanden zusammen ins Freie und nahmen dann Abschied von einander. Die meisten sahen sich im Leben nie wieder.
Am 7. April geleitete mich mein Bruder nach Helmstedt. Herr Hofrath Wiedeburg empfing uns sehr freundlich, wir speisten bei ihm zu Mittag und nachdem Wohnung und Kost für mich ausgemacht war, reiste mein Bruder wieder heim. Die erste Zeit war für mich eine sehr traurige: gleich nach der Abreise meines Bruders bekam ich ein heftiges Heimweh. Daneben wirkte sehr niederschlagend, daß ich, der größte von allen und auch einer der ältesten, in der untersten Classe als der dritte von unten zu sitzen kam.
Der Hofrath war ein sehr guter und gelehrter Mann, ein braver Hausvater, aber ein schwacher Director, der bei dem besten Willen weder in Bezug auf Lehrer noch auf Schüler das durchzusetzen vermochte was eigentlich zum Gedeihen der Anstalt nothwendig war. Die Stunden fielen oft aus oder wurden mit anderen Lehrgegenständen ausgefüllt, auch war nicht immer die rechte Gründlichkeit im Unterrichtertheilen noch die gehörige Aufsicht über die Schüler vorhanden. Wer übrigens lernen wollte, hatte Gelegenheit genug und fand auch bei einigen Lehrern Ermunterung, guten Rath und Nachhülfe.
Wir Kostgänger konnten uns über Zwang durchaus nicht beklagen. Der Hofrath hatte keine Zeit, sich viel um uns zu bekümmern, und hätte er auch eine stete strenge Aufsicht führen wollen, er würde nur selten erfolgreich gewirkt haben. Sein Äußeres war durchaus nicht dazu angethan, sich Ansehn zu verschaffen und Liebe und Gehorsam zu gewinnen; schon die Vernachlässigung in seinem Anzuge konnte einen abschrecken, sein unbeholfenes Wesen erregte mitunter bei uns ein verstohlenes Lachen. Er sah aus wie ein Mann, der mehr in der Stube unter Büchern als im lebendigen Verkehre mit allerlei Menschen gelebt hatte, ohne Lebensfrische, ohne Fähigkeit, die Wünsche und Bedürfnisse der Jugend zu erkennen und zum Guten zu leiten.
[28] Das Essen ließ viel zu wünschen übrig; wir konnten wol darüber klagen, während sich über unser Zuspätkommen und unsern Appetit nie klagen ließ. Die in allen Pensionaten vorkommenden Geschichten fehlten auch bei uns nicht: hatte man zu viel Brot, so bat man sich noch etwas Butter aus; behielt man dann von dieser Butter etwas übrig, so bat man wieder um etwas Brot. Wir gehörten noch ehe die Mäßigkeitsvereine aufkamen schon zu denselben, den Magen haben wir uns so viel ich mich erinnere nie verdorben. Nach und nach hatte ich mich an die Menschen, an die Schule und ihre Arbeiten, an Essen und Trinken und Alles gewöhnt.
Von den Lehrern lernte ich zunächst nur den Dr. Justus Wolff kennen. Er ward mein Liebling und blieb es auch. Er stand in der Blüthe seines Lebens, erst 23 Jahre alt, mehr noch Jüngling als Mann, von schlankem, eher zartem als kräftigem Körperbau, ein Gesicht mit lebhaften Augen und freundlichem, zutrauenerweckendem Ausdruck unter einem reichen Lockenschmucke, lebendig in seinem ganzen Wesen, dabei immer nett und geschmackvoll in seinem Anzuge, eine liebliche, einnehmende Erscheinung, die mehr an einen fein gebildeten Hofmann erinnerte als an einen Schulmeister der letzten Classe eines Pädagogiums. Er war als Lehrer streng, entschieden, rücksichtslos, mitunter leidenschaftlich erregt, und wußte mit seiner wunderbaren Sprachgewandtheit, gehoben durch ein liebliches Organ, uns in seinen Geschichtsvorträgen zu begeistern und selbst die trockensten Dinge, die grammatische Formenlehre uns genießbar zu machen. Wie er vom Ehrgeize, sich auszuzeichnen, beseelt, wurden auch wir es, ich wenigstens. Ich war so fleißig, daß ich bald meine Mitschüler überholte: nach der ersten Versetzung wurde ich der dritte in Tertia, nach der darauf folgenden schon der erste, und nach einem halben Jahre wurde ich nach Secunda versetzt.
In dieser Zeit erwachte zuerst der Drang mich poetisch auszusprechen. Im November 1827 versuchte ich, der Zwecklosen Gesellschaft in Breslau darzustellen: ›Wie ich ein Dichter ward‹. Ich stand damals jener Zeit um 34 Jahre näher als heute, und darum will ich aus meinem damaligen Vortrage hier Einiges einschieben.
Der Sinn für Poesie zeigt sich bei einzelnen Menschen wie bei allen Völkern schon in der dunkelsten Kindheit; er ist wie jeder Sinn für das Schöne ein rein ursprünglicher, er kann eben so gut [29] geweckt, belebt und ausgebildet werden als gehemmt, unterdrückt und vertilgt. Da ich aber nur von diesem Sinne hier rede, insofern er selbst schafft, so mag es genügen, aus meinem Jugendleben zu erzählen, damit sich jeder, wie ich es selber muß, erkläre, wie sich dies eigne Schaffen zum Empfangen verhalte, weil doch einmal das erste durch dies letzte nicht allein bedingt wird, sondern genau damit verwachsen ist, wie Ursache mit Wirkung.
Bei den Griechen war die Erinnerung (Mnemosyne) die Mutter der Musen, bei mir ward es die Sehnsucht. Am 7. April 1812 reiste ich in Begleitung meines Bruders nach Helmstedt. So lange mein Bruder auf dem Wagen neben mir saß, so lange er in Helmstedt sich aufhielt, so lange ich ihn sah, ihn hörte, schien ich noch Alles zu haben was ich hatte, Eltern, Geschwister, Jugendfreunde, Heimat und Alles; wie er aber an der Nordseite Helmstedts Abschied von mir nahm und dann der Wagen allmählich aus meinen Blicken entschwand – da schreckte ich auf, bebte und weinte bitterlich, und es war mir, als ob das Liebste in der Welt, was ich vor einigen Tagen verloren hatte, jetzt auf einmal in einem Sarge niedergesenkt würde und ich stände da und hörte den ersten dumpfen Schaufelwurf, womit der Todtengräber den Sarg zu verscharren beginnt.
Wie die Wehmuth selbst, bang und schüchtern kehrte ich in meine Wohnung zurück. Bei jeder Frage an mich, welche die Neugierde so gerne thut, konnte ich nur mit Thränen antworten. Mein Zustand verschlimmerte sich von Tage zu Tage, mein Heimweh schien unheilbar zu werden. Ja, der Anblick eines Bauernhutes und Rockes aus unserer Gegend stimmte mich zum Weinen. Sobald mir aber die fremden Gesichter heimischer wurden, sobald sich von Seiten meiner Lehrer so viel Liebe und Wohlwollen zeigte, und die Regelmäßigkeit des Schulunterrichts mich zu einer regelmäßigen Arbeit auf meinem Zimmer und zu körperlicher Zerstreuung nöthigte, da verwandelte sich mein Heimweh in Wehmuth und Sehnsucht, ich suchte das Verlorene überall; aber kein Frühling mit seinen Blüthenbäumen, seinen Nachtigallen, kein Lehrer mit seiner Theilnahme, kein Freund mit seiner Tröstung konnte es mir wiedergeben. Einsam irrte ich gern auf den öden Sandhügeln, die an der nördlichen Seite Helmstedts sich bis an die hannoversche Grenze erstrecken, weil ich doch da etwas näher meiner Heimat war; und wenn ich mich genug an den Heideblumen [30] gefreut und dem Zuge der Wolken nachgesehen hatte, kehrte ich wehmüthig zurück. Eines Tages aber war mein Herz so voll Erinnerung, so wunderlich bewegt, und als ich nun einen Raben vor mir auffliegen sah an einer grün bewachsenen Stelle, wo Reisig zu Wellen (Wasen) gebunden lag, da fand ich die Wünschelruthe, auf deren Schlag jedesmal die goldene Jugendzeit mit allen ihren Zaubern sich mir offenbaren sollte. Diese Wünschelruthe war die Dichtung. Ich fing an zu reimen:
Mit einer unaussprechlichen Freude kehrte ich zu rück, schrieb mein Verslein auf, und obschon ich keine Idee von Länge und Kürze hatte, fügte ich doch die bekannten Zeichen dafür hinzu. Jetzt aber fragte ich den Hofrath Wiedeburg, was denn eigentlich im Deutschen lang und kurz sei? Statt aller Antwort gab er mir Vossens Zeitmessung, und damit gut. Ich blieb dabei so klug wie zuvor, denn das Buch war mir viel zu hoch. Ich gestand offenherzig, ich könne mich nicht darein finden, und der Herr Hofrath fand das ganz natürlich, ging in seine Bibliothek und brachte mir Moritzens Prosodie und einige ältere Versuche, das Rhythmische der deutschen Sprache auf bestimmte Regeln zurückzuführen. Nun, ich lernte wol Manches, jedoch nie was ich eigentlich wollte, nie eine Regel, wonach ich sicher gehen konnte. Moritzens ganze Art, Länge und Kürze einzig durch den Werth der Redetheile und ihre jedesmalige Stellung zu bestimmen, schien mir viel zu schwankend und verwirrte mich immer, wenn ich etwas herausgefühlt zu haben glaubte. Während ich so mich in der Theorie umsah und beinahe aufgegeben, je darüber ins Klare zu kommen, boten sich mir neue Reime dar, eben so ungerufen wie die ersten:
Wenn ich mir das so ansah, so schien es mir richtig, wenn ich aber las, so kam immer statt Vōn dĕm dĕr Alles zum Vorschein: [31] Von dém der Alles, so wie in dem früheren Versuche: Eĭn lōckĭgtĕr schöner Knabe. – Es wollte also immer noch nicht gehen. Da gerieth ich endlich auf den Gedanken, ob sich die Quantität nicht aus den darin musterhaften Dichtern lernen ließe. Der Hofrath Wiedeburg gab mir nun den Salis. Das war eine Freude für mich! So ein einzelner Dichter war noch nie der Gegenstand meiner Muße gewesen. Ich las mit wahrer Andacht und las langsam, wol ein Vierteljahr hindurch nichts als Salis; ehe ich ein neues anfing, kehrte ich gern zu den alten liebgewordenen zurück. Salis war zu sehr mein eigenes Selbst geworden, als daß ich an ein Darstellen meiner Leiden und Freuden gedacht hätte. So wie ich aber mit dem Technischen minder zu kämpfen hatte, stellte sich der Trieb zu dichten stärker ein als je vorher. Eine Streitigkeit unter meinen Mitschülern, wobei ich Antheil nahm, wurde Veranlassung, auch poetisch mein Bedauern auszudrücken:
Zank und Frieden als Eris und Concordia anzubringen, machte mir vielen Spaß, noch mehr aber dasWollt' einst, wobei ich zum ersten Male die Elision und noch dazu richtig angewendet hatte.
Bald aber mißfiel mir das ganze Ding. Es ist doch nichts weiter, sprach ich zu mir selbst, als etwas mit Reimen versehen, was sich in Prosa eben so gut sagen läßt. Könnte ich doch einmal ein ganzes Gedicht und ein wirkliches zu Stande bringen! Das ward nun mein nächster, mein einziger Wunsch. Aber der Sommer ging vorüber, ohne ihn erfüllt zu sehen. –
Um diese Zeit zogen mehrere französische Regimenter nach Polen und Ostpreußen der russischen Grenze zu. Wir hatten viele Durchmärsche. Ende Juni erfuhren wir Napoleons Kriegserklärung gegen Rußland und die russische Gegenerklärung. Bei Tische wurde oft über die neuesten Zeitereignisse gesprochen. Wir lasen die Kriegsberichte der Augsburger Allgemeinen Zeitung und standen in dem Wahne, daß die Franzosen siegreich fortschritten. Die Napoleonschen Berichte lauteten bisher nur günstig.
[32] Der Winter hatte sich dies Jahr ungewöhnlich früh eingestellt, die Kälte hatte bald einen hohen Grad erreicht und hemmte allen Verkehr. Die Wege waren zum Theil durch Schneefall unfahrbar geworden. Trotzdem bat ich meine Eltern, mich holen zu lassen, ich wollte gar zu gerne die Ferien bei und mit ihnen zubringen. Da kam denn eines Tages unser Wagen. Den andern Morgen legte ich mich auf den Wagen in das Stroh, dicht eingepackt in Mäntel und Fußsack und fuhr hinüber wie ein Lebendigbegrabener, von dem nur etwas Gesicht zu sehen war. Nach einigen Stunden hatte ich die gefährliche Winterreise glücklich vollendet.
Am zweiten Weihnachtstage war großer Ball in unserm Hause. Gegen Abend war eben der westfälische Moniteur angekommen, niemand kümmerte sich um ihn. Er lag vor mir auf dem Tische noch zusammengefaltet, ich las. Ueber mir rauschte die Musik, die ganze Gesellschaft war im lustigsten Tanzen. Da las ich Napoleons 29. Bülletin vom 3. December. Ich eilte hinauf in den Saal und verkündete die große Botschaft. Alles ward mit Angst und Entsetzen erfüllt, das Unglück war zu schrecklich, als daß man sich bei uns hätte freuen können. Beklommen fragte man sich: ›Was mag aus unseren Leuten geworden sein! Die armen Westfalen! Die sind gewiß auch alle verloren!‹ – Doch bald erholte man sich von der Trauerbotschaft, griff das Freudige auf was für uns in diesem Ereignisse lag, jubelte dann über die Niederlage der Franzosen und tanzte lustig weiter bis an den lichten Morgen. Es war des Jammers und Elends so viel in der Welt, daß man jede Gelegenheit zur Fröhlichkeit festhielt.
Nachdem ich meine vierzehntägigen Ferien daheim sehr angenehm zugebracht hatte, kehrte ich nach Helmstedt zurück. Den 4. Januar begann die Schule. Den folgenden Tag wurde ich der Erste in Secunda. Hauptlehrer dieser Classe war Dr. Bollmann, ein Mann von gediegenem Wissen, streng und gründlich im Unterrichten, meist ernst, mitunter verdrießlich, von nicht eben einnehmendem Wesen. So dankbar wir uns fühlten für die Erfolge seines Unterrichts und so groß die Achtung für seine Tüchtigkeit war, so fühlten wir uns doch nicht recht hingezogen und sein scharfer Tadel wirkte niederschlagend und erbitternd, unsere Liebe war wie jener Jude meinte mehr eine Liebe aus Furcht als eine Liebe aus Liebe.
[33] Mit dem neuen Jahre fing ich an ein Tagebuch zu führen. Ich zeichnete jeden Tag ein was mir merkwürdig schien. Die meisten dieser Aufzeichnungen sind ganz kurz, sie betreffen mein Verhältniß zu Lehrern und Schülern, erwähnen die Tagesereignisse, und oft auch meine augenblicklichen, oft traurigen Stimmungen.
Meinem Vater hatte ich versprochen, alle Neuigkeiten von Bedeutung zu melden. So meldete ich denn schon den 19. Januar die Nachricht der Berliner Zeitungen, daß die Russen in Königsberg eingerückt seien. Am 28. Januar lag ein westfälischer Officier bei uns im Quartiere, der eben aus Rußland zurückgekehrt war, der erzählte uns furchtbare Geschichten vom Kriegsschauplatze. Den 6. März kamen die ersten französischen Cohorten durch Helmstedt, 4 Bataillone.
Den 14. April ließen mich meine Eltern nach Haus holen. Schon unterweges begegneten mir französische Vorposten. Im Orte traf ich 400 reitende Jäger vom Davoustschen Corps, das in Gifhorn sein Hauptquartier hatte. So mitten im Kriege war ich noch nie gewesen. Tag und Nacht war Alles auf den Beinen, die Pferde standen gesattelt und aufgezäumt, Wachtfeuer loderten hell empor, Vorposten waren nach allen Seiten ausgestellt. Hinter der Aller schwärmten die Kosacken. Am Charfreitage konnte kein Gottesdienst gehalten werden. Auf dem Amthofe trieben die Soldaten, gleichsam um das Gefühl der Gefahr nicht aufkommen zu lassen, allerlei Possenspiel, vermummten sich und hielten einen Mummenschanz. Aus Versehen wurde einer erschossen. Erst am Samstag vor Ostern (17. April) wurden wir von den sehr unwillkommenen Gästen erlöst. Davoust stand noch immer in Gifhorn. Mein Bruder war dort auf Befehl des Präfecten Oberaufseher der Lieferungen und Magazine. Mein Vater wollte nichts liefern und bekam mehrmals von seinem Sohne Execution. Eines Mittags sprengten zwei Jäger mit gespannten Carabinern durch die Straßen. Als sie keinen Feind gewahrten, eilten sie zurück. Es kam nun eine Schaar von etwa zwanzig Mann. Schnell mußte Brot und Vieh geliefert werden. Die Soldaten speisten unterdessen auf offener Straße. Über aufrecht stehende Tonnen wurden Bretter gelegt, der Tisch war fertig und die Malzeit folgte schnell hinterdrein. Gesättigt und befriedigt zogen sie ab mit ihren erpreßten Lebensmitteln. Das war der letzte Besuch der Franzosen. Das Hauptcorps brach endlich auf und schlug sich nach Hamburg.
[34] Anfang Mai wurde ein Tedeum befohlen für den Sieg der Franzosen bei Lützen, obschon sich keiner den Sieg eigentlich zuschreiben konnte. Wenn ein Tedeum in der Kirche begann, so liefen die Pfarrkinder hinaus, nur die Behörden blieben in Andacht zurück.
Am 11. Mai des Abends um 10 Uhr zeigten sich in meiner Heimat die ersten Kosacken, ein Pulk von 39 Mann. Der Hetman umarmte meinen Vater und küßte ihn, der Cantor aber, der immer nach dem Canton-Maire schrie, bekam Hiebe mit dem Kantschu: ›Nix Canton-Maire! Burgemeister!‹ Ich mußte mit dieser und ähnlichen Nachrichten sehr vorsichtig sein. Die Ausspäherei und Angeberei hatte in diesen letzten Zeiten der Franzosenherrschaft ihren Höhepunkt erreicht. Ich war schon einige Male von der Polizei zur Verantwortung gezogen worden.
Am 26. Mai sprengten drei preußische Husaren in Helmstedt hinein und holten sich die Kassen. Am 5. Juni begann der Waffenstillstand. Wir sahen dann und wann noch Franzosen: am 14. Juli zog das 2. französische Linienregiment durch. Am 24. Juli gingen vier meiner Mitschüler heimlich unter die preußischen Freiwilligen. Den 16. August nahm der Waffenstillstand ein Ende. Alles sah tröstlicher und hoffnungsreicher aus, nur nicht für die westfälischen Beamten: die meisten Canton-Maires wurden aufgehoben und fortgeschleppt; den Gensdarmen ging es noch schlimmer, sie hatten sich durch ihre Jagd auf die Conscribierten und andere Grausamkeiten zu verhaßt gemacht, und wurden jetzt oft sehr gemißhandelt. Die Fallersleber Brigade war versprengt, die einzelnen ließen sich dann und wann sehen, wurden aber bald wieder verjagt; sie hatten meinem Vater Rache geschworen und ich sehe es noch deutlich, wie dieser seine Doppelflinte lud und sich anschickte zur Vertheidigung gegen seine eigene Brigade.
Am 10. September zeigten sich in Fallersleben wieder Kosacken und Baschkiren, und am 25. erschien Marwitz mit seinen Landwehrreitern. Meine Mutter schickte sofort einen Eilboten an den Präfecten Reimann, der sich denn auch noch retten konnte. Von Fallersleben zogen sie weiter und rückten um 1 Uhr in Braunschweig ein.
Die Lage Magdeburgs wurde immer mißlicher. Wenn auch noch nicht eine Belagerung, so stand doch eine Einschließung baldigst bevor. Unter solchen Umständen hielt es meine Mutter für rathsam, ihren [35] Sohn daheim zu haben, der vom Präfekten des Okerdepartements dorthin geschickt war, um über die von demselben gestellten Schanzarbeiter die Aufsicht zu führen. Sie verabredete sich mit einem Unteraufseher und dieser mußte mit einem Wagen nach Magdeburg fahren und dann seinen Oberaufseher abholen. Der Mann richtete die Sache ganz verständig ein. Er ließ den Wagen außerhalb der Schußlinie halten und ging dann zu Fuß zu meinem Bruder. Beide thaten nun, als ob sie ihre Schanzarbeiter besuchen wollten und spazierten dann immer weiter, bis sie den Wagen erreichten, stiegen ein und fuhren ab. Ich war gerade um die Zeit in Fallersleben. Wie groß war unsere Freude, als wir uns wiedersahen! Im Juli des nächsten Jahres war mein Bruder braunschweigischer Commissär bei den Magazinen in Egeln und Meyendorf.
Am 28. September zog Czernitscheff in Cassel ein. Am 1. October erklärte er von dort aus das Königreich Westfalen für aufgelöst. Den 4. October reiste ich mit den Meinigen nach Braunschweig. Wir blieben einige Tage dort. Den 6. sahen wir den Einzug Czernitscheffs mit seinen Kosacken, ein ergötzlicher Anblick! Diese Gesichter, die sich alle glichen, und dann wieder diese unendliche Mannigfaltigkeit in der Kleidung! Auf mehreren Wagen wurden die erbeuteten Sachen fortgeschafft, auf einem saßen zwei Kosacken mit zwei zahmen Rehen, ein Bild des Friedens mitten im Kriege!
Seit dem 11. October war ich wieder in Helmstedt. Die Kunde von der großen Schlacht bei Leipzig (18. October) drang erst drei Tage später zu uns. Die Begeisterung war groß. Auch Steinhart mein Stubengenosse war unter die Freiwilligen gegangen. Ohne ein Wort über sein Vornehmen zu sagen hatte er gleich bei meiner Ankunft Abschied von mir genommen.
Den 26. October hatte Jérome Cassel für immer verlassen. Den 3. November hatten sich die alten hannoverschen Minister wieder eingefunden und am 6. nahm Olfermann für seinen Herzog das Herzogthum Braunschweig in Besitz. Den 21. December kam mein Bruder, um mich abzuholen. Den andern Tag in aller Frühe fuhren wir nach Braunschweig und sahen uns den Einzug des Herzogs an.
Unter diesen aufregenden und zerstreuenden Ereignissen blieb mir doch Zeit zum Lernen. Das Lateinische und Griechische trieb ich mit Lust und Eifer, nicht minder das Französische; der Haß gegen die[36] Franzosen hatte sich nur noch auf sie selbst beschränkt, ihre Sprache hielten wir für eine der drei Weltsprachen, die für den Völkerverkehr nothwendig geworden sei. Dr. Wolff verstand es, in den öffentlichen wie in den Privatstunden durch seine Lehrweise uns in den grammatischen Bau so angenehm und zugleich so gründlich einzuführen, daß mir die damalige Grundlage von nachhaltigem Vortheile geblieben ist.
Für Poesie blieb ich nach wie vor beseelt und thätig trotz allen Aufregungen, welche sich durch das Kriegsgetümmel wiederholten. Schon zu Anfange des Jahres hatte ich mir ein Buch angelegt, worein ich alle Gedichte schrieb welche mich am meisten ansprachen. Ich las dann fleißig Kleist, Matthisson, und zu Anfange des Frühlings Hölth in der Ausgabe von Voß. Nie ohne Thränen verweilte ich bei der Vorrede, diesem schönen, würdigen Denkmale, welches Voß seinem früh geschiedenen Jugendfreunde gesetzt.
Seitdem Dr. Wolff die Declamierübungen leitete, erhielt meine Liebe zur Poesie neue Nahrung. Zur Declamation wählte ich gewöhnlich Schillersche Balladen. Jeder neue Beifall, den mein Gedächtniß oder mein Vortrag erndteten, gewann mich wie für Schiller so überhaupt für Poesie. Ich las oft im Schiller, und obschon ich die vielen mythologischen Beziehungen und die vielen sentenzenartigen Aussprüche oft entweder gar nicht oder falsch verstand, so las ich ihn doch gern und mit vieler Aufmerksamkeit. Darauf mag sich denn auch wol beziehen was ich zum 22. Mai anmerkte: ›Die Lectüre deutscher Dichter wird mir immer angenehmer.‹ Gegen Ende des Jahres dichtete ich sehr fleißig. Den 29. November vollendete ich ein Lied auf den Ausgang des Herbstes, 8 Strophen, und am 4. December eine Elegie auf den Tod meiner jüngsten Schwester Dorothea, deren Bild mir immer gegenwärtig geblieben ist.
Nachdem ich das Neujahrsfest (1814) in gewohnter Weise mit den Meinigen gefeiert hatte, kehrte ich den 3. Januar schon nach Helmstedt zurück, mit anderen Gefühlen wie sonst, denn es war beschlossen worden, daß ich zu Ostern das Catharineum zu Braunschweig besuchen sollte.
Die Durchmärsche und Rüstungen dauerten fort, sonst erfuhren wir wenig vom Kriege außer dem welchen wir selbst führten: wir hatten uns Schneeschanzen gebaut und lieferten Schneeballschlachten auf dem Schulhofe, auf den Straßen und im Freien. Nebenbei war ich sehr fleißig und verfaßte manches Gedicht. Meine Mitschüler [37] nahmen großen Antheil an diesen meinen poetischen Bestrebungen: ich mußte ihnen von Zeit zu Zeit die Gedichte vorlesen, wozu ich mich nie verstanden hätte, wenn ich ihrer Theilnahme nicht gewiß gewesen wäre. S. bat mich sogar, einige dem Dr. Wolff vorlegen zu dürfen. Dieser und der Hofrath Wiedeburg billigten sehr, daß ich die Anlage zur Poesie ausbildete, besonders wenn ich meine Schularbeiten nicht darüber vernachlässigte; der Hofrath fand es sogar sehr löblich, daß ich die antiken Versmaße nachzuahmen unternahm. Aber schon am 10. März erfuhr ich, daß wenigstens Dr. Bollmann die Sache anders ansah: ich blieb im Griechischen der Erste, wurde aber bedroht, wenn ich noch ferner auf Nebenbeschäftigungen meine Zeit verwendete, 6 hinunter zu kommen. Ich schrieb in mein Tagebuch:›Musa mihi cordi est.‹
Zu meinem Geburtstage (2 April) reiste ich in die Heimat. Als die Abdankung Napoleons bekannt wurde, zeichnete ich mit einem Diamant auf eine Fensterscheibe in unserer Kinderstube ein Bild: in der Mitte Napoleon in zerlumpter Uniform mit seinem bekannten Hute, links der Gott der Zeit mit einer gewaltigen Sense und darunter folgende Verse:
Die Fensterscheibe hat sich viele Jahre erhalten, ist aber endlich, wie meine Nichte sagte, ›caput‹ gegangen. Mancher, der sie sah, hat über den Secundanerwitz gelacht.
Den 19. April reiste ich nach Helmstedt um Abschied zu nehmen. Ich meldete dem Herrn Hofrath meinen Abgang und überreichte ihm den Brief meines Vaters. Der Hofrath war sehr überrascht. Es waren für mich schwere Augenblicke. Ich packte meine Sachen zusammen und ging dann zum Dr. Bollmann. Nachdem ich beiden meinen Dank ausgesprochen und von ihnen Abschied genommen, fuhr ich bis Neindorf und ging dann zu Fuß weiter. Abends um 9 kam ich zu Haus an.
Von meinen Helmstedter Mitschülern sah ich Carl Steinhart und Ernst Henke nach vielen Jahren öfter wieder, Steinhart ist Professor in Schulpforta, Henke Professor und Oberbibliothekar in Marburg.
[38] Den 24. April reiste ich nach Braunschweig. Den folgenden Tag ward ich vom Director des Catharineums geprüft, bestand und kam in die erste Classe. Nun begann für mich ein freieres, regeres und mannigfaltigeres Leben und es entwickelte sich immer mehr das was man Charakter zu nennen pflegt. Ich trieb mit großem Eifer Griechisch und Latein, und übersetzte aus letzterem ins Deutsche, z.B. die 2. Ekloge Virgils und einige Horazische Oden. Meine Poesie war bis jetzt ganz harmlos gewesen, wie schon die Überschriften der damaligen Gedichte andeuten: ›Mein Schäfchen. Lied eines Landmanns in der Fremde. Morgen und Abend. Die Melkerinnen, ein Idylle. Der Pilger.‹
Ich kam aber hier wie mitten in den Krieg hinein. Die Rüstungen wurden mit großem Eifer vom Herzoge betrieben und das kleine Land von 200,000 Einwohnern, welches nach den Frankfurter Beschlüssen vom 24. November 1813 nur 6000 Mann stellen sollte, hatte bald ein wohl ausgerüstetes Heer von 10,000 Mann mit einer reitenden und einer Fußbatterie.
Kein Wunder, daß auch unter solchen Rüstungen meine Poesie ihre bisherige harmlose Richtung einbüßte. Schon am 4. Mai schrieb ich in mein Tagebuch: ›Noch immer verstummt die Musa? Ja, auch noch immer war das Wetter schlecht.‹ Das schlechte Wetter waren aber eben die Zeitereignisse. Ich war für die kaum errungene deutsche Freiheit, wie man damals die Vertreibung der Franzosen nannte, mit Leib und Seele begeistert. Schon in Helmstedt hatte ich eine kleine Sammlung Körner'scher Lieder gelesen. Später erhielt ich von meinem Bruder Körner's Leier und Schwert geschenkt. Ich wußte bald die meisten Lieder auswendig. Ich blieb dadurch poetisch angeregt und fing auch bald an von Freiheit und Vaterland zu dichten.
Den nächsten Anlaß dazu gab das Friedensfest. Briefe von Haus kündigten mir nämlich an, daß im Königreich Hannover am 24. Juli das Friedensfest gefeiert werden sollte. Diese Nachricht stimmte mich so augenblicklich zum Dichten, daß ich während des sehr trockenen Vortrags des sehr ehrwürdigen Hofraths Helwig in der mathematischen Stunde ein Friedenslied zu Stande brachte nach der Melodie: ›Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher.‹ Am 12. Juli schickte ich dies Lied mit einigen Xenien nach Haus und harrte in wunderbarer Begierde der Antwort, wie es aufgenommen würde. Zwei Tage [39] nachher erfolgte ein lobender Brief meines Vaters und ich reiste bald darauf mit einer unaussprechlichen Freude nach Haus. Am 24. gab es viele ernste Feierlichkeiten, am 25. ging's um so lustiger her, da war Freischießen. Mit voller Musik zieht die junge Schützengilde hinaus. Es beginnt das Königsschießen. Der beste Schuß ist gethan und der neue König wird vor einem großen GR. gekrönt. Die junge Mannschaft lagert sich auf dem grünen Rasen und singt mein Lied: ›Herein, herein in unsers Kreises Runde!‹ Ich stand dabei: ob mir das Herz klopfte! So etwas hatte ich noch nicht im Leben erfahren. Und nun noch die Freude der Meinigen! – Damit dies denkwürdige Ereigniß unvergessen bliebe, besorgte mir einige Wochen später der Buchdrucker Meyer einige Abdrücke meines Liedes, die ich dann bis auf wenige nach Haus schickte, wo sie denn auch sofort vergriffen wurden.
Im Herbste machte ich eine Ferienreise zu meinen Verwandten im Hildesheimschen. Ich zeichnete mir Alles auf was ich hörte und sah – das war meine erste Reisebeschreibung.
Der 18. October ward zum ersten Male feierlich begangen. Ich ging in die Katharinenkirche. Der Pastor Ahlers predigte über 5. Buch Moses 4, 9: ›Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl, daß du nicht vergessest der Geschichte, die deine Augen gesehen haben und daß sie nicht aus deinem Herzen kommen alle dein Leben lang. Und sollt deinen Kindern und Kindeskindern kund thun den Tag.‹ Schon damals hatten viele vergessen, was denn eigentlich gefeiert ward, unmöglich doch der Sieg für die gänzliche Rückkehr in die alte gute Zeit? Ich sprach mich mit Ernst und Bitterkeit, mit Laune und Spott darüber aus, und fand eine gewisse Art von Patriotismus dumm, lächerlich und abgeschmackt. Mein Vater merkte die gefährliche Richtung meines Geistes und schrieb mir zu Ende des Jahrs (15. Dec. 1814) einen Brief mit der Anrede ›Angehender Hogarth‹ und ermahnte mich ganz ernstlich: ›Dann gewöhne Dir die Faseleien ab, denn in der That, ich möchte Dich künftig nicht gern in der Schaar der Satyriker sehen. Die Schwächen der Nebenmenschen aufzudecken – wozu man vor dem 50. Jahre nicht einmal in der Republik und im Contrat social Befugniß hat – ist kein Verdienst.‹
Die Weihnachtsferien waren vergnügt verlebt. Den 5. Januar 1815 traf ich wieder in Braunschweig ein. Den Mahnungen meines [40] Vaters nachzukommen hielt schwer, zumal jetzt wo Dr. Petri mit uns den Juvenal las. Eine Vergleichung der alten Römer in den Zeiten ihrer Entartung und Entsittlichung mit der Gegenwart las zu nahe und lockte mich, der ich die Satire meiden sollte, erst recht hinein. Dr. Petri wußte uns in das Verständniß des eben nicht leichten Satirendichters einzuführen durch Einleitungen über römische Sitten und Gebräuche und durch gründliche Sach- und Worterklärungen. Die große Schwierigkeit im richtigen Verstehen des lateinischen Textes reizte mich zu einer metrischen Uebersetzung, welche mich manche Stunde eben so sehr quälte wie ergötzte.
Zu den Osterferien reiste ich wieder zu meinen Eltern, diesmal über Adenbüttel und Isenbüttel. Erst am 15. März traf ich ein. Unterweges ritt ein Freund unseres Hauses, der eben von Braunschweig kam, an mir vorbei und rief mir zu: ›Napoleon ist in Frankreich gelandet.‹ Als ich in die Stube eintrete, finde ich Alles schon im lebhaftesten Gespräche. Der Amtmann schlägt die Hände hoch empor und ruft: ›Kinders! Kinders! Jetzt muß Alles mit! Alles, Alles mit! Du auch!‹ ›Ich, Herr Amtmann? Für die schöne Regierung werde ich meine Haut nicht zu Markte tragen.‹ – Ich meinte das in vollem Ernste, weil ich lieber gegen die inneren als äußeren Feinde kämpfen wollte.
Nach einigen Tagen ergriff auch mich der Freiheitskriegsschwindel, ich las viel in Körner und machte politische Sonette. Wie es kommen würde, ahndete ich jedoch in ruhigen Stunden und sprach es unverholen aus. In einem Sonette vom 27. März lautete der Schluß: ›Der Deutsche soll nun auch für Frankreich sterben? O möcht' er nicht um diese Krone werben, Er wird dereinst nur leeren Lohn ererben.‹ Bei allen meinen liebgewonnenen poetischen und classischen Studien suchte ich mich doch vor Einseitigkeit zu bewahren. Die Tagesereignisse hatten großes Interesse für mich, ich las alle Zeitungen, deren ich habhaft werden konnte, und beschäftigte mich gern mit Geschichte. So machte ich mir jetzt viele Auszüge aus dem alten Fallersleber Rathsbuche, die ich sogar später drucken lassen konnte.
Am 1. April befand ich mich wieder in Braunschweig. Sehr erfreulich war für mich, daß Dr. Wolff Lehrer am Catharineum [41] geworden war. Am 5. April begann er mit uns Übungen im deutschen Stil.
Obschon mein Vater vor einiger Zeit noch gesagt hatte: ›Ich will meine Hand von Dir abziehen, wenn Du nichts Rechtes lernst und wenn Du ferner dichtest‹, so war das doch nicht so böse gemeint. In der Mittheilung dieser väterlichen Worte an meinen Bruder fügte ich hinzu: ›Nun verhalte ich mich ganz mausestill, und esse in Hexametern und Jamben meinen Braten und mein Stück Kuchen.‹ – Ich dichtete nach wie vor, und dichtete jetzt Freiheitslieder in und außer der Schule. Es war unter uns ein reges, lustiges Leben. Vor Beginn der Stunde pflegten wir immer in vollem Chor ein Lied anzustimmen: ›Das Volk steht auf, der Sturm bricht los‹, oder ›Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?‹ Wir machten oft einen fürchterlichen Lärm, als ob die Welt unterginge, besonders bei dem Liede ›Als die Preußen marschierten vor Prag‹; dabei wurde immer aus Leibeskräften getrommelt und getrompetet. Das bewegte Leben der Gegenwart hatte auch uns Schüler gewaltig ergriffen. Alle Schlachtbeschreibungen der Griechen und Römer konnten das nicht bewirken, was oft eine kleine Zeitungsnachricht vermochte. Wir waren ausgelassener als jemals und sangen so recht aus voller Brust ›Ein freies Leben führen wir.‹ Ich ward so keck, daß ich eines Tages ein selbstverfaßtes Gedicht in der Classe declamierte. Es betraf die Gegenwart und schilderte Napoleons Wiedererscheinen als eine Strafe des Himmels dafür, daß die Fürsten mit der Erfüllung ihrer Verheißungen bisher gezögert hatten.
Am 2. Mai ging ich zum Buchdrucker Johann Heinrich Meyer und brachte ihm vier vor einiger Zeit verfaßte Lieder und fragte ihn, ob er geneigt sei, sie zu drucken. ›Sehr gern, erwiederte er, schade daß Sie nicht schon eher damit gekommen sind.‹ Er bestellte dann für seinen ›Calender auf das Schalt-Jahr nach Christi Geburt 1816‹ ein Einleitungsgedicht. Auch ich sage: ›Sehr gern etc.‹ und den anderen Tag ist es bereits vollendet und in seinen Händen.
Am 6. Mai sind meine Lieder gedruckt, ich bekomme 10 Exemplare ohne Titel, ich eile damit zu den Pfingstferien nach Haus. Ich und meine Lieder wurden freundlichst empfangen, diese beinahe noch freundlicher als ich. Meine Eltern waren hoch erfreut. Was aber muß ich sehen, als ich in einer Schublade nach etwas suche? [42] In mein Friedenslied vom vorigen Jahre hat meine liebe Schwester ihre Tanzschuhe eingewickelt. Nun, dachte ich, dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, und Dir, Dir geht es am Ende noch schlimmer, Dir wird auch bei Lebzeiten kein Kranz zu Theil. Diese bittere Erfahrung vergaß ich nie, und im Augenblicke konnte mich nichts darüber trösten, auch nicht einmal daß mein Oheim meine neuen Lieder componierte. So eine Verachtung, gleichsam ein Tadel ohne Gründe war mir etwas Fürchterliches, und ich hielt nun den Beifall des Augenblicks für nichts mehr als eine gute Laune, die auch einem ungezogenen Kinde zuweilen nicht ein böses Wort sagen mag. Ich wurde mißtrauisch gegen alles Lob. Es konnte mir durchaus nicht genügen, daß meine Lehrer nur Verstöße gegen die Prosodie hie und da fanden und tadelten, sonst aber Alles beifällig aufnahmen. Ich fühlte recht, was es heißt, in poetischen Angelegenheiten niemanden als sich selbst zu haben, sich selbst als einzigen und letzten Richter betrachten zu müssen. Das muß blind und taub machen.
Von meinen Mitschülern durfte ich erst gar nichts erwarten, sie standen mit mir auf derselben Sprosse der Kritik, nämlich auf der untersten. Wie gesagt, ich war taub und blind; denn als mir ein Freund auf der silbernen Hochzeit meines Vetters in Adenstedt meine Gedichte kritisierte, nahm ich das von der ganz unrechten Seite, wehrte mich mit Händen und Füßen, und am Ende, wenn mein Gegner sich bemühte gründlich zu sein, wurde ich grob.
Dennoch wirkte nach einigen Tagen auch der unbedeutendste Tadel vortrefflich. Hätte ich nur statt alles Lobes etwas mehr Tadel und noch dazu vielseitigeren erhalten! Meine getadelten kleinen Vergehen machten mich jetzt zu einem entschiedenen Liebhaber aller Prosodie, der deutschen, griechischen und lateinischen, ja, ich unterrichtete sogar in der letzten. Es lag mir recht daran, endlich damit ins Reine zu kommen, und ich muß gestehen, ich quälte mich im Lateinischen und Deutschen redlich. So übersetzte ich aus dem Juvenal und Virgils Eklogen metrisch ins Deutsche, den Anakreon aber zugleich metrisch ins Deutsche und Lateinische, und statt daß meine Mitschüler sich bei ihren Exercitien mit lateinischer Prosa begnügten, so hatte ich sie in Distichen oder Jamben oder Trochäen ausgearbeitet.
Meine vier Lieder erschienen ohne meinen Namen unter dem Titel: ›Deutsche Lieder von A.H.H. Vincet amor patriae, [43] laudumque inmensa cupido. Virg. Aen. VI. 824.‹ O.O. u. I. 5 Bl. 8°. – Die Begeisterung, in der sie verfaßt sind, verdient noch heute Anerkennung; sonst ist nichts Gutes daran. Übrigens zählte auch ich mich damals schon zu den Enttäuschten. Es schien mir jetzt nur noch bitterer Spott, was ich am Schlusse meines Friedensliedes (24. Juli 1814) ausgesprochen hatte:
Ja, es kamen ›jene alten Zeiten‹ – der hannoverschen Adels- und Beamtenherrschaft mit allen den alten Herrlichkeiten, die wir seit 1803 los geworden waren. Täglich trafen neue Nachrichten aus dem Hannoverschen ein, daß die Wiederherstellung des althannoverschen Wesens die glücklichsten Fortschritte mache. Um diese Zeit (Anf. Mais) faßte ich den Entschluß, Hannover für immer aufzugeben. Mein Bruder dachte ebenso, er war damals schon im Auslande, und ich schrieb ihm: 1 ›Cedamus patria! so sagt der Emigrant beim Juvenal. Auch wir wollen dem Vaterlande entfliehen!‹ Dann fügte ich ein Sonett hinzu:
Der Adel trat mit der größten Anmaßung wieder auf und suchte seine alten Vorrechte und Bevorzugungen auf alle Weise wieder geltend zu machen. Da thauten die alten längst verschollenen Klänge wie die eingefrorenen des Münchhausenschen Posthorns mit Einem Male wieder auf: Herr von, Herr Baron, Herr Graf, Ew. Gnaden, gnädige Frau, Hochgeboren, Hochwohl-, Hoch- u. Hochwohlgeboren u.s.w. Alle höheren Staatsstellen wurden mit Adelichen besetzt, in der Cavallerie gab es bald nur noch adeliche Officiere, die adelichen Amtmänner hießen Drosten, die adelichen reitenden Förster Forstmeister, die adelichen Förster trugen goldene, die bürgerlichen silberne Epaulettes, die Adelichen hatten ihre eigenen besseren Plätze im Theater, sogar in den Göttinger Hörsälen, und ihre Todten standen in den Hannoverschen Anzeigen unter der Abtheilung: ›Charcterisierte Personen‹. Das waren die wonnevollen Zeiten!
Am 21. Juni kam die Nachricht von dem Tode des Herzogs († 16. Juni). Niemand wollte es glauben. Da läuteten die Glocken und besätigten es. Ganz Braunschweig in Trauer. Unsere jungen Poeten dichteten Elegien. Auch ich entschloß mich dazu, aber erst den 30. Juni. Ich habe kaum je wieder ein so langes Gedicht gemacht: 16 Strophen. Mein Lehrer Dr. Wolff lobte es – unbegreiflich! Das einzige Gute daran ist der Höltysche Ton, offenbar schwebte mir vor die Elegie auf den Tod eines Landmädchens. Dreizehen Jahre später schrieb ich in Bezug auf diese meine Elegie: ›Gottlob, mein letztes politisches Gedicht, und wenn es zufällig noch am Sarge des Herzogs zu St. Blasii hangt, das einzige, welches der Welt zugänglich ist!‹!
So böse ich schon um diese Zeit auf meine Drucksachen war, so tröstete ich mich doch in ruhigen Augenblicken mit dem Vergnügen, das ich Anderen und eben dadurch auch mir bereitet hatte; und als endlich diese Elegie ganz von mir verdammt war, da freuete ich mich noch, daß sie zwei Menschen näher brachte, die für Freundschaft und Poesie gleiche Neigungen, gleiche Hoffnungen hegten. Dort auf dem öden Schulhofe, wo ich nie etwas Freudiges gesehen und gehört hatte, [45] wo ich mit der größten Gleichgültigkeit mehrmals jeden Tag hinüberging, dort, wie ein Wunder! sehe ich Henneberg; sich sehen, sich kennen war Eins.
Diese liebenswürdige Persönlichkeit, dies Geschick, sich in alle Menschen zu finden, niemals unbeholfen und schüchtern, so viel Weltklugheit und so jugendlich und unbefangen, so hervorleuchtend durch Kenntnisse und Talente, und doch so bescheiden in seinem Wissen, seinem Thun – ja, ich schwärmte und fühlte mich selig im bloßen Anschauen; du bist mein Ideal – sagte ich ihm mündlich und schriftlich, in Prosa und in Versen; Oden auf Oden folgten, Alles zur Verherrlichung unserer Freundschaft. Die Gegenwart bot mir so viel, daß ich gar nicht erst an die Zukunft zu denken brauchte.
Die vielen Stunden, die vielen Tage, wo wir beisammen waren, mit einander lasen oder sprachen, waren oft eben so viel Stunden und Tage zum wechselseitigen Verständnisse über das Wesen der Poesie, über Rhythmik, Reime, Assonanzen, über die verschiedenen Dichtungsarten, über die englische und deutsche Litteratur u.s.w. Schon in den ersten Tagen erhub sich ein arger Streit. ›Seit der Herzog todt ist, sagte mir der Buchdrucker Meyer, paßt Ihr Calender-Gedicht nicht mehr, Sie müssen den Schluß ändern und wenigstens den Tod des Herzogs darin anbringen.‹ Ich thue das. Aber ich habe nur für eine halbe Strophe Platz, denn darunter waren die Vier Jahreszeiten und die Sonnen- und Mondfinsternisse. Hier hieß es also sich kurz fassen, und so schloß ich denn:
Ich eile damit zu Henneberg. ›Das gefällt mir nicht!‹ entgegnet er mir, und ich werde stutzig: ›Lies es doch ordentlich!‹ hilft nichts, er bleibt dabei. Jetzt spricht sich jeder aus, und die Bahn zur Freimüthigkeit bei allen künftigen Mittheilungen ist gebrochen.
Von Michaelis 1815 an bis Weihnachten war Kosegarten mein Liebling. Ich hätte wol in dieser schwärmerischen Zeit, wo sich mein inneres Leben so mächtig entwickelte, keine unglücklichere Wahl treffen können. [46] Hundertstrophige Erzählungen, Romanzen, Balladen, Naturgemälde schrieb ich jetzt, und das war mir nur so ein Spaß. Ich hatte schon im Sommer ein viertes Heft meiner eigenen Werke angefangen und das war nun schon so dick wie die übrigen, und darin befanden sich noch nicht einmal die vielen Uebersetzungen aus dem Martial, Ausonius etc.
Die Stadt- und Landestrauer wurde bald durch Freude und Jubel unterbrochen: die Siegesberichte aus Frankreich folgten schnell nach einander. Viele Spottgedichte wurden damals öffentlich feil geboten und fanden reißenden Absatz. Ich hatte mir eine Sammlung solcher fliegender Blätter angelegt, die bald zu einem dicken Bande gedieh, der mir leider später durch vieles Verleihen verloren ging. Napoleon wurde abermals wie zu Ende des Jahres 13 todtgeschimpft, todtgedichtet, todtgesungen. Aus den Schimpfwörtern auf ihn hätte man ein ganzes Wörterbuch machen können. Ich hatte Napoleon gehaßt, aber die Anbeter und Vergötterer seiner Sieger wurden mir in ihrer Sicherheit verächtlich. Die Caricaturen waren oft nicht besser als diese gemeinen Spottlieder: man stellte den Mann, vor dem sich einst die Fürsten Europas gebeugt hatten, als Heckelträger, als Metzger u. dergl. dar, oder als Leiermann, der da singt: ›Es kann ja nicht immer so bleiben.‹ Auch gab es ein Bildniß Napoleons aus lauter Schlangen zusammengesetzt mit einem Spinnengewebe statt Sterns auf der Brust. Sein leicht zu treffendes Bildniß wurde in Gefäßen angebracht, deren Namen man in anständiger Gesellschaft nicht zu nennen wagt.
Am 2. August feierten wir Schüler das Geburtstagsfest unsers alten lieben Lehrers, des Directors Conrad Heusinger. Die Classe war schön ausgeschmückt und wir harrten seiner Ankunft in feierlicher Stimmung. Die Thür öffnet sich, er wird freudig begrüßt und ist sehr gerührt von der einfachen, aber herzlich gemeinten Ueberraschung. Lentz überreicht sein Gedicht, welches er im Auftrage aller verfaßt hat. Darauf treten Henneberg und ich heran und überreichen auch jeder ein Gedicht. Als ich ihm nachher noch einen Besuch abstattete, war er sehr gerührt und dankte mir abermals herzlich.
Mit diesem Tage endet mein Tagebuch.
[47] Der Ernst des Lebens bleibt nicht aus. Meine Eltern drangen in mich, daß ich mich jetzt für ein Brotstudium bestimmt erklären sollte; sie wünschten die Theologie, ließen mir aber freie Wahl. Da ich selbst die Nothwendigkeit eines solchen Entschlusses erkannte, so entschloß ich mich bald und wählte die Theologie. Dennoch kümmerte ich mich wenig darum, ob ich denn dazu gehörig vorbereitet sein würde, wenn ich schon zu Ostern Braunschweig verließe. Ich war und blieb dabei ganz unbefangen, hing meinen Lieblingsneigungen nach und dachte, in Göttingen wird sich Alles finden. Das Hebräische hatte ich noch nicht angefangen, und in den Originaltext des Neuen Testaments nur so gelegentlich hineingeblickt. Diese leichtsinnartige Unbekümmertheit lag in meinem freien Leben: wir thaten alle bis auf wenige was wir eben wollten, und wenn wir nur keine dummen Streiche verübten, die Schularbeiten gehörig einlieferten und in den Lehrstunden bestanden, so waren wir unantastbar und der alte ehrwürdige Heusinger sprach dann recht gerne von ›Meinen Primanern.‹ Leider aber überschritten wir auch mitunter den Kreis dieser verneinlichen Tugenden, und ich war ebenfalls mit dabei, wenn es darauf ankam, die Primanerfreiheit zu behaupten oder wo möglich zu erweitern.
Durch den Verkehr mit einigen Schülern meines Alters ward ich meiner poetischen Welt etwas entfremdet. Ihre Unterhaltung gefiel mir und ich gewöhnte mich leichter daran als an ihre Persönlichkeit; so nahe sie mir durch gleiche Ansichten über mancherlei Dinge standen, so blieben sie mir doch in Herzensangelegenheiten sehr fern. Was mir Henneberg geworden, konnten sie weder ahnden noch mir nachfühlen, wie hätten sie ihn mir ersetzen können? Dennoch raubten sie mir manche schöne Stunde, die ich mit ihm zubringen wollte, manchen Abend, wo ich für mich allein glücklicher gewesen wäre. Doch was thut nicht Gewohnheit? Allmählich hatte ich mich an meine Prosaiker gewöhnt und verkehrte fleißig mit ihnen. Nachmittags spazierten wir zuweilen zum Cafe hinaus, Abends saßen wir manchmal zu Biere. Konnten oder mochten wir nicht unter uns sein, wählten wir irgend ein Bierhaus, suchten uns einen guten Platz zum Hören und Sehen, und kannegießerten mit den guten Pfahlbürgern. Wenn wir ihnen dann ganz ernsthaft die unglaublichsten Geschichten erzählten und sie glaubten daran, so hatten wir unglaublichen [48] Spaß. Auch ich kam so in das Witzeln und Spötteln hinein, daß ich bei allem Beifall meiner Umgebung doch oft mir selbst unausstehlich wurde, denn meiner klaren Verstandesstimmung war oft nichts mehr heilig, selbst mein Hang zur Poesie erschien mir abgeschmackt und nur höchstens noch dazu passend, ihn als Gegenstand des Witzes zu verbrauchen. Meinen Lehrern konnte diese anscheinend gänzliche Umwandlung meines Wesens nicht entgehen, wenigstens dem alten Heusinger nicht, der sich noch am meisten um mich bekümmerte. Ich war der Kindheit entwachsen und der damit verbundenen Schüchternheit und fühlte mich, mehr als ich sollte. Kein Wunder, daß Heusinger, dessen Liebling ich beinahe zwei Jahre gewesen war, über meine jetzige Denk- und Sinnesweise ungehalten sein mußte; er fühlte zu seinem Bedauern sich veranlaßt, mich väterlich zu ermahnen, und als ich ein Abgangszeugniß verlangte, ging er so weit, mir schriftlich zu bescheinigen, daß ich ein anderer Mensch geworden sei. Für den Augenblick verdroß mich das sehr, ich wollte das Zeugniß auf der Stelle zerreißen, weil ich es ja doch nie gebrauchen konnte, bald aber erschien mir die Sache anders, ich legte es fein sauber gefaltet in meine Schublade und bewahre es noch jetzt als ein Heiligthum auf: es ist das einzige schriftliche und amtliche Zeugniß, welches meines Wissens auf meine Veranlassung über mich ausgestellt ward.
Freilich war ich ein anderer Mensch geworden! Ich hätte untergehen müssen in dieser einzigen ewigen Gefühlsrichtung, in dieser Phantasieschwelgerei, worin ich es verschmähte, mich und Alles um mich näher kennen zu lernen, um nur nicht meine Welt zu zerstören. Diese Schwäche junger Poeten hatte ich nun erkannt und suchte durch ein frisches männliches Streben nach Klarheit meiner bewußt zu werden und mich vor aller Gemüthsschwäche zu bewahren.
Schade, daß ich aus dieser Zeit nichts aufgezeichnet habe, ich würde die Worte: wo Bewußtsein ist, nur da kann Tugend sein – auf manchem Blatte finden. Aber schon daß ich kein Tagebuch führte, ist ein Beweis für die Regsamkeit meines Ichs und den Reichthum äußerer Erscheinungen.
Der Blick in die Zukunft machte mich jetzt ziemlich ernst: ich fühlte, daß ich durchaus weder Lust noch Talent genug haben möchte, den ganzen theologischen Glaubens- und Wissensschatz glücklich durchzumachen, und doch schwatzte ich mir viel vor von Muth und Beharrlichkeit. [49] So viel stand fest: die schönen Tage meines poetischen Lebens rückten immer ferner und schienen mir unwiederbringlich; an der Jacobsleiter meiner Wünsche und Hoffnungen kletterte ich nicht mehr hinauf, sondern herab. Die nächsten drei Stufen werden nun wol die Studentenjahre sein, dachte ich mir, wo du von einem theologischen Hörsaale in den anderen läufst; fünf oder mehr darauf folgende Stufen kannst du für die Jahre rechnen, wo du als Hauslehrer eines gnädigen Herrn in der Kinderstube schulmeistern, an seiner Tafel und an seinem Spieltische lückenbüßern mußt; noch einige Stufen bleiben dir dann, wo du als Candidat und wallfahrender Prediger um eine Pfarre und ein Weib werben mußt, und – dann ist es aus mit der Jacobsleiter, du bist glücklich auf der Erde angelangt, hast Pfarre, Weib und Kinder, und die Wünsche der Deinigen, wenn auch nicht deine sind erfüllt.
Noch ernster aber wurde ich bei der Besorgniß vor einer sehr drückenden Lage während meiner akademischen Laufbahn, die ich doch in Kurzem antreten sollte. Dort gab's andere, größere Bedürfnisse zu befriedigen als hier, und die größere Entfernung von der Heimat machte manche Unterstützung, wo nicht ganz unmöglich, doch sehr schwierig; auf baares Geld durfte ich wol vorläufig, aber doch nicht für die ganze Zeit meines Aufenthalts in Göttingen rechnen. Diese Besorgniß war leider begründet, da die Vermögensverhältnisse meiner Eltern sich nicht verbesserten.
Zu Frühlingsanfang verließ ich Braunschweig und begab mich an meinen Geburtsort. Nach einiger Zeit reiste ich dann zu Fuß mit meinem Jugendfreunde Ferdinand Hempel nach Göttingen, er wollte Forstwissenschaften, ich Theologie studieren. Sonntags 28. April trafen wir in Göttingen ein. Ich hatte nur gegen 20 Rb. Geld, aber einen Koffer unterwegs, beinahe zwei Centner schwer mit Büchern, Schriften und Wäsche. Den Tag darauf wurde ich unter Mitscherlich immatriculiert. Kaum Student geworden mußte ich schon Geld borgen. Schöne Aussichten! Das geborgte war bald wieder ausgegeben, und wenn ich auch von Zeit zu Zeit einige Louisd'or erhielt, so konnte ich doch am Ende weiter nichts als Schulden bezahlen und Schulden machen. Das war das erste Mal, wo ich die Prosa des Lebens recht tief und schmerzlich fühlte! Ich, und ohne Geld, ich, einst in der Fülle aller Güter, ohne ein Bedürfniß zu kennen, [50] ohne eine Sorge um den morgenden Tag zu ahnden, und jetzt ein Brotstudium und kaum einen Bissen Brot, ein Student, ein freier Mann und in der größten, widerlichsten Abhängigkeit!
Mein Vater hätte das alles wie ich auch fühlen müssen, aber er hatte so etwas nie erlebt. Meine Bitten, meine Klagen, mein ängstliches Flehen – ihn konnte es nie so rühren, wie ich es beabsichtigte, damit er meiner Noth abhülfe. Ihm war und blieb die Welt noch im Alter und bis an seinen Tod und zwar unter allen Verhältnissen gerade so wie er sie in seiner Jugend sich gedacht, sie geliebt und gehaßt hatte. Seine Briefe gehen selten auf den Gegenstand ein, über den ich mir Antwort erbat; es schien ihm viel zu unbedeutend, über Geld, Freitisch und sonst etwaige Unterstützung zu schreiben; alles andere, wenn es nur unmittelbar meine geistige Ausbildung betraf, besprach er mit Wohlgefallen, und er fiel auf das Fremdartigste, wenn er nur glaubte, daß er irgend auf mich und die Art meiner Studien wohlthätig wirken könnte.
Obschon er mir mündlich das Dichten abgerathen hatte, so schien es doch nicht so recht sein Ernst damit zu sein. Das zeigte sich bald. Der erste Brief, den ich nach Hause schickte, war so ringsum vollgeschrieben, daß ich ihn ohne Umschlag nicht füglich auf die Post geben konnte; die Stelle, wohin die Adresse gehört, blieb leer und ich schrieb ganz fein darüber: ›Diefe Stelle ist für eine Xenie.‹ Das war meinem Vater willkommen und er füllte sie mit folgenden Worten aus:
Ich hatte den Wunsch meines Vaters, nicht mehr zu dichten, nur zu wörtlich erfüllt. Wer weiß, ob ich jemals wieder darauf gekommen wäre, wenn mich nicht ein eigenes Mißgeschick wieder in poetische Studien geführt und so zum Poeten gemacht hätte.
Dies Mißgeschick war, daß meine drei theologischen Collegia, die ich von Ostern bis Michaelis 1816 hörte, mich der Theologie gänzlich [51] entfremdeten. Ich hörte beim alten Planck Kirchengeschichte und verstand kein Wort: der hochgelehrte ehrwürdige Herr hatte ein sehr schlechtes Organ und sprach noch dazu Alles schwäbisch aus. Ich blieb bald weg. Ich hörte bei Pott hebräische Grammatik, besaß aber gar keine Vorkenntnisse, schrieb ein schönes Heft und das war alles was ich dabei gewann, nicht einmal die Buchstaben weiß ich mehr. Ich hörte bei demselben die größeren Paulinischen Briefe, war sehr fleißig, aber fühlte mich durch die unwürdige Behandlnng eines so hohen Gegenstandes meines künftigen Berufes sehr verletzt. Nun kam noch dazu ein viertes Collegium, das mich ebenfalls nicht recht befriedigte. Ich hörte Logik bei Gottlob Ernst Schulze, dem weiland berühmten Gegner Kant's. Sein Vortrag war klar, aber fortwährend unterbrochen durch ein ›ä pä‹, und die trockene Logik wurde einem erst recht trocken.
Um mich für diese Collegienprosa schadlos zu halten, beschäftigte ich mich gern mit Philologie und deutscher Litteraturgeschichte und besuchte fleißig die Universitäts-Bibliothek, diese Bibliothek, die in mancher Beziehung so einzig in ihrer Art ist, die sich so auszeichnet durch ihren großen Reichthum, ihre musterhafte Ausstellung, ihre genügenden Kataloge, ihre vortreffliche Verwaltung, ihre gefälligen kenntnißreichen Beamten, die Bequemlichkeit ihrer Benutzung: wie angenehm, daß sie jeden Tag mehrere Stunden Jedem geöffnet ist, daß man sich in den großen Räumen niederlassen und ausbitten kann was man ansehen und nachschlagen will, und daß man nun noch eine genügende Anzahl Bücher zu wochenlanger Benutzung ins Haus erhält. Dieser freigebigen Göttinger Bibliothek verdanke ich wenn nicht mehr, doch eben so viel als der theueren Heftweisheit der Göttinger Professoren.
Das erste halbe Jahr war hin und ich fühlte mich gezwungen, mir einen eigenen Studienplan zu entwerfen, den ich auch eifrig verfolgen wollte, sobald ihn mein Oheim gutgeheißen hätte. Mein Oheim, immer noch Pfarrer H. zu Mühlhausen inl Waldeckschen, hatte mich seit dem Jahre 11 nicht gesehen, auch weiter nichts von mir gehört. Wie mußte es ihn überraschen, als er auf einmal einen Brief vom kleinen Heinrich bekommt, worin derselbe sich als Mitglied der Georgia Augusta ankündigt! Am 16. September erfolgte statt Antwort ein kurzes Einladungsschreiben, am 19. reiste ich zu Fuß ab, [52] mein Reisegefährte war der Studiosus Heiner, ein geborener Waldecker.
Zu einem reisenden Studenten gehörte damals vor allen Dingen ein ledernes Ränzelchen mit grünem Wachstuche überzogen, das auf dem Rücken getragen wurde und etwas Wäsche und ein Commersbuch enthielt. Ferner gehörte dazu ein leichter Rock, in der Seitentasche eine Brieftasche, gestickt von der Hand einer Schwester oder liebenswürdigen Freundin nebst Stammbuchblättern und getrockneten Blumen, Zeichen der Erinnerung an schöne Tage, ferner ein Pfeifenrohr von wohlriechendem Weichselholz mit einem Lemgower Meerschaum- oder Ulmer Holzkopf, eine geschenkte Geldbörse, die nirgend wohin man sie auch steckte Beschwerden verursachte, endlich ein Ziegenhainer von echtem Hörlitzholz (cornus) mit den eingeschnittenen Namen der Freunde. So ausgerüstet waren auch wir beide und zogen fröhlich und wohlgemuth ins Waldecker Land. Obschon wir nicht wie unsere Vorfahren, die weiland fahrenden Schüler ›heischen‹ (betteln) gingen, so versäumten wir doch nicht, hier und da die Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.
Am vierten Tage erreichte ich Mühlhausen. So groß die Freude des Wiedersehens, so groß war die Freude des Beisammenseins. Wir mochten sein wo wir wollten, zu Hause, im Felde oder auf Reisen, überall gab's Veranlassung uns gegenseitig auszusprechen. So oft ich von meiner Theologie begann, stimmte mein Oheim entschieden dagegen; seine Gründe waren meist immer dieselben, die auch ich mir selbst anführte, er fand aber in seinem Leben den allertriftigsten, und dessen Richtigkeit war mir so vollkommen einleuchtend, daß ich also eigentlich gegen gar nichts etwas einzuwenden haben konnte. Also etwas Anderes! Das war bald ausgesprochen, wer aber wußte vorherzusagen, ob dies Andere auch das Bessere für mich sein müßte? Meine Wahl ließ nicht lange auf sich warten: ich erkor die Philologie. Mein Oheim stimmte bei. Er hing ziemlich stark am classischen Alterthume, und das kam wol mit daher, er hatte zu spät sich damit vertraut gemacht, anfangs zu viel Mühe, zuletzt aber, besonders unter seinen Amtsgenossen zu viel Ehre davon gehabt; er kannte die Griechen und Römer ganz gut und sprach ein hübsches Latein. Jetzt pries er mir das Studium der alten Litteratur, wie wichtig, ja nothwendig es für jeden Gelehrten sei. Nun ja, meinte [53] ich, so will ich denn einmal Philologie studieren! Der Vorsatz war ernstlich genug gefaßt, ob ich ihn aber vollständig ausführen würde, bezweifelte ich selbst; mir ahndete schon nichts Gutes, wenn ich so viel über die falsche Anwendung der Philologie hörte, wie sie den Geist an Kleinigkeitskrämereien gewöhnte und ihn darin erstickte, und statt Mittel zu anderen Dingen zu sein, lediglich als Zweck betrachtet würde. Nahm ich nun an mir selbst wahr, daß mich eine gewisse Neigung zur deutschen Sprachforschung, deutschen Geschichts-und Sittenkunde etc., ja eine Art von Instinct zu Dingen hintrieb, die sich selten mit dem Studium des classischen Alterthums vertragen, so ward ich erst recht bedenklich bei meinem neuen Plane. Vorläufig jedoch kümmerte ich mich nicht weiter um die Zukunft und benutzte was der Augenblick mir bot: bei den vielen Ausflügen mit meinem Oheim (Corbach, Arolsen, Canstein) besuchte ich Kirchen, Kunst- und Gemäldesammlungen, Naturaliencabinette, Bibliotheken, die Gelehrten und die Kirchhöfe, zeichnete das für mich Merkwürdigste auf, schrieb Urkunden ab, machte Auszüge aus Büchern und Handschriften 2 und fertigte ein waldeckisches Idiotikon an, wozu mir die Dienstboten und Anwohner des Pfarrhofes täglich Beiträge liefern mußten.
Vier Wochen waren seit meiner Ankunft wie im Nu vergangen. Reich an schönen Erinnerungen und Erfahrungen nahm ich herzlich dankend von meinem Oheim und den seinigen Abschied.
Am 19. October kam ich nach Göttingen zurück. Ganz erfüllt von meinem neuen Studienplane ging ich sofort auf die Bibliothek und lieh mir allerlei Bücher über Geschichte, Encyclopädie und Methodologie der Philologie und über allgemeine Litteraturgeschichte. Während ich so für mein Selbststudium gesorgt hatte und dann selbiges eifrig trieb, hörte ich einige philologische Vorlesungen von Dissen und die Ästhetik bei Bouterwek.
So war also mein neuer Studienplan ins Leben getreten. Es handelte sich jetzt noch darum, ihn meinen Eltern mitzutheilen. Ich schrieb demnach an sie, allerdings etwas schüchtern, aber doch begeistert [54] von dem was ich jetzt trieb, und bat zugleich meine Schwester Auguste, mir Winckelmann's Schriften und Lessing's Laokoon in Braunschweig zu kaufen. Von meinem Vater erhielt ich eine Antwort, wie ich's nur wünschen konnte. Sein Eingehen in meine Ansichten, seine Bewilligung meines Vorhabens war für mich sehr rührend. Stand ich vor mir auch gerechtfertigt da, so wollte ich es auch vor meinen Eltern sein, und ich hätte Alles studiert, um nur ihren Wunsch und ihren Willen zu erfüllen.
Wegen meines Dichtens durfte sich niemand mehr Sorgen machen: seit Jahr und Tag hatte ich nicht mehr gedichtet. Und doch hatte man es zu Hause nicht vergessen, daß ich weiland viel gedichtet und auch Einiges drucken lassen, ja man schien Werth darauf zu legen, wie ich denn gelegentlich auch erfuhr, daß mein Vater um auf einer Geschäftsreise etwas für mich auszurichten, den Wunsch äußerte: ›Hätte ich doch Deine gedruckten litterarischen Producte, so würde ich Alles besser betreiben können‹. Den 11. Februar schrieb ich: ›– wundert Euch nicht, liebe Eltern, daß ich weder Gedichte noch sonst was der Art schicke. Kann ich kein großer Dichter werden, so will ich nicht weiter wagen im kastalischen Quell zu schöpfen. – Daß ich einst dichtete, war mehr jugendlicher Leichtsinn für die Sache des Vaterlandes als innerer Antrieb. Und meine Freunde hatten nicht geirrt, wenn sie mich mit spöttelnder Schalkheit Barde nannten. – – Nur der elterlichen Liebe und der Freundschaft konnte ich durch meine Tändeleien ein Lächeln abgewinnen‹.
So verging denn endlich dieser erste Winter in Göttingen, und als der Frühling kam, da zog's mich unwiderstehlich hinaus dem Kranich gleich in die Heimat, um einen Plan auszuführen, den ich aus Noth und Neigung entworfen hatte. Dieser Plan besagte weiter nichts als: Du sollst philistrieren, d.h. von Ostern bis Michaelis bei Dir selbst Collegia hören in Deiner Vaterstadt. Ich erwartete viel und durfte es erwarten, weil ich doch längere Zeit mit den Meinigen leben konnte. Ebenso trauete ich meiner treuen Liebe zu geistiger Beschäftigung und dem Ekel am Philisterthume so viel zu, daß ich um ihretwillen auf Alles leicht verzichten würde was mich irgend stören und zerstreuen könnte. Ich erhielt im Februar Briefe genug, worin mir in Bezug auf meinen Plan alles Mögliche versprochen [55] ward, lauter schöne Hoffnungen, aber keinen Pfennig Geld, und ohne meine Schulden bezahlt zu haben, konnte ich und wollte ich Göttingen nicht verlassen. Endlich aber erschien Geld und ich ward flott.
Wie ich zu Hause ankomme, freut sich Alles inniglich. Doch waren die nöthigen Einrichtungen für mich noch nicht getroffen; mein Lieblingszimmer, sonst so freundlich und einladend, war jetzt unwohnlich. Nach einigen Tagen, kurz nach dem Osterfeste, verließ ich das Haus und ging nach Magdeburg zu meinem Bruder.
Es war mir sehr angenehm, daß ich zu diesem kleinen Ausfluge einen Reisegefährten fand. Mein Jugendgenosse Heinrich Dreyer, Studiosus der Theologie, hatte die Ferien bei seiner Mutter zugebracht und stand eben im Begriffe, nach Halle zurückzukehren. Als wir bei dem ersten Festungsposten anlangten, wurden wir angehalten. Mein Freund hatte neben seiner Matrikel einen Paß, er wurde nicht weiter beanstandet. Mit meiner Matrikel ging es mir schlecht. Der Unterofficier entfaltete die große Urkunde, schüttelte den Kopf und machte die geistreiche Bemerkung: ›Och Latein versteht kein Schwein‹.
Ein Soldat mit Ober- und Untergewehr begleitete mich nun wie einen Sträfling durch die ganze Stadt bis ins Polizeigebäude. Dort wurde ich denn nach dem Zweck meiner Reise gefragt, woher? wohin? ›Ja, sagte ich, meine Herren, mein Zweck ist sehr einfach: ich will meinen Bruder besuchen, den Regierungs-Calculator Hoffmann‹. Ich konnte doch nicht sagen ›zum Vergnügen‹, denn sonst hätte es mir auch gehen können wie jenem Reisenden, der ins Fremdenbuch als Zweck der Reise ›zum Vergnügen‹ hineingeschrieben hatte und den andern Tag vor die Polizei geladen wurde: ›Hören Sie, das ist sehr verdächtig – es hat sich hier noch niemand zum Vergnügen aufgehalten.‹
Jetzt wurde mir ein Polizist mitgegeben. Da ich nur den Hausbesitzer und die Straße, aber nicht die Hausnummer angeben konnte, so wurde in verschiedenen Häusern nachgefragt, ob der Calculator Hoffmann dort wohne. Als immer ein entschiedenes Nein erfolgte, so wurde dem Polizisten eigen zu Muthe, ich las schon aus seinen Mienen, als ob er mich für einen argen Schwindler [56] hielte. Endlich geriethen wir in das rechte Haus. Der Wirth öffnete meines Bruders Wohnung, ich warf meinen Ränzel mitten in die Stube, zog mir die Stiefel aus, stopfte mir eine Pfeife, legte mich auf's Sopha, bestellte mir zu essen und zu trinken und that als ob ich zu Hause wäre; dann stöberte ich die Bücher durch und las nach so vieler liebevoller Behandlung Thümmel's Inoculation der Liebe. Unterdessen verhandelte der Polizist noch lange sehr eifrig mit dem Wirthe, und machte es ihm zur Pflicht, ja ein wachsames Auge auf den sehr verdächtigen Menschen zu haben und ihm durchaus nicht den lateinischen Schein eher wieder zu geben, als bis sich die Sache aufgeklärt habe. So saß ich denn nun da und wartete auf meinen lieben Bruder. Es wurde 10, es wurde 11 Uhr, mein lieber Bruder kam nicht. Die Angst des Wirths, der zwar den Glauben, aber nicht den Muth mit der Judith theilte, wuchs von Minute zu Minute. Da kam mein Bruder als Rettungsengel. Wir lachten noch lange über den Diensteifer des Polizisten und die Angst des guten Staatsbürgers. Schon damals fingen die Behörden an, jeden jungen Menschen, der bequem und deshalb oft auffällig gekleidet war, oder gar eine greise Turnjacke und leichte Mütze trug, für staatsgefährlich zu halten und ihm besonders das Reisen zu verleiden.
Mein Bruder behielt mich einige Wochen bei sich und bot Alles auf, mir den Aufenthalt lehr- und genußreich zu machen. Dann kehrte ich wieder nach Fallersleben zurück. Ich studierte nun allgemeine Sprachlehre, Lateinisch, Griechisch, las den Homeros und die Nibelungen, lernte Holländisch und brachte es im Dänischen so weit, daß ich mich bald unterhalten konnte und zwar mit einem Kopenhagener Tischlergesellen, der nach Fallersleben verschlagen war, gute Schulkenntnisse besaß und sein Handwerk gut verstand.
Ich lebte sehr zurückgezogen, nur meinen Studien und meiner Familie. So poetisch ich oft gestimmt war, wenn so viele Erinnerungen an eine glückliche Kindheit in mir erweckt wurden, so dachte ich doch gar nicht ans Dichten. Ernst und nachsinnend wandelte ich oft von meinem treuen Pudel Asgard begleitet im Felde und Gebüsche umher, pflückte mir Wiesenblumen für meinen Arbeitstisch und suchte schöne Aussichten auf, oder ich blieb in unserem Garten, pflanzte Blumen, nahm Samen auf, band die Reben und Ranken empor, oder ruhte im Schatten der Lindenlaube.
[57] Die Michaelisferien gingen zu Ende, ich packte meine Schriften und Bücher zusammen und machte mich reisesertig. Der Studiosus Zernial, der sich von Berlin mir zum Begleiter angemeldet hatte, war bereits angekommen. Er wollte wie ich seine Studien in Göttingen fortsetzen. Durch den kurzen Umgang vor unserer Abreise hatten wir uns ziemlich genähert, auf der Reise selbst noch mehr, in Göttingen unterhielten wir dann einen traulichen Verkehr, an dem noch ein dritter theilnahm.
Dieser dritte war Krawinkel. Schon die Art, wie wir mit einander bekannt wurden, zeigte, daß er nicht zu den gewöhnlichen Menschen gehörte. Eines Morgens klopft's an meiner Stubenthür, ich sitze an meinem Tische, arbeite ruhig fort und rufe: ›Herein!‹ und wer tritt hinein? Ein schlanker, wohlgebaueter Jüngling mit einem runden ausdrucksvollen Gesichte; seine Augen, die bald sanft, bald scharf mich anblicken, sind lieblich blau und seine Wangen matt geröthet; in der Linken hält er eine lange Pfeife mit einem Meerschaumkopfe – so kommt er auf mich zu und reicht mir die Hand. Ich stehe etwas verlegen auf – ich hatte ihn ja noch nie gesehen, obschon er mir gegenüber, nur einen einzigen Schritt von mir wohnte, – und sehe ihn an, begierig auf das was er sagen wird. Da erzählt er mir denn mit großer Unbefangenheit, daß man ihm gesagt habe, es sei so Sitte in Göttingen, seine Nachbaren zu besuchen und mit ihnen gute Freundschaft zu halten. ›Nun ja, versetzte ich, warum denn nicht? Das wollen wir thun.‹ Und ich muß gestehen, daß wir von diesem Augenblicke an nicht erst Freunde werden durften, sondern es wirklich waren. Ich lud nun Zernial bald zu mir ein, auch er lernte Krawinkel kennen. Wir kamen dann den ganzen Winter hindurch mehrmals die Woche zusammen.
Zur classischen Philologie zog mich jetzt der Beruf: ich hörte bei Dissen Terenz und bei Welcker Sophokles. Ich wurde mit mehreren Philologen bekannt. Wir gründeten eine lateinische Gesellschaft: nach der Reihe sollte jeder eine Abhandlung in lateinischer Sprache liefern über irgend einen Gegenstand aus der Alterthumswissenschaft, darüber sollte dann lateinisch disputiert werden und die übrige Unterhaltung sollte immer lateinisch sein. Mitglieder warenDilthey, Eduard Jacobi, Wüstemann und Wachler (Neffe des Breslauer Oberbibliothecars), die alle außer dem letzten als Philologen [58] rühmlich bekannt geworden sind. Die Idee war schön und der Eifer anfangs sehr groß. Bald aber fehlte allen Zeit oder Lust eine Abhandlung auszuarbeiten. Ich kam meiner Verpflichtung nach mit einer Ausarbeitung de colore togae romanae. Ich hatte mich viel damit gequält und war zu dem Ergebniß gelangt, daß die Farbe der römischen Toga weiß gewesen sei. Unsere Gesellschaft durfte nicht erst den bald folgenden Auszug mitmachen, sie hatte sich schon vorher in Wohlgefallen aufgelöst.
Lehr- und genußreicher als diese Philologica war für mich das Collegium von Fiorillo über Kunstgeschichte. Die Hauptwerke berühmter Künstler suchte er uns durch Kupferstiche zu veranschaulichen, und wenn er seinen Vortrag geschlossen hatte, so konnten wir uns mit Muße und mehr noch besehen als erwähnt worden war. Als Aufseher der Kunstsammlungen wußte er sein Collegium höchst interessant zu machen und es war seine zwei Louisd'or werth.
Um das Studentenleben hatte ich mich bisher wenig gekümmert, es gehörte ja auch mit zum guten Tone, so wenig als möglich Studenten zu kennen. Und dabei stand man sich gut: man war sicher vor diesen kalten, vornehmen, empfindlichen Musensöhnen, wie sie damals massenhaft nur in Göttingen gediehen und gedeihen konnten. Ein Vereinsleben war kein Bedürfniß, ein paar hundert Landsmannschafter beherrschten das große Heer der Wilden, das doch wol über anderthalb tausend stark sein mochte. Die Corps bestimmten den Comment, hielten Commerse und maßten sich das Recht an, in allen Studentenangelegenheiten, bei öffentlicher Vertretung, Ehren- und Duellsachen die einzige Behörde zu sein. Seitdem durch die Feier des Wartburgfestes angeregt die Gründung deutscher Burschenschaften eifriger betrieben wurde, machten wir auch in Göttingen Versuche damit. Aber unsere Versammlungen waren erfolglos, Göttingen war einmal kein Boden für Burschenschaften. Die Corpsburschen, die doch gesetzlich verboten waren, wurden vom Prorector zum Thee eingeladen, und – es blieb Alles beim Alten. Wie hätte auch so etwas entstehen können an einem Orte, wo noch nie in die Seele eines königlich großbritannisch-han noverischen Hofraths der Gedanke ›Deutschland‹ gedrungen war?
Feinheit in der Tracht und im Benehmen wurde den Göttinger Studenten nachgerühmt und freilich mit Recht, aber man ging oft [59] in beiden Dingen zu weit, daran waren jedoch auch die Professoren mit Schuld. Bei gewissen konnte man nur im Frack und mit dem Cylinder einen Besuch machen, und hatte man gar das große Glück, zum Thee eingeladen zu werden, so mußte man ballmäßig erscheinen. Es war schwer, mit den Professoren bekannt zu werden, fremd wie man ihnen blieb, so blieben sich auch die Studenten: man saß ein halbes Jahr lang in demselben Collegium und hatte mit seinen Nachbaren nie ein Wort gesprochen; man wohnte Jahr und Tag in einundemselben Hause, ja in demselben Stockwerk mit vielen zusammen und erfuhr kaum etwas von ihnen, ja man bekam sie oft nicht einmal zu Gesicht. Daß man sich anständiger und rücksichtsvoller gegen einander benahm als auf anderen Universitäten, war ganz hübsch, doch geschah es oft mehr aus Besorgniß anzustoßen als aus Neigung und Überzeugung. Eine gewisse Harmlosigkeit im Verkehre mit Studenten, die man wenig oder gar nicht kannte, hörte ganz auf. Es lag mir übrigens auch gar nichts an einem Gesammtverkehre, höchstens daß ich mich für den Sohn eines berühmten Mannes interessierte, z.B. Baggesen. Mir genügte der kleine Kreis meiner Freunde, und ich hatte ja auch alle Hände voll zu thun.
1818. Das neue Jahr begann. In der Neujahrsnacht, als es eben zwölf schlug und draußen gelärmt, gejubelt und geschossen wurde, faßen wir ganz ruhig und gemüthlich beisammen, Zernial, Krawinkel und ich, und wie es schien schaute jeder ungetrübten Blickes zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Wir führten unter einander ein sehr reges geistiges Leben: wir unterhielten uns über Kunst und Litteratur, Philosophie und Welt, und tauschten unsere Ansichten aus. Jeder fühlte sich zu dem anderen hingezogen, und wenn er auch mitunter durch Widerspruch unangenehm berührt wurde, so trennte uns das nicht; bei der Mannigfaltigkeit unserer Bestrebungen und Richtungen konnte es sich auch nicht um Glaubens- und Wissenseinheit handeln.
Henneberg sah ich den ganzen Winter nur selten. Er war unter seine prosaischen Landsleute gerathen und, was noch schlimmer, in Heise's Pandecten. Wie oft rief ich ihm zu: ›O ich möchte ein Frühlingshauch sein und unter Deine Hefte fahren!‹ half Alles nichts: er stapelte seine Hefte bergehoch auf und ließ sich nicht irre machen, wie sehr ich auch in Bezug auf seine Gesundheit meine Besorgnisse [60] äußerte und seine Heftweisheit belächelte. Der Frühling kam und mit ihm erwachte in Henneberg eine heiße Sehnsucht nach seiner Heimat; er fühlte das Elend wohin ihn die edle Rechtswissenschaft gebracht hatte. Für seinen Fleiß mußte er wochenlang auf dem Krankenbette büßen. Ich habe ihn in dieser traurigen Zeit oft besucht und neben anderen manche Nacht bei ihm gewacht. Am Charfreitag (20. März) kam seine Mutter. Erst am 14. April konnte sie den Kaumgenesenen nach Blankenburg mitnehmen. Nachdem er sich dort wieder erholt hatte, kehrte er nach Göttingen zurück, freilich erst ziemlich spät.
Der angenehme, geistbelebende Verkehr mit Zernial und Krawinkel war ungestört bis zum Frühlinge fortgegangen. Da wurde es plötzlich anders. Zernial, um vieles älter als wir, glaubte schon dadurch uns den Jüngeren gegenüber ein Vorrecht zu haben, nämlich uns Alles sagen zu dürfen, während wir uns Alles von ihm gefallen lassen sollten; er wollte, wenn nicht mehr, doch Alles besser wissen als wir. Seine heftige, anmaßende, von Unfehlbarkeit strotzende Art und Weise, sich und seine Ansichten geltend zu machen, brachte es dahin, daß meine bisherige Harmlosigkeit sich ihm gegenüber in Mißtrauen, meine frühere Theilnahme für ihn sich in Gleichgültigkeit gegen ihn verwandelte.
Sonderbar, daß ich und Krawinkel um eben diese Zeit in ein Meer von Mißverständnissen geriethen, woraus wir vorläufig nicht aufzutauchen vermochten. Er, einer der edelsten und herrlichsten Menschen, die ich je in der Welt kennen lernte, begabt mit tiefem Gefühle und einem scharfen Verstande, voll von hohem Sinne für Recht und Wahrheit, begeistert für eine Idee, der man sein Leben freiwillig hingiebt, wenn's darauf ankommt, er, der mich so herzlich, so unaussprechlich liebte, meine Freude in einer oft trüben Gegenwart war und meine beseligende Hoffnung für die Zukunft ward – sollte Alles, Alles für mich sein und bleiben, aber nicht mehr zu mir kommen, mich nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen! Es war ein wunderlicher Gedanke, daß zwei Menschen indem Augenblicke, wo sie sich am meisten liebten, sich am unentbehrlichsten waren, sich eben da entbehrlich sein und freiwillig auf einander verzichten wollten und konnten!
Was vorhergegangen war, weiß ich nicht mehr. Am 12. April [61] schrieb ich an ihn, nachdem ich eben von einem Spaziergange zurückgekehrt war, unter anderem: ›– Warum sollen wir uns gegenseitig quälen? und Frieden da draußen suchen, den doch jeder von uns in sich finden kann und soll? Drum laß uns unsern Umgang abbrechen, der uns beiden nicht wohlthut, bis auf bessere Zeit‹.
Krawinkel antwortete noch denselbigen Abend:
›– – – Ich verstehe Dich sehr gut, und wünsche Dir herzlich und wehmüthig mein bestes Lebewohl. Ich hoffe und erwarte von Dir vieles. Und jede einstige Erfüllung wird mir eine neue Freude bringen. Möge Dir der Gott der Liebe recht bald eine Seele zuführen, die ist wie du bist, und möge diese Dir dann reichere und frohere Stunden bereiten, als ich es vermochte. Dein stiller und guter Geist wird mir nie entschwinden, und, edler Mensch, glauben wir, mit einem höheren Leben erringen wir auch uns wieder‹. – Wie lange wir uns nicht sahen, weiß ich nicht mehr, wie ich denn ohne diese Briefe kaum wissen würde, daß zwischen uns je eine Quarantaine stattfand.
Die Osterferien waren begonnen. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Meine Freunde waren alle verreist, ich konnte nicht verreisen: das wenige Geld, welches mir von Hause zukam, reichte nicht aus um die allernothwendigsten Ausgaben zu bestreiten. Wie hätte ich reisen können! Es gab Zeiten, wo ich wochenlang zu Mittag hungerte, um nur Abends auf dem Ulrichsgarten für zwei gute Groschen mich anständig satt zu essen. Zur Erdbeerenzeit habe ich vierzehn Tage lang zu Mittage nur von Erdbeeren und Weißbrot gelebt. Kein Wunder, daß ich mich aus Göttingen fortsehnte, schon um aller Nahrungssorgen überhoben zu sein. Es war aber noch ein anderer Zweck, der mich hinaustrieb: die Angst, unter lauter Büchern zu verkommen und ein Stubenhocker zu werden.
Als ich vor der Pfingstzeit Forster's Rheinansichten las, da ergriff mich ein unwiderstehlicher Reisetrieb – ich war im Geiste überall, nur nicht in Göttingen. Ich mußte reisen, einerlei wohin? und so reiste ich denn mit meinem Freunde Reck zu seiner Familie in Greene. Es waren schöne Maitage in dem freundlichen Leinethale mit den waldumkränzten Höhen, den grünen Wiesen und Feldern, den Blüthenbäumen und Blumen in den Gärten.
[62] Der kleine Ausflug hatte sehr wohlthätig auf mich gewirkt. Ruhig und heiter gestimmt kehrte ich zum Arbeiten zurück. Ich studierte Winckelmann's Werke und las mit großer Begeisterung seine Briefe. Täglich besuchte ich die Bibliothek, zunächst um zerstreute Nachrichten und Nachweisungen über griechische und römische Kunstwerke zu sammeln. Zu diesem Zwecke sah ich das ganze Magasin encyclopédique von Millin, 122 Bände durch.
Aber wozu das Alles? fragten mich meine Freunde. Das wußte nur ich und ich eben am besten: ich wollte ein zweiter Winckelmann werden, wollte mich dazu in Deutschland so weit als möglich vorbereiten, dann einige Jahre dem Studium der Kunst in Italien widmen und endlich zu demselben Zwecke nach Griechenland gehen. Ich machte wirklich schon ernste Anstalten dazu: ich las Reisebeschreibungen, entwarf eine Litteratur derselben, trieb das Französische, welches ich etwas vernachlässigt hatte und stiftete mit Henneberg und Woltag eine Académie française, wo wir zunächst Rousseau lasen; wollte dann Italienisch und endlich Neugriechisch lernen, wozu mir Glarakes aus Chios behülflich sein sollte, wie er denn mir auch schon versprochen hatte.
Während ich von meinem großartigen Lebensplane ganz erfüllt war und dafür lebte und strebte, ereigneten sich die bekannten Studentenunruhen. Dies große Ereigniß blieb nicht ohne großen Einfluß auf die ganze Göttinger Studentenwelt: man fühlte mehr die Zusammengehörigkeit, hielt sich nicht mehr an die alten überlieferten Formen, den steifen pedantischen Ton und verkehrte traulicher mit einander.
Doch verließen damals die meisten meiner Freunde Göttingen. Ich nahm von allen Abschied auf Wiedersehen, aber nur wenige sah ich wieder. Am schmerzlichsten war mir der Abschied von Henneberg, der zu Michaelis nach Jena ging.
So wehmüthig mich die Gegenwart stimmte, so froh und hoffnungsreich erschien mir die Zukunft. Zeugnisse dafür enthalten meine damaligen Briefe. Am 26. Juli sendete ich von Dransfeld aus an meine Schwester Minma folgende Zeilen:
Meine archäologische Liebe war zur Schwärmerei geworden, ich lebte und strebte nur für sie, ›sie war mein Taggedanke, war mein Traum.‹ Es war eines Abends, als ich eben auf der Straße von Dransfeld ganz allein auf Göttingen zuwanderte. Wie ich eben aus dem Grohnder Holze ins Thal eintrete, da ist's mir, als ob sich die Zukunft vor mir enthüllen will, als ob Wald und Kornfeld, Wolken und Sonne mit mir redeten und Alles das guthießen was ich mir zur Aufgabe meines Lebens gemacht hatte: ›jenseit der Berge (so schrieb ich am 5. August meinem Vater) glaubt' ich mich versetzt in Hellas und Hesperien. Meine Phantasie brütete lieblicher an dem großen Plane meines Lebens und die untergehende Sonne verlängerte meinen Schatten über dem Saatfeld und schien zu sagen: so groß kannst du am Abende deiner Tage sein!‹
Die Ferien begannen diesmal früher als sonst. Die meisten meiner Freunde und Bekannten hatten bereits Göttingen für immer verlassen. Da ich das als Inländer nicht konnte, so wollte ich [64] wenigstens vor Beginn des Winterhalbjahrs noch eine Reise machen. Ich schrieb nach Haus und bat um Geld. Am 27. August erhielt ich 2 Louisd'or. Da ich nicht mehr erwarten durfte, so trat ich wohlgemuth schon nach einigen Tagen meine Reise an. Ich gedachte über Cassel ins Waldeckische zu gehen, von da durch den Thüringer Wald nach Jena, dann zu meinem Bruder in Magdeburg und endlich durch meine Heimat nach Göttingen zurückzukehren.
In Cassel war mein Hauptaugenmerk gerichtet auf das Museum und die Bibliothek. Am ersten Morgen ist mein erster Gang nach dem Museum. Auf der Straße begegnet mir ein ältlicher Herr im braunen Rocke, ich rede ihn an: ›Können Sie mir nicht sagen, wo der Hofrath Völkel wohnt?‹ – ›Das bin ich selbst.‹ – ›Herr Hofrath, das ist mir sehr angenehm: ich wollte eben so frei sein, Ihnen einen Besuch abzustatten und einen Gruß des Herrn Professor Welcker zu überbringen.‹ – Er war sehr freundlich, und so bat ich ihn denn, mir Gelegenheit zu verschaffen, das Museum zu sehen, dessen Director er war. Er beschied mich auf die Bibliothek, nach einer halben Stunde würde er sich dort einfinden. Ich erscheine um die bestimmte Zeit, denke, er sitzt schon drüben am Fenster, und gehe auf ihn zu. Das ist aber Jacob Grimm. Ich weiß mir schnell zu helfen, bestelle einen Gruß von Welcker und unsre Bekanntschaft ist gemacht. Ich bitte ihn um die Einsicht des Handschriftenverzeichnisses. Nachdem ich Einiges gefunden was ich zu sehen wünsche, holt er es mir hervor, so auch einen Stoß Briefe von Gelehrten aus neuerer Zeit. Ich sehe sie durch und finde einen Brief Winckelmanns an den in Cassel noch in schlechtem Andenken stehenden Raspe. Hoch erfreut über meinen Fund nehme ich mir sofort Abschrift 3.
Unterdessen kommt Völkel, überreicht mir seine Beschreibung der Casseler ›antiken Sculpturen‹ (aus Welcker's Zeitschrift), führt mich in den Saal, wo sie aufgestellt sind, und schließt mich ein, er muß eben noch einige fürstliche Personen umherführen. Da studiere [65] ich nun die Falten und Säume der Gewänder u. dgl., bis mich Völkel wieder erlöst. Ich gehe abermals auf die Bibliothek und unterhalte mich viel mit Jacob Grimm. Er ladet mich zu sich ein und schon am Nachmittag besuche ich ihn.
Ich fand ihn eben beschäftigt mit seiner Grammatik. Mehrere Bogen lagen bereits gedruckt vor. Ich sah und erstaunte, eine neue Welt ging mir auf, ich wurde nachdenklich und schwankend in meinen Plänen. Da ich den vorigen Sommer zu Hause dänisch gelernt hatte und in der letzten Zeit zu Göttingen auch holländisch, mich auch um deutsche Litteraturgeschichte gekümmert, so gab es in unserer Unterhaltung Berührungspunkte genug. Hatte schon in der Bibliothek seine Persönlichkeit auf mich gewirkt, so war das in seinem Zimmer unter seinen Arbeiten, Büchern und Handschriften jetzt noch mehr der Fall. Die Ordnung, die hier überall bis ins Kleinste waltete, der Fleiß, der aus Allem sich kund gab, die lebendige Theilnahme bei allen Dingen, auf welche die Rede kam, Alles das gewann ihm meine innige Liebe und Verehrung.
Den anderen Tag sahen wir uns wieder auf der Bibliothek. Jetzt lernte ich auch seinen Bruder Wilhelm kennen. Nachdem wir uns eine Zeit lang unterhalten, überreichte ich jedem ein Stammbuchblatt. Jacob schrieb mir:
Herzlich dankend und hocherfreut nahm ich Abschied von ihnen beiden und auch von Völkel.
Als ich mit Jacob zusammen die Treppe hinab ging, erzählte ich ihm, daß ich nach Italien und Griechenland zu reisen beabsichtigte, um dort an Ort und Stelle die Ueberbleibsel alter Kunst zu studieren. ›Liegt Ihnen Ihr Vaterland nicht näher?‹ fragte er darauf in einem herzlichen, liebevollen Tone. Ich höre die Worte [66] noch heute, die Worte vom 5. September 1818. Noch auf der Reise entschied ich mich für die vaterländischen Studien: deutsche Sprache, Litteratur-und Culturgeschichte, und bin ihnen bis auf diesen Augenblick treu geblieben.
So war mir denn Cassel von neuem lieb und werth geworden, und vergnügt setzte ich meine Reise fort nach Mühlhausen im Waldeckischen. Mein Oheim empfing mich eben so herzlich wie sonst und that auch diesmal das Seinige, mir den Aufenthalt lehr-und genußreich zu machen. Vergebens wartete ich auf Geld, und war endlich gezwungen, da mir auch mein Oheim nichts ablassen konnte, mit dem Reste meiner kleinen Baarschaft weiter zu wandern.
In den Elephanten zu Weimar brachte ich noch drittehalb Kopfstücke. Ich traf gerade zu Mittag ein, als die Malzeit begann. Ich war sehr hungrig, beschränkte mich aber auf eine Tasse Cafe mit Weißbrötchen. Dann sah ich in Gesellschaft mit einigen Studenten Alles was damals sehenswerth war, zahlte aber nur mit einem schönen Dank, was denn meine Begleiter eben so überraschte wie verdroß. Abends besuchte ich aber doch das Theater, das damals noch immer in sehr hohem Rufe stand. Romeo und Julia waren sehr billig, ich sah sie aber auch oben vom Paradiese. Bei allem Sparen und Hungern hatte ich doch den andern Morgen nicht so viel Geld, daß ich meine Wirthsrechnung bezahlen konnte. Ich mußte meinen Homeros als Pfand zurücklassen.
Bis jetzt befand ich mich ziemlich wohl bei allen Strapazen, denen nun einmal jedes Fußreisen, zumal jedes weite ausgesetzt ist. Nach und nach aber wurde mir ein Blutgeschwür an der rechten Backe sehr lästig, es war so dick und schmerzhaft geworden, daß ich mein Gesicht halb verbinden mußte. Trotzdem zog ich lustig mit meinen 20 Pfennigen, die mir übrig geblieben waren, über das Schlachtfeld von Jena. Die kleine Summe reichte eben hin zu einem Imbiß. Doch hatte ich dadurch leider meinen Hunger und Durst nicht gestillt, sondern vielmehr gereizt, und da dachte ich nun nach Art der weiland fahrenden Schüler mich an dem zu erquicken was der liebe Gott für Alle wachsen läßt: ich machte den Versuch, mir einige Zwetschen abzuschlagen, womit die Bäume reich gesegnet waren. Kaum hatten das die Bauern gesehen, so verfolgten sie mich auch [67] schon mit ihren Hunden, ich mußte mein Heil in der Flucht suchen, und die Zwetschen blieben mir Aepfel der Hesperiden.
So ohne einen rothen Heller, hungrig und mit einer dicken Backe stellte ich mich auf dem Marktplatze in Jena aus und wartete das Mitleid meiner academischen Brüder ab. Viele kamen neugierig heran, begrüßten mich und fragten mich aus; einige, die mich an meinem braunen Rocke erkannten, schrieen mir von ferne freundlich ihr Willkommen! zu – davon aber hatte ich nichts. Endlich kam eine mitleidige Seele und führte mich als Gast heim. Vier Wochen lebte ich hier von einem zum andern mich einquartierend.
Das Jenaer Studentenleben war damals ein recht frisches, freies, reg- und strebsames, der Ton zutraulicher als anderswo, schon der allgemeine Du-Comment näherte einander, war freilich auch rücksichtsloser, indem er keine Schranken duldete, die man zwischen sich und anderen oft gern gezogen sieht, er hatte oft eine gewisse Derbheit, die nicht jeder vertragen kann. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war sehr groß; unter den Tugenden eines Burschenschafters stand wechselseitige Theilnahme und Gastfreundschaft oben an: Alles lebte mit einander und für einander. Es ging aber auch so einfach her, daß sich nur hier ein solches Gemeinleben durchführen ließ. Wie in geselliger Beziehung so machte man auch in anderer keine großen Ansprüche. Man ging nicht nur sehr einfach, sondern oft auch sehr nachlässig einher. Das Essen war weit schlechter als in Göttingen. Nebenbei machte es noch einen eigenen Eindruck auf mich, wenn man in der Rose zu Mittag speiste und mußte jede Scheibe Brot noch besonders bezahlen. Das Höchste was sich Abends erreichen ließ, war Gänsebraten in der sogenannten Knabei. Wein gehörte zu den Seltenheiten. Es dachte aber auch niemand daran, weil er zu theuer und zu schlecht war und das Lichtenhainer und Ziegenhainer Bier doch einmal höher stand als jedes Getränk der Vor- und Mitwelt.
In Jena war um diese Zeit ein sehr reges Leben und Treiben in der Studentenwelt. Zu dem eben hier tagenden allgemeinen Burschentage hatten sämmtliche Burschenschaften ihre Abgeordneten geschickt. Ich ging zuweilen in die Sitzungen, die immer öffentlich waren. Für die Idee der Burschenschaft war auch ich beseelt, vielleicht mehr als mancher Burschenschafter, obschon ich weder dieser noch sonst einer Verbindung angehörte. Doch mißfiel es mir von Anfang an[68] daß so manche gar zu großen Werth auf das Aeußere legten, Alles in Gesetze und Formen passen wollten und darüber das wahre Wesen vergaßen. Die unbedeutendsten Jünglinge, wenn sie altdeutsches Haar und Bart und altdeutsche Tracht trugen, hielten sich oft für mehr und besser als alle übrigen, die oft nicht so viel Geld hatten, sich einen Sammetrock und ein Barett mit Reiherfedern anzuschaffen. Dies teutsche, biderbe Wesen vieler Turner, dem oft gar keine höhere sittliche und wissenschaftliche Bildung zu Grunde lag, war mir lächerlich und widerwärtig, weil durch Eitelkeit und Unnatur vieles Edle und Schöne aufs Spiel gesetzt ward und auch wirklich unterging. Hätten diese altdeutschen Jünglinge nicht die einzig echten Deutschen und was Besseres sein wollen als das ganze übrige Volk, sie würden nicht so mancherlei Gegner hervorgerufen, sondern der guten Sache Freunde und Förderer gewonnen haben.
Als ich am 18. October viele Studenten in ihrer grauen Turnertracht ihre Kunststücke machen sah mit einem Ernste als ob das Heil der Welt am Barren und Reck hinge, da mußte ich lächeln. Ich hatte als Junge ganz andere Kunststücke gemacht: ich war auf hohen Dächern spazieren gegangen und in die höchsten Wipfel geklettert. Und mein Vater, der keine Ahndung vom Turnen hatte, ließ einen langen schweren Heubaum auf seinen Zähnen balancieren und sprang über sechs quer gelegte große Fässer weg.
Das Interessanteste an Jena war mir Oken. Gleich in den ersten Tagen machte ich seine Bekanntschaft. Der Verkehr mit ihm war anregend, lehrreich und angenehm. So oft ich zu Oken kam, war ich ihm jedesmal willkommen. Mein Vertrauen zu ihm war so groß, daß ich es eines Tages wagte, ihm einige Distichen zu bringen. Er las sie und – fand sie vortrefflich. Da meinte ich denn, er könnte sie ja in die Isis aufnehmen. Er war bereit, und da er meine jetzige Lage kannte, so gab er mir zwei Louisd'or: ›Die Sachen sind viel mehr werth, fügte er hinzu, aber ich gebe gar kein Honorar, und darum müssen Sie so vorlieb nehmen.‹
So erschienen denn in der Isis von 1818 und 1819 4 nach und nach über hundert meiner Distichen und Tetrastichen. Alle diese [69] Epigramme bezogen sich auf die damaligen deutschen Zustände, besonders in Hannover. Stoff gab es genug, auch in der Studenten- und Professorenwelt, die Philisterei und das Zopfthum grünten und blühten schon wieder in unserm Staats- und geselligen Leben, viele Köpfe und Hände waren beschäftigt, die alte gute Zeit wieder auf die Beine zu bringen und jedes Mißfallen darüber, jeden Widerstand dagegen als staatsgefährlich auszuposaunen. Wer in göttlichen und menschlichen Dingen eine freie Ansicht zu behaupten suchte und nicht einverstanden war mit den Mitteln und Wegen, welche die vaterländischen Regierungen einschlugen das Vaterland zu beglücken, der wurde mißliebig, und wenn er gar eine bedeutende Stellung einnahm und durch Wort und Schrift zu wirken verstand, so wurde er so lange gemaßregelt bis er sich fügte oder seine Stellung aufgab oder aufgeben mußte. Da ich mich nicht genannt hatte, so blieb meine Person unangefochten, und ich freute mich im Stillen, daß über meine Herzensergüsse Mancher sich gefreut und gelacht, Mancher sich aber auch geärgert hatte. Sie sind längst vergessen und ruhen in der dicken Isis wie in einem hermetisch verschlossenen Grabe. Später ging ich auch zu den gereimten Epigrammen über, damals war mir die Distichenform lieber.
Die Tage von Jena sind mir besonders durch die Erinnerung an Oken unvergeßlich. Als ich ihm ein Göttingisches Stammbuchblatt mit Winckelmann's Bildniß überreichte, schrieb er auf der Rückseite seitwärts darauf: ›Sey Dir ein Vorbild. Jena 18. Oct. 18.‹ Wenn auch das was er von mir hoffte, nicht in Erfüllung ging, so freut es mich doch heute noch, daß er etwas von mir hoffte.
Der Herbst war schön: noch lebt in meiner Erinnerung manche Morgen- und Abendlandschaft, wenn die Sonne die kahlen Berge beleuchtete und das Laub der Reben und Bäume vergoldete. Stundenlang wandelte ich manchen Tag im Thale umher und an den Bergen. Bei allen Zerstreuungen nahm ich mir doch Zeit zum Arbeiten, ich las viel und schrieb ein ganzes Heft ab: Eichstädt's Encyclopädie der Philologie, wofür ich freilich etwas Besseres hätte thun können.
In den letzten Tagen des Octobers trat ich meine Rückreise an in Begleitung des Mineralogen Friedrich Hoffmann. Den ersten Tag waren wir beide sehr schweigsam, wir gingen wie zwei Geister im dichtesten Nebel fast den ganzen Tag. Nur in Weimar schien [70] uns einen Augenblick die Sonne. Wir frühstückten im Elephanten, ich löste meinen zurückgelassenen Homer ein und wir setzten unsere Reise im Nebel wieder fort. Den anderen Tag hatten wir wieder fortwährend Nebel. Da wir nun abermals außer aller Beziehung zur Außenwelt gesetzt waren – wir sahen um uns kaum bis auf zwanzig Schritte – so entwickelten wir in dieser Trübe beide einen glänzenden Humor: Scherze, Witze und Schnurren aller Art wechselten mit einander und ehe wir es uns da versahen, waren wir in Langensalza. Nie in meinem Leben ist mir ein so langer Weg so kurz geworden. In Mühlhausen blieb mein Freund. Ich setzte nun allein meine Reise fort.
Kaum war ich in Göttingen angekommen, so wurde mir gemeldet, in Fallersleben sei die Ziehung gewesen, man habe für mich Nr. 27 gezogen und ich müsse marschieren. Ich nahm die Sache sehr leicht. Als mir aber vom Amte gedroht wurde, wenn ich mich nicht sofort beim Regimente in Celle einfände oder dorthin die Stellvertretungssumme von 100 Thalern einsendete, so sollte ich durch Landreiter abgeholt werden, da wendete ich mich sofort an das Cabinetsministerium in Hannover und meinte, man möchte doch die mir gewährte Unterstützung, das königliche Stipendium von 80 Thalern, dessen erste Hälfte gerade zu Michaelis fällig geworden sei, zurückbehalten oder mich zur Reserve stellen. Es wurde mir Alles abgeschlagen und mein Vater mußte zahlen. Mit 20 Thalern wurde ich endlich von der Ehre, ein königlich großbritannisch-hannoverischer Vaterlandsvertheidiger zu sein, losgekauft.
Seit meiner Rückkehr lebte ich mit Krawinkel wieder in alter inniger Freundschaft: wir sahen uns beinahe täglich, gingen zusammen spazieren, theilten uns unsere schriftlichen Arbeiten mit und machten manches litterarische Plänchen, welches wir künftig gemeinschaftlich ausführen wollten. Ich dichtete noch immer sehr wenig, und wenn mir an einem Gedichte nur etwas nicht gelungen schien, so zerriß ich es auf der Stelle. Zu Hause hatte man noch große Ideen von meiner Poeterei; man meinte, ich müßte jetzt doch wol einen großen Vorrath an Gedichten haben. Nicht also. Als mir mein Vater am Neujahrstage 1819 viel vom Druckenlassen schrieb, erwiederte ich ihm: ›In den letzten Tagen des vorigen Jahrs fror mich sehr auf meiner Stube. Da nahm ich vier Bände meiner Gedichte und warf sie in [71] den Ofen. Aber da sieht man, daß Wasser das Feuer löscht, denn nun ging das Feuer erst aus.‹ Krawinkel billigte sehr, daß ich von Tage zu Tage strenger gegen mich ward. Ob noch irgend ein Gedicht jener Zeit die Feuerprobe bestand, weiß ich nicht mehr.
Der Entschluß war gefaßt, Göttingen und das Land Hannover für immer zu verlassen. Von meinen Freunden und Bekannten hatte ich bereits Abschied genommen und mit einigen Stammbuchblätter gewechselt. Der größte Theil meiner Schulden war bereits bezahlt. Einen Wechsel mochte ich nicht erst noch abwarten, um ganz schuld- und schuldenfrei, wie mein Vater meinte, die Universität zu verlassen. Bonn war das Ziel meiner Wünsche und Hoffnungen. Von der neuen Universität am schönen Rhein erwartete ich ein neues Leben für meine Studien und mein Herz. Welcker, der zum Bonner Professor und Oberbibliothecar ernannt war, erklärte sich bereit, was er vermöchte für mich zu thun; er war so gütig, mir meine Bücher kostenfrei nach Bonn zu besorgen.
Ich wanderte zu Fuß mit leichtem Gepäck. Der blaue Frühlingshimmel mit seiner milden Sonne that mir wohl; die Saaten waren grün und die Lerchen sangen. Am 17. März kam ich in Fallersleben an. Die Freude der Meinigen war groß. Die erste Zeit verging fröhlich und wohlgemuth. Die späten Abendstunden, wenn nichts Fremdes mehr im Hause war, gehörten uns ganz. Da saßen wir auf dem Sopha und rings umher und plauderten in alter Gemüthlichkeit. Nach einiger Zeit aber wurden die Gespräche ernst und immer ernster. Der Gedanke, was noch aus mir werden sollte, erfüllte jeden mit Besorgniß. Drei Jahre auf Universitäten waren vergangen, und nun wollte ich wieder auf Universitäten! Niemand wußte, was mein Ziel war, und eigentlich wußte ich es auch selbst nicht. Der Vater meinte, ich hätte bei der Theologie bleiben sollen, oder sollte jetzt eine Hauslehrerstelle annehmen, um dann sorgenfrei meine Lieblingsstudien fortsetzen zu können. Mein Bruder hatte brieflich mir entschieden abgerathen, Hannover zu verlassen und in Preußen mein Heil zu suchen, obschon er selbst im preußischen Staatsdienste stand. Es wurde Alles hin und her erwogen, und endlich stellte sich für mich heraus, was ich ja von vorn herein schon wußte: wir können Dich nicht weiter unterstützen. Ich erklärte dann, daß ich ja keine Unterstützung beanspruchte; ich hätte in Göttingen schon [72] einen so schönen Anfang gemacht, mich durchzuschlagen, und würde es von jetzt an noch besser lernen, da ich nun einmal gewiß wüßte, daß ich von Haus durchaus nichts zu erwarten hätte.
Ich verweilte nun noch einige Wochen in der Heimat, verkehrte mit Verwandten und Jugendgespielen und suchte alle die Örter auf, an welche sich für mich heitere Erinnerungen aus meiner Kindheit knüpften.
Unter den Glückwünschen der Meinigen reiste ich ab. Ich machte einen großen Umweg, ich ging über Magdeburg, um meinen Bruder noch zu sehen. Er hatte jetzt wieder eine feste Anstellung, sein ziemliches Auskommen und lebte in angenehmen geselligen Beziehungen. Ich lernte bald seine näheren Bekannten kennen. Es herrschte unter ihnen ein freier, munterer Ton. Gewöhnlich wurden lustige Geschichten erzählt, Witze gerissen und Neckereien vollführt; dann aber wendete sich das Gespräch oft auch den ernsten Fragen des Tages zu.
Sand's schreckliche That (23. März) hatte große Erbitterung gegen die Universitäten und die Studenten hervorgerufen. Was ein Einzelner für sich gethan hatte, sollte Folge eines gemeinschaftlichen Beschlusses der Burschenschaften gewesen sein, und diese Ansicht fand selbst bei Leuten Glauben, die man für besser unterrichtet halten mußte. Ich hielt mich verpflichtet für alle Studenten sprechen zu müssen und eine solche Beschuldigung als nichtswürdig und lächerlich zurückzuweisen, was sich auch später aus der amtlichen Untersuchung herausstellte. Daß Kotzebue's Thun und Treiben ziemlich allgemeine Mißbilligung fand, das stand fest, aber eben so fest, daß man gegen ihn mit denselben Waffen kämpfen mußte womit er Deutschland und die sogenannte Deutschthümelei angriff, und das war die Feder. Damit hatte ich ja vor einem halben Jahre während meines Aufenthalts in Jena auch gekämpft, meine Epigramme waren in der
Isis gedruckt.
Eben so fest stand, daß es neben Kotzebue noch viele, viele Lumpe gab, und gefährlichere als ihn: wo hätte man da anfangen und aufhören sollen, wenn man den Verrath am Vaterlande auf Sand's Weise hätte rächen wollen? Daran dachte höchstens nur ein eben so überspannter Kopf wie Sand, und das wußte man recht gut. Aber das Sand'sche Verbrechen war den Rückschrittsmännern ein sehr willkommener Anlaß, zunächst alle Professoren und Studenten, die[73] für Recht und Vaterland, deutsche Freiheit und Einheit beseelt waren und strebten, zu verfolgen und zum Schweigen zu bringen und endlich jede freie Regung in Wort und Schrift zu unterdrücken. Daß strenge Maßregeln gegen die Universitäten vorbereitet wurden, wußte jedermann.
Nach Tische pflegte ich mit meinem Bruder Besuche oder einen Spaziergang zu machen. Des Abends waren wir gewöhnlich zu Hause. Wir erzählten uns allerlei Geschichten, Schnurren und Witze aus der Heimat, alte und neue, und ergötzten uns immer wieder, selbst an den längst bekannten. So saßen wir denn auch am 18. April ganz gemüthlich. Plötzlich klopft's. Wir öffnen: ein Bote bringt einen Brief von der Hand des Superintendenten: der Vater sei bedenklich erkrankt und mein Bruder möchte sofort nach Haus kommen. Unser Schrecken war furchtbar. Der Bote wußte nichts. Wir lasen den Brief immer wieder und fragten: lebt er noch oder ist er todt? Es war uns in dem sonst so traulichen Zimmer unheimlich geworden, wir zündeten alle Lichter an die wir hatten, und überlegten ängstlich was zu thun sei. Mein Bruder wollte und mußte reisen, obschon dringende Arbeiten vorlagen; ich fühlte, daß meine ganze Zukunft in Frage gestellt wäre, wenn ich nach Hause zurückkehrte, denn war der Vater wirklich todt, so hätte ich die Meinigen nicht wieder verlassen können. So schwer die Wahl war, so mußte ich mich doch für die Weiterreise nach Bonn entscheiden.
Nach einer schrecklichen Nacht nahm ich Abschied von meinem Bruder und war nun mit meinem Schmerz allein auf dem Postwagen nach Halberstadt. Ich eilte von dort gleich weiter nach Blankenburg, und verweilte einige Tage bei den Eltern meines Freundes Henneberg. Am Sonntagmorgen (25. April) erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, aber selbst die tröstliche Nachricht: ›der Vater lebt!‹ konnte mich nicht beruhigen. Mit der Ahndung, der Vater ist todt, reiste ich weiter. Der Frühling mit all feinem frischen Grün und den blühenden Bäumen in und um Blankenburg erheiterte mich nicht. In trübster Stimmung ging ich durch den noch winterlichen Oberharz mit seinen düsteren Tannen und Fichten und den öden, haus- und menschenleeren Wegen.
Nach zwei Tagen erreichte ich Göttingen. Als ich zum Bruder meines Schwagers kam, bestätigte er meine trübe Ahndung: ›Dein [74] Vater ist – vielleicht – schon todt! Fasse Dich! Es ist gut, wenn ich heute keinen Brief bekomme – Du würdest den ganzen Weg traurig sein.‹ – Am 2. Mai kam ich in Cassel an. Von Trauer und vom Wandern erschöpft legte ich mich zitternd im Fieberfrost schon am hellen Abend zu Bette. Nach einem erquicklichen Schlafe wachte ich zeitig auf und konnte weiter reisen. Bald vor mir, bald hinter mir fuhr ein Herr im Einspänner. Wir verfolgten einen und denselben Weg, ich hatte jedoch nicht das Herz ihn anzusprechen. Abends fanden wir uns im Wirthshause zu Jesberg und speisten bald mit einander. Da ich den ganzen Tag nicht geredet hatte, so war es jetzt ein Bedürfniß für mich und ich sprach mich aus und zwar über die Zopfwirthschaft des alten wunderlichen Kurfürsten: Wirth und Wirthin und mein unbekannter Reifegefährte ergötzten sich sehr au meinen nicht eben unwitzigen Auslassungen. Es saß aber ein Mann noch in der Stube, der nahm mich freundlich bei Seite und sprach in einem anscheinend väterlichen Tone: ›Ich bin ein Freund der Studenten, habe auch einen Sohn auf Universitäten, ebendeshalb muß ich Sie aber warnen – ich meine es gut mit Ihnen – mäßigen Sie sich in Ihren Äußerungen!‹ – Ich dankte ihm und ließ mich in meiner guten Stimmung nicht irre machen. Als er fortging, fragte mich die Wirthin: ›Was wollte denn der?‹ – ›Mich vermahnen.‹ – ›Der soll nur still sein, der ist gestern erst abgesetzt. Sie haben nur das Wahre gesagt und wir haben uns alle recht gefreut.‹
So dachte auch der Fremde und war dermaßen für mich gewonnen, daß er mir einen Sitz in seinem Wagen zur Weiterreise nach Frankfurt anbot. Ich nahm das sehr dankbar an und war sehr froh, ich konnte nun bequemer und schneller Frankfurt erreichen. Der Wechsel der Gegenden, die alle im neuen Frühlingsschmucke um uns lagen, und die Gelegenheit, mich jeden Augenblick gegen jemanden aussprechen zu können, hatten wohlthätig auf meinen Zustand gewirkt. Nach zwei Tagen kamen wir in Frankfurt an. Ich traf einen Freund unsers Hauses, den Weinhändler Abeken von Braunschweig. Er bat mich, ihn den andern Morgen zu besuchen. Das that ich. Meine erste Frage war, ob er nichts von meinem Vater wüßte? Er schwieg. Als ich dann in ihn drang, fragte er: ›Wenn Sie den Tod Ihres Vaters hörten, wie würden Sie ihn ertragen?‹[75] – ›Mit Ruhe.‹ – ›Nun, so will ich Ihnen sagen: Ihr Vater ist todt!‹ – Da ward ich so wehmüthig und so wirre, daß ich für Alles außer mir alle Theilnahme verlor. Ich sah in dem großen Frankfurt Vieles und sah Nichts. Ich war in einer Gemäldesammlung und kam heraus und wußte so viel wie heute davon, gar nichts. Den dritten Tag, es war am 6. Mai, fuhr ich mit Abeken auf dem Marktschiffe nach Mainz. Wol würde eine solch eigenthümliche Fahrt mich sonst auch ergötzt haben. Ich ging unter den zweihundert Menschen umher, hörte sie reden und singen, sah wie sie spielten, aßen und tranken – Alles war mir gleichgültig. Es war viel Leben und Lärmen, der noch durch Musik vermehrt wurde, denn alle Augenblicke kamen Drehorgeln an Bord. Mir ging es ähnlich wie dem Italiener, der that als ob er nichts hörte: als man bei ihm einsammeln wollte, sagte er ›je dors‹, und als ein Tau auf seinen Gypsfigurenkram fiel und eine Venus zerschmetterte, hob er gleichgültig die Scherben auf und warf sie in den Main.
Am folgenden Tage reiste ich weiter den Rhein hinab mit dem Postschiffe. Ich befand mich in kleinerer und besserer Gesellschaft als gestern. Die meisten meiner Reisegefährten mochten wie ich noch nie den Rhein gesehen haben und waren entzückt von seinen wechselnden Schönheiten, die sich bei heiterem Sonnenscheine in ganzer Frühlingspracht den Augen darboten. Die ganze Gesellschaft ward bald zu einer großen fröhlichen Familie und wunderbar, ich war einer der heitersten, so daß ich nicht wenig zu der guten Stimmung beitrug. Das Leid hat sein Recht, aber die Freude will auch ihr Recht haben. Ich war ein Allerweltsfreund geworden, alle verkehrten mit mir gerne, und erwiesen sich sehr freundlich und gefällig.
Am 8. Mai traf ich in Bonn ein. Am Rheinufer begegneten mir einige alte Bekannte, einer führte mich in seine Wohnung und beherbergte mich. Noch am Abend spazierten wir nach Poppelsdorf, dort gedachte ich zu wohnen. Die Sonne ging eben unter, das Siebengebirge lag in seinem veilchenblauen Scheine neben uns; die hohen Kastanien, unter denen wir wandelten, blüheten in voller Pracht. Ich wurde fast schwindelig von der zauberischen Aussicht. Wie schön ist die Gegend! rief ich aus, wäre doch das Leben auch so!
Am folgenden Morgen besuchte ich Welcker. Er empfing mich wie gewöhnlich, nicht kalt nicht warm, machte mir zu nichts Hoffnung [76] bat mich übrigens, ich möchte immer zu ihm kommen und ihm sagen, worin er mir helfen solle. Montag den 10. Mai ließ ich mich bei Hüllmann immatriculieren. An demselben Tage zog ich nach Poppelsdorf in ein kleines einstöckiges Haus neben der Kirche. Ich hatte mich nach ländlicher Einsamkeit und Ruhe gesehnt und fand beide hier. Unter dem von fern her hallenden Gebelle der Hunde und dem Gequake der Frösche schlief ich ein und mit dem Morgenrufe des Hahnes wachte ich auf. Es that mir wohl, die ersten Tage so für mich hinzuleben. Ich kümmerte mich wenig um Professoren und Studenten. Noch Einmal sollte sich in seiner ganzen Fülle der Schmerz um den Tod des Vaters erneuen. Am Tage vor Himmelfahrt, als ich eben auf dem Universitätsplatze umherwandelte, überreichte mir der Pedell einen Brief meines Bruders. Aus dem goldenen Engel, wo ich gespeist hatte, ging ich zu Schlegel in die Geschichte der abendländischen Litteraturen. Ich setzte mich auf eine Bank im Hintergrunde, entfaltete den Brief und las. Vor Thränen konnte ich kaum die erste Seite beendigen. Ich legte ihn wieder zusammen und hörte Schlegel zu. Er theilte eben die schöne Canzone mit, worin Petrarca den Tod seiner Laura beweint. Ich begann zum zweiten Male den Brief zu lesen. Es war mir nicht möglich, ihn zu beendigen. Als Schlegel seine Vorlesung beschlossen hatte, sprang ich zum Fenster hinaus und eilte ins Freie und so nach Poppelsdorf. Ich schloß mich in mein Zimmer ein und las und weinte. Verwirrt und mit heftigen Kopfschmerzen suchte ich dann das Freie.
Am anderen Tage, es war Himmelfahrt, als die Glocken läuteten und die Morgensonne durch die grünlichen Scheiben brach, und mir so festlich zu Muthe war, da las ich den Brief meines Bruders wieder.
Ich war von jetzt an ruhiger geworden und hoffte für meine Studien ein recht ersprießliches Gedeihen durch den Verkehr mit Professoren und Studenten und durch die Benutzung der Bibliothek. Die Universität Bonn war am 18. October 1818 durch Friedrich Wilhelm III. gestiftet. Schon zu Michaelis fanden sich einige Professoren und Studenten ein, eröffnet wurde sie eigentlich erst zu Ostern 1819 und zwar mit 219 Zuhörern.
Unter den Professoren waren bedeutende Namen, besonders in der philosophischen Facultät. Bald zeigte sich, daß sie als Lehrer [77] ebenso unbedeutend waren als früher bedeutend durch ihre Schriften. Der Collegia, die unser einer hören mochte, waren wenig, und diese wenigen entsprachen durchaus nicht den Erwartungen, mit denen man in den Hörsaal trat. So las Schlegel Geschichte der neueren deutschen Litteratur. Das war nicht viel besser, als wenn man gelegentlich einem Fremden erzählt, daß wir Deutschen auch eine schöne Litteratur haben. Dabei brachte er alle wichtigen Erscheinungen mit sich in Beziehung, und wenn er auf Goethe und Schiller zu sprechen kam, so vergaß er nie ›mein unsterblicher Freund‹ hinzuzufügen. – Was Arndt leisten würde, ließ sich nicht ermessen; seine academische Lehrthätigkeit wurde durch einen Ministerialbeschluß aufgehoben und blieb es nachher noch zwanzig Jahre.
Die Studentenwelt war ungleich besser vertreten als meine philosophische Facultät. Fast alle deutschen Universitäten hatten ihren Beitrag geliefert, namentlich Jena. Es waren meist alte Burschen, viele Mitglieder der Burschenschaft, einige sogar Vorsteher derselben. Sie waren begeistert für die Ideen dieser zeitgemäßen, Verbindung und verfochten ihre Ansichten mit dem Worte wie mit dem Schläger. Des gewöhnlichen Studententreibens satt hatten sie sich der Wissenschaft ernster zugewendet und strebten mit Eifer und Muth nach einem edelen sittlichen Leben für sich und andere und nach Erwerb einer tüchtigen wissenschaftlichen Bildung, alles zu Nutz und Frommen des Vaterlandes. Sie übten durch Erfahrung, Einsicht und Beispiel eine Herrschaft aus, der sich die jüngeren Studenten gerne fügten, zumal niemand in seiner jugendlichen Heiterkeit und seinem sonstigen, selbst absonderlichen Wesen sich gestört fühlen konnte. So wurden die ersten Ankömmlinge die Gründer eines Studententhums, das sich trotz den baldigen störenden Eingriffen der Regierung herrlich entwickelte.
Die Bürger wußten nicht was aus ihnen und ihrer guten Stadt Bonn noch werden sollte. Sie hatten weder von einer deutschen Universität noch von deutschen Studenten die geringste Ahndung. Sie kannten nur die französischen Bildungsanstalten; was im Vaterlande bestand und vorging, war ihnen fremd geblieben. Sie wunderten sich nicht wenig, daß Professoren so hochangesehene Leute waren, bei ihnen hieß ja jeder Schulmeister (selbst unser Poppelsdorfer) Professor. Daß Studenten ganz was Besonderes sein sollten, konnten [78] sie nicht begreifen; waren sie doch selbst Studenten gewesen, denn wer eine Schule besuchte, besonders eine sogenannte lateinische, war ein Student. Es dauerte eine Zeit, ehe sie an das freie muntere Wesen der Studenten und ihre Sitten und Gebräuche sich gewöhnten, und sich darein fanden, mit ihnen die besuchtesten Vergnügungsörter theilen zu müssen.
Commerse und Bälle waren unsere Vergnügen, woran sich jeder betheiligen konnte. Wollte sich einer sonst erholen oder belustigen, so gab es Gelegenheit genug. So fand sich immer Nachmittags ein kleiner Kreis von Freunden und Bekannten ein aus der Vinea Domini, damals noch eine Kaffee- und Weinwirthschaft. Die Aussicht auf den Rhein und nach dem Siebengebirge war reizend, und der Aufenthalt unter dem Schatten der Bäume, umspielt von der frischen Rheinluft, erquickend. Andere, die in Poppelsdorf speisten, blieben gewöhnlich noch einige Stunden dort. Zu denen gehörte auch ich den ersten Sommer. Da saßen wir denn im Garten vor der Brüsselbachschen Wirthschaft und führten manches Gespräch über Kunst, Wissenschaft und Politik. Noch andere machten weitere Ausflüge in die schöne Umgegend, nach Königswinter, dem Siebengebirge und Godesberg. Auf dem Heimwege wurde dann immer viel gesungen, besonders das Wahlmannsche Lied: ›Mein Lebenslauf ist Lieb' und Lust‹ und mit jubelnder Begeisterung die Strophe:
Obschon unsere Anzahl nur klein – etwas über 200 – und bisher keine Klage eingelaufen war über Ruhestörungen und irgend eine Unbill unsererseits, so schien es uns doch selbst nothwendig, etwas durch uns und so für uns zu thun. Darum waren wir denn darauf bedacht, die ganze Studentenschaft in ein geschlossenes Ganze zu bringen mit selbst berathenen und beschlossenen Gesetzen, wodurch ein sittlicher und wissenschaftlicher Sinn befördert und dem jugendlichen Leichtsinne und jeder unedelen Leidenschaft entgegen zu wirken wäre.
[79] Das geschah denn auch im Laufe des Sommers. Es wurde ein Ausschuß mit Entwerfung der Gesetze beauftragt. Es nahmen mit mir mehrere der alten Burschen Theil daran. Jetzt handelte es sich nur darum, ob wir überhaupt in dieser Zeit noch an eine Verbindung denken dürften. Die Beschlagnahme der Papiere der beiden Welcker und Arndt's und des letzteren einstweilige Entamtung waren keine vereinzelten Maßregeln mehr. Die Carlsbader Beschlüsse standen in Aussicht.
Da beschlossen wir denn: wir wollen keine Burschenschaft und keine Landsmannschaft sein; wir wollen keinen geschriebenen Comment haben, sondern was uns gut und zweckmäßig scheint und sich durch Erfahrung bewährt hat als Gesetz halten; wir nennen uns Allgemeinheit, denn jeder Student, der nichts Unehrenhaftes sich hat zu Schulden kommen lassen, ist Mitglied; wir wollen auch die deutschen Farben nicht, sondern die rheinischen, weißgrünroth:
und um allen Verdacht über unser Thun und Treiben von vorn herein zu beseitigen, sollen alle unsere Verhandlungen öffentlich sein. So glaubten wir jeder Gefahr zuvorgekommen zu sein und doch unsern Zweck erreicht zu haben.
Es war auch ein Bonner Commersbuch schon im Frühjahr gewünscht und später beschlossen worden. Mir wurde der Auftrag, ein solches auszuarbeiten und darin hauptsächlich auf den Rhein und seine schönste Gabe, den Wein Rücksicht zu nehmen. Ich suchte nun mir für manche Lieder die ursprünglichen Texte zu verschaffen, einige in den Commersbüchern verdorbenen nach besseren Lesarten herzustellen und alle Lieder, die nach Puder und Pomade rochen oder voll Rohheiten und Renommisterei strotzten, fern zu halten. In Betreff der Vaterlandslieder war die größte Vorsicht anzuwenden, und es kam mir zu Statten, daß der Verleger für das Patriotische keinen Bogen mehr spendieren wollte. Die Censur war bereits in voller Thätigkeit und gewisse Wörter waren bereits verpönt. In dem schönen Arndt'schen Liede: ›Bringt mir Blut der edlen Reben‹ lautete die letzte Strophe [80] ursprünglich:
Das Büchlein erschien im August unter dem Titel: ›Bonner Burschenlieder‹. 5 (Bonn, bei Eduard Weber 181). 153 Studenten hatten darauf subscribiert, ihre Namen wurden mit Angabe ihrer Heimat und ihres Studiums vorgedruckt. Ich erhielt für dies Erstlingswerk 50 Reichsthaler kölnisch.
Das eigentliche Studentenleben, dem ich mich bisher nicht gut entziehen konnte, bekam ich nach und nach satt. Ich beschränkte mich lieber auf einen kleinen Kreis von Freunden und auch diesen war es Bedürfniß, sich über die Fragen des Tages und wissenschaftliche Dinge, die uns am Herzen lagen, gegenseitig ruhig und gemüthlich aussprechen zu können. Ich hatte in Kessenich eine kleine Bauernwirthschaft entdeckt, wo man guten Wein und Butterbrot billig haben konnte. Hinter dem Hause war ein Baumgarten (Bungert) mit einem Pfahltische und Pfahlbänken. Dahin führte ich auch meine [81] Freunde, und wir konnten da bei unserm Schöppchen stundenlang sitzen, sahen in das frische Grün der Bäume und des Rasens und unterhielten uns.
Mit neuen Plänen und Entwürfen, mit neuer Arbeitslust kehrte ich dann heim in mein stilles Stübchen, um noch zu lesen und zu dichten. Auf dem Tische fand ich ein frisches Blumensträußchen. Das war von Gretchens Hand, und meine Freude daran war auch ihre Freude. Sie war die Tochter meines Wirthes, und obschon dieser ein bürgerliches Gewerbe trieb – er war Porcellanmaler und Steindrucker – so war doch Gretchen ganz wie ein Landmädchen in Tracht, Sprache und Sitten. Sie trug ein perlengesticktes Häubchen und wenn sie zur Stadt ging, ein großes weißes Tuch über dem Kopfe und wieder darüber, wenn sie etwas zu tragen hatte, den Korb der auf einem wollenen Kranze ruhte. Sie sprach das eigentliche Bönnisch und wußte alle die Lieder, die man zum Tanze oder im Freien und bei Zusammenkünften zu singen pflegte. Sie hatte eine Freundin, Katharina (Tring); beide waren die hübschesten Mädchen des Dorfes. Ich lernte von ihnen ihre Sprache und ihre Lieder, und wenn sie diese nicht recht vollständig wußten, so schrieben sie in Gesellschaft mit anderen Mädchen und Burschen dieselben auf. Zuweilen that ich dies denn auch selbst und Andres, Katharinas Bruder, mußte mir helfen, und wir tranken dann ein Schöppchen dazu.
Ich hatte wieder große Lust zum Dichten bekommen, meine Liebe war eine unerschöpfliche Liederquelle geworden. Wenn ich dann ein neues Lied Gretchen vorlas, so freute es mich, daß sie es verstand und sich darob freute. So klein auch der Kreis der Gefühle und Gedanken eines einfachen jungen Landmädchens nur sein konnte, so war er doch für mich groß genug, und meine Phantasie wußte manche Aeußerung, manchen Anlaß poetisch zu benutzen. So entstanden mehrere Lieder, wovon die meisten in meine ›Lieder und Romanzen‹ (Köln 1821 bei Bachem) 6 übergingen. Keiner meiner [82] Freunde wußte eher etwas davon, und es schien mir, als ob ich mehr meiner poetischen Stimmung als meinen Poesien den Spitznamen ›der Poet‹ verdankte.
Nur Einer wußte, daß ich immer wieder zu dichten beginnen, ja, daß ich es niemals lassen würde, nur Einer hegte bisher von meinen dereinstigen poetischen Leistungen so große Hoffnungen, wie sie nur in dem Herzen eines Freundes sprießen konnten, und dieser Eine war Krawinkel. In einem schwärmerischen Briefe, den er im Sommer von Göttingen aus in seiner treuen Liebe an den fernen Freund richtete, sprach er den Wunsch und die Erwartung aus, mich dereinst in einer Geschichte der deutschen Litteratur, die er zu schreiben beabsichtigte, als einen der unsterblichen Geister, als das neue Gestirn des Tages feiern zu können. Der gute Krawinkel! Ich dachte vorläufig an keine Unsterblichkeit: mir war genug dieser Frühling meiner Dichtung und Liebe. Gretchen war mein Taggedanke, war mein Traum.
Gegen Ende Augusts unternahm ich mit zwei Freunden, Schweder und Schindler einen Ausflug an die Maas, Eisel und Mosel. Nach damaligen flüchtigen Aufzeichnungen und Erinnerungen habe ich zehn Jahre später diese Reise beschrieben.
Die Morgenglocke läutete. Mit leichtem Gepäck, den Staubmantel übergeworfen, eilte ich zu Schweder und holte ihn ab. Die Waldhöhen hüben und drüben am Rheine wurden heller, vor uns ging die Sonne auf, rechts lag hinter dem blinkenden Wasserspiegel das Siebengebirge in das schönste Veilchenblau gehüllt.
In Köln eilten wir, sobald wir uns erquickt hatten, nach dem Dome. Welch ein Eindruck! Schweigend stehen wir da, jeder merkt dem anderen an diese stille Bewunderung für einen so hohen himmlischen Gedanken, der sich hier verkörperte. Wir treten ein in diese zauberische Dämmerung, die Poesie des Tages. Eine reiche lebendige [83] Natur, ein ganzer Wald himmelanstrebender Bäume wölbt sich über uns mit breiten Wipfeln und Blätter- und Blumenkränzen, und steht versteinert da, um den Geist der Andacht zu begränzen, das gen Himmel ringende Herz auf der Erde zu fesseln.
Colonia Agrippina, wär' es dir möglich gewesen, deine hundert Götter in diesen Dom zu stellen, hier hättest Du sie selbst zerstört und Dir selbst über ihren Trümmern das Evangelium gepredigt!
Ich kann es nicht lassen, ich muß vergleichen, auf daß mir klar werde, was Heidenthum und Christenthum, Ausland und Vaterland ist. Ich hasse jedwede seichte Lobpreisung und blinde Verehrung und verachte jede Einseitigkeit, die nicht auf ein edles, reines Streben für Kunst und Wissenschaft sich gründet, oder etwas im Leben bekundet, was man Physiognomie, Art und Weise, Charakter nennt. Lernt Deutschlands Vergangenheit und Gegenwart kennen, nur dann werdet ihr herrliche Hoffnungen für seine Zukunft haben! Es ist ein heiliger Gedanke für mich, daß auch durch mich vielleicht doch irgend eine dieser Hoffnungen erfüllt wird, und eben das ist mein Trost, wenn ich mir, wie heute hier in Köln, Einseitigkeit, salsche Ansicht, verkehrtes Streben zum Vorwurf machen lassen muß.
Nur der Kampf führt zum Siege! Und ich werde kämpfen und wenn ich auch nicht siege. Es hat sich in mir eine Reihe von Ansichten über deutsches Leben, deutsche Sprache, Kunst und Wissenschaft gebildet, die ich zu einem Ganzen einen, zu einer großen Idee erheben, zu dem Zielpunkte meines ganzen Lebens hienieden hinstellen will. Mühsam habe ich alles das errungen, aus dem Wuste eingetrichterter Schulweisheit gerettet, mit Aufopferung und Entbehrung dem Frühlinge meines Alters abgezwungen; aber ich nenne es mein, es ist mein eigenstes Besitzthum, und wenn auch niemand mit mir Gütergemeinschaft eingehen will, so soll doch auch niemand mein Besitzthum mir rauben, beeinträchtigen, verunglimpfen.
Ich reise nicht so leicht wieder in Gesellschaft; jeder verfolgt seinen Zweck, d.h. in der Regel keinen. Wehe dem, der neben anderen, die nichts wollen, etwas will! Wie ärgert mich diese Flüchtigkeit, diese Oberflächlichkeit! Ich könnte noch heute im Dome sein – und meine Reisegefährten gönnen wir kaum so viel Zeit um nur das Wichtigste zu beschauen.
[84] Die bretterbeschlagene Wölbung stört, sie unterbricht sehr unangenehm die emporstrebenden Linien der Pfeiler, das Auge will einen Ruhepunkt, und da ist die Welt wirklich mit Brettern vernagelt. Der Chor ist ganz vollendet worden, zurückschauend daraus erfaßt man erst recht den hohen Gedanken des Meisters und vergißt die Armuth und Erbärmlichkeit unserer Tage, die nichts Großes beginnen konnte, nichts Großes vollenden wollte.
An den vielen Altären wird nach dem Rosenkranze gebetet mit niedergesenktem Blick; wie anders mußich beten, jeder Blick empor ist ein inbrünstiges Gebet zu Gott.
Wir stehen auf dem Gerüste vor dem berühmtesten Bilde der altkölnischen Schule, was hier neben uns ein Maler copiert. Diese lichte, strahlende Engelreinheit in den Jungfrauengesichtern, diese Verklärtheit ihrer Augen, die sich alle in Einen Blick einigen, ihre Verehrung der Mutter Gottes darzubringen – copiere nur zu! dachte ich. Mir ist es immer, als ob die Künstler damals noch in den Himmel geschaut hätten und wir Modernen könnten vor allerlei Studien und Lectüre in Italien und sonstwo nicht mehr dazu kommen.
Es ist heut ein lebendiger Tag in Köln, die Procession von Kevelaer kehrt zurück. Diese vielen tausend Menschen, voran wehende Fahnen, Geistliche im Festschmucke, Panken und Trompeten, und nun, im Zuge Alte und Junge, Gesunde und Kranke, durch einander singend und betend, dann hinterdrein einige hundert Wagen mit Fähnlein geziert – wer kann leugnen, daß ein solcher Zug irgend ein Interesse erwecken muß in dem Hörer und Zuschauer? Aber ich erkläre mir dies Interesse nicht aus der religiösen Beziehung dieses Zuges, sondern lediglich aus der Masse Menschen, der jeder leicht den reinsten Zweck, den schönsten Willen oder sonst etwas Interessantes anpoetisieren kann, zumal wenn er etwas fern steht, und nicht erfährt oder erfahren will, was es denn eigentlich mit diesen Wallfahrten für eine Bewandtniß hat. – Ja, und wenn auch wahre Andacht und Reue vorhanden, ist es nicht ein furchtbarer Gedanke, daß Menschen Heil und Segen meilenweit von einem hölzernen Bilde, von einer Puppe sich holen! und daß mitten in unserem tausendjährigen Christenthume solche Heidengräuel noch sind wie zu Zeiten der Apostel!
[85] Ich höre, daß man es hin und wieder unserer Regierung hoch anrechnet, daß sie die Wallfahrten, die in französischer Zeit so streng verboten waren, erlaubt; aber ich höre von rechtschaffenen und einsichtsvollen Geistlichen große Klagen darüber erheben und der Regierung Vorwürfe darüber machen. Meines Erachtens thun beide unrecht daran, da die Regierung vorläufig in Religionssachen gar nichts thun will, weil Alles was in Bezug darauf geschähe, so wie es nur preußisch hieße, noch mehr gehaßt würde. Aber die Regierung hat noch ein Mittel in Händen, womit sie Wunderdinge thun kann: Schulen und Universitäten, und diese Wunder werden bald alle Wunderdinge übertreffen, welche die Muttergottes in Kevelaer seit Jahrhunderten verrichtet hat.
Den anderen Tag besuchten wir in den Morgenstunden die Wallraf'sche Gemäldesammlung, die nach der Boisserée'schen vielleicht in geschichtlicher und künstlerischer Hinsicht den ersten Rang unter den eigentlich altdeutschen Gallerien behauptet. Die große Masse der Gemälde, die Mannigfaltigkeit der Gegenstände aus der heiligen und Profangeschichte, die Verschiedenartigkeit der Darstellung eines und desselben Ereignisses, der Wechsel in der technischen Behandlung – alles das verwirrte meinen Blick und ließ mich zu keinem ruhigen Genusse kommen, so sehr ich mich auch zwang, bei dem einen und dem andern Bilde zu verweilen. Zuletzt ward meine Unruhe so groß, daß ich mich vor dem heiligen Sebastian hinsetzte mit dem Entschlusse: nun auch weiter nichts mehr zu sehen, um doch etwas Ganzes, eine klare Vorstellung aus diesem Bildermeere heimzubringen. Es gelang mir, aber ich bedauerte bald, daß ich doch außer dem heiligen Sebastian gleichsam nichts weiter gesehen hätte. Um so erfreulicher ward es mir in der Zukunft, daß ich bei dieser Gelegenheit einen Mann kennen gelernt, dessen ganzes Wesen immer meine Achtung und Bewunderung in Anspruch nimmt. Und das war Wallraf, der Stifter dieser herrlichen Sammlung und aller übrigen öffentlichen Sammlungen Kölns. Ich sah ihn heute zum ersten Mal, er führte uns selbst umher und ich unterhielt mich viel mit ihm. Sein ganzes Äußere war bescheiden und anspruchlos, aber es sprach aus allem etwas Edles und eine Würde, die nicht allein das Alter zu geben vermag; und obschon er jetzt 71 Jahre alt war, so blitzte doch noch aus den klaren großen Augen, die von den weißen Augenbrauenüberschattet [86] wurden, mitunter ein Jugendfeuer und in seinem Lächeln lag eine Heiterkeit, als ob er ein Jüngling fortan geblieben sei.
Desselben Tags in der Dämmerung kommen wir in Düren an. Nach Tische suchen wir uns ein trauliches Eckplätzchen und lassen uns bei einem Schöppchen nieder. Wir sind hier ganz unter uns, thun wie zu Hause, unbekümmert um die vielen Gäste, die sich uns neugierig ein nach dem andern bis auf einige Schritte nähern. Zuerst erzählen wir uns von unsern heutigen Erlebnissen, wie hier und dort die Leute, wol wegen gewisser Auffälligkeiten in unserem Anzuge und besonders wegen unserer langen Bärte, vor uns fortgelaufen, wie die Kinder uns jubelnd mit hepp! hepp! nachgefolgt, wie wir überall verhöhnt und ausgelacht sind u. dgl. Dinge mehr, die wir mit einem Selbstgefühl ertrugen, als sei es rein unmöglich, überhaupt nur etwas Lächerliches an uns zu finden. – ›Stoß an! es lebe ...‹ ›Noch eine Flasche! Der Wein ist wirklich ganz vortrefflich.‹
Es bleibt doch immer eine feine Sitte, dies Lebenlassen, wenn man selbst so anmuthig lebt, so sorglos um das Morgen und Heute, und dann so recht von Herzen die ganze Welt leben läßt. Die Leute scheinen sich höchlich zu wundern über unsere Lebhaftigkeit und den männlichen Ernst in unserer Unterhaltung; und wir hätten uns über uns noch mehr wundern sollen! Wir fühlen uns wechselseitig näher als jemals, unsere Herzen so harmonisch, jede Äußerung nichts als Liebe und Zutrauen zu dem andern! und doch stehen wir uns so ferne! Aber hier übte der Wein seine Zaubermacht. Ja, ich will's gestehen, und wenn's meine größte Schwäche wäre, ich bin dem guten Weine herzlich gut, ich verdanke ihm mit die schönsten und heitersten Stunden, Stimmungen, wo mein Geist seiner Ewigkeit froh ward, wo ich vor den Sternen des Glücks die dunkle Erde nicht sehen und ihre Leiden, ihre Mühsale, ihre Lüge, ihren Haß nicht einmal glauben konnte.
Der Wein ist eine verkörperte Idee der Liebe, und nur wer für Liebe empfänglich ist, nur der versteht diese Idee, nur der erfährt es im Leben, wie sie verständigt, vermittelt, versöhnt, vereinigt, heilt, stärkt, begeistert.
Folgenden Tages gegen Abend kommen wir nach Aachen. Mit einem wunden Fuße lege ich mich schlafen, und beim Aufstehen ist [87] er noch wenig besser. Ich muß im Gasthofe bleiben, und sitze nun eben hier auf einem Schilfrohrsessel so nachdenklich, als ob ich sonst nirgend in der Welt Zeit dazu gehabt hätte und nur darum nach Aachen gekommen wäre. Ist es denn nicht Unglück genug, daß wir unglücklich waren? muß denn nun auch die Erinnerung unser Unglück festhalten, erneuen, vergrößern? Morgenträume des Glücks, geht ihr so in Erfüllung über? – Mein Vater ist todt, meine Mutter, meine Schwestern todtkrank, Haus und Hof in fremden Händen, mein Bruder in der Ferne, und ich? heimatlos, ohne alle Aussicht, ohne alle Hoffnung, so arm an Trost und – könnte ich nur weinen, ich wäre noch glücklich; aber auch das nicht mehr. Wie ein Gefangener sitz' ich hier, dem die ganze Welt mit ihrem Frühlinge und ihren Freuden sich verschloß, dem selbst die Erinnerung daran geraubt ward, ja dem man das Leben ließ, damit es ihn quält und plagt. Unterdessen wurde es lebendiger unter meinem Fenster. Mich trieb's aus meinem Zimmer, weiß selbst nicht wie, ich hinkte hinunter und – da stand ich mitten auf dem Markte, und als ich nun dies lebendige Leben und Treiben, diese Gesundheit und Fröhlichkeit so recht in der Nähe wahrnahm, da weint' ich und fragte mich, warum man so sehr trauern könnte in einer Welt, wo so viel zu thun ist, andere zu erfreuen, zu beglücken.
Nachmittags bestiegen wir den Loysberg. Die Aussicht ist befriedigend. Freilich wer immer und überall vergleicht, dem fehlt hier vieles und die Erinnerungen an die großen Begebenheiten, die sich an den Namen Aachen knüpfen, können ihm keinen Rhein, keine Mosel, keine Alpen und Gletscher, keine Schweizerseen herzaubern. Das Vergleichen einer schönen Gegend mit einer andern ist eine wahre Krankheit in gewissen menschlichen Naturen; sie können nie des Augenblicks recht froh werden, weil sie immer etwas Fremdartiges, etwas jeden Genuß Störendes aus ihren Erlebnissen und Wünschen hervorbringen müssen. Wie anders erscheint dagegen ein gesunder, kindlicher Sinn! Was ihm der Augenblick beut, das ist sein, er genießt, und unter dem poetischen Athemzuge seiner stillen Zufriedenheit gestaltet sich Alles zu einer willkommenen Gabe, das Unbedeutendste wird bedeutungsvoll, das Minderschöne zeigt doch eine Seite, worüber man sich freuen kann.
Man wird wenig mehr vom Bade gewahr, die eigentliche Curzeit [88] ist schon vorüber, und das bedauere ich auch keinesweges. Es ist für mich ein beunruhigender Anblick, so schaarenweise nichts als kranke, leidende, abgehärmte, bleiche, finstere, langweilige Gesichter zu sehen; es betrübt und verdrießt mich, wenn ich mich herumtummeln muß unter einer Masse Menschen, die nichts weiter auf Gottes Welt zu thun haben, als jeden Augenblick vorschriftsmäßig zu ihres Leibes Heil und Seligkeit anzuwenden! Nein, ich kann nicht begreifen, wie ein Gesunder, der nicht etwa Geld oder sogenannte Menschenkenntniß einsammeln will, auch nur eine Woche hier verweilen kann!
Im Gasthaus gesellte sich zu uns ein preußischer Hauptmann; er zeichnete sich durch ernste Haltung und Gediegenheit der Gesinnung vor der übrigen Gesellschaft aus und erwarb bald unsere Liebe und Achtung. Man hörte es ihm an, daß ihm seine Ansichten und Urtheile nicht so angeflogen waren, wie manchem Schwätzer, sondern daß er die wichtige Frage:warum und wozu man lebt? sich genügend zu beantworten getrachtet hatte. Wir unterhielten uns lange mit ihm, erst gegen Mitternacht nahmen wir Abschied von einander. Ich muß gestehen, ich that's mit einer freudigen Bewegung meines Herzens, denn daß ich künftig eine Erinnerung mehr haben sollte, die mir einen edlen Charakter vergegenwärtigen könnte, – das war eben die letzte Freude dieses Tages.
Uberhaupt etwas verlange ich von jedes Menschen Leben, ein Etwas, das seine Begierden und Leidenschaften veredelt, seinen Willen heiligt und sein ganzes Sein und Thun erwärmt und begeistert; eine Idee, die ihn von dem Gemeinen und Alltäglichen entfernt, und ihn in jeder Lage, in jedem Verhältnisse auf einer Höhe hält, wohin kein böser Leumund sich wagen darf. Auch in meinem Leben finde ich den Trost, daß mehr als eine solcher Ideen darin sichtbar ward, zuerst Vaterland, dann Liebe und Kunst und endlich Freundschaft und Wissenschaft. Aber das Alte wird wiederkehren, noch Einmal heißt es: Liebe und Kunst, und zuletzt Vaterland, aber nicht dieses, was ich gefunden, wofür ich leben und wirken wollte und konnte, jenes himmlische Vaterland, jene Heimat, die den letzten Wunsch und die letzte Hoffnung mit Mutterarmen empfängt.
Kaum haben wir Aachen verlassen, so sind wir auch schon auf niederländischem Boden. Es thut mir ordentlich weh, daß das schöne Limburger Land uns nicht gehört, und wie schade um unsere Schifffahrt[89] – nur wenige Meilen von der Maas zieht sich unsere Gränze hin. Dieser kleine Zipfel vom rechten Ufer der Ourthe und Maas, oder von Stablo bis Venlo wäre mir lieber als das halbe Großherzogthum Posen! Allerdings ein schönes Ländchen, voll lebendiger, frischer, gewerbthätiger Menschen, Städtchen an Städtchen, Dörfer an Dörfern, überall grüne Wiesen, Gebüsche, Viehheerden, lauter frohe reiche Aussichten und besonders an einem so heiteren Tage. Die Straße, worauf wir gehen, liegt etwas hoch, und scheint nicht allein zum Gehen, sondern auch zum Sehen ordentlich eingerichtet zu sein. Schon am frühen Morgen begegnen uns Leute von allerlei Gewerben, Bauern und Bürger, jeder lacht uns an und grüßt uns wallonisch, und wir antworten in allerlei Sprachen, was jenen denn eben so lächerlich war als uns ihr Wallonisch. Wo wir unterweges einkehren, ist des Staunens kein Ende; aber das stört mich weniger als die unverschämte Ansprache der Betteljungen vor und hinter den Dörfern, sie begleiten uns kläglich bittend und stellen sich vor uns im dicksten Staube auf den Kopf und schießen Purzelbaum. Man erzählt viel von dergleichen Bettlerpoesie in fernen Landen, ich finde sie aber weder nothwendig für eine schöne Gegend, noch ruhmvoll für einen Staat. Ich habe keinen Sinn dafür und mag auch keinen dafür erlangen; es ärgert mich immer, wenn die Natur den Menschen beschämt und wenn ein Künstler durch Bettler den Reichthum seiner Landschaft hervorheben will.
Doch was kann mich überhaupt stören, so lange ich in einem paradiesischen Garten genießend lustwandle? Die Frische des Grüns und die heitere Bläue des Himmels erquickt und belebt mich; hin und wieder zirpt ein Vogel, aus einem Meierhofe tönt ein Volksgesang, ich höre nur und sehe, spreche gar nicht und gehe weiter, ich fühle mich so allein und doch Allem was mich umgiebt, liebend genähert und befreundet. Es liegt etwas Versöhnendes in einer solchen herrlichen Gegend; ich freue mich, daß die Natur noch immer ihre alten Wunder an mir thut; schon dafür daß sie mir die lieblichsten Erinnerungen an meine Heimat weckt, an die Sonnentage meiner Kindheit, gebührt ihr Dank und Liebe meines Herzens. Armes Stadtkind, wenn du nur zwischen steinernen Häusern und in öden Hofräumen aufwächsest! wenn du die lebendige Natur nur aus Tapeten und Bilderbüchern kennen lernst! – Jede Erziehung sollte billig immer dafür sorgen, daß die Heimat des Kindes ein reiches Feld [90] von belebenden und mannigfaltigen Erscheinungen und Anschauungen ist, ein Garten, drin das Kind sein zartes Leben frei und ungestört in Unschuld wie die Blume entwickeln kann. Wo die Erziehung des Menschen keine Geschichte hat, muß sie in späteren Jahren gleichsam immer wieder beginnen; das Kind bewahrt keine Gefühle und Anschauungen, woran sich das Verwandte anknüpfen, womit sich das Neue und Überraschende der Erscheinung harmonisch vereinigen ließe. Unser väterliche Garten hat mehr Antheil an der Entwickelung meines ganzen Seins als manche spätere wohlgemeinte Ermahnung; die Blumen und Bäume, die Lauben und Schattengänge, die singenden Vögel und bunten Schmetterlinge reden noch immer aus jenen Tagen herüber ihre freundliche Sprache, ich sehe und höre noch Alles wieder, ich lebe noch immer im vollen Genusse dieses reichen Schatzes an Poesie und Lebensfreude.
Zu Mittage waren wir in Herve, wir nehmen dann unsern Weg weiter nach Lüttich zu. Bei Sonnenuntergange nähern wir uns der Stadt. Die Heerstraße wird lebendiger, aber auch staubiger; ganze Schaaren von Tagarbeitern, die wahrscheinlich die ganze Woche über in Lüttich beschäftigt waren, scheinen jetzt auf den Sonntag zurück in ihre nahe Heimat zu gehen; sie sind guter Dinge und aus ihrem spöttelnden Jubel läßt sich leicht abnehmen, wie das Gefühl des mühselig verdienten Wochenlohns sie sorglos, sicher und übermüthig macht. Ein solches Gefühl hat gewiß bei diesen armen Leuten etwas sehr Verzeihliches, aber ich wünsche ihnen ein besseres: nicht dieses augenblickliche rauschartige Bewußtsein der Güter des Lebens, sondern den dauernden Genuß, den ihnen ein heiterer Sinn und religiöse Zufriedenheit gewähren kann. Ich weiß recht gut, daß jeder Erwerb, zumal noch jeder würdige und ehrenvolle ein Selbstgefühl erzeugt, wovon der Kraft- und Thatlose kaum zu träumen weiß; aber in eben diesem Gefühle, so schön und lobenswerth es ist, liegt doch auch wieder so etwas Unersättliches, daß es leicht ohne Verdienst befriedigt wird, und dann uns vor uns selbst und vor andern erniedrigt. Wehe dem, der schon am Morgen seines Lebens gethan zu haben denkt, was anderen nach tausend Mühsalen, Opfern und Entbehrungen noch nicht gelingen will!
So kamen wir denn nach Lüttich. Dort folgte uns beim Eintritt in die Stadt im Jubel der ganze Troß schaulustiger Leute nach und [91] die Jungen ließen es an hepp! hepp! und einigen derben Artigkeiten nicht fehlen, und so gelangen wir bei der größten Theilnahme des Publicums in unser Gasthaus. Schon die wenigen deutschen Worte, womit uns der Kellner empfing reichten hin, unsern Kummer für den Augenblick zu stillen. Aus dem Munde eines Fremden und noch dazu in der Fremde erfahren wir erst recht, was die Muttersprache für eine Bedeutung hat, wir fühlen uns geborgen und heimisch und der liebenden Theilnahme der Gesellschaft wiedergegeben. Aber leider wurden wir bald von neuem getäuscht; man glotzte uns habgierig an, als sei's nur lediglich auf unseren Geldbeutel abgesehen. Die schlechte Bewirthung entsprach ganz den Blicken der Gastgeber.
Wir gedachten länger hier in Lüttich zu verweilen, aber der gestrige Tag hat meinen Reisegefährten alle Lust verleidet; sie wollen nichts mehr von Lüttich wissen, wollen bis den Augenblick zu Hause bleiben, bis das Schiff nach Maastricht abgeht. Ich benutzte anders diese Morgenstunden. Es ist gerade Sonntag und die Straßen sind noch belebter als gestern. In Begleitung zweier junger Wallonen wandre ich von einem Ende der Stadt zum andern.
Um Mittag bestiegen wir das Marktschiff nach Maastricht. Die Ufer der Maas sind schön, freilich keine Rhein- und Moselufer, aber eben darum fahren wir ja auch auf der Maas. Die kleinen grünen Berge, die den Fluß umschließen, die freundlichen Dörfer an beiden Uferseiten, dann die lustigen Leute auf den vorüberfahrenden Schiffen, das wirklich sonntägliche Wetter, ein ununterbrochener Sonnenschein, und nun noch unsere Ruhe auf dem Verdecke im Anschauen aller dieser Herrlichkeiten neben und über uns – ich war still und zufrieden und lebte ganz dem Augenblicke, der immer eine neue freundliche Aussicht in die Welt darbot. Ich weidete bald mit den Hirten auf den Wiesen, bald warf ich mit dem Fischer mein Netz aus, bald saß ich an einer Felsenecke mit einem Knaben und blickte erwartungsvoll auf die ausgeworfene Angelschnur; dann zog ich mit den jubelnden Landleuten auf die Kirmeß, dann lief ich mit den Kindern um die Wette und war nicht der letzte am Ziele – ja, es ist ein erquickendes Gefühl, eine wahre Sonntagsfeier, an den Freuden fremder Menschen sich mitzufreuen. Man muß aber auch von früher Jugend dergleichen Freuden für wirkliche Freuden erkannt haben, um dafür empfänglich zu bleiben, man muß sie mit erlebt haben, um wenigstens durch die [92] Erinnerung ihrer theilhaftig werden zu können. Unsere vornehme, entfremdende Erziehung verstopft uns aber so viele Quellen der Fröhlichkeit, daß uns Eitelkeit und Selbstsucht oft am Ende als einzige Quelle überbleibt, woraus wir zu schöpfen verdammt sind. In der Achtung jedes Standes und Gewerbes, welches nothwendig und ehrlich zugleich ist, soll das Kind aufwachsen; soll lernen, daß alle Güter der Erde für alle Menschen bestimmt sind, daß nicht etwa diese und jene ein ausschließendes Recht darauf haben, daß der Werth dieser Güter nur ein rein willkürlicher ist, das Herz aber diesen Werth bestimmt und ihren Genuß zu einem gottwohlgefälligen macht.
Schon sahen wir die Thürme der Stadt. Das linke Maasufer mit seinen vielen Wirthshäusern wird belebter, näher der Stadt zu in den langen Lindenalleen lustwandelt die Maastrichter schöne Welt. Wir landen. Leute von allen Richtungen her strömen herbei. Wir sind umringt und müssen uns durchdrängen. Ein Dragoner kommt auf mich zu: ob wir Dienste nehmen wollten? ›Nein, nein, nichts der Art.‹ Man drängt sich hinter uns drein. Die Kinder werden lauter, hin und wieder fällt schon ein vernehmliches Hurrah! Die Thorwache läßt uns jedoch ruhig einziehen, der Unteroffizier hält es aber für besser, uns durch einen Dragoner zur Hauptwache geleiten zu lassen. So etwas geschieht sonst nie oder doch höchst selten, uns wird diese absonderliche Ehre zu Theil. Treulich begleitet uns nun der große Troß lustiger Buben, die jetzt ein fürchterliches hundertstimmiges Hepp! hepp! anstimmen. In allen Gassen mehrt sich der Troß; man reißt die Fenster auf, tritt hastig vor die Thüren und lacht uns an und aus. Und so in einem Triumphzuge, wobei wir die gefangenen Könige sind und der Maastrichter Pöbel den Senatus Populusque Romanus macht, ziehen wir in die Hauptwache ein. Die Officiere begegnen uns mit der größten Artigkeit, gleichsam den Fehler ihres Unterofficiers wieder gut zu machen, sie lesen unsere Matrikeln, trösten uns über den unangenehmen Vorfall und bitten uns, doch noch eine Weile bei ihnen zu verziehen, bis das Publicum ruhig geworden sei. Wir bleiben auch wol ein Viertelstündchen, aber das Publicum will nun einmal einen befriedigenden Schluß dieses Dramas sehen. So wie wir uns wieder blicken lassen, beginnt Alles im lautesten Jubel seine Wanderung mit uns; die halbe Stadt [93] ist wie im Aufruhr. Endlich stehen wir vor dem Gasthofe au Lévrier oder nach der Volkssprache: hazenwind. Die Wirthin ist eben auf das Geschrei von draußen hervorgesprungen, sieht uns an und erschrickt nicht wenig. Wir bitten freundlichst um Aufnahme und treten in das große Gastzimmer ein. Hier bekam ich die erste Idee von holländischer Nettigkeit. Die Wände sind mit Tapeten, Gemälden und Kupferstichen geziert, vor den hellen Fenstern hängen die feinsten Gardinen, über den hohen Spiegeln weiße Florvorhänge, die Möbeln alle geschmackvoll gearbeitet blinken von Reinlichkeit, das ganze Innere hat etwas Trauliches. Wir setzen uns sogleich zum Vespermale nieder und die gute Frau mit uns. Unterdessen erscheint die Tochter vom Hause; sie hatte unterweges gehört, es seien wieder so Leute angekommen wie neulich, aber viel wilder. Es wohnte nämlich neulich in demselben Gasthofe ein Türke, auf dessen Erscheinen den ganzen Tag über viele Menschen vor dem Hause zu passen pflegten. ›Mutter, begann das hübsche Mädchen, wir haben ja wol wilde Menschen bekommen, ich möchte sie gern einmal sehen.‹ – ›Da sind sie‹, erwiederte die Mutter, und wir wurden uns wechselseitig vorgestellt. Das liebe Kind wurde sehr roth und sehr verlegen, als wir unser Lachen am Ende doch nicht bergen konnten. Draußen tobten die Gassenjungen noch munter fort; vor jeder kleinen Öffnung der Fenster, wo nämlich die Gardine sie nicht deckte, standen zwei, drei, und schrieen uns ihr Hurrah! zu.
Es war unterdessen Abend geworden. Die Wirthshausruhe sprach mich nicht mehr an; ich verließ meine Reisegefährten und wandelte allein in der Stadt umher. Nahe am Markte liegt eine Kirche. Ich gehe hinein. Das Halbdunkel, sie war nur spärlich erleuchtet, und das Gemurmel der knieenden Betenden, Alles machte mir bange, es war so etwas Graun- und Geisterhaftes darin, ich mußte bald fortgehen. Ich glaube, ein Katholik wird niemals dies drückende Gefühl haben; wir aber von Jugend auf an eine heitere helle Gottesverehrung gewöhnt, bei der Armuth an Ceremonien angewiesen und beschränkt auf den Reichthum innerer, von allem äußern Pompe und Glanze unabhängiger Andacht, werden uns immer unheimisch finden bei der Ausübung der vielen heiligen Gebräuche der römischen Kirche. Jeder öffentliche Gottesdienst hat sein Nothwendiges, sein Erhebendes, und eben dadurch wohlthätig Wirkendes. Nicht jeder Mensch hat die Gelegenheit, [94] nicht jeder die Kraft und den guten Willen, für das Heil seiner Seele zu sorgen. Aber dies sich Abfinden und Fertigwerden mit dem lieben Gott, was besonders durch die zur Gewohnheit gewordene strenge Beobachtung äußerer gottesdienstlicher Gebräuche so leicht erzeugt wird, ist doch dem Sinne des wahren Christenthums schnurstracks entgegen. Der Christ hat keinen schönern Tempel, wo er Gott verehrt, wo er die Opfer seines Dankes und die Gelübde eines gottwohlgefälligen Lebens darbringt als sein eigenes
Herz. Der Lehrer des Volks, der Erzieher der Jugend, der Rathgeber und Tröster in unseren Kümmernissen und Nöthen sollte es für seine schönste und heiligste Pflicht ansehen und ausüben, in der Welt überall darauf hinzuwirken, daß jedes Menschenherz ein Tempel, eine würdige Wohnstätte Gottes würde.
Am folgenden Tage besuchen wir die sogenannte Maastrichter Höhle, es sind die Steinbrüche des St. Petersberges, der etwa 180 Fuß hoch nahe bei Maastricht liegt zwischen der Maas und dem Flüßchen Jaar (oder Jecker). Bei dem hellsten Sonnenscheine beginnen wir unsre unterirdische Wandrung; sobald uns das Tageslicht verläßt, zünden wir unsere Fackeln an. Unser Führer, vor uns herschreitend, erzählt schon von den Merkwürdigkeiten, bei denen wir eben angelangt sind; wir folgen aufmerksam zuhörend. – Welch eine großartige, alle Erinnerungen und Ideen überwältigende Erscheinung! Tausende von Säulengängen sich immer und immer wieder durchkreuzend, oft 45 Fuß hoch und gegen 15 Fuß breit. Wie verschwinden dagegen die weltberühmten Katakomben Roms! Seit vielen Jahrhunderten, ja schon seit den Römerzeiten ward der Petersberg ausgehöhlt. Dieser kalksteinartige Tufstein wird noch jetzt darin bearbeitet, an die freie Luft, wo er sich härtet, hervorgeschafft und dann nahe und weit versendet. So haben sich diese tausende von Säulengängen gebildet, ein undurchforschliches Labyrinth. Welch eine Geisterstille! das Wort erstirbt gleichsam auf den Lippen; wir singen, aber von den dunklen Wänden hallt nichts wieder. Das Gefühl der Einsamkeit wirkt wol nirgend fürchterlicher als hier; das Erlöschen unserer Fackeln – und wir samt unserem Führer sind Opfer der Verzweiflung und des Hungertodes. In der unabsehbarsten Sandwüste schmachtend umherziehen, an einer öden Insel Schiffbruch leiden, auf den Gletschern der Schweiz sich verirren, – ja, es verfolgt uns überall das Gefühl einer schrecklichen [95] qualvollen Einsamkeit; aber der Himmel ist doch über uns, seine Sonne und seine Gestirne trösten uns. Hier aber in diesen Höhlen erinnert nichts an das Leben; hier nur Nacht, geisterhaftes Grauen, Todtenstille.
Anderthalb Stunden hatten wir umhergeirrt. Das trübe Fackellicht und die undurchdringliche Finsterniß vor und hinter uns, die langen mattbeleuchteten Wände, die keinen Strahl des Widerscheins gaben – ich fühlte eine heiße unendliche Sehnsucht nach dem Tageslichte, nach dem lebendigen, belebenden Lichte. Wir nähern uns schon dem Eingange, niemand aber von uns weiß es, als wir plötzlich aus weiter Ferne das Himmelslicht erblicken. Wie ein Blinder, der zuerst nach Jahre langer Finsterniß wieder sieht, so stand ich da; dieser Anblick war mir so etwas Neues, überaus Wunderbares, Entzückendes, ich konnte mich gar nicht satt sehen. – Wird es mir in diesem überwölbten Erdenleben mal ebenso helle!
Schon seit früher Jugend hielt ich das Reisen für eine Hauptquelle der Erfahrung und Belehrung. Ich erinnere mich noch recht gut, wie ich Tage lang 1811 die Landkarten studierte, um den Weg mir aufzuzeichnen, den ich damals mit meinen Eltern aus einer kleinen Cantonstadt zur Hauptstadt des Königreichs Westfalen nehmen sollte, wie fleißig ich mir die Sehenswürdigkeiten, die unterweges vorkommen sollten, schon im Voraus merkte. Eine große litterarische Reise, wozu ich hinlänglich mit Kenntnissen und Hülfsmitteln ausgerüstet wäre, gehörte zu meinen damaligen Lieblingswünschen. Ich reiste nun schon bis jetzt durch viele Gegenden Deutschlands und kann wol sagen, wo ich mich befand, überall schwebte mir irgend ein wissenschaftlicher Zweck vor, den ich auch immer und wenn auch nur theilweise erreichte; jetzt aber wußte ich wahrhaftig selbst nicht mehr, wozu ich reiste. Um mich recht zu freuen, war ich nicht unabhängig genug; um mich zu belehren, durfte ich nie die Gelegenheit benutzen. Schon beschloß ich, rechts hinauf in das eigentliche Holland zu wandern; aber ich fühlte mich zu sehr, wie durch ein feindseliges Geschick an die Willkür zweier Menschen gebunden, die nur sich für den Mittelpunkt ansahen, um den sich alle meine Neigungen und Wünsche drehen mußten.
Am Nachmittage wanderten wir weiter. Unser Geld war merklich zusammengeschmolzen, wir übernachteten in Herve und lebten sehr mäßig; am folgenden Morgen hatten wir nicht [96] das Herz in Verviers einzukehren. Bald hinter Verviers hebt sich das Land, es wird wilder und unwirthlicher; aber diese letzten Abdachungen des furchtbaren Waldgebirges, der Ardennen, gewähren doch auch wieder manchen Punkt, der uns um so schöner dünkt, je düsterer die umliegenden Gegenden uns anblicken. Bei stets abwechselndem Wetter, wo bald Wolken und Wolken sich jagen, dann wieder die Sonne freundlich hervorglänzt, erreichen wir zu Mittage Spaa. Man ahndet vorher kaum, daß sich in solcher Öde, auf unfruchtbarem steinichten Boden, in Gesellschaft dürrer Fichten, bräunlichten Heidekrauts und hungriger Wölfe Menschen ansiedeln konnten, ja sogar aus fernen Gegenden dahin zum Vergnügen und zur Gesundheit reisen können. Wir kehren ein und hoffen uns an einem so berühmten Orte recht gütlich zu thun, wir haben den vortrefflichsten Appetit und auch guten Willen, mit unsrer Baarschaft nicht zu geizen. Wir kehren also ein und zwar wie immer in das beste Gasthaus. Die Rechnung übersteigt alle Begriffe, die ein vernünftiger Mensch von dem Werthe eines elenden Frühstücks haben kann. Doch es hilft nichts, wir müssen zahlen und können getrost weiter wandern.
Dasselbe Spaa, was wir von der drübigen Seite so freundlich vor uns sahen, erschien uns jetzt in einer finstern verächtlichen Gestalt. Die Sonne war verschwunden und von Osten her zogen schwarze Gewitterwolken über uns auf; in den öden Straßen ritten bleiche Engländerinnen in ihren langen dunkelblauen Reitkleidern wie Gespenster einher, und einige einheimische Gesichter glotzten uns aus den kleinen Fenstern der letzten Häuser stier und unheimlich an und schlugen ein lautes Hohngelächter über uns auf. Wir aber wandern traurig und ernst die Höhen hinan, wir wissen nicht, wo wir die Nacht zubringen und wie wir mit unsern paar Groschen Trier erreichen sollen. Da lacht uns die Sonne abermals freundlich an und die ganze Gegend, wir werden recht froh und guter Dinge, und fühlen uns reicher als vor der Ankunft in Spaa. Doch unsre Freude währt nicht lange. Der Himmel umwölkt sich rings, ein schweres Gewitter steht über uns; als wir eben einen zweiten Berg besteigen, läßt es sich furchtbar nieder, es blitzt und donnert unaufhörlich und gießt in Strömen herab. Wir gehen gelassen weiter, und obschon es dicht neben uns einschlägt, daß Schweder, der vor [97] mir her geht, einen Seitensprung macht, so kommen wir doch mit einem tüchtigen Wasserbade bis auf die Haut davon. Wie ein rettender Engel winkt uns da auf einmal Malmedy in einem lieblichen grünen Thale, Malmedy, die erste preußische Gränzstadt. Wie doch die Hoffnung belebt! Ich ward ganz warm in meinem Wasserpanzer und freute mich schon auf die Freude, die ich haben würde bei einem Kaminfeuer unter der Fürsorge freundlicher Menschen.
Der Gefälligkeit zweier preußischen Zollbeamten gelingt es, uns ein erträgliches Zimmer bei dem schwarzen Bären zu verschaffen. Ein Kaminfeuer wird schnell angezündet; unsere Wirthin, eine ehrliche Stockfranzösin ist recht bekümmert um uns, sie verschafft uns, was wir in unserer Lage nur wünschen und verlangen können: wir trinken Thee mit Rothwein und lesen den Faust.
Warum denn den Faust? Ein deutscher Student pflegt außer einem Wegweiser und einem Commersbuche selten ein anderes Buch bei sich zu führen. Es ist auch so viel Erlebtes darin, Empfundenes und Gedachtes, daß man leicht etwas Verwandtes, Anregendes, und Unterhaltendes, Belehrendes, Begeisterndes, wiederfindet, daß man ferner dort den Faden der Erinnerung für Momente, die sich durch ein Tagebuch in Prosa nicht fixieren lassen, erfolgreich anlehnen kann.
Am folgenden Morgen ersteigen wir die erste Anhöhe der jetzigen Eifel. Eine wahre Lüneburgische Bergheide! Wir können stundenlang gehen und finden dann erst ein Haus, meilenweit und finden ein Dorf oder Städtchen. Ueberall kleine Berge, Heidekraut, Sandsteppen, dunkle Tannichte, dürftig bebautes Feld, wenig Vieh, und Menschen beinahe gar nicht. Bald diesseit Malmedy ist die Landessprache deutsch, der niederrheinischen Mundart ähnelnd, gerade wie sie in Urkundenbüchern der Eifel vorkommt. Die Volkstracht stimmt ziemlich zu der Bonner Tracht, nur die Weibermützen dehnen [98] sich schon oberhalb zu dem platten wulstigen Heiligenscheine aus, wie man sie auf alten Bildern und jetzt um Trier als gewöhnliche Kopftracht erblickt.
Das Wetter scheint sehr unbeständig hier zu sein; wir können kaum eine kurze Strecke wandern, wo uns nicht ein Regenwetter überfällt, und dann haben wir gewöhnlich keinen weitern Schutz als einen niedrigen Birkenbusch. Die trostlosen Aussichten und langen Wege ohne Gelegenheit und Mittel sich erquickend auszuruhen, ermüden sehr. Wir gehen auf dunklem Pfade in die Nacht hinein, wissen gar nicht mehr, ob wir uns verirrt haben oder bald ein Ziel unserer heutigen mühsamen Tagereise sehen werden. Als wir den letzten Berg ersteigen, steht der bleiche Mond vor uns von einem farblosen Regenbogen umgeben. Eine seltene Naturerscheinung, die uns zuerst wieder gesprächig macht, denn traurig und stumm war bisher einer dem andern gefolgt. Die Lichter unten im Thale und die kaum hervordämmernden Häusergruppen, wie unsere matten Glieder an dieser Wahrnehmung erstarken! Die Idee: du bist am Ziele! hat eine Alles aufregende, belebende Kraft. Ich fühle es heute wieder, wie manchmal früher; wenn ich nur noch träumend den müden Körper hinschleppte, durstig und hungrig, unkundig des Weges, und dann eine Thurmspitze, ein Licht erblickte, Hundegebell oder Glockengeläute in der Dämmrung hörte, – ich lebte gleichsam wieder auf und fühlte mich rüstig, noch viele Meilen zu vollenden.
Am 6. September abends spät, von langer Wanderung bei Hunger und Durst völlig erschöpft, trafen wir in Trier ein. Meine Glieder waren vom Gehen so steif, daß ich eine Zeit lang stehen mußte, ehe mir das Sitzen möglich war. Nachdem wir etwas genossen hatten, wurden einige Bekannte aufgesucht und in Anspruch genommen. Sie versahen uns mit etwas Reisegeld und wir setzten des anderen Tages unsere Reise fort. Wir suchten überall Richtwege auf und vermieden dadurch das wiederkehrende Einerlei der Mosel, welche unendlich viele Krümmungen macht. Es wurde wieder recht lustig gelebt und dem billigen leichten Mosel tapfer zugesetzt, als ob wir an der Mosel nicht genug gehabt hätten, sondern nun auch noch den Mosel dazu nehmen mußten.
Zu Anfange der zweiten Woche Septembers kehrten wir heim. Ich hatte viel gesehen und gehört, und manch Vergnügen [99] gehabt; das ganze Ergebniß aber stand in gar keinem Verhältnisse zu den Anstrengungen und Kosten. Was ich mir unterwegs schon mehrmals gelobt hatte, nie wieder in Gesellschaft und noch weniger auf gemeinschaftliche Kosten zu reisen, hielt ich später, und das war der größte Gewinn, den mir am Ende doch noch diese Studentenfahrt einbrachte.
Der Wunsch nach einer Stellung an der Bibliothek war noch immer unerfüllt geblieben. Welcker wollte mich vorschlagen: ich sollte die Bücher aufsuchen und ausgeben und dafür etwas Gehalt bekommen. Das war mir schon recht, mir lag besonders daran, auf die Weise die Bibliothek freier benutzen zu können. Leider gewährte sie in ihrem damaligen Zustande sehr wenig für meine germanistischen Studien. Das Bedürfniß litterarischer Hülfsmittel trat immer fühlbarer hervor und so dachte ich denn daran, mir selbst eine Bibliothek zu gründen. Freilich waren die Aussichten dazu sehr schlecht, vor allen Dingen gehörte dazu Geld, und das eben fehlte mir.
Trotzdem machte ich bald einen glänzenden Anfang: ich fand auf dem Bonner Markte eine Liederhandschrift aus dem 16. Jahrhundert und kaufte sie um 40 Stüber. Meine Freude war sehr groß. Zwei Studentenlieder theilte ich sofort in ihrer alten Schreibart in den ›Bonner Burschenliedern‹ mit, die übrigen Lieder verglich ich mit den bereits anderweit gedruckten und wollte dann die unbekannten oder solche, die sich hier in besseren Lesarten fanden, herausgeben. Ich suchte nun weiter bei den Trödlern und fand mehrere deutsche Handschriften, die aus dem Nonnenkloster Nonnenwerth stammten, und auch diese erwarb ich.
Seit dem 1. October wohnte ich in der Stadt am Markte. Ich arbeitete viel: ich sammelte für deutsche Sprache, Mundarten, Sitten und Gebräuche, Litteratur- und Culturgeschichte und sah zu dem Zwecke ganze Reihen von älteren und neueren Zeitschriften durch. Bernhard Mönnich, mit dem ich zusammenwohnte, wunderte sich oft, wie ich mich so ins Einzelne verlieren konnte. Ich gründete mir aber eben dadurch eine Sammlung, die mir mein ganzes Leben hindurch gute Früchte trug.
Sehr willkommen war mir, daß ich seit dem 13. November Bibliotheksassistent geworden: ich sollte in den öffentlichen Stunden auf der Bibliothek sein, Bücher holen, verzeichnen u. dgl. Ich war [100] nun außerdem noch manche Stunde dort, theils um die Bibliothek in ihrem ganzen Bestande kennen zu lernen, theils um selbst für meine Studien etwas zu finden und Entdeckungen zu machen. Ich hatte mir damals ein hohes Ziel gesteckt, das ich in meiner jugendlichen Begeisterung und im Vollgefühl meiner Kraft zu erreichen gedachte, wenn sich meine äußeren Verhältnisse nur irgend günstig gestalteten: es war diedeutsche Philologie. Ich begriff darunter das Gothische, Alt-, Mittel-, Neuhochdeutsche mit allen seinen Mundarten, das Altsächsische, Niederdeutsche und Niederländische, das Friesische, Angelsächsische und Englische, und das Scandinavische; ferner die deutsche Litteratur- und Culturgeschichte, alles Volksthümliche in Sitten, Gebräuchen, Sagen und Märchen, sowie endlich Deutschlands Geschichte, Kunst, Alterthümer und Recht. Ich wollte die germanischen lebenden Sprachen nicht nur verstehen, sondern auch sprechen. So wie in mehreren Mundarten so hatte ich es auch schon im Dänischen so weit gebracht, im Holländischen war ich nahe daran. Ich las manches Holländische, trieb Grammatik eifrig und sammelte aus einer Menge neuerer Liederbücher die wenigen zerstreuten Volkslieder. Zu meiner großen Freude fand ich das alte Amsterdamer Liederbuch, von dem niemand bisher etwas wußte. Meine Sammlung erhielt dadurch ihren besten und größten Zuwachs.
So kam der 1. Januar 1820 heran. Ich glaubte den Tag nicht besser feiern zu können, als daß ich mich über meine wissenschaftlichen Wünsche und Bedürfnisse gegen einen Mann aussprach, der mir Alles das was ich wollte, längst erreicht zu haben schien – ich schrieb an Jacob Grimm in Cassel. Schon in den nächsten Tagen erfolgte eine Antwort, die aber eigentlich keine Antwort auf meinen Brief war, wie denn Grimm sein Schreiben auch beginnt: ›ich beantworte Ihre freundliche Zuschrift sogleich, vielmehr ich beantworte sie noch nicht, welches ich besserer Muße vorbehalte.‹ Dennoch fand ich auch in diesen Worten eine Billigung meines Studienplanes und war sehr erfreut. Grimm bat mich um die eben erschienenen Bruchstücke des Mailänder Ulfilas von Castiglione und Angelo Mai. Ich sendete sie sofort an Grimm, dem ein großer Gefallen damit geschah, er war eben in voller Arbeit bei der neuen Auflage der Grammatik. Der von nun an mit ihm fleißiger fortgesetzte Briefwechsel wurde mir für meine Bestrebungen sehr lehrreich und für meine Arbeiten sehr förderlich.
[101] Die Sehnsucht nach den Meinigen war jetzt sehr groß. Meiner Mutter hatte ich schon lange versprochen, sie dies Frühjahr zu besuchen. Eines Tages verabredete ich mich mit Wilhelm Hengstenberg, bis in seine Heimat die Reise mit ihm gemeinschaftlich zu machen und dann von dort aus zu den Meinigen zu reisen. Karl Bädeker, der eben von Heidelberg auf der Reise zu seinen Eltern begriffen war, schloß sich an. In der vorletzten Woche 7 des März begannen wir unsere Wanderung. Wir waren alle drei recht munter, Wilhelm sogar ausgelassen. Er neckte und hänselte Alles was uns begegnete, wir hatten genug zu thun, seinem jugendlichen Uebermuthe zu steuern. Am Palmsonntag rückten wir in Elberfeld ein. Bädeker schlug den Weg nach Essen ein und wir verfolgten die große Straße nach Schwelm. Gegen Abend erreichten wir das obere Pfarrhaus in Wetter an der Ruhr. Der geliebte Sohn wurde herzlichst empfangen und man hieß mich, seinen treuen Begleiter freundlichst willkommen.
Wilhelm wollte sich nun in seiner neuen Würde als Student überall zeigen und nahm mich überall mit hin; wir machten fortwährend Ausflüge zu den Bekannten und Freunden seiner Familie. Eines Tages führte er mich auf ein benachbartes Gut. Die Frau vom Hause, Henriette ... empfing uns sehr freundlich, wir blieben den Nachmittag da, waren sehr heiter und gingen erst am Abend heim. Was ich bisher von ihr wußte, war mehr geeignet mich gegen als für sie einzunehmen. Sie war sehr jung an einen Mann verheirathet, mit dem sie bald eine sehr unglückliche Ehe führte. Sie wurde geschieden, behielt ihre beiden Kinder, nahm den Namen ihres Vaters wieder an und wohnte seitdem auf ihrem väterlichen Stammsitz. So freundlich und liebenswürdig sie war, so blieb doch aus ihrem Gesichte die Trauer über ein verlorenes Jugendglück, und ein Anflug unbefriedigter Sehnsucht und der Schmerz der Hoffnungslosigkeit. Volle dunkelbraune Locken umspielten das fast blasse Antlitz und in den feurigen Augen ließ sich eben soviel Gutmüthigkeit als Laune und Leidenschaft lesen.
Henriette fühlte sich immer allein, war auch meist allein: ein alter Vater, ein alter Hauslehrer, eine alte Kammerjungfer, also nur [102] Hausgenossen, bildeten den Kreis, auf den sie angewiesen war. Ihr Schicksal hatte sie vorsichtig gemacht in der Wahl ihres Umgangs, und ängstlich in ihren Aeußerungen mit Fremden. Es mußte sie sehr angenehm überraschen, jemanden vor sich zu sehen, der offen und heiter sich über Alles aussprach, von dem sie für sich und ihr Schicksal Theilnahme erwarten durfte. Ich fühlte, daß ich ihr nicht gleichgültig war. Ich schied in einer wunderlichen Stimmung, so daß Wilhelm mit mir scherzte: ›ich glaube, Du hast Dich verliebt.‹
Natürlich wurde der Besuch bald, sehr bald wiederholt. Wir wurden immer freundlicher aufgenommen, es wurde mir dort heimischer, so daß ich denn auch ohne Wilhelm hinging. Die Unterhaltung war dann sehr lebhaft und mannigfaltig. Ich mußte viel erzählen von meiner Kindheit, meiner Studentenzeit, meinen Wanderungen. Oft auch las ich etwas vor, am liebsten aus meinem treuen Begleiter, dem Faust. Ich hatte ihn zu oft gelesen, als daß ich ihn jetzt schlecht lesen sollte. Ich hatte das dankbarste Publicum. So wuchs denn unsere wechselseitige Neigung und wurde bei mir etwas leidenschaftlich. In meinem Liebesrausche fragte ich mich ängstlich: was soll daraus werden? Du bist nichts, Du hast nichts, Dein wissenschaftliches Leben ist erst im Beginn, mit allem Deinem schönen Streben, Deinen herrlichen Entwürfen könnte es leicht zu Ende gehen, wenn Du durch äußere Verhältnisse gefesselt Pflichten übernimmst, die Deine Zeit und Kräfte vorweg in Anspruch nehmen. – Aber alle diese Bedenken machten mich nur ruhiger, aber nicht hoffnungslos. Was ich nicht mündlich auszusprechen vermochte, wagte ich schriftlich und ehe ich Wetter verließ, erhielt Henriette meinen ersten Brief (14. April). Den anderen Tag reiste Wilhelm nach Bonn und ich in meine Heimat.
In den letzten Tagen Aprils hatte ich Fallersleben erreicht. Ich wollte die Meinigen überraschen: um in den Garten zu gelangen stieg ich über einen Zaun und hielt mich dann an dem Rahmen einer Laube, worauf ich sonst als Knabe oft spaziert war. Das Holz war morsch geworden, es brach und ich fiel mit Sack und Pack in den Garten. Schlechte Vorbedeutung. Der Garten war schön hergerichtet, ich freute mich über die vielen prachtvoll blühenden Frühlingsblumen. Ich ging dann über den Hof ins Haus, und – traf [103] niemanden von den Meinigen. Die jüngste Schwester 8 war ausgegangen, die älteste verheirathet und die Mutter bei ihr zum Besuch. Bald heiterte sich Alles auf, ich verlebte einige frohe Tage im elterlichen Hause und reiste dann zu meinem Schwager, dem Pastor zum Berge in Winsen an der Aller. Die Meinigen waren sehr freudig überrascht, am freudigsten meine Mutter. Sie küßte mich ohne meinen Bart zu bemerken. Bald aber weinte sie: ›einen Juden habe ich doch nicht geboren!‹ Ihre Thränen trockneten jedoch bald und ich behielt meinen Bart. Von Winsen reiste ich mit meiner Mutter wieder zurück in die Heimat und blieb dort bis in die zweite Hälfte Mais. Ich beschäftigte mich viel mit der dortigen Mundart und sammelte alle kleinen Lieder und Sprüche. Anfang Junis war ich wieder auf der Wanderung. Als ich auf dem Wege nach Lemgo in die Nähe von Bösingfeld kam, fragte ich einen Hirten nach meinem Freunde Krawinkel. ›Der ist in der Osterwoche begraben worden.‹ Bestürzt durch diese schreckliche Nachricht entschloß ich mich, in Bösingfeld nicht einzukehren. Traurig wanderte ich weiter und erreichte gegen Abend Lemgo.
Den 25. Juni 9 traf ich in Wetter ein. Den folgenden Tag ging ich zu Henriette. Sie begegnete mir, that sehr freundlich, ich merkte ihr aber große Verlegenheit an. Ich gerieth nun erst recht in eine peinliche Lage. Wir sahen uns bald darauf. Am 27. nahm ich Abschied. Schweigend, ruhig und fast heiter reichte ich ihr die Hand und wanderte fort. Ich war sehr aufgeregt und wurde bald sehr traurig gestimmt. Das Fußreisen wurde mir auch lästig. Fast jeden [104] Tag war ich naß geworden, fast jeden Tag hatte ich mich verirrt. Ich sehnte mich nach Körper- und Herzensruhe und wissenschaftlicher Thätigkeit. Trotzdem schlug ich nicht den nächsten Weg ein, sondern besuchte noch einen Freund in Düsseldorf. In den letzten Tagen Junis traf ich endlich in Bonn wieder ein.
Meine Beziehungen zur Bibliothek hatten sich unterdessen geändert. Ich bezog eine kleine Besoldung, diese war aber in einen Freitisch verwandelt. Wäre der Freitisch einigermaßen gut gewesen, so hätte ich mir die Aenderung schon gefallen lassen können, er war aber so schlecht, daß wir eines schönen Tages, ich voran mit dem Corpus delicti auf der Schüssel, zum Rector magnificus durch die Straßen Bonns wallfahrteten und uns beschwerten. Es half nichts. Ich gab den Freitisch auf, blieb aber als Freiwilliger auf der Bibliothek.
Meine Studien über Volkslieder setzte ich den Sommer eifrig fort. Meine Freunde besorgten mir aus ihrer Heimat manches hübsche Lied; Karl Reuter verschaffte mir eine Sammlung aus dem Rheingau und Peter Adams eine von der Mittelmosel. In Poppelsdorf und Kessenich sammelte ich selbst. Der Kessenicher Pastor, sehr gefällig und musikkundig, setzte mir die Noten dazu. – Um die weite Verbreitung des deutschen Volksliedes darzuthun und den noch immer poetischen Zusammenhang aller germanischen Völker nachzuweisen, hatte ich die Lieder von den Königskindern gesammelt. Ich besaß sie schwedisch, dänisch, holländisch und hochdeutsch in vielen Lesarten und seit meiner letzten Reise auch niederdeutsch; um Bonn herum hatte ich vier verschiedene Melodien entdeckt.
Unterdessen erhielt ich zwei Briefe von Henriette. Der eine inliegende war am Tage des Abschieds geschrieben. Was sie mir hatte sagen wollen und in Gegenwart anderer nicht sagen konnte, erfuhr ich nun brieflich. Sie sprach sich offen und theilnehmend aus: ›O daß Sie mir den schönen Glauben: Ihre Gefühle für mich nur für freundschaftliche zu halten, nehmen mußten!‹ ... ›ein schönes Leben wartet Ihrer noch – jetzt müssen Sie Ihre Empfindungen bekämpfen, um Ihrer und meiner Ruhe willen, – beide leiden wir darunter – und die Welt ist lieblos in ihrem Urtheil über uns, ich habe dies schon schmerzlich erfahren, – der Gedanke, wie schuldlos unser Umgang immer war, gab mir bisher die Kraft, das Gespräch der Menschen gering zu achten. – Wenn Sie wieder ganz ruhig und[105] glücklich sind, dann schenken Sie der Frau, in die Sie jetzt ein so hohes Vertrauen setzen, Ihre freundschaftliche Erinnerung, und sei'n Sie überzeugt, daß meine Achtung für Sie nie abnehmen wird, und mich nichts so erfreuen kann als wenn ich vernehmen werde, daß Sie glücklich sind.‹
Was Henriette für sich und mich wünschte, suchte ich zu erfüllen, und so ward unsre Freundschaft uns beiden eine frohe Erinnerung und blieb es für immer.
Kaum war der Sommer verschwunden, so erwachte wieder meine Reiselust. Ich wanderte nach Coblenz und von dort die Mosel hinauf bis Trier. Hier machte ich längeren Halt. Der Bibliothecar Professor Wyttenbach war die Liebe und Güte selbst. Er machte es nicht wie so manche Bibliothecare, die unter dem Vorwande es selbst herauszugeben, einem alle seltenen, merkwürdigen Drucke und Handschriften vorenthalten. Er theilte mir Alles mit und freute sich, daß er etwas für die Stadtbibliothek gerettet oder sonst erworben hatte, das für meine Zwecke von großem Nutzen war. Ich verweilte längere Zeit und war sehr fleißig: unter anderem schrieb ich den Theophilus ab, der damals schon durch Feuchtigkeit sehr gelitten hatte und an mehreren Stellen schwer zu lesen war. Die Abende war ich meist in Gesellschaft mit einigen Beamten von der Regierung, die mit mir gleiche politische Gesinnung und gleiche Wünsche für Deutschlands Freiheit und Einheit theilten.
Erst in der Mitte Octobers setzte ich meine Reise fort. In Mainz bereitete mir der Premierlieutenant von Kittlitz, ein höchst liebenswürdiger, gemüthlicher Mensch, einige angenehme Tage bei sich und seinen Freunden. Durch ihn lernte ich nämlich mehrere tüchtige Männer kennen, die wie er beseelt waren für die Idee einer freien volksthümlichen Entwickelung des deutschen Volkes. Freilich durfte man damals von solchen Dingen nur unter zuverlässigen Freunden sprechen, so weit war es bereits gekommen: in Mainz tagte die Central-Untersuchungs-Commission und speiste in den ›Drei Reichskronen‹. Kein Wunder, daß mein Erscheinen den Herren sehr bedenklich war und der Kellner gewiß die Weisung erhielt, mich baldigst zu entfernen. Jeder im deutschen Rocke und mit einem Schnurrbarte galt damals für einen höchst gefährlichen Menschen, dem man das Schlimmste zutraute.
Ich benutzte nun zur Weiterreise das Postjachtschiff. Ich fand [106] eine hübsche Gesellschaft. Nach einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem Manne, der mir vielseitige Kenntnisse zu besitzen schien. Ich kam auf Volkslieder zu sprechen. Da ergab sich denn, daß er eine an ihn gerichtete Anfrage nicht beantwortet hatte – er entschuldigte sich, es war Achim von Arnim. Natürlich wurde jetzt meine Theilnahme für ihn lebendiger und so auch meine Unterhaltung. Ich wunderte mich aber doch über seine große Ruhe, die mich an einem so entschiedenen Romantiker gar sehr befremdete.
Am 10. November kehrte ich nach Bonn zurück. Zu den alten Schätzen, die ich dem Glück und guten Freunden verdankte, brachte ich von der Reise noch neue: alte Bücher, Handschriften, Urkunden und Volkslieder und sogar ein in Holz geschnitztes schönes Crucifix. Ich entwickelte jetzt eine lebendige Thätigkeit: ich dichtete, las, sammelte, studierte, machte Abschriften, schrieb Briefe und stöberte in der Bibliothek umher. Die Studentenwelt war mir sehr fern gerückt. Ich hatte nur mit einigen näher befreundeten etwas Verkehr. Es war auch nothwendig für meine Studien und meine Person. Die Verdächtigungen erstreckten sich auf das Geringste in unseren mündlichen und schriftlichen Äußerungen. Niemand mehr war sicher. Hatte doch selbst der Universitäts-Bevollmächtigte v. Rehfues sich schon im Sommer geäußert: ›Ich kann es gar nicht begreifen – ich werde gerade auf diejenigen fortwährend aufmerksam gemacht, welche die tüchtigsten und gesittetsten auf der ganzen Universität sind.‹ Drei meiner näheren Bekannten waren bereits in eine Untersuchung gezogen, die später sehr traurige Folgen hatte 10.
Unsere Statuten waren schon im letzten Winter von Hand zu Hand gewandert, niemand glaubte sie bei sich in sicherem Verwahrsam. Endlich geriethen sie auch an mich. Ich versteckte sie in einem Kamin, wo sie vielleicht noch heute geborgen sein mögen. Den letzten Anschlag im Sommer, worin zu einer allgemeinen Burschenversammlung eingeladen war, hatte der dicke Pedell mit dem Worte abgerissen: ›Renommage!‹ Die Versammlung kam nicht zu Stande. Unsere sogenannte Allgemeinheit hatte sich selbst aufgelöst, ehe die Behörden dagegen einschritten.
[107] Es wäre sehr interessant, wenn einmal das Bonner Matrikelbuch der beiden ersten Jahre des Bestehens der Universität gedruckt würde! Schwerlich hat irgend eine deutsche Universität zu einer und derselben Zeit so viele Zöglinge gehabt, die nachher einen so bedeutenden Antheil an allen Bestrebungen, Richtungen und Leistungen im Gebiete der Litteratur und Wissenschaften so wie in der Politik genommen haben. Damals schienen dieselben Menschen alle Ein Herz und Eine Seele zu sein; es war mir, als ob sie alle nur Ein hohes, herrliches Ziel verfolgen könnten, als ob sie einst ihre schönsten Kräfte dem Vaterlande und seiner freiheitlichen Entwickelung, seinem Wohl, seinem Ruhm und seiner Ehre widmen müßten. – Kaum waren die einen ins Staatsleben eingetreten, kaum hatten die anderen einen selbständigen Beruf erlangt, so waren sie sich entfremdet oder gar feindselig gegen einander. Viele schlugen in das Gegentheil um von dem was sie früher zu sein oder werden zu wollen schienen: sie wurden Aristokraten, Feudale, Absolutisten, Reactionäre, Ultramontane, Convertiten, Pietisten, Mönche und Gott weiß was Alles noch.
Durch meine vielen Reisen hatte sich die Zahl mei ner litterarischen Freunde sehr vermehrt und in dem Maße auch mein Briefwechsel. Auch in Köln hatte ich freundschaftliche Beziehungen angeknüpft. Ich hatte den Regierungsrath Freiherrn Werner von Haxthausen besucht und war mehrere Tage bei ihm. Er wohnte im Hause seiner Schwester, dem einzigen Kölns, das noch an die Stadtmauer lehnte, ganz in der Nähe des Bayenthurms. Es war sehr geräumig, nur wenige Zimmer waren bewohnt; in den meisten lagen oder standen alte Bücher, Handschriften, Urkunden, Gemälde, Glasmalereien, Holzschnitte, Alterthümer und Kunstsachen aller Art. Hier führte Haxthausen mit seinem Freunde, dem Staatsprocurator Leist, und einem alten Bedienten, Namens Petermann, ein echtes Junggesellenleben. Außer des Mittags sahen wir uns oft gar nicht. Zu Langerweile war übrigens für mich gar keine Gelegenheit. Ich arbeitete fleißig und hatte auch meine Gänge. So war ich öfter bei Eberhard von Groote, der damals eben mit der Ausgabe des Tristans von Gottfried von Straßburg beschäftigt war. Groote besaß selbst schöne Handschriften und hatte manche sich geliehen. Er war so freundlich, mir mehrere auf einige Tage anzuvertrauen. So unterhielt ich mit ihm durch das Holen und Zurückbringen einen lebhaften Verkehr. Die Ausflüge [108] nach Köln wiederholte ich öfter, sie thaten mir wohl und waren mir förderlich in meinen Studien.
Auf eine stürmische Silvesternacht folgte recht bald für mich ein milder sonniger Tag. Am 8. Januar entdeckte ich in der Bonner Universitäts-Bibliothek auf dem Innern der Holzdecken, welche den schlechten Papierhandschriften der Summa Theologiae des Thomas de Aquino als Einband dienten, schön geschriebene Pergamentblätter aus Otfrid's Evangelienbuche. Meine Freude war gränzenlos: ich lief sofort mit einem Bande zu Welcker, zeigte ihm meinen Fund und bat um Erlaubniß die Blätter abzulösen. Er meinte, Herr Professor Kastner der Chemiker müsse das am besten verstehen und der war denn dazu auch bereit. Die Ablösung wurde leider nicht so ausgeführt wie sie mir ohne alle chemische Kenntnisse gelungen wäre. Die Folge davon war, daß manche Buchstaben auf dem Deckel zurückgeblieben waren.
Ich faßte nun den Entschluß, das Ganze herauszugeben. Nachdem ich eine genaue saubere Abschrift angefertigt, die Abweichungen des Schilter'schen Textes hinzugefügt und die Vorrede vollendet hatte, sah ich mich nach einem Verleger um. Ich zeigte mein Manuscript dem Buchhändler C. vom Bruck, er meinte jedoch, zu einem Buche wäre es zu wenig, ich sollte noch etwas dazu thun. Wir wurden einig über Format, Druck und Papier und Honorar: er bewilligte 2 Louisd'or. Ich fügte nun noch eine 2. und 3. Abtheilung hinzu. Die 2. enthielt Auszüge aus einer Trierer Hs.: Interlinearversion der Psalme aus dem 12. Jahrh., die ich eben vollständig abschrieb. Als 3. Abtheilung gab ich ein Bruchstück aus dem mnl. RomanRenout van Montalbaen. Die Vorrede dazu schloß ich mit einer Übersicht aller mir bekannt gewordenen Denkmäler der mittelniederländischen Dichtung. Der Druck begann sofort. Die Correctur machte mir unsäglich viel Mühe, ein Bogen beschäftigte mich fast vier Stunden. Auf meinen Wunsch, ein Blatt Facsimiles der drei Handschriften dem Büchlein beizulegen, ging vom Bruck bereitwilligst ein. Leider war die dortige Steindruckerei in dergleichen Dingen noch sehr unerfahren, die Ausführung ging langsam von statten und entsprach am Ende doch nur sehr mäßig unseren Erwartungen. Dadurch verzögerte sich die Erscheinung meiner Schrift um einige Wochen und konnte erst gegen Mitte Aprils versendet werden. Dies, [109] mein erstes wissenschaftliches Buch erschien unter dem Titel: Bonner Bruchstücke vom Otfried nebst andern deutschen Sprachdenkmälern. Herausgegeben durch H. Hoffmann von Fallersleben. (Mit Schriftproben.) Bonn 1821. Bei C. vom Bruck. 4° XXII. 23 SS.
Während ich so mich sprachlich und litterarhistorisch beschäftigte, sammelte und ordnete ich zugleich meine Gedichte in der Absicht sie recht bald herauszugeben. Anfang Februars unterhandelte ich mit Joh. Peter Bachem, der erst seit 1818 sich als Buchhändler in Köln niedergelassen. Wir waren bis auf das Honorar ganz einig, und endlich auch über dies: ich sollte 4 Friedrichsd'or nach Beendigung des Druckes und noch 4 haben, wenn 200 Exemplare verkauft wären. Mit den Lettern war ich aber gar nicht zufrieden, und wenn mich nicht die Aussicht auf etwas Reisegeld gereizt hätte, so wäre wol das Ganze unterblieben. Die Druckereien in Bonn und Köln waren damals sehr erbärmlich; wenn auch etwas auf dem besten Papiere gedruckt war, so sah es immer unsauber aus; auch der Schnitt der Lettern war geschmacklos. Sehr ergötzlich schien es mir deshalb, wenn Bachem sich brieflich äußerte: ›ich weiß, daß Erzeugnissen des Genius ein gewisser Glanz nicht mangeln darf.‹ – Noch vor Ende März war meine kleine Gedichtsammlung erschienen unter dem Titel: ›Lieder und Romanzen. Herausgegeben von H. Hoffmann von Fallersleben.‹ (Köln,1821. 108 SS) 11 Ich mußte ›herausgegeben‹ sagen, weil mehrere Übersetzungen holländischer Volkslieder darin waren und auch einige Gedichte meiner Freunde Henneberg und Krawinkel.
Die Zueignung war eigenthümlich: ›Dir‹, auf der Rückseite die Worte des von Singenberg, Truchsessen von St. Gallen:
Mit dem ›Dir‹ hatte ich es aber nicht gemacht wie Griepenkerl mit seinem ›Ihm‹; der versah damit eins seiner Dramen und sendete es dann verschiedenen Fürsten. Mein ›Dir‹ war wirklich nur [110] an Eine 12 gerichtet und diese Eine nahm es freundlichst auf. Deshalb durfte ich nicht weiter besorgt sein, wol aber wegen des großen Publicums, zumal ich selbst bald einsah, daß vieles besser sein müßte. Ich war in meinem poetischen Schaffen noch lange nicht fertig, viel zu unfrei, ich kämpfte noch zu sehr mit der Form, und im Streben nach Volksthümlichkeit vernachlässigte ich jene, und so erreichte ich denn nur selten ein in Form und Stoff vollendetes Ganze. Es war sehr voreilig von dem Halleschen Recensenten (ALZ. 1821. Nr. 277), bei mir von einer ›angebildeten Manier‹ zu sprechen; ich hatte mehr eine Manie gute Gedichte zu machen, als die Manier, Fehler und Albernheiten der Romantiker nachzuahmen. Nach einem halben Jahre hätte ich gern mein Büchlein zurückgenommen und für mich behalten. Ich fühlte wol, wie sehr mein Freund Krawinkel Recht hatte. Seine letzten Worte waren: ›Productivität, nur freilich noch nicht durch die Presse.‹ Doch – es war einmal gedruckt und ich tröstete mich mit dem alten Satze: ›Wenn man schwimmen lernen will, muß man ins Wasser gehen.‹
Die letzte Zeit meines Bonner Aufenthalts schrieb ich mir noch mehrere Handschriften ab theils zu meinem Studium, theils zu künftiger Bearbeitung und Herausgabe. So vollendete ich noch die Abschrift des Trierer Williram und der Interlinearversion der Psalmen.
Ich halte bereits viel Stoff gesammelt und hielt es für zweckmäßig, Manches davon zu veröffentlichen. Ich sprach auch mit Werner von Haxthausen darüber, und um ihn zur Theilnahme zu bewegen, bot ich ihm die Mit-Herausgeberschaft an. Er war dazu geneigt und wollte Manches beisteuern, unter anderm geistliche Lieder aus dem Gesangbuche der Katharina Tirs. Er wendete sich an seinen Freund Reimer in Berlin, und dieser erklärte sich bereit, das Werk zu verlegen, wir sollten nur Subscribenten sammeln – von Honorar war so viel ich mich erinnere gar keine Rede. Wir ließen eine Ankündigung drucken, worauf 10 Nummern; Subscriptionspreis für 24 Bogen in Octav 11/6 Rb. mit Noten und Schriftproben. Das Buch sollte im Sommer 21 erscheinen unter dem Titel: ›Westphälische [111] Beiträge zur Geschichte deutscher Sprache und Dichtung. Herausgegeben von Werner von Haxthausen und H.v.F.‹ Da ich bald merkte, daß mir allein die ganze Arbeit zufallen würde und ich bald noch Besseres zu geben Gelegenheit fand, so ließ ich die Sache auf sich beruhen, zumal ich mit der geringen Anzahl Subscribenten – ich hatte auf meinen Reisen nur 36 gesammelt – nicht vor Reimer hintreten mochte.
In und mit Bonn war ich endlich fertig und verließ es am 11. April. Ich reiste abermals die Mosel hinauf und blieb in Coblenz, und hie und da, wo fröhliche gastfreie Leute mich aufnahmen. Mein Hauptziel war zunächst Trier. Wyttenbach hatte sich bisher so überaus freundlich gegen mich bewiesen, daß ich von seiner Güte eine Benutzung der Bibliothek hoffen durfte wie ich sie nur wünschen konnte. Und ich täuschte mich nicht. Alle deutschen Handschriften sah ich ein; was mir irgend für meine Zwecke werth schien, verzeichnete ich und machte Auszüge. Bei diesen Beschäftigungen und im heitersten Verkehre mit alten Freunden und Bekannten waren vierzehen Tage schnell vergangen. In jeder Hinsicht befriedigt setzte ich meine Reise fort, es mochte gegen die Mitte des Mais sein.
In Köln fand ich wieder die alte freundliche Aufnahme bei Haxthausen und Leist. Ich lebte nach alter Art bei ihnen und mit ihnen drei Wochen, immer guter Dinge: ich arbeitete viel, schrieb Briefe und dichtete. Bei meinen Wanderungen durch die Stadt sah ich mir manche Alterthümer und Kunstsachen näher an, und war öfter im Dome. Unangenehm war und blieb es jedoch für mich, daß ich mich in der großen, wühligen, hie und da wüsten Stadt nie zurecht finden konnte. Es war für mich zu Vieles vorhanden an das ich mich nie gewöhnen konnte: die krummen, engen Gassen, die alle Augenblicke ihre Namen wechseln, der Schmutz und Kohlenstaub, die vielen häßlichen Gesichter, die einem damals begegneten, so wie die vielen zerlumpten, schmierigen Bettler, das ewige Glockengebimmel und das Geknarre der schwer beladenen plumpen zweirädrigen Wagen. Ich war mitunter recht froh, wenn ich auf meinem Zimmer sitzen oder im Garten, der freilich sehr verwildert war, spazieren gehen konnte.
Drei Wochen waren bereits vergangen. Ich hatte immer noch auf etwas Geld von den Meinigen gewartet, es kam nichts. Da [112] lieh ich mir ein paar Friedrichsd'or von Leist und erhielt dazu noch 4, das Honorar von Bachem, so daß ich nun etwa 6 hatte. Damit wollte ich nach Holland und Gott weiß wohin noch reisen! Den 7. Juni verließ ich Köln und ging über Crefeld, Xanten und Cleve nach Nimwegen. Als ich mich der holländischen Gränze näherte, fürchtete ich Paßunannehmlichkeiten. Ich traf gerade eine leere Hessenkarre und bat den Fuhrmann mich aufzunehmen. Er hatte nichts dawider. Ich legte mich auf den Bauch der Länge nach ins Stroh und fuhr gemüthlich und unbehelligt über die Gränze. Als ich die Anhöhe erreicht, die Holland von Deutschland scheidet, wurde ich durch eine prachlvolle Aussicht überrascht: die Waal schlängelte sich wie ein breiter Silberstreifen durch das Land, und Nimwegen von ihr umspült, das nächste Ziel meiner Reise, lag mit seiner Cathedrale hell von der Sonne beleuchtet vor mir.
Ich war nun in Holland und mußte mich bequemen, holländisch zu sprechen. Ich hatte Manches gelesen und manche Wörter und Wendungen mir gemerkt, aber die eigentliche Umgangssprache war mir völlig fremd. Da half nun weiter nichts als fröhlich und wohlgemuth sich drein finden und holländisch sprechen.
In Utrecht besuchte ich den Professor der niederländischen Litteratur und Beredtsamkeit, Herrn Simons. Der Mann war ganz erstaunt, als er hörte, daß ich auf einer litterarischen Reise begriffen sei: ›Mein Herr, es ist nicht Gebrauch in unserem Lande, eine litterarische Reise zu machen.‹ Diese Worte waren der Willkomm aus dem Munde eines Professors, von dem ich erwarten durfte, daß er sich über mein Unternehmen freuen und es unterstützen würde. In Laufe des Gesprächs merkte er wol, daß er es nicht mit einem jungen Abenteurer und litterarischen Stromer zu thun hatte, und wollte zeigen, daß ihm die alte niederländische Sprache und Litteratur nicht fremd sei; das waren aber so allgemein bekannte Dinge, die jeder wissen konnte. Als er mich mit dem Klaas Kolijn auf das Glatteis führen wollte, mußte ich herzlich lachen; daß die von G. van Loon 1745 prachtvoll herausgegebene Reimchronik eines Egmonder Mönchs ein untergeschobenes Werk war, wußte ich schon seit vielen Jahren. Wir schieden als gute Freunde und sahen uns nie wieder.
Utrecht hatte mir wenig Ausbeute gewährt. Meine ganze Hoffnung war und blieb Leiden. Am 22. Juni traf ich dort ein.
[113] Zu meiner Freude war eben Professor van Swinderen aus Groningen auch in Leiden. Er war im Sommer in Bonn gewesen und ich hatte ihm manche Gefälligkeit erwiesen, so daß er mich nun seinen hiesigen Freunden recht warm empfahl. Ich wußte bereits, wie viel für mich zu arbeiten sei. Die Universitäts-Bibliothek bot Manches, das Meiste und Bedeutendste aber in ihren alten Handschriften die Bibliothek der Maatschappij der nederlandsche Letterkunde. Auf eine Benutzung ganz nach Wunsch durfte ich rechnen, man kam mir von allen Seiten auf das Freundlichste entgegen.
Am 25. war ich bei dem jüngeren Tydeman zu Mittag eingeladen. Ich traf dort van Swinderen und einige Leidener Professoren. Es war eine heitere Unterhaltung. Man bewies sich zugleich sehr theilnehmend gegen mich und äußerte mehrfach den Wunsch, ich möchte nun recht lange bei ihnen verweilen. Ich wurde sehr ernst und sprach mein Bedauern aus, daß ich diesen Wunsch wol schwerlich erfüllen könnte und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß mich meine geringe Baarschaft zu einem eiligen Rückzuge nöthigen würde. Das Mittagsessen war vorüber. Wir schickten uns an uns zu empfehlen. Da wendete sich Tydeman an mich: ›Es ist hier auch noch ein Landsmann von Ihnen, der wünscht Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Ist es Ihnen recht, so gehen wir jetzt zu ihm.‹ – Wir gingen. Die Tischgenossen begleiteten uns. Mein Landsmann, Herr Dr. Salomon freute sich sehr und erkundigte sich theilnehmend nach Allem: ›Wie gefällt es Ihnen bei uns?‹ – ›Ganz gut. Es thut mir nur leid, daß ich eben jetzt, nachdem ich weiß, was Leiden für bedeutende litterarische Schätze für mich hat, es verlassen muß.‹ – ›Und warum denn?‹ – ›Mein Reisegeld reicht nur noch zur Rückreise –‹ – ›Nun, wenn es weiter nichts ist! Kommen Sie zu mir! bleiben Sie so lange als es Ihnen gefällt!‹ Ich war dermaßen überrascht, daß ich kaum etwas darauf zu erwiedern wagte. Die Freunde des Doctors redeten mir zu und ich nahm das überaus freundliche Anerbieten an.
So hatte sich Alles plötzlich zum Guten gewendet. Den anderen Morgen bezahlte ich im Gasthofe meine Rechnung, ließ meine Sachen in meine neue Wohnung bringen und trat selbst ein. Bald saß ich bei mildem Sonnenscheine unter einem Baume im kleinen Garten und verglich [114] die prachtvolle Leidener Handschrift vom Williram mit der alten Ausgabe des Paulus Merula.
Ich lebte mich bald ziemlich ein und gewöhnte mich an die übertriebene Reinlichkeit im Hause, an dies ewige Putzen, Schrubben, Waschen, Bürsten, Ausklopfen, Fegen und Fittigen, so wie an die pünktlich inne gehaltene Hausordnung.
Wol hätte ich für einen heimischen Hausgenossen gelten können, wenn meine Tracht und mein Aussehen nicht zu sehr an die Fremde erinnert hätten: ich war nicht fatsoenlijk, nicht holländisch anständig genug gekleidet. Um mich dem etwas zu nähern, mußte ich den Bart ganz abschneiden und meine Locken abstutzen und trug eine holländische schwarze Sammetmütze und eine eng anliegende blaue Hose. Ich erreichte dadurch zunächst, daß mir die Jungen auf den Straßen nicht nachriefen: kijk eens, de mof!
Ich arbeitete sehr fleißig. Die Benutzung der benachbarten Bibliothek der Maatschappij stand mir jeden Augenblick frei, man hatte mir den Schlüssel anvertraut. Nach und nach holte ich mir alle Handschriften und alten Drucke und verzeichnete sie. Das Gedicht von Floris und Blancefloer schrieb ich ab und manches andere. Zunächst arbeitete ich meine Uebersicht der alten niederländischen Dichtungen um, die dann van Kampen ins Holländische übersetzte und im Konst- en Letterbode 1821 und 22 drucken ließ.
So viel und so gerne ich arbeitete, so entzog ich mich doch nicht dem geselligen Verkehre. Ich kam oft ins Wohnzimmer, wenn Frau Salomon Besuch hatte, meist von jungen Mädchen. Unter diesen war Elisabeth Kemper, die von dem Augenblicke an, als ich sie zuerst sah, mein ganzes Herz gewann. Niemand durfte sich darüber wundern, ich am allerwenigsten. Diese Schönheit voll Jugend und Anmuth, dieser jungfräuliche Adel des Gemüths, dieser helle, feingebildete Geist! Es that mir wohl, wenn ich in ihrer Nähe war, und ich ward wehmüthig gestimmt, wenn ich sie mehrere Tage nicht sehen konnte. Sie war eine große Freundin der deutschen Litteratur, sie sprach und schrieb das Deutsche. So oft sie bei uns war, gab es Gelegenheit, etwas zu besprechen und vorzulesen. So kamen wir auf Hebel's allemannische Gedichte, die weder Frau Salomon noch Betty bekannt waren. Ich erklärte sie ihnen und beide hatten große Freude daran. Das Allemannische wurde nun die Sprache meines Herzens, ich [115] glaubte keine schönere zu finden, worin ich Betty besang. Sie hieß von nun Meieli 13.
Land und Leute kennen zu lernen, hatte ich Lust und Zeit, nur fehlte es mir an etwas Wichtigem, an Geld. Ich war viel zu stolz, mir etwas zu leihen. Ich mußte mich also mit Einladungen begnügen oder zu Fuß wandern, und in beiden Fällen brauchte ich freilich kein Geld, konnte aber an ein eigentliches Reisen nicht denken.
Der erste Ausflug war mit der Familie Salomon nach Katwijk. Der Weg bot wenig Anziehendes dar, der Wagen rollte auf der schönen Klinkerstraße leicht dahin und der Himmel war heiter und wir wie er. Noch ehe wir die kahlen Dünen erreicht hatten, sahen wir die See. Dieser erste Anblick war ein sehr überraschender, gewaltiger und blieb ein unvergeßlicher. Wie oft habe ich nachgefühlt was ich damals dichtete:
Mehrmals wanderte ich nach Haarlem und nach dem Haag. Eines Tages wohnte ich unterwegs mit Bekannten einer Kirmeß bei. Das ist kein Volksfest wie in Deutschland, nichts erinnert auch mehr an die alten niederländischen Kirchweihen, wie sie uns Teniers so meisterhaft dargestellt hat. Buden mit Genever und Honigkuchen, Waffelkuchenwagen, ein Raum zum Tanzen, dazwischen junge Burschen und Mädchen und Kinder, die sich herumtummeln, mitunter jubeln und singen und tanzen – das ist Alles. Wir stellten uns vor eine Bude und spielten: ich gewann einen großen Honigkuchenmann. Dann [116] wollten wir dem Tanzen zusehen. War das ein Tanzen! In einem langen Saale auf ebener Erde, vollgepfropft von Menschen, standen auf einer Bühne vier Musicanten und spielten wie die ärgsten Bierfiedler. Alle Augenblicke kam ein Tanzpaar heran, hüpfte einige Male empor, drehte sich einige Male wieder herum, und wurde dann von einem anderen abgelöst. Die Mädchen gingen alle in Schlapppantoffeln, die Absätze waren mit buntem Leder eingefaßt. Da soll einer tanzen! Zuweilen sangen sie auch dazu. Eine Melodie blieb mir unvergeßlich. Aber welch ein Text! Es war der Anfang eines van Alphen'schen Kinderliedes:
Ich habe später darauf ein Storchlied gedichtet: ›Habt ihr ihn noch nicht vernommen?‹ 15 das jetzt ein Lieblingslied der Kinder geworden ist.
Der Weg nach dem Haag war weit, gegen drei Meilen, zwar ganz angenehm, er wollte aber gewandert sein. Wenn ich im Haag ankam, ging ich sofort zur königlichen Bibliothek. Herr C.S. Flameut († 1836) ein Franzose, der noch schlechter holländisch sprach als ich und von den alten Handschriften nichts verstand, mußte mir diese vorlegen. Ich arbeitete fleißig, aber in einigen Stunden war wenig abzumachen. Einmal meinte er, er wolle mich einsperren. O ja, das wäre hübsch gewesen, wenn er eine Malzeit für mich miteingesperrt hätte. Der Mann war eben nicht ungefällig, aber ich fühlte mich in seiner Nähe unbehaglich. Er gehörte zu den vielen Bibliothecaren, die man dazu gemacht hatte, weil man sie zu nichts weiter auf der Gotteswelt gebrauchen konnte. Mehrmals wiederholte ich diese Wanderung und erreichte so ziemlich meine Zwecke.
[117] Drei bis vier Mal mochte ich so im Haag gewesen sein und hatte nichts weiter gesehen. Da meinte Professor Reuvens, das sei doch zu arg! von der Residenz des Reichs nichts als die Bibliothek, auch nicht einmal Scheveningen gesehen zu haben. Er lud mich zu einer Spazierfahrt ein. Wir fuhren eines Sonntags hinüber. Mein nächster Wunsch war, die Gemäldesammlung kennen zu lernen. Wir verweilten wol eine Stunde vor den Bildern. Sehr angenehm war ich überrascht, als wir zu den Werken der neueren niederländischen Maler kamen; der König hatte hier viele der schönsten vereinigt. Um Mittag fuhren wir nach Scheveningen. Es war eben noch Ebbe. Wir spazierten am Strande umher. Ich bestieg eine Düne nach der anderen, weil mir die andere immer höher schien. Bald kam die Fluth. Wir gingen in das Wirthshaus am Strande, und während wir ein gutes Mittagsmal hielten, waren unter unseren Fenstern die Schiffe flott geworden und stachen wieder in See. In der Dämmerung kehrten wir nach Leiden ganz befriedigt zurück.
[Während seines Aufenthaltes in Leiden knüpfte Hoffmann zahlreiche Bekanntschaften an und trat mit einer stattlichen Anzahl dort lebender Gelehrter in nahen Verkehr. Durch sie faßte er in den Niederlanden festen Fuß; ihnen verdankte er auch reiche wissenschaftliche Anregung und Förderung, so daß seine Thätigkeit sich seit dieser Zeit in hervorragender Weise auf das Studium der niederländischen Sprache und Litteratur richtete. Die Früchte, die ihm selbst und der Wissenschaft sein damaliger und mancher spätere Aufenthalt in Holland eintrug, legte er in seinen Horae belgicae nieder, von denen nach und nach 12 Bände erschienen. Auf dem Gebiete der niederländischen Sprach- und Litteraturkunde kann man Hoffmanns Wirksamkeit als eine bahnbrechende bezeichnen. Denn die Methode exakter Forschung, welche seit Anfang unseres Jahrhunderts die Gebrüder Grimm, Karl Lachmann und andere für die deutsche Sprache ausbildeten und in Anwendung brachten, und die auch Hoffmann sich zu eigen machte, übertrug er auf die Schwestersprache. Dankbar verehrt daher auch heute die niederländische Gelehrtenwelt in ihm den Vater der niederländischen Sprachforschung. – Den Männern, die dem Jünglinge während seines ersten Aufenthaltes [118] in Leiden 1821 ihre Freundschaft entgegenbrachten, setzt Hoffmann als Greis an dieser Stelle seiner Biographie ein ihn selbst ehrendes Denkmal treuer Anhänglichkeit und dankbarer Erinnerung. Zunächst widmete er seinem Landsmann Dr. Gottlieb Salomon, in dessen Hause er die liebenswürdigste Aufnahme fand, und dessen Familie Worte der Verehrung und Dankbarkeit. Dann gedenkt er ausführlich der Leidener Gelehrten und seiner Beziehungen zu ihnen. Folgende Männer finden hier Erwähnung: Henrik Willem Tydeman, der jüngere, Professor der Rechte; Dr. Bodel Nijenhuis; Professor Meinard Tydeman, der ältere; Professor Jona Willem te Water; der Dichter Willem Bilderdijk; Professor der Theologie Joannes Clarisse; Professor Matthijs Siegenbeek; der Orientalist Henrik Arend Hamaker; Professor Jan Henrik van der Palm; Jan Bake; Professor der Archaeologie Caspar Jacobus Christianus Reuvens; der Lector der deutschen Sprache und Schriftsteller Nicolaus Godfried van Kampen; Professor der Rechte Cornelis Jacobus van Assen; Professor der Rechte Jan Melchior Kemper. Letzterer ist der Vater der vom Dichter als ›Meieli‹ besungenen Elisabeth Kemper. Ueber seine Beziehungen zu Bilderdijk spricht Hoffmann am ausführlichsten und macht dabei eine bedeutsame Abschweifung. Wir lassen daher seine eigenen Worte folgen.]
Willem Bilderdijk, damals schon als erster Dichter Hollands anerkannt und gefeiert und als Gelehrter und Sprachforscher in hohem Ansehn, lebte sehr zurückgezogen. Er hatte in Leiden fast gar keinen Verkehr. Ich besuchte ihn oft und konnte ihn besuchen wann ich wollte. Er hat mich jederzeit freundlich aufgenommen, und selbst bei körperlichen Leiden, bei sichtlicher Gemüthsverstimmung mir zu erkennen gegeben, daß ich auch dann ihm willkommen war. Ich brachte ihm immer etwas Neues: Bücher, Handschriften, Abschriften und Auszüge aller Art, denn es gab selten einen Tag, an dem ich nicht etwas für die Zwecke meines Dortseins fand. Wir sprachen über allerlei Gegenstände der Litteratur und Kunst, am liebsten über mittelniederländische Sprache und Dichtung. In diesem Fache war er nicht minder heimisch als in vielen anderen; er hatte viel Stoff [119] gesammelt, viele Studien gemacht. Meine Mittheilungen erfreuten ihn und regten ihn an, sich von neuem eifriger mit der alten niederländischen Sprache und Dichtung zu beschäftigen. Er unterstützte mich mit Rath und That, erfüllte bereitwilligst meine Wünsche und förderte meine Zwecke wie und wo er konnte.
Wie sehr ich mich freute über diesen angenehmen und erfolgreichen Verkehr, so kann ich doch nicht leugnen, daß ich mich sehr wunderte und daß seine Landsleute sich noch mehr wunderten. Er war mir geschildert als launig und mürrisch, menschenfeindlich, als ein wüthender Feind Deutschlands und alles deutschen Seins und Thuns, als ein fanatischer Gegner aller freien Regungen in der Politik und Religion, als ein starrer, nie einer besseren Ueberzeugung zugänglicher Festhalter der wunderlichsten Ansichten auf dem Gebiete der Geschichte, Sprache, Litteratur und Kunst, endlich als ein unversöhnlicher Feind aller derjenigen die anders dachten, anderes wollten, anderes thaten. Mir gegenüber schien er ein ganz anderer. Ich habe nie ein böses Wort über Deutschland aus seinem Munde gehört, bin nie Zeuge eines Ausbruchs verhaltenen Ingrimms gewesen, hatte nie zu leiden von den leidenschaftlichen Äußerungen seiner reizbaren, oft trüben körperlichen und geistigen Stimmung. Ich habe erlebt, was damals niemand erwartete, daß er mich zu besuchen in das Haus des Mannes kam, den er haßte und der mich innig liebte, denn dieser Mann hatte mich auf mein ehrliches Gesicht hin in sein Haus aufgenommen und wie sein Kind beherbergt und bewirthet.
Er hatte sich einst gegen einen seiner Verwandten über mich geäußert: ›obschon er ein Mof ist, so mag ich ihn doch wol leiden.‹ Und dies bewies er auch bei allen Gelegenheiten, wo wir uns auf dem Felde der alten germanischen Sprachen und Litteraturen begegneten. Seine Liebe für die altniederländische Poesie hatte jedoch mehr ihren Grund in der alten Sprache, insoweit dadurch das jetzige Holländisch aufgeklärt und bereichert wird. So betrachtete er denn auch die alten Volkslieder nur als Sprachdenkmale, Anfänge der Poesie, poetische Curiositäten, und nur sein Patriotismus für alles Holländische ließ es nicht zu, sich auf diese Weise darüber gegen mich auszusprechen. Ich nahm dies bei verschiedenen Gelegenheiten wahr und scheute mich deshalb gar sehr, meine Ansichten über Poesie zu entwickeln und dadurch meine Vorliebe für das Volkslied zu begründen. [120] Und doch war mein eifrigstes Streben, überall Liebe und Theilnahme für jedes ursprünglich germanische Element, und so auch in der Poesie unserer verwandten Nachbaren zu erwecken. Durfte ich aber bei einem so vielseitigen Manne wie Bilderdijk nichts für diese meine Richtung erwarten, so war das noch mehr der Fall bei jenen anderen Männern, die nicht einmal ein sprachliches oder litterar-historisches Interesse für das Volkslied hatten. Ich suchte hie und da auf das Eigenthümliche und Vortreffliche der Volkspoesie aufmerksam zu machen, umsonst, niemand gewann eine andere, eine bessere Ansicht: die Einen hielten die octroyierten Lieder der einflußreichen Gesellschaft ›Tot nut van't algemeen‹ für Volkslieder, die Anderen verwechselten nach wie vor Volkslieder und gemeine Gassenhauer, woran freilich Holland überreich ist, mit einander. Wenn ich ihnen dann deutsche Volkslieder vorsang und ich sah sie davon ganz entzückt, dann glaubte ich sie bekehrt, aber es war nicht so. Eines Tages wurde ich in einer großen Gesellschaft junger hübscher Mädchen ersucht, etwas zu singen. Ich sang deutsche Lieder und Alles war erfreut. So wie ich aber das schöne altniederländische Lied: ›Het waren twee coningheskinder‹, anstimmte, brach Alles in ein lautes Gelächter aus. Ich sang nicht weiter, sagte aber auf holländisch so gut ich eben konnte: ›Ich nehme von den schönen Fräulein keine Rücksicht für mich in Anspruch, habe aber geglaubt, daß sie ihr eigenes Vaterland und seine schönere poetische Vergangenheit mehr ehren würden‹. Für das Mal sang ich nicht mehr.
Wie aber ein Liebender oft seine Geliebte nur noch schöner und trefflicher findet, je mehr ihr Werth von Anderen angefochten und erniedrigt wird, so erging es mir. Mit größerer Liebe beschäftigte ich mich seitdem mit dem niederländischen Volksliede, ich durchstöberte Bibliotheken und Buchläden und machte manchen hübschen Fund.
Ich lebte mich so recht ein in die Sprache und den Geist des alten Volksliedes, daß die Lust wie von selbst kam, ähnliche Lieder zu dichten. Und so geschah es: mein erstes Lied war ein Scheidelied, nicht ohne Bezug auf eine liebe Freundin, die ich nun bald verlassen und nie wiedersehen sollte. Ich brachte das Lied zu Bilderdijk und fragte ihn, ob es wol noch dem 15. Jahrhunderte angehöre. Er meinte, es könnte wol noch älter sein! Ich ging ganz befriedigt heim. Bald darauf entstand ein zweites. Die Veranlassung dazu gab mir [121] eine altfranzösische Romanze, die ich flüchtig kennen gelernt hatte. In welchem Verhältnisse mein Lied zu jenem französischen steht, kann ich nicht genau angeben, nur so viel weiß ich, daß es keine Übersetzung ist, denn als ich es dichtete, war das Original längst nicht mehr in meinen Händen. Zehn Jahre später, als ich meine Sammlung holländischer Volkslieder herausgeben wollte, fand ich unter meinen Papieren auch jene beiden Lieder. Ich nahm sie mit auf, nicht in der Absicht, damit zu täuschen, sondern nur zu zeigen, daß ein Fortdichten im alten Geiste auch noch jetzt möglich ist; zugleich hegte ich die Hoffnung, daß auch Andere mir darin nachfolgen würden, um so durch Wiederbelebung des Volksliedes eine volksthümlichere und zugleich bessere Richtung in der neuholländischen Poesie anzubahnen. Um meine Lieder nicht mit den ursprünglich alten zu vermengen, hatte ich sie dem Schlusse dieser unter Nr. 22 und 23 (s. Horae belg. II, 155–158) angehängt und mit diesen Worten begleitet: ›Dies und das folgende Lied sind in Holland entstanden. Näheres darüber behalte ich mir vor gelegentlich nachzuholen.‹ Es bot sich aber dazu keine Gelegenheit dar. Meine Sammlung, die 1833 als Pars II der Horae belgicae erschien, fand nicht solche Theilnahme, daß eine neue Auflage nöthig wurde. Bei meiner großen Entfernung von Holland hörten nach und nach meine Beziehungen dahin auf und ich erfuhr nicht einmal, wie meine Sammlung aufgenommen war. Ich hielt es also gar nicht der Mühe werth, die verheißene Auskunft zu geben. Bald mußte ich nun aber erleben, daß meine beiden Lieder für alte Volkslieder galten. Im Jahre 1838 erschien von Jonc Gherrit eine Übersetzung nebst Melodie (wahrscheinlich aus den Souterliedekens ? 147) als ›Alt-Niederländisch‹ in den ›Deutschen Volksliedern mit ihren Original-Weisen von A. Kretzschmer‹ 1. Th. (Berlin 1840. Nr. 20). Dann folgte eine andere Übersetzung in Talvj (d.i. Therese Adolphine Luise von Jakob, verehl. Robinson): ›Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germanischer Nationen‹ (Lpz. 1840.) S. 460. nebst einer Übersetzung des Scheideliedes S 462. mit der Bemerkung: ›Wir geben hier einige Stücke, deren Entstehung in Holland selbst unläugbar ist. Wir nehmen dies von den beiden ersteren Liedern auf Hoffmann's Autorität an‹. – Ich sollte aber noch mehr erleben. J.F. Willems nahm beide in seine ›Oude [122] vlaemsche Liederen‹ (Gent 1848.) auf unter Nr. 78 und 97. Bei Jonc Gherrit bemerkt Snellaert, der Fortsetzer von Willems S. 197. ›Volgens H.v.F. is dit overoude schoone lied nog onder het volk in de provincie Holland bekend‹ und S. 235 giebt er nun gar zum Scheideliede als Quelle: ›Jan Roulan's Liedekensboeck, Antw. 1544‹! Und daran war ich doch gewiß nicht Schuld!
Die altniederländische Poesie habe ich somit um zwei Lieder ärmer gemacht, dagegen die Litteraturgeschichte um eine Entdeckung bereichert. Da ich jetzt nun Alles noch zeitig genug aufgeklärt, so fühle ich mich wieder ganz beruhigt. Ich kann übrigens nicht läugnen, daß mich dieser erste Versuch, altniederländisch zu dichten, etwas kühn gemacht hat, so kühn, daß ich abermalige Versuche gewagt habe. Ich will für diese völlig neue und unerhörte poetische Thätigkeit keine weitere Rechtfertigung noch Anerkennung; das eigene Vergnügen daran mag mich rechtfertigen und genügt mir. Warum sollte übrigens nicht auch einmal ein Deutscher altniederländische Gedichte machen? es ist doch viel natürlicher, als wenn er altgriechisch oder altlateinisch dichtet. Wie ganz anders hätte sich die Nationallitteratur dort zu Lande gestaltet, wenn die altniederländische volksthümliche Poesie als Muster und leitender Grundsatz betrachtet worden wäre, wenn sie die poetischen Geister angeregt und belebt hätte! Die heutige Poesie huldigt noch immer jener Geschmacksrichtung aus den Zeiten der französischen Ludwige, sie hat noch immer jenen fremdartigen Zuschnitt in ihren Formen beibehalten, sowie jene prosaische Anschauungs- und jene gelehrte Ausdrucksweise und bleibt dadurch dem Gemüthe des Volkes eben so fern, wie die Vergangenheit der Gegenwart, und oft eben so unverständlich, wie das Ausland dem Vaterlande.
Dies Einschiebsel über Volkspoesie aus der Vorrede zu meinen Horae belgicae P. VIII. vom Jahre 1852 schien mir hier am passenden Orte. Ich kehre nun zu Bilderdijk zurück.
Meine freundschaftlichen Beziehungen zu ihm dauerten fort. Wir standen noch lange im Briefwechsel mit einander, bis denselben die große Entfernung immer mehr erschwerte und zuletzt ganz unterbrach. Seine Briefe an mich theilte ich dem Rotterdamer Buchhändler Messchert mit, der sie dann seiner Sammlung der Briefe [123] Bilderdijk's einverleibte. Es erschien davon ein besonderer Abdruck: Brieven van Mr. W. Bilderdijk aan A.H. Hoffmann van Fallersleben. (Rotterdam 1837. 8°.)
Das waren die Männer, mit denen ich traulich verkehrte, die mir meinen Aufenthalt erheiterten und mich in meinen Bestrebungen freundlichst unterstützten. In diesen angenehmen Beziehungen und unter fortwährenden Arbeiten war der Sommer vergangen und der Herbst herangekommen. Ich konnte befriedigt zurückschauen: ich hatte nun auch das Verzeichniß der Handschriften und alten Drucke der Maatschappij der nederlandsche Letterkunde vollendet und war durch ein Honorar von 60 Fl. freudig überrascht worden; ich hatte durch Geschenke eine köstliche Sammlung von Handschriften und Büchern erworben und dadurch zur Fortsetzung meiner Studien umfangreichen, nachhaltigen Stoff erlangt, ich konnte zufrieden sein.
Und doch war mir so eigen zu Muthe, wenn ich allein auf meinem Zimmer saß und an die Zukunft dachte. Ich wollte und mußte fort, und doch war mir der Abschied so schwer. Drei Wochen lang hatte ich schon Abschiedsbesuche gemacht: ich hatte so viel und so vielen zu danken für alle die Liebe und Freundlichkeit, die man mir, dem Fremden erwiesen hatte.
Am schwersten ward mir der Abschied von Meieli. Sie gab mir die Hand und ein Blättchen mit einer Zeichnung: ein Mädchen kommt aus Wolken hervor und streut Blumen. Ja, sie streute mir Blumen in mein Leben, die noch heute blühen, und mit Recht konnte ich sagen:
Endlich am 6. October, an einem heiteren Herbstmorgen, verließ ich Leiden. Meielis Brüder waren die letzten, die von mir Abschied nahmen. Sie wollten gerne dem Deutschen ein deutsches Lebewohl [124] mitgeben und sagten: ›Lieben Sie wohl!‹ Das erheiterte mich einen Augenblick, ich war und blieb bis Amsterdam sehr wehmüthig gestimmt. Was ich damals in meinem Scheidegruße an Holland versprach, habe ich treu gehalten:
Während meines Aufenthaltes in Holland erhielt ich nur selten Briefe aus Deutschland, dennoch erfuhr ich von den Meinigen alle wichtigeren Familienangelegenheiten. Auch meine jüngste Schwester Minna hatte sich verheirathet (24. Juni). Kurz vorher hatte eine Regulierung unsers Vermögens und eine Auseinandersetzung unter den Geschwistern statt gefunden. Als auch ich dazu eingeladen war, schrieb ich meinem Bruder: sie sollten sich lieber zusammen alsauseinander setzen. Daß ich leer ausgehen würde, wußte ich vorher, aber ich ahndete nicht, daß ich 150 Rb. zu viel bekommen haben und zurückzahlen sollte! Das verdroß mich mehr als daß ich überhaupt aus dem ganzen Vermögen meines Vaters nichts mehr bekam, denn, bemerkte ich, ›den Ruhm solltet Ihr mir doch gönnen, daß ich mich bei geringer Unterstützung und wenigen Mitteln so ehrenwerth auf Universitäten durchgeschlagen habe!‹ Dennoch war das nur eine augenblickliche Verstimmung. 17
Nachdem ich in Amsterdam mich noch einige Tage aufgehalten hatte, eilte ich in meine Heimat und kam in den letzten Tagen des Novembers in Fallersleben an. Die Freude des Wiedersehens war groß. Acht Monate war ich auf Reisen gewesen und wußte viel zu erzählen. Meine Mutter hatte sich sehr geängstigt wegen meines langen Ausbleibens und war auch immer noch sehr besorgt für meine Zukunft gewesen. Sie schien sich jetzt mehr zu beruhigen, an meinen Aufenthalt in Berlin, wohin ich nun ging, knüpfte sie die besten Hoffnungen. Um vor Einbruch des Winters noch dort zu sein, beschleunigte ich meine Reise. Mein Bruder erwartete mich schon [125] seit dem Sommer, er hatte Alles für mich in Bereitschaft setzen lassen.
Am 3. December kam ich des Abends in Berlin an. Als der Postwagen die Leipziger Straße entlang fuhr, sah ich immer zum Fenster hinaus. Bis zur Königsstraße fand ich nichts, was nur irgend einen Eindruck auf mich gemacht hätte. Die Beleuchtung war nicht sonderlich, nur die langen Straßen erinnerten an das Großstädtische. Ich ließ mich sogleich zu meinem Bruder bringen, Rosenstraße Nr. 4 auf dem Werder, hinter des Königs Palais. Die Freude des Wiedersehens war groß und des Erzählens kein Ende. Wir machten dann einen Spaziergang. Wir kamen gleich in die Gegend, wo das Großartigste in Berlin sich vereint findet, vom Anfange Unter den Linden bis zum Lustgarten. Es war ein überraschend prachtvoller Anblick, als eben der Mond durch die Wolken drang und wir in der Nähe der Hauptwache rechts und links die bedeutendsten Bauwerke Berlins übersehen konnten. Die nächsten Tage unternahm ich einige Wanderungen durch Berlin, um die Plätze und Straßen kennen zu lernen und mich bald in der großen Stadt leichter zurecht zu finden.
Mein Bruder führte mich dann zu seinen Freunden und Bekannten. Das waren ganz nette Leute aus dem Beamten- und Kaufmannsstande, konnten mir aber nicht genügen. Meine Studien und Bestrebungen verlangten einen ihnen entsprechenderen Verkehr.
Schon in Coblenz hatte ich viel gehört von einem Herrn von Meusebach, der dort Präsident der provisorischen Verwaltung der Rheinlande gewesen war und dann als Geheimer Rath an den Rheinischen Cassations- und Revisionshof in Berlin versetzt sei. Der besitze eine große Bibliothek, reich an altdeutschen Werken, sei ein großer Kenner und immer noch ein eifriger Sammler. Ich erfuhr bald seine Wohnung; eines Morgens ging ich zwischen 9–10 hin und ließ mich anmelden, wurde aber abgewiesen. Ich wiederholte noch zweimal meinen Besuch um dieselbe Zeit, wurde aber immer abgewiesen, es hieß: ›Der Herr Geh. Rath schläft noch.‹ Ich ließ mich nicht abschrecken: ich ging zum vierten Male hin, aber erst um 11 Uhr. Diesmal hatte ich sagen lassen, der Herr von Arnim habe mich ja schon angemeldet. Nach einiger Zeit kehrte der Bediente zurück: ich möchte eintreten. Herr von Meusebach war in eifrigem [126] Gespräche begriffen mit Frau von Savigny, begrüßte mich, ließ mich stehen und setzte sein Gespräch fort. Frau von Savigny war so gesprächig, daß sich gar kein Ende absehen ließ. Endlich nach einer guten Viertelstunde war der Born ihrer Beredtsamkeit versiegt und sie empfahl sich. M. wendete sich nun an mich. Ich sprach einfach aus was ich von ihm wünschte, nämlich seine Bücher zu sehen. Das gefiel ihm. Ehe er mir aber etwas zeigte, öffnete er die Thür zur Bibliothek und holte links aus der Ecke zwei gestopfte Pfeifen und bot mir die eine an. Als wir so recht damit im Zuge waren, schloß er eine Tapetenthür auf; in diesem unbemerkten Wandschrank wurden die Lieblingsbücher und kostbarsten und seltensten aufbewahrt. Zuerst zeigte er mir das Luthersche Gesangbuch von 1545: ›Was sagen Sie dazu?‹ Ich freute mich, staunte, bewunderte. Es folgte nun eine ganze Reihe derartiger Bücher, die ich alle noch nie gesehen hatte. Die Bücherschau dauerte bereits über anderthalb Stunden, da trat Friedrich der Bediente ein: ›Herr Geheime Rath, es ist angerichtet.‹ Das störte uns nicht, wir fuhren in unserm angenehmen Geschäfte fort. Friedrich kam wieder: ›Herr Geheime Rath, das Essen steht schon längst auf dem Tische.‹ – ›Gut. Nun kommen Sie mit!‹ – Ich hatte früher nie Sauerkraut essen können, heute schmeckte es mir vortrefflich, so wie der leichte Moselwein – einen anderen führte der Geh. Rath nicht. Frau von M. lachte, daß ich es heute so schön getroffen hätte. Die Unterhaltung war sehr heiter. Ich erzählte allerlei hübsche Geschichten so unbefangen als ob ich in einem Kreise alter lieber Freunde mich befände.
Nach Tische begaben wir uns wieder an unsern Wandschrank. Als der Kaffee kam, holte ich mir selbst eine frisch gestopfte Pfeife – Friedrich mußte immer an die dreißig wohlgereinigt und gestopft im Gange erhalten. M. ergötzte sich sehr, daß ich schon so gut Bescheid wußte. Wir begannen von neuem die Bücherschau. Es wurde Licht angezündet, wir setzten uns. Jetzt kamen die Liederbücher und die Fischartiana an die Reihe. Meine Freude steigerte sich. Der Thee wurde gebracht. Frau von M. kam mit ihren Kindern. Das störte uns weiter nicht. Wir unterhielten uns und besahen Bücher; Thee und Essen war Nebensache. Die Kinder gingen wieder fort, Frau von M. folgte bald nach, wir waren wieder allein. Eine frische Pfeife wurde angebrannt. Es war bereits spät. Mein Bruder [127] wußte nicht, wohin ich gegangen war – ich wollte jetzt nach Haus. Ich mußte bleiben. Es wurde zwölf, es wurde eins. Immer noch kein Ende. Da kam M. auf mein Liederbuch zu sprechen und meinte, es wäre hübsch, wenn er es mal sehen könnte. Das Sehen verstand ich recht gut und beschloß bei mir, es ihm zu Weihnachten zu verehren. Endlich um 1/22 schieden wir und waren nach funfzehntehalb Stunden erster Bekanntschaft beide recht frisch und vergnügt. Ich mußte versprechen, meinen Besuch bald zu wiederholen, und es fiel mir denn auch nicht im Geringsten schwer, recht bald Wort zu halten.
Noch vor Weihnachten war ich öfter bei Meusebach, und immer gleich halbe Tage lang. Die jedesmalige herzliche, vertrauenerweckende Aufnahme bewog mich, Alles auszusprechen was ich auf dem Herzen hatte. Ich erzählte M. von meinen bisherigen Studien und Arbeiten, von meinen Reisen, meinen Sammlungen, meinen Wünschen und Plänen für die Zukunft. Seine Art, humoristische, neckische Bemerkungen und Zwischenfragen einfließen zu lassen, reizte mich nur noch mehr zur Gesprächigkeit, und wenn ich mitunter mich auch verletzt fühlte und plötzlich schwieg, so wußte irgend ein besänftigendes Wort, das von seiner unendlichen Gutmüthigkeit so wie von seiner aufrichtigen Theilnahme für mich zeugte, Alles wieder gut zu machen.
Das Weihnachtsfest kam heran. Ich war bei Meusebach's dazu eingeladen und freute mich sehr, endlich wieder einmal den heiligen Abend, an den sich die lieblichsten Erinnerungen meiner Kindheit knüpften, in einer lieben Familie gemüthlich verleben zu können. Als der Weihnachtsbaum angezündet war, eilten die Kinder jubelnd zu ihren Geschenken, ich folgte ihnen und war freudig überrascht wie sie, denn auch ich war wie sie reichlich bedacht worden. Unter den hübschen Geschenken befand sich auch was ich mir lange gewünscht hatte, des Joh. Leonh. Frisch deutsches Wörterbuch, ein schönes in Pergament gebundenes Exemplar. Meine Freude wurde noch erhöht, als ich M. meine Liederhandschrift, die ich in Bonn auf dem Trödel gekauft hatte, schenkte und er über diese unerwartete Gegengabe sich so unendlich freute. Es war ein fröhlicher Abend, ich ging erst nach Mitternacht heim.
Zu den Festtagen war ich wieder eingeladen und auch auf Silvester. Der letzten Einladung konnte ich nicht folgen, da mein [128] Bruder für mich bereits eine andere angenommen hatte. Neujahr dagegen feierte ich mit und bei Meusebach.
Ich war den Tag sehr ernst gestimmt. Je angenehmer mir der Aufenthalt in Berlin von Tag zu Tag geworden war, um so drückender ward das Gefühl, daß sich keine Aussicht zu einem bestimmten Lebensberufe mir eröffnete. Privatdocent an der Berliner Universität zu werden, hatte ich keine Mittel, und es wäre auch wol sehr langwierig geworden, bis ich es zum Professor, und am Ende noch ohne Gehalt, gebracht hätte. Eine Stelle an einer Bibliothek schien mir noch am wünschenswerthesten. Ich hätte dann zugleich Hülfsmittel für meine Studien gewonnen und bei meinen Berufsarbeiten auch Zeit übrig behalten zu eigenen Arbeiten.
M. kannte meine Neigungen bereits und meinte, ich müßte mich um eine Stelle bei der königlichen Bibliothek bewerben und zunächst eine Eingabe an den Minister machen. Einige Tage nachher besuchte ich ihn wieder. Sein erstes Wort war: ›Wie steht's mit Ihrer Eingabe?‹ – ›Daran habe ich noch nicht weiter gedacht.‹ – ›Nun, fuhr er fort, ich habe Ihnen eine gemacht‹ und damit überreichte er mir einen höchst scherzhaft gehaltenen Entwurf einer Eingabe an den Minister Altenstein.
Ich las und mußte herzlich lachen. Daß ich die Sache so lustig nahm, freute ihn sehr und er meinte, wenn mir diese Eingabe nicht gefiele, so wolle er mir eine andere machen, die ich einreichen könnte. Er hielt Wort. Nach einigen Tagen überreichte er mir eine von ihm verfaßte und eigenhändig geschriebene. Diese fand meinen und meines Bruders vollkommenen Beifall; ich schrieb sie ab und reichte sie beim Minister ein.
Schon am 22. Januar schickte der Minister dieselbe an den Oberbibliothecar Wilken ›mit dem Auftrage, sich gutachtlich darüber zu äußern, ob und in welcher Qualität derselbe (der Privatgelehrte H.) seinen Wünschen gemäß, bei der hiesigen Bibliothek angestellt werden kann; auch über seine wissenschaftliche Bildung durch Unterredung mit ihm und Einsicht seiner schriftstellerischen Arbeiten sich Kenntniß zu verschaffen und darüber zu berichten.‹ Ich machte demgemäß Herrn Oberbibliothecar Wilken meine Aufwartung. Er empfing mich nicht eben freundlich. Ich ward etwas verlegen, antwortete aber bald unbefangen auf alle Fragen und übergab ihm einen Theil meiner [129] Arbeiten zu gelegentlicher An- und Durchsicht. Etwas ärgerlich und ohne alle Hoffnung auf Wohlwollen verließ ich Wilken. Zu meinem nicht geringen Erstaunen erfuhr ich später, daß er sehr günstig über mich berichtet hatte.
Ich mußte lange auf Antwort warten und lebte deshalb der Hoffnung, daß eine günstige erfolgen würde. Nicht also. Zu meinem Geburtstage (2. April) wurde ich mit einer kurzen abweisenden Antwort überrascht. Es stand mir aber doch noch eine Freude für diesen Tag bevor. Ich war zu Meusebach's eingeladen und fand dort eine reiche Geburtstagsbescherung, darunter auch die ehemalige Eschenburg'sche Handschrift mit niederdeutschen Gedichten aus dem 15. Jahrhundert. Ich war nun fröhlich mit den Fröhlichen und dachte nicht weiter der fehlgeschlagenen Hoffnung auf eine baldige Anstellung.
Das Meusebach'sche Haus gewährte mir damals was ich sonst nur in verschiedenen Häusern, ja oft nicht einmal in einer und derselben Stadt finden konnte: eine belehrende und anregende wissenschaftliche Unterhaltung, eine ausgezeichnete Bibliothek, traulichen Familienverkehr und die Gelegenheit, viele bedeutende Männer und Frauen kennen zu lernen. Sie standen mit M. theils in freundschaftlichen, theils in amtlichen Beziehungen oder suchten seiner Bekanntschaft. Es fanden sich dort dann und wann ein: Graf Gneisenau, damals Gouverneur von Berlin, General-Major Carl von Clausewitz, die Majore G.v. Below und v. Tümpling, Hegel, v. Savigny, v. Sethe, Geheime Rath Eichhorn, Prof. Rösel, Achim und Bettina v. Arnim, Graf Schlabrendorf, Georg Anton v. Hardenberg (als Dichter unter dem Namen Rostorf bekannt), der schwedische Generalconsul Dehn, der Hamburger Ministerresident Lappenberg, Professor Zeune, Johannes Schulze.
M. hörte damals schon schwer und es war ihm lästig, sich lange mit Leuten zu unterhalten, denen er Rücksicht schuldig war oder mit denen er nichts zu sprechen fand von Belang. Wenn sie dann länger zu bleiben die Absicht zeigten, so wußte er keinen besseren Ableiter als das Spiel, zumal er selbst gerne spielte. So pflegte er immer mit Hegel und Dehn sich zum L'hombre zu setzen, später auch mit meinem Bruder, der bald Meusebach's liebster Spielcamerad wurde.
Unterdessen war Frau v.M. in ihres Mannes Zimmer, wo das Clavier stand. Sie spielte mir dann die schönen Kreutzer'schen Compositionen [130] der Uhland'schen Lieder, oder wol meine eigenen Melodien, die ich mir hatte aufzeichnen lassen.
Ich verlasse jetzt das Meusebach'sche Haus, um zu erzählen was ich zu Hause trieb und mit wem ich sonst bekannt wurde. Den ganzen Frühling und Sommer arbeitete ich recht fleißig: ich studierte Grimm's Grammatik in neuer Auflage, deren Aushängebogen mir der Verfasser gütigst zugesendet hatte, ich machte Abschriften alter Handschriften, Auszüge für Sprache und Litteraturgeschichte und benutzte viel die königliche Bibliothek. Nebenbei dichtete ich und fang mir zu manchem Liede eine Weise, die ich mir dann aufzeichnen ließ von irgend einem Musiker. Niemand war bereiter dazu als Kretzschmer.
Andreas Kretzschmer lebte als pensionierter geheimer Kriegsrath in Berlin und beschäftigte sich mit Musik und Volkspoesie. Er war kein Musiker von tiefen theoretischen Kenntnissen und practischer Ausbildung, hatte aber einen feinen Sinn für schöne volksthümliche Melodien und Glück in eigenen Compositionen. Leider liebte er das Geistige in zu weiter Ausdehnung und zerrüttete dadurch sich und sein Hauswesen. Er hatte hübsche Sachen gesammelt, Liederbücher, alte Drucke und Handschriften, die er nach und nach verkaufen mußte.
Wenn ich in seiner Familie war, da merkte ich nichts von seiner Neigung zum Trunke. Es ging sehr bürgerlich einfach zu, nur ein kleines Fläschchen Rum wurde herumgereicht und der Hausvater maß sich zwei Löffel voll ab und that sie in den Thee. Sah ich ihn aber bei mir oder sonstwo, so hatte er gewöhnlich schon des Guten zu viel gethan. So lieb es mir war, daß er mir meine Melodien aufzeichnete, und so sehr ich auch von seiner freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt war, so wurde mir doch der Verkehr mit ihm nach und nach verleidet. Er war gemüthlich, gefällig, talentvoll, das ist war, aber er wurde leichtsinnig und unzuverlässig wie im Leben so auch leider in seinen ›Deutschen Volksliedern‹, wovon er noch einige Hefte selbst herausgab.
Schon funfzehen Jahre vor dieser Sammlung – die Ankündigung erschien 1837 –, beabsichtigten wir mit Chamisso eine ähnliche. Kretzschmer hätte hier gewiß etwas Ausgezeichnetes geleistet, da es hier nicht darauf ankam, etwas Ueberliefertes getreu wiederzugeben, seine musicalische Phantasie hätte freien Spielraum gehabt und er [131] keine Verantwortlichkeit. Der ganze Plan kam, wie so mancher, den K. mit sich herumtrug, nie zur Ausführung.
Da ich den Aufzeichnungen Kretzschmer's nicht so recht trauete, so sah ich mich noch nach anderen Musikern um. Eines Tages besuchte ich Ludwig Berger. Ich begrüßte ihn als den trefflichen Componisten von: ›In einem kühlen Grunde‹, und ›Als der Sandwirth von Passeyer‹. Wir sprachen viel über Composition und wie wol Gedichte die sich dazu eigneten beschaffen sein müßten. Dann erzählte ich ihm, daß ich meine Lieder selbst componierte, obschon ich keine Note verstände. Ich sang ihm einige vor und bat ihn dann, sie mir aufzusetzen. Er war sehr bereitwillig. Ich mußte nun satzweise singen und wiederholen, das wurde mir schwer, und es kam mitunter etwas anderes zum Vorschein als beim ersten oder zweiten Male. Er ließ sich dadurch nicht stören. Ich mußte immer wieder singen. Zuweilen fragte er: ›Ist das wirklich so? das geht nicht gut.‹ – ›Nun, meinte ich, dann bringen Sie es in eine gesetzliche Form!‹ – Später trafen wir bei Chamisso zusammen. Wir sprachen viel über Volksmelodien. ›Ja, meinte Chamisso, ich würde viel darum geben, wenn eine recht volksthümliche Melodie zu meinem: »Der Zopf der hängt ihm hinten«, gemacht würde!‹ – ›Machen wir selbst eine!‹ sagte ich, und fing gleich an zu singen, Chamisso und Berger stimmten ein; wir sangen so lange, bis das Ding rund wurde. Berger setzte dann die Dreimänner-Melodie auf. Ich habe das Blatt noch, wozu jeder von uns schließlich einen Kerl mit einem Zopf zeichnete.
Auch Franz Stöpel verdankte ich mehrere Aufzeichnungen meiner Melodien.
Jede Aufzeichnung von einem dieser drei Musiker brachte ich sofort zu Meusebach's. Frau von M. war dann so gütig, sie mir vorzuspielen und nun konnte ich erst mein eigenes Kunstwerk recht kennen lernen und beurtheilen. Obschon ich das Ganze nur als Spielerei betrachtete, so hatte ich doch Freude daran und der eigentliche Gewinn dabei war: ich wurde immer von neuem zum Dichten angeregt.
Mein Verkehr mit Meusebach blieb während des Sommers ein naher und ich weilte viel in seinem Hause. Leider hatte sein Gehör die letzte Zeit sehr gelitten, die Unterhaltung mit ihm war dadurch [132] sehr erschwert. Ich konnte weniger darüber klagen; ich sprach langsam und deutlich, auch hatte er sich an den Ton meiner Stimme gewöhnt. Besonders angreifend war für ihn jede Sitzung des Revisionshofes. Kam dann M. zu Hause, so war er sehr gereizt und konnte über die größte Kleinigkeit außer sich gerathen. Wenn er heftig geworden, ließ er sich schwer besänftigen. Gewöhnlich erfolgte bei Tische ein Tonnerwetter. Ich war deshalb an allen Sitzungstagen (Mittwoch) zum Mittagsessen eingeladen und nannte mich selbst den Blitzableiter. So wie ein Gewitter losbrach, verhielt sich Alles ruhig. Wenn dann M. genug geblitzt und gedonnert hatte und ich bemerkte nur ein Stückchen blauen Himmel, dann gelang es mir gewöhnlich mit einem Worte, das gar keine Beziehung auf den Gegenstand seines Zornes hatte, den Frieden wieder herzustellen. Er war dann wieder sanft wie ein Kind, der allerliebenswürdigste Mann von der Welt, und wußte auch bei mir, wenn auch ich mein Theil Schelte bekommen hatte, Alles wieder gut zu machen. Wir rauchten dann die Friedenspfeife.
Meine Ruhe kam mir sehr zu statten, noch mehr aber, daß ich ihn in seinem ganzen Wesen erkannt hatte. Wir blieben immer die besten Freunde, ich liebte seinen Humor, ich ließ mir seine Neckereien und Sticheleien gefallen, ich ehrte seine vielseitigen Kenntnisse und Forschungen, und gab ihm Beweise, wie sehr ich ihn liebte und hochschätzte.
So theilte ich ihm von Zeit zu Zeit Manches mit, was ich hie und da in Berlin auftrieb. Auch auf andere Weise suchte ich seine Sammlungen zu bereichern. So stellte ich ein Liederbüchlein zusammen und ließ es drucken unter dem Titel: ›Die Schöneberger Nachtigall. Das ist: lauter schöne neue Lieder für die lieben Landleute alt und jung, die lustigen Handwerksburschen, für die braven Soldaten und die Herren Studenten gleichermaßen.‹ (Berlin, zu haben in der Zürngiblschen Buchdruckerei, Haakschen Markt No. 2.) M. erhielt ein Prachtexemplar und freute sich über das Büchlein so wie über die Art, wie ich bedacht war, seine Sammlungen zu vermehren.
Die Beziehungen zum Meusebachschen Hause füllten so sehr meine freie Zeit aus, daß ich zum Verkehre mit anderen Leuten kein rechtes Bedürfniß fühlte. Ich machte gegen Beginn des Winters nur noch wenig Bekanntschaften und vernachlässigte sogar die bereits[133] gemachten. Zwei liebe Universitätsfreunde waren gerade um die Zeit in Berlin: der Chemiker Dr. Runge und der Mineralog Dr. Friedrich Hoffmann, beide Privatdocenten, die mit einander in freundschaftlichem und wissenschaftlichem Verkehre standen. Als dritter gesellte sich zu ihnen Poggendorf, der sich meist mit Physik beschäftigte. Hoffmann lud uns öfter zu sich ein. Da gab es für uns denn immer gemüthliche Abende. Obschon ich mich unter lauter Naturforschern befand, zu denen sich auch noch Chamisso, der Botaniker v. Schlechtendal und der sehr junge Astronom Jacob Wilhelm Heinrich Lehmann gesellten, so war doch die Unterhaltung durchaus nicht einseitig. Sehr ergötzten wir uns, wenn Chamisso, den ich hier erst kennen lernte, von seiner Reise um die Welt erzählte. Er wußte durch sein Hand- und Geberdenspiel und seine mitunter unbeholfene Sprache die unbedeutendste Geschichte interessant zu machen.
Später war ich auch in Chamisso's Hause und verlebte dort einige schöne Abende. Frau v. Ch. war eine hübsche anmuthige Frau und im Bewußtsein ihres Glückes blickte sie so recht liebeselig in die Welt hinein. Sie konnte sehr naiv sein – sie selbst, die Zeugin der überschwenglichen Liebe ihres Mannes, meinte, als ich einige Liebeslieder las: ›Wie kann man aber auch so verliebt sein!‹ Dagegen meinte ihr Mann, dem das Volksthümliche über Alles ging und der fast immer vergebens danach strebte: ›Der singt wie der Vogel singt.‹ – Eines Abends war auch Joseph von Eichendorff zugegen. Die Unterhaltung war eine sehr belebte, wir brachen erst um Mitternacht auf. Ich ging nachher noch mit Eichendorff eine Zeitlang spazieren in den langen stillen Straßen Berlins, wir unterhielten uns viel über Poesie und Philisterei.
Das Weihnachtsfest kam heran. Ich war bei Meusebach's eingeladen. In heiterster Stimmung traten wir in das Bescherungszimmer. Der Tannenbaum mit seinen vielen bunten brennenden Lichtern, goldenen und silbernen Äpfeln und Nüssen, beglänzte die Geschenke, die wir uns wechselseitig bescherten. Es war manches Sinnreiche darunter: so hatte Frau v.M. ein Buch vom Conditor bereiten lassen, das sehr täuschend aussah, es hatte die zierliche Aufschrift einer der Fischartschen Schriften, die M. noch fehlten.
Am Silvesterabend hielten wir eine Nachfeier. Wir waren wieder sehr heiter. Die Familie zog sich zurück, ehe das neue Jahr [134] anhub. Ich blieb mit M. allein und wir ließen es herankommen. Zu sehr vorgerückter Stunde trat der Herr Geheime Rath Johannes Schulze ein. Er kam aus einer Gesellschaft, wo man eben nicht trockenen Mundes gesessen hatte. Kaum hat er auf dem Sopha Platz genommen, so erscheint Frau v.M. Schulze entschuldigt sich in Einem fort, daß er es gewagt habe, so spät einzukehren. ›Sehen Sie, Herr Geheimer Rath, beginnt darauf M., was mir meine Frau zu Weihnachten beschert hat‹ – und überreicht das nachgemachte Buch. Schulze nimmt es ›Allerliebst! allerliebst!‹ will es öffnen und – zerbricht es: ›Bitte tausendmal um Entschuldigung! Nein, daß mir auch so was passieren muß! solch Kunstwerk zu zerbrechen!‹ Er ist gar nicht wieder zu beruhigen und bittet immer tausendmal um Entschuldigung. Unter solchen Umständen scheint es denn doch dem Herrn Geheimen Rath am gerathensten sich zu empfehlen. Wie ich das merke, wende ich mich an ihn: ›Erlauben Sie Herr Geheimer Rath, daß ich Sie begleiten darf?‹ – ›Mit dem größten Vergnügen!‹
Ich fasse ihn unter und wir gehen Arm in Arm zum Döhnhofsplatz. Die frische Luft wirkt beruhigend und ich benutze die gute Gelegenheit, mich gegen den Herrn vortragenden Rath im hohen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten auszusprechen. So erfahre ich, daß demnächst an der breslauer Bibliothek eine Custodenstelle frei wird. Allerdings verspricht sich der Herr Geheime Rath von einer etwaigen Bewerbung meinerseits kaum einen Erfolg.
Unterdessen hatten wir sein Haus erreicht: ›Herr Geheimer Rath, ich wünsche Ihnen nochmals ein fröhliches Neujahr und bitte um Ihr ferneres gütiges Wohlwollen.‹ – ›Was an mir liegt, werde Alles thun – kommt Alles auf den Minister an. Ich danke Ihnen. Leben Sie wohl! leben Sie wohl!‹
Noch in der Nacht erzählte ich meinem Bruder mein Abenteuer. Er meinte, ich müsse sofort ein Bittgesuch um die Custodenstelle in Breslau an den Minister einreichen. Am andern Morgen machte mir mein Bruder die Eingabe, ich schrieb sie ab und trug sie ins Ministerium.
1823.
Ich hegte die beste Hoffnung und wartete sehnsuchtsvoll. Nach vierzehen Tagen hielt ich es doch für gerathen, ein neues Gesuch [135] an den Minister zu richten. Es war wieder der 14. Januar, an dem ich vor einem Jahre an den Minister schrieb. Ich legte mehrere meiner Arbeiten bei, unter anderen eine Übersicht der mittelniederländischen Dichtungen, die später alsPars I. der Horae belgicae erschien.
Ich lebte nun in banger Erwartung. Wenn ich mitunter traurig gestimmt war, daß auch diesmal wieder eine abschlägige Antwort erfolgen könnte, so ging ich zu Meusebach's und fand dort immer die freundlichste Theilnahme und vergaß in dem traulichen Familienkreise Alles was mich heimlich quälte.
Karolina war noch ein Kind, aber es war ein Bedürfniß meines Herzens, sie als meine künftige Geliebte zu betrachten. Ich liebte und sang von Liebe und durfte doch niemandem sagen, wen ich mit Rosegilge und Arlikona meinte.
Daß sie einst eine Quelle meiner unerfüllten Sehnsucht, eines nachhaltigen Schmerzens werden würde, hatte ich schon im vorigen Sommer geahndet. Aus dem Juni 22 stammt das einst viel gesungene Lied nach der schönen Weise von Curschmann: ›Du siehst mich an und kennst mich nicht.‹ 18
Und ich sollte bald von ihr scheiden und von Allem scheiden was mir lieb und theuer war in Berlin. Am 4. März wurde ich vom Minister v. Altenstein ›bei der Central-Bibliothek in Breslau als Custos vorläufig und zur Probe auf Ein Jahr gegen eine Remuneration von 300 Rb. ‹ angestellt und erhielt 35 Rb. Reisegeld. Ich war herzlich froh, der liebevollen Fürsorge meines Bruders enthoben und selbständig geworden zu sein. Wenn auch das ›vorläufig und zur Probe auf Ein Jahr‹ meine Zukunft noch in Zweifel stellte, auch ich keine angenehmen Dienstverhältnisse mir versprechen durfte, indem ich der Willkür des Curators und des Bibliothecars völlig preisgegeben war, so fühlte ich mich doch stark genug, allen Intriguen gewachsen zu sein.
Schlesien kannte ich noch gar nicht. Was ich davon wußte, hatte ich aus Büchern erfahren und aus den Erzählungen meiner Freunde. Es war mir eigentlich von Deutschland zu fern und nun von Holland, mit dem ich noch immer in lebhaftem freundschaftlichen [136] Verkehre stand, erst recht fern. Meine Mutter weinte, als ich nach Bonn ging; wie sie hörte, ich müsse nach Breslau, weinte sie nicht mehr, das lag ihr außer der Welt.
Hatte ich mich im Briefwechsel bisher sehr mäßigen müssen, so stand mir jetzt in Sicht, daß das nun noch mehr der Fall werden würde. Das Porto wurde nach Entfernungen berechnet und Breslau war eben von allen Orten fern wohin ich künftig schreiben mußte oder möchte. Also der briefliche Verkehr war mir erschwert und der persönliche vorläufig unmöglich. Durch die weitere Entfernung war das Reisen kostspieliger geworden. Die Fahrposten waren schlecht und langsam, die eben eingerichteten Schnellposten unser einem zu theuer, obschon sie viel Bequemlichkeit und schnelle Beförderung boten.
Der Gedanke an die Ferne und die Fremde machte mir den Abschied erst recht schwer, es war mir, als ob ich ein unsicheres angenehmes Leben gegen ein sicheres unangenehmes vertauscht hätte.
[137]Fußnoten
1 Brief vom 7.–8. Mai 1815. Das Gedicht beginnt:
›Rechtschaffenheit erliegt der stolzen Schande,
Und darbet in der langersehnten Zeit,
Und trägt des Hochmuths hinterlassnes Kleid.
Die Bosheit prunkt in seidenem Gewande.
Der Afteradel knüpfet neue Bande‹ – u.s.w.
G.
2 Bei dem Pastor in Heddingshausen (Kreis Brilon), einem sehr liebenswürdigen gelehrten Mann fand ich eine Handschrift des Heldenbuchs v. Jahre 1442.
H.
3 Hoffmann veröffentlichte diesen Brief noch in demselben Jahre in Oken's Isis (Jahrg. 1818. Spalte 1764–1766) unter Nennung seines Namens. In demselben Jahrgang der Isis sind auch Hoffmannsche Epigramme, jedoch anonym, mitgeteilt (vgl. unten S. 69 und 70). Diese beiden Veröffentlichungen sind die einzigen des Jahres 1818 und überhaupt die ersten, welche aus Hoffmanns Feder geflossen sind.
G.
4 1818. Bogen 8**** und 1580. 1581.–1819. Sp. 318–320. 478–480. 776–778. – 1820. Sp. 753. 754.
H.
5 In den ›Bonner Burschenliedern‹ teilt Hoffmann zwei eigene Lieder, die kurz vorher in Bonn entstanden sind, unter dem Pseudonym ›P. Siebel‹ mit. Es sind die Lieder Nr. 7. S. 18–20. ›Was flimmert wie goldene Sterne‹ – und Nr. 39. S. 211–213: ›Wo die Berge sich heben im Sonnenlicht‹. Das letztere Lied ist in die Ges. W. (Bd. III. S. 31–33) aufgenommen. Schon Goedeke schreibt beide Lieder Hoffmann zu (Grundriß zur Gesch. d. Deutschen Dichtung. Bd. III. S. 261) und erklärt das Pseudonym richtig als›Poet Siebel.‹ Hoffmann führte nämlich unter seinen Bonner Studiengenossen den Spitznamen. ›Der Poet‹ (vgl. Unten S. 83). Genaueres giebt J. M. Wagner in einem Nachtrag zu seiner bibliographischen Schrift über Hoffmann (Petzholdt's Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft. 1870. April. S. 107. 108 – von uns mitgeteilt in den Ges. W. Bd. III. S. 283. Anm. 6).
G.
6 Die Gretchenlieder finden sich in dem ersten Abschnitte der ›Lieder und Romanzen‹ (S. 1–42; 29 Gedichte), aus welchem eine Auswahl von 23 Gedichten in die Ges. W. aufgenommen ist (Bd. I. S. 175–192; vgl. ebenda S. 397. Anm. 45). Noch enthält dieser Abschnitt nicht nur Lieder an Gretchen; 2 Gedichte liegen vor der Bonner Zeit (Nr. 3. 20); einige Lieder gelten Henriette von Schwachenberg, die Hoffmann zu Anfang April 1820 kennen lernte. Die Trennung zwischen den Liedern an Gretchen und Henriette läßt sich nicht vollständig durchführen. Durch das Vorkommen des Namens sind als Gretchenlieder bezeugt Nr. 2. 6. 7. 10. 11. 18; diejenigen anderen Lieder, die nachweislich vor des Dichters Bekanntschaft mit Henriette entstanden sind, dürfen wohl ebenfalls auf Gretchen bezogen werden.
G.
7 Ungenaue Angabe; Abreise von Bonn nach einer handschriftlichen Bemerkung am 16. März; zweite Ankunft in Wetter am 22. Juni.
G.
8 So groß ihre Freude war über meine Ankunft, eben so groß war auch ihre Betrübniß über mein Aussehn. An Bruder Daniel schrieb sie den 18. April: ›Bevor ich Dir aber mehr sage, muß ich Dir erst die frohe Nachricht mittheilen, daß unser Bruder Heinrich hier am Mittwoch-Nachmittag ganz unerwartet ankam. Meine Freude war unbeschreiblich, da ich so lange nichts von ihm gehört hatte. Beim nähern Anblick wurde ich aber so wehmütig gestimmt, er schien mir nicht mehr der sanft liebende Bruder zu sein, sein Körper hat ein rauhes Ansehn gewonnen. Er trägt einen furchtbar langen Bart, statt der Weste eine Art Ueberzug von schwarzem Sammet-Manchester, dazu ist er ganz gelb gebrannt von der Sonne. Jeder Mensch erschrickt vor ihm, und so unendlich viel ich ihn auch gebeten habe, will er mir dennoch die Liebe nicht erzeigen und seinen furchtbaren Bart abnehmen lassen. Doch was rede ich Dir von seinem Aeußern! Uebrigens ist er noch ebenso, hat noch dieselben Ideen und Eigenheiten, die er sonst hatte. Was ich aber am meisten an ihm liebe, ist seine Charakterfestigkeit.‹
H.
9 Vgl. Anm. S. 102.
10 S. die zusammengestellten Acten im 3. Hefte der ›Geschichte der geheimen Verbindungen der neuesten Zeit‹ (Lpz. Barth 1831).
H.
11 Aus den ›Liedern und Romanzen‹ ist der größte Teil der Liebeslieder in die Ges. W. aufgenommen (vgl. oben S. 82. Anm.) dagegen sind von den Romanzen nur einige Proben mitgeteilt (vgl. Ges. W. Bd. III S. 255–260 u. S. 299 Anm. 59).
G.
12 Henriette; sie schreibt dem Freunde: ›Ihre Gedichte haben mir unendlich viele Freude gemacht. Nehmen Sie den Dank für jedes wehmütige süße Gefühl, was ich stets beim Lesen empfand, und noch empfinde‹.
G.
13 Die Lieder in allemannischer Mundart, welche Hoffmann für ›Meieli‹ gesungen hat, stehen an Zartheit der Empfindung den hochdeutschen Liebesliedern nicht nach. Sie sind in den ›Allemannischen Liedern‹ (fünf Auflagen; fünfte 1843. Mannheim) veröffentlicht. In den Ges. W. fehlen sie vorläufig wie die dialektischen Dichtungen überhaupt; sie sind für einen beabsichtigten 9. Band zurückgelegt.
G.
14 Ges. W. I, 193. 194.
G.
15 Ges. W. Bd. II. S. 325.
16 Aus den damals und in der Folgezeit entstandenen ›Liedern an Meieli‹ (Ges. W. Bd. I. S. 193–195).
17 Auf diese Familienangelegenheit bezieht sich das Gedicht ›Bin noch jung und guter Dinge‹. (Ges. W. Bd. I. S. 19. 20.)
G.
18 Ges. W. Bd. I. S. 197.
G.